Am 22. Dezember 1961 erschien im Zentralorgan der KPdSU, der „Prawda“, ein Grundsatzartikel von K. Iwanow mit dem Titel „Selbstbestimmung und Bonner Heuchelei", der am 1. Januar 1962 im „Neuen Deutschland", dem Organ der sowjetzonalen Staatspartei, wörtlich übernommen wurde und im Anhang dieser Ausgabe ungekürzt abgedruckt ist.
I. Neuer Höhepunkt dialektischer Verdrehung der Begriffe und Tatsachen
Er gibt kaum einen Begriff, der der Sowjetführung bei der Rechtfertigung ihrer imperialistischen Politik in Ostmitteleuropa und besonders in Mitteldeutschland so große Schwierigkeiten bereitet, wie der Begriff des Selbstbestimmungsrechts der Völker und die hierauf sich gründende deutsche Forderung nach Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit. Hier laufen die Moskauer Politiker und ihre propagandistischen Interpreten Gefahr, sich in den Fesseln ihrer eigenen Argumentation zu verfangen. Wie soll die Sowjetunion, die sich bei jeder Gelegenheit als Schutzmacht, Freund und Helfer der vom „bösen westlichen Imperialismus und Kolonialismus unterdrückten Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas aufspielt, das System totaler Fremdherrschaft bemänteln, das sie selbst den Völkern Ostmitteleuropas und einem Teil des deutschen Volkes aufgezwungen hat?
Einen neuen Höhepunkt der hierbei angewandten dialektischen Verdrehung der Begriffe und Tatsachen stellt ein im Zentralorgan der KPdSU (" Prawda" vom 22. 12. 1961) erschienener Grundsatzartikel mit dem Titel „Über Selbstbestimmung und Bonner Heuchelei" dar. Die AbHandlung ist wörtlich auch vom Organ der sowjetzonalen Staatspartei („Neues Deutschland" v°m 1. 1. 1962) übernommen worden und dient seitdem der weltweiten kommunistischen Propaganda, um die permanente Verletzung des Selbst-Bestimmungsrechts des deutschen Volkes zu rechtfertigen.
Angesichts der Schwäche der sowjetischen Position gegenüber dem Anspruch des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung ist es nicht verwunderlich, wenn die kommunistische Propaganda zu Verleumdungen Zuflucht nehmen muß. Sie gipfeln in der Behauptung, die deutsche Forderung nach Selbstbestimmung sei nur Tarnung für revanchistische und aggressive Ziele der Bundesrepublik. Diese Behauptungen sind eine Erwiderung nicht wert. Sie beweisen nur, wie unbequem Moskau die deutsche Forderung nach Selbstbestimmung ist. Um diese rechtmäßige Forderung zu entkräften, scheut daher die kommunistische Propaganda kein Mittel, das, was wahr ist, als unwahr, das was rechtens ist, als verbrecherisch abzustempeln.
Wenn der Verfasser des Prawdaartikels schließlich die Bundesregierung, nur weil sie als legitimierte Sprecherin des deutschen Volkes die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts für das ganze deutsche Volk fordert, sogar in eine Linie mit Hitler stellt, so wird er sich nicht dem Glauben hingeben dürfen, durch diese Diffamierung die Rechtmäßigkeit des deutschen Anspruchs entkräften zu können. Selbst der Mißbrauch des Selbstbestimmungsgedankens durch Hitler, der auch vom deutschen Volk und der Bundesregierung verurteilt wird, gibt keine Grundlage, um von einer Verwirkung des Selbstbestimmungsrechts sprechen zu können. Der Hinweis auf die Aggressionspolitik Hitlers aus dem Munde eines sowjetrussischen Propagandisten muß jedoch die Erinnerung an die geschichtliche
Tatsache wachrufen, daß der Komplice Hitlers bei der imprialistischen Aufteilung Polens und der übrigen osteuropäischen Nationalstaaten im Jahre 1939 Stalin hieß und daß die Sowjetunion es ist, die ihre Beute aus dem damaligen Hitler-Stalin-Komplott in Gestalt Ostpolens, Estlands, Lettlands, Litauens und Bessarabiens noch in Händen hält.
Allein, hier ist nicht der Ort, um sich auf eine letzthin unfruchtbare Polemik mit diesen böswilligen sowjetischen Diffamierungen einzu-lassen. Eingehend sollen hier jedoch die sachlichen Argumente untersucht werden, die der Verfasser der Abhandlung, K. Iwanow, mit wissenschaftlichem Pathos vorträgt und die allem Anschein nach dazu bestimmt sind, als Leitmotive für die künftige Argumentation Moskaus in der Deutschlandfrage zu dienen. Auch diese teilweise neuen Argumente zur Rechtfertigung der sowjetischen Deutschlandpolitik lassen die innere Widersprüchlichkeit der sowjetkommunistischen Definition und Handhabung des Begriffs der nationalen Selbstbestimmung offenkundig werden. Die Abhandlung verdiente daher richtiger den Titel „Die deutsche Forderung nach Selbstbestimmung und das schlechte Gewissen Moskaus". Ihr sachlicher Inhalt läßt sich kurz in folgenden Thesen zusammenfassen: 1. Nach der Definition Lenins, die als Fundament der gesamten Argumentation dient, sei unter Selbstbestimmung der Nationen nichts anderes als „ihre staatlidie Lostrennung von fremd-nationalen Gemeinschaften und die Bildung eines selbständigen Nationalstaates“
zu verstehen. Unter Berufung auf das Prinzip der Selbstbestimmung habe Lenin insbesondere die „Forderung nadt vorbehaltloser und unverzüglicher Befreiung aller Kolonien“ aufgestellt. 2. Auf Deutschland könne daher das Prinzip der Selbstbestimmung keine Anwendung finden;
„denn weder die DDR noch die BRD gehören und gehörten jemals einer fremd-nationalen Gemeinschaft an“, sondern bestünden schon 12 fahre als „zwei selbständige deutsche Nationalstaaten". 3. Die Begründung der deutschen Forderung nach Selbstbestimmung mit dem Hinweis, daß die deutsche Nation eine Sprache spreche und in einem Staat gelebt habe, werde durch die Geschichte widerlegt. Ebensowenig wie die getrennte staatliche Existenz Großbritanniens und der USA oder die Entstehung einer deutschsprachigen „selbständigen österreichischen bürgerlichen Nation“ in einem selbständigen Nationalstaat außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches von 1871 könne die getrennte staatliche Existenz der „sozialistischen DDR“ und der „imperialistischen bürgerlichen BRD“ als Verletzung des Selbstbestimmungs rechts bezeichnet werden. Selbstbestimmung im Falle Deutschland bedeute daher, daß man die Gleichheit und die souveränen Rechte der beiden deutsdten Staaten anerkenne und es ihnen selbst überlasse, die Frage der Annäherung oder Vereinigung Deutschlands in beiderseitigem Einvernehmen zu lösen.
4. Die Spaltung Deutschlands habe sich nicht unter nationalem, sondern sozialem, gesellschaftspolitischem Vorzeichen vollzogen. Auch die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung zwischen den „zwei deutschen Staaten, zwei sozialen Ordnungen und entgegengesetzten Lebensweisen“
sei ebensowenig eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts wie der amerikanische Sezessionskrieg „zwischen den Sklavenhaltern des Südens und der Demokratie des Nordens“, oder wie die sozialrevolutionäre Erhebung der Pariser Kommune im Jahre 1871. In einem solchen Falle könne die Frage der Wiedervereinigung nicht einfach mit Abstimmung oder Formulierungen eines Wahlgesetzes gelöst werden.
II. Die Sowjetunion und das Selbstbestimmungsrecht
Der Autor des Prawdaartikels gründet das Gebäude seiner gesamten Argumentation auf die Lehre Lenins.
Die einseitige leninistische Doktrin, die den Begriffsinhalt und Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts grundsätzlich einzuengen versucht, kann jedoch weder von deutscher Seite noch auf internationaler Ebene als allgemein-gültiger Maßstab zur Beurteilung des deutschen Anspruchs auf nationale Selbstbestimmung anerkannt werden. Das deutsche Volk setzt vielmehr sein Vertrauen auf das unverfälschte Prinzip der Selbstbestimmung, wie es im Verlauf der letzten Jahrzehnte als Rechtsgrundsatz in das allgemeine Völkerrecht Eingang gefunden hat. Es beruft sich auf dieses Prinzip, das im echten Sinne Baustein eines weltumspannenden Bundes freier und gleichberechtigter Nationen und damit einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung sein soll, nicht aber ein taktisch mißbrauchtes Instrument zur Verwirklichung der totalitären Weltrevolution und der Weltherrschaft des Sowjetkommunismus.
Dieser fundamentale Unterschied der Auffassungen vom nationalen Selbstbestimmungsrecht war schon sichtbar geworden, als in den letzten Jahren des Ersten Weltkrieges der amerikanische Präsident Wilson und der bolschewistische Revolutionär Lenin in ihren Programmen zur Neugestaltung der Welt auch der neueren Entwicklung des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung Impulse gaben. Ihn gilt es stets im Auge zu behalten, will man nicht der Doppelzüngigkeit kommunistischer Selbstbestimmungsparolen zum Opfer fallen, mit denen Moskau lediglich nach dem Grundsatz des „Cui bono“ operiert. Ebenso ist die innere Unwahrhaftigkeit und objektive Unhaltbarkeit auch der konkreten sowjetischen Argumentation zum Selbstbestimmungsrecht in der deutschen Frage (Abschnitt IV ) erst voll zu erkennen, wenn man sich sowohl ihre theoretischen und historischen Prämissen an Hand der sowjetischen Doktrin und Praxis (Abschnitt II) als auch die völkerrechtlich allgemein-gültige Auffassung des Selbstbestimmungsrechts (Abschnitt III) vergegenwärtigt 1. Die Verfälschung des Selbstbestimmungsrechts in der sowjetischen Doktrin Inder sowjetkommunistischen Theorie steht das Selbstbestimmungsrecht unter dem Primat der Weltrevolution und ist das Interesse der Nation dem Interesse des „Weltproletariats", zu dessen Interpreten sich die KPdSU aufwirft, eindeutig untergeordnet
Lenin definierte das Selbstbestimmungsrecht als „Recht auf staatliche Lostrennung von einem fremdnationalen Kollektiv und Bildung eines selbständigen Nationalstaats“
Stalin, der als erster Volkskommissar für Nationalitätenfragen die entscheidende Rolle bei der Definition der sowjetischen Lehre vom Selbstbestimmungsrecht spielte und dessen Thesen zur „nationalen Frage“ auch heute noch gültiger Bestandteil der sowjetischen Doktrin sind, faßte hingegen diesen Begriff weiter und konkreter: „Recht auf Selbstbestimmung, das heißt: Nur die Nation selbst hat das Recht, über ihr Schicksal zu bestimmen; niemand hat das Recht, sich in das Leben einer Nation gewaltsam einzumischen, ihre Schulen und sonstigen Einrichtungen zu zerstören, ihre Sitten und Gebräuche umzustoßen, ihre Sprache zu knebeln, ihre Rechte zu schmälern“; und: „Recht auf Selbstbestimmung, das heißt: Die Nation kann sich nach eigenem Gutdünken einrichten. Sie hat das Recht, ihr Leben nach den Grundsätzen der Autonomie zu bestimmen. Sie hat das Recht, zu anderen Nationen in föderative Beziehungen zu treten. Sie hat das Recht, sich gänzlich loszutrennen. Die Nation ist souverän, und alle Nationen sind gleichberechtigt.“
Stalin erkennt zwar hier die Nation als Träger des Selbstbestimmungsrechts an und legt sich auch auf eine Definition der Nation fest: „Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart.“
Aber Stalin trifft gleichzeitig eine einschränkende Feststellung, die für das Verhältnis der sowjetkommunistischen Theorie und Praxis in Fragen des Selbstbestimmungsrechts von entscheidender Bedeutung ist.
Die Nation sei nicht eine historische Kategorie schlechthin, „sondern eine historische Kategorie einer bestimmten Epoche, nämlich der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus“. Die Bougeoisie sei also unter diesen Umständen Träger der nationalen Bewegung. Manchmal könne zwar das Interesse des Proletariats mit dieser nationalen Bewegung gleichlaufen. Dann erhalte der nationale Kampf den äußeren Anschein eines Kampfes des „ganzen Volkes“. Aber seinem Wesen nach bleibe das stets ein bürgerlicher Kampf, der hauptsächlich für die Bourgeoisie vorteilhaft und ihr genehm sei
Aus dieser einschränkenden und relativierenden Klassenbezogenheit des Stalin’schen Begriffs der Nation ergibt sich die Schlußfolgerung vom Vorrang der Interessen des Proletariats vor dem Interesse der Nation. Schon im Anschluß an die oben zitierte Stelle über das Recht der Nationen, sich nach eigenem Gutdünken einzurichten, schränkt Stalin ein: „Eine Nation hat das Recht, sogar zu alten Zuständen zurückzukehren. Aber das heißt nicht, daß die Sozialdemokratie (vorrevolutionäre Bezeichnung für die KPdSU) einen derartigen Beschluß dieser oder jener Institution der gegebenen Nation unterschreiben wird. Die Pflichten der Sozialdemokratie, die die Interessen des Proletariats verficht, und die Rechte der Nation, die aus verschiedenen Klassen zusammengesetzt ist, sind zwei verschiedene Dinge.“
Noch deutlicher als in diesen 1913 geschriebenen Sätzen wird diese Schlußfolgerung von Stalin im Jahre 1918 ausgesprochen, als die Bolschewisten in Rußland die Macht bereits erobert hatten: „Das Prinzip der Selbstbestimmung (ist) nicht als Recht der werktätigen Massen der gegebenen Nation auszulegen. Das Prinzip der Selbstbestimmung muß ein Mittel im Kampf für den Sozialismus sein und den Prinzipien des Sozialismus untergeordnet werden.“
Die radikale Verfechtung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen im Sinne der staatlichen Loslösung vom zaristischen Reich konnte für die russischen Kommunisten nur von Interesse sein, solange sie als Kampfinstrument gegen den Zarismus dienlich war; nach der kommunistischen Machteroberung mußten jedoch die nationalen Selbstbestimmungsforderungen der nichtrussischen Randgebiete, zumal sich in diesen bürgerliche bzw. sozialdemokratische Regierungen gebildet hatten, zwangsläufig in Kollision mit den weltrevolutionären Interessen der russischen Kommunisten geraten. Aus dieser Notwendigkeit wurden daher Kautelen gegen eine inopportune Verwirklichung des nationalen Selbstbestimmungsrechts entwickelt. Einschränkende Kautelen wie der Begriff der „Zweckmäßigkeit der Sezession" oder das Kriterium der „objektiven Bedingungen der jeweils gegebenen Situation“, das auf die jeweiligen politischen Verhältnisse und die jeweilige „Klassenlage" abstellte, und schließlich die Verbindung des Begriffs des Sezessionsrechts auf nationalstaatlicher Grundlage mit dem erstrebten Endzustand der Verschmelzung auf internationalistischer Basis (Proletarier aller Länder vereinigt Euch!) dienten nun dazu, um den unbedingten Vorrang der weltrevolutionären Zweckmäßigkeit und des großrussisch-imperialen Machtinteresses vor dem nationalen Interesse der nichtrussischen Völker zu sichern.
Mit schonungsloser Offenheit hat dies Lenin bereits im April 1917 vorweggenommen: „Die Frage des Rechts der Nationen auf freie Lostrennung darf nicht verwechselt werden mit der Frage der Zweckmäßigkeit der Lostrennung dieser oder jener Nation in diesem oder jenem Augenblick. Die letztere Frage muß von der Partei des Proletariats in jedem einzelnen Falle vollkommen selbständig gelöst werden, und zwar vom Standpunkt der Interessen der ganzen gesellschaftlichen Entwicklung und des Klassenkampfes des Proletariats für den Sozialismus."
Ausgeweitet auf den weiteren afro-asiatischen Bereich ließ Stalin im Jahre 1920 diese Doppelzüngigkeit der sowjetkommunistischen Selbstbestimmungsrechtstheorie noch deutlicher werden: „Wir sind für die Lostrennung Indiens, Arabiens, Ägyptens, Marokkos und der übrigen Kolonien von der Entente, denn Lostrennung bedeutet in diesem Falle Befreiung dieser unterdrückten Länder vom Imperialismus, bedeutet Schwächung der Positionen des Imperialismus und Stärkung der Position der Revolution. Wir sind gegen die Lostrennung der Randgebiete von Rußland, denn Lostrennung bedeutet in diesem Fall imperialistische Knechtschaft für die Randgebiete, bedeutet Schwächung der revolutionären Macht Rußlands und Stärkung der Positionen des Imperialismus ...
Die Frage der Lostrennung ist offenbar je nach den konkreten internationalen Bedingungen, je nach den Interessen der Revolution zu entscheiden.“
Für Lenin und Stalin hatte somit der Selbstbestimmungsgedanke nur die Funktion, Wegbereiter der kommunistischen Weltrevolution zu sein. Die zeitweilige Gewährung nationaler Selbstbestimmung war ihnen nur eine taktisch bedingte Zwischenstufe für den Sieg der bolschewistischen Revolution in Rußland, für ihre Weiterentwicklung zur Weltrevolution und für die Verschmelzung aller Völker im kommunistischen Universalstaat. 2. Die Vergewaltigung des Selbstbestimmungsrechts in der sowjetischen Praxis Nichts illustriert die Doppelzüngigkeit der sowjet-kommunistischen Doktrin eines nicht nur inhaltlich beschränkten, sondern im ganzen relativierten Selbstbestimmungsrechts der Nationen deutlicher als die innen-und außenpolitische Praxis der Sowjetunion selbst.
Angesichts ihrer innen-und außenpolitischen Schwäche versuchte die auf Zentralrußland beschränkte junge Sowjetmacht zunächst die nationalrevolutionären Bewegungen der nichtrussischen Nationalitäten des zaristischen Vielvölkerstaats als Bundesgenossen bei der Zerschlagung des Zarentums sich nutzbar zu machen. Das russische Proletariat, d. h. die bolschewistische Partei Rußlands, sollte als sozialer wie als nationaler Befreier erscheinen. Schon die „Dekla-ration der Rechte der Völker Rußlands“ vom 2. /15. November 1917, die von der neuen Sowjetmacht bereits einige Tage nach ihrer Konstituierung erlassen worden war, stand aber unter dem in der kommunistischen politischen Strategie begründeten Vorbehalt. Diese Deklaration, die später als Präambel in die 1. Verfassung
Damit fügte sich jedoch die Sowjetmacht nur einem faktischen Zustand: Polen und das Baltikum waren von den Deutschen besetzt, die Likraine, die kaukasischen und mittelasiatischen Provinzen des Zarenreiches waren bereits im Abfall begriffen und gaben sich antikommunistische nationale Regierungen.
Statt aber nun ehrlich den Willen der zentrifugalen nichtrussischen Nationalitäten zu respektieren und ihre eigenen programmatischen Losungen in die Tat umzusetzen, machten die russischen Bolschewisten, sobald sie sich dazu militärisch stark genug fühlten, ihren ideologisch begründeten Willensvorbehalt gegenüber dem nationalen Selbstbestimmungsrecht geltend.
Mit der Losung „erst Sowjetisierung — dann Entscheidung über die Sezession" schufen sich die bolschewistische Partei Rußlands und die Sowjetregierung einen Vorwand, um die antisowjetischen Regierungen der abgefallenen Randgebiete als konterrevolutionär zu brandmarken und ihnen die Anerkennung zu versagen. Im planmäßigen Zusammenspiel zwischen den Landes-Sektionen der zentral von Moskau gesteuerten kommunistischen Partei, die teils örtliche Aufstände zu inszenieren, teils Exilregierungen zu bilden hatten, und von der aktiv intervenierenden Roten Armee wurden sodann diese Gebiete unter Berufung auf den vorgeblichen Volkswillen sowjetisiert. War die gewaltsame Errichtung von nationalen Sowjetrepubliken einmal vollzogen, so war der theoretisch zwar immer noch offen gelassene Weg der Sezession praktisch als konterrevolutionäres Verbrechen, als Abfall vom „proletarischen Vaterland“ endgültig versperrt.
Nach dieser gewaltsamen Sowjetisierung der nichtrussischen Randvölker trieb die im Sowjet-system allein dirigierende Kraft, die zentralistisch ausgerichtete und über alle nationalen Grenzen hinweg einheitlich organisierte bolschewistische Partei, die „Sammlung des russischen Landes“ gemäß den auf ihrem VIII. Parteitag (März 1919) gefaßten Resolutionen planmäßig weiter: von der anfänglichen Dezentralisierung der nationalen Sowjetrepubliken über ihren Staatenbund zur formal bundesstaatlichen „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" (UdSSR), die 1923 konstituiert wurde und seitdem infolge ihrer bewußt beibehaltenen nationalen Anonymität dem „Beitritt“ weiterer „Sozialistischer Sowjetrepubliken“ offensteht.
Dauerte die 1917 von den russischen Bolschewisten nur aus taktischen Gründen gewährte Respektierung der von den nichtrussischen Nationen in der Ukraine und Weißrußland sowie in Transkaukasien und Turkestan geschaffenen Tatsachen selbständiger nationaler Randstaaten nur einige Jahre, so war die Galgenfrist zwischen Anerkennung und Widerruf des Selbstbestimmungsrechts für die drei baltischen Staaten um 20 Jahre länger bemessen. Als aber das Komplott des Stalin-Hitler-Paktes 1939 eine günstige Gelegenheit bot, säumte die Sowjetunion keinen Augenblick, um Estland, Lettland und Litauen nach altbewährter Methode ihrer nationalen Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu belauben.
Im Dorpater Friedensvertrag vom 2. 2. 1920 hatte die RSFSR „ausgehend vom Recht aller Völker auf freie Selbstbestimmung bis zur vollständigen Abtrennung ... bedingungslos die Unabhängigkeit und Selbständigkeit des estnischen Staates anerkannt“ und „freiwillig auf ewige Zeiten allen vorgängigen souveränen Rechten Rußlands entsagt“
III. Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht
Es ist hier zwar nicht der Ort, um die Entwicklung des Selbstbestimmungsgedankens zum epochalen Prinzip unseres Jahrhunderts nachzuzeichnen. Angesichts der Relativierung des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung in der sowjet-kommunistischen Doktrin und angesichts des taktischen Mißbrauchs dieses Prinzips in der praktischen Politik der Sowjetunion erscheint es jedoch notwendig, der von Moskau betriebenen Begriffsverwirrung zu begegnen und ihr die wesentlichen Elemente des unverfälschten Prinzips der nationalen Selbstbestimmung gegenüberzustellen:
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ein tragender Grundsatz der internationalen Ordnung der Gegenwart. Die Vereinten Nationen haben ihn durch Aufnahme in ihre Satzung
Die Geltung des Völkerrechts ist aber universal. Weder das allgemeine Völker-recht, noch Sinn und Wortlaut der Satzung der Vereinten Nationen erlauben, den Geltungsbereich des Selbstbestimmungsgrundsatzes regional etwa nur auf die Völker des kolonialen und halbkolonialen Bereiches einzuengen. Auch die anderweitig förmlich anerkannte Gleichberechtigung aller Völker gestattet keine diskriminierende Nichtanwendung des Selbstbestimmungsrechts auf einzelne Völker, auch nicht unter dem Vorwand angeblicher Verwirkung.
Zum Begriffsinhalt des Selbstbestimmungsrechts hat die Menschenrechts-kommission der Vereinten Nationen am 21. 4. 1952 eine Definition beschlossen, die den Entwürfen der „Konvention zum Schutz der bürgerlichen und politischen Rechte" und der „Konvention zum Schutz der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte" vorangestellt wurde: „Alle Völker und Nationen sollen das Recht der Selbstbestimmung haben, nämlich das Recht, über ihren politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Status zu bestimmen.“
Obwohl die Menschenrechtskonventionen noch nicht ratifiziert sind, hat diese Definition bereits allgemeine Zustimmung in der Völkerrechtslehre gefunden. Die Vereinten Nationen haben auch den unlöslichen inneren Zusammenhang zwischen den individuellen Menschenrechten und dem kollektiven Recht der Selbstbestimmung ausdrücklich betont. In der am 16. 12. 1952 von der VII. Vollversammlung verabschiedeten Resolution 637 (VII) wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Voraussetzung für die Verwirklichung der allgemeinen Menschenrechte anerkannt: „Da das Recht der Völker und Nationen auf Selbstbestimmung eine Voraussetzung für den vollen Genuß aller grundlegenden Menschenrechte ist und da die Charta der VN in den Artikeln 1 und 55 darauf abzielt, zur Festigung des Weltfriedens freundschaftliche, auf der Achtung der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln . . .. empfiehlt die Generalversammlung:
1. daß die Mitgliedstaaten der VN den Grundsatz der Selbstbestimmung aller Völker und Nationen aufrechterhalten, 2. daß die Mitgliedstaaten der VN ... die V e r -wirklichung des Selbsbestimmungsrechts der Völker nach deren frei ausgedrücktem Willen in den Gebieten ohne Selbstregierung anerkennen und fördern, wobei der Wille des Volkes durchVolksabstimmungenoder andere anerkannt demokratische Mittel festzustellen ist, vorzugsweise unter der Obhut der VN ..
Die Generalversammlung der VN hat schließlich in der am 15. 12. 1960 verabschiedeten Resolution 1514 (XV) einen weiteren wichtigen Beitrag zur inhaltlichen Konkretisierung des Selbstbestimmungsgrundsatzes geleistet: „Jeder Versuch, die nationale Einheit und die territoriale Integrität eines Landes ganz oder teilweise zu zerbrechen, ist mit den Zielen und Grundsätzen der Satzung der VN unvereinbar.“ So sehr auch diese Definitionen noch weiterer Ausgestaltung bedürfen, haben sie dennoch die wesentlichen Elemente des Selbstbestimmungsrechts fixiert und die verbindliche Richtung für ihre Fortentwicklung und Auslegung gewiesen.
T r ä g e r des Selbstbestimmungsrechts sind demnach nicht Staaten und Regierungen, sondern Völker und Nationen. Ihr Wille zur Selbstbestimmung muß tatsächlich und unverfälscht zum Ausdruck kommen können, eben durch Plebiszite und andere anerkannt demokratische Mittel. Dieser tatsächliche Volkswille kann daher — wie es in der sowjetkommunistischen ideologisch bedingten Interpretation geschieht — nicht ersetzt werden durch den angeblich „objektiven Volks-wille n“, den allein die kommunistische Partei kraft ihrer angeblichen Einsicht in die historische Gesetzmäßigkeit festzustellen beansprucht. Der tatsächliche Volkswille kann auch nicht präjudiziert werden. Er kann auf Selbstbestimmung in Form der Bildung eines selbständigen nationalen Staates, des Zusammenschlusses mit einem anderen Staat, der Sezession oder auf andere Formen der Selbstbestimmung gerichtet sein. Er findet seine Schranken lediglich in den Rechten anderer Völker, den allgemeinen Interessen und der rechtlich-sittlichen Ordnung der Völkergemeinschaft.
Die Sowjetunion hat diesen von ihr mitgeschaffenen Grundsätzen und Vorschriften der Vereinten Nationen zugestimmt. Sie muß sie sich daher auch in der deutschen Frage entgegenhalten lassen. Ihr darf es auch nicht gestattet werden, sich aus zweckideologischen und machtopportunistischen Gründen diesen eingegangenen Verpflichtungen zu entziehen. Wenn die Sowjetunion und die sowjetische Völkerrechtslehre das Selbstbestimmungsrecht sogar als positiven Völkerrechtssatz und Bestandteil des Völkervertragsrechts anzuerkennen vorgeben, andererseits aber diesem Begriff einen völlig neuen, seiner allgemeinen Bedeutung entgegengesetzten und ihn geradezu auflösenden Inhalt zu geben versuchen, dessen Verbindlichkeit allein in der eigenen Ideologie und innerstaatlichen Autorität begründet ist, so kann ein solches Verhalten nicht anders als Schizophrenie bezeichnet werden.
IV. Die doppelzüngige Argumentation Moskaus in der deutschen Frage
Der Widerspruch der sowjetischen Theorie und Praxis zur allgemeingültigen Auffassung des Selbstbestimmungsrechts ist so grundsätzlicher Natur, daß er durch keine noch so geschickten Propagandamanöver verdeckt werden, kann. Ebensowenig halten auch die konkreten Argumente Moskaus zur Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsprinzips in der deutschen Frage, wie sie in dem eingangs referierten Prawda-artikel vorgebracht werden, einer kritischen Untersuchung stand; 1. Der Verfasser des Prawda-Artikels versudtt zunädtst, den Begriffsinhalt und Anwendungsbereich des Se 1 bstbe -Stimmungsrechts unter Berufung auf Lenin grundsätzlich einzu -engen.
Beide Versuche stehen in eindeutigem Widerspruch zur Entwicklung und Ausgestaltung des Selbstbestimmungsgrundsatzes durch die Vereinten Nationen und zu Sinn und Wortlaut ihrer entsprechenden Bestimmungen, zur communis opinio der Völkerrechtslehre und zur Staaten-praxis der letzten Jahrzehnte. Maßgeblich für den Begriffsinhalt des Selbstbestimmungsrechts kann auf internationaler Ebene nur die allgemeingültige Auffassung der Völkerrechtsgemeinschaft sein, wie sie unter anderem in den erwähnten Konventionen der Menschenrechts-kommission der Vereinten Nationen Ausdruck gefunden hat
Diese Argumentation kann vom völkerrechtlichen Standpunkt aus nur als irrelevant bezeichnet werden. Träger des Selbstbestimmungsrechts sind — sowohl nach Wortlaut und Sinn des Selbstbestimmungsgrundsatzes in den von den Vereinten Nationen entwickelten Bestimmungen als auch nach allgemeiner Völkerrechtsauffassung — die Völker und Nationen, nicht die Staaten und Regierungen. Auch die heute noch in der sowjetischen Doktrin anerkannte Stalin’sche Definition des Selbstbestimmungsrechts bestimmt eindeutig die Nation als Träger des Selbstbestimmungsrechts
Selbst wenn man aber der Argumentationsweise des sowjetischen Autors folgen wollte — wie sehen dann die von ihm beschworenen „Realitäten“ der deutschen Frage aus, die sich angeblich nicht unter die Norm des Selbstbestimmungsgrundsatzes einordnen lassen, wie verhalten sie sich zur objektiven Wirklichkeit und zu den für die völkerrechtliche Anerkennung eines Staates verbindlichen Kriterien?
Gewiß, in dem Gebilde der sogenannten DDR ist eine Herrschaftsgewalt über ein bestimmtes Gebiet und über die dort wohnende Bevölkerung etabliert. Diese äußeren Attribute eines Staates im staatsrechtlichen Sinne kommen bei ihm in höchst eigenartiger Form zum Ausdrude. Die Grenzen dieses Gebietes sind markiert durch Stacheldrahtzäune und hohe Mauern. Die dort lebende Bevölkerung ist von ihrer Umwelt nicht nur im Westen, sondern auch im Osten hermetisch abgeschlossen wie die Belegschaft eines Gefängnisses. Die von außen eingesetzte und gestützte Herrschaftsgewalt kann sich nicht Genüge tun, die äußere Macht ihres Apparates zu demonstrieren.
Die Feststellung dieser „Realität“ ist jedoch grundlegend verschieden von der Frage, ob damit das Gebilde der sogenannten DDR die Voraussetzungen erfüllt, die nach allgemeingültigen völkerrechtlichen Grundsätzen für die Anerkennung eines Staates gelten. Eine als solche bestehende Tatsache trägt von Natur aus keineswegs bereits ihre Rechtfertigung in sich selbst. Sie besagt nichts darüber, wie sich die Umwelt zu ihr einzustellen hat, ob sie sie hinnehmen soll, ob sie sie darüber hinaus sogar rechtlich oder zumindest „de facto“ anerkennen soll oder ob sie nicht vielmehr umgekehrt darauf hinwirken müßte, diese „Realität" zum Verschwinden zu bringen. „Ein Staat als volles Subjekt des Völkerrechts" — so gibt Verdroß die henschende völkerrechtliche Auffassung wieder — „ist ein auf einem bestimmten Gebiet organisierter Personenverband, dessen V e r b a n d s g e w al t auf diesem Gebiet unabhängig vonjeder anderen ihm nicht untergeordneten oder e i n g e o r d n e t e n Verbandsgewalt gilt".
Die in Mitteldeutschland bestehende Herrschaftsgewa 11 ist nicht einmal eine autochthone, originäre, auf eigenerMacht beruhende Diktatur, die allenfalls noch als Staatsgewalt im Sinne des Völkerrechts zu gelten hätte, geschweige denn eine durch freie Wahlen oder andere freie Willensbekundungen der Bevölkerung demokratisch legitimierte Staatsgewalt. Sie ist ein Produkt der Fremdbestimmung, nicht der Selbstbestimmung. Schon das Gutachten der vom Völkerbund im Streit um die Aalands-Inseln beauftragten Juristenkommission (1920) hat zu den Erfordernissen eines „definitiv konstituierten Staates" die Fähigkeit gerechnet, die „Autorität auf seinem Gebiet ohne Hilfe auswärtiger Truppen zu behaupten“. Das sowjetzonale Regime dagegen ist von der sowjetrussischen Besatzungsmacht gewaltsam etabliert, 1953 nur mit Hilfe sowjetrussischer Panzer gegen den Aufstand der unterdrückten Bevölkerung aufrechterhalten worden und verdankt seine weitere Existenz nur der Anwesenheit sowjetrussischer Truppen. Die Sowjetunion hält dieses Marionetten-Regime nur am Leben, um das deutsche Volk zu spalten, um ihr eigenes Imperium durch eine hoch industrialisierte Arbeitskolonie abzurunden und um eine Ausfallbasis für die weitere weltrevolutionäre und imperialistisch-machtpolitische Expansion zu besitzen, Aber nicht nur mangels einer originären Staatsgewalt, sondern auch mangels eines Staatsvollces muß dem Gebilde der sogenannten DDR die Staatsqualität abgesprochen werden. Wo es kein besonderes Staatsvolk mit gemeinschaftlichem National-und Staatsbewußtsein gibt, kann es auch keinen besonderen Staat geben. Die entscheidende Realität ist, daß es nur ein einziges deutsches Volk gibt. Die Flucht von annähernd vier Millionen Menschen aus diesem Gebiet seit Bestehen des kommunistischen Regimes und die von Ulbricht selbst eingestandene Notstandsmaßnahme, den Abfluß der notwendigen Arbeitskräfte nur durch die Sperrmauer in Berlin und Stacheldrahtzäune an den Zonengrenzen aufhalten zu können, beweisen mehr als Worte, daß von einem Bewußtsein eines besonderen Staatsvolkes bei den Menschen in der Sowjetzone ebenso wenig die Rede sein kann wie bei einer Belegschaft eines Gefängnisses. Es ist also eine Fiktion, von real bestehenden zwei deutschen Staaten zu sprechen, ohne daß es zwei deutsche Staatsvölker gibt. Die Realität ist vielmehr, daß es nur e i n deutsches Volk gibt, während ein Teil des deutschen Volkes vom Gesamtvolk durch ein nur auf fremden Bajonetten beruhendes Marionetten-Regime separiert wird. 3. Ebensowenig stichhaltig ist das weitere Argument des sowjetischen Autors, die deutsche Forderung auf Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands könne nicht auf die einheitliche deutsche Sprache gestützt werden. Wie nämlich die Existenz zweier bürgerlicher deutschsprachiger Staaten — Deutschland und Österreich nach 1871 — anerkannt worden sei, müsse auch heute die staatliche Existenz der „sozialistischen DDR“ neben der „bürgerlichen Bundesrepublik“ anerkannt werden
Zunächst ist hier eine plumpe Entstellung zurückzuweisen. Keinem verantwortlichen deutschen Politiker käme der Gedanke — wie der Prawdaartikel behauptet—, aus der Einheit eines Sprachgebietes die Forderung nach einem entsprechenden einheitlichen Staatsgebiet abzuleiten. Die Sprache ist allein kein konstitutives Merkmal eines Staates und Staatsvolkes. Es gibt mehrsprachige Staaten, ebenso wie verschiedene Staaten mit gleichsprachiger Bevölkerung. Es kommt vielmehr auf das Vorhandensein eines Staatsvolkes mit dem Willen und Bewußtsein an, eine staatliche Gemeinschaft zu bilden. Auch die schon zitierte Definition Stalins zählt zu den essentiellen Merkmalen der Nation neben der Sprache die Gemeinschaft des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart, die erst in ihrer Gesamtheit und in langer historischer Entwicklung jene stabile Gemeinschaft von Menschen hervorbringen, die als Nation bezeichnet werden kann. Eben diese Voraussetzungen waren und sind aber in Österreich auf Grund einer eigenständigen politischen wie kulturellen Entwicklung gegeben. Daß diese Voraussetzung in der sowjetischen Besatzungszone hingegen fehlt, ist bereits zur Genüge dargetan. 4. Im Prawdaartikel wird ferner argumentiert, die Spaltung Deutschlands habe sich nicht unter nationalem, sondern sozialem, gesellschaftspolitischem Vorzeichen vollzogen
Betrachtet man dieses Argument zunächst in seinen logischen Konsequenzen, so widerlegt es die Prämissen der sowjetischen These von zwei deutschen Staaten, da es nämlich indirekt den Fortbestand der nationalen Einheit, und damit die Existenz eines deutschen Staatsvolkes anerkennt. Wie kann unter diesen Voraussetzungen noch von „real bestehenden zwei deutschen Nationalstaaten" gesprochen werden? Wie sehr sich die Sowjetunion damit in Widerspruch zur vorerwähnten VN-Resolution 1514 (XV) vom 15. 12. 1960 setzt, ist evident. Wenn diese Resolution „jeden Versuch, die nationale Einheit und territoriale Integrität eines Landes ganz oder teilweise zu zerbrechen", als unvereinbar mit den Zielen und Grundsätzen der VN erklärt, so gilt dies auch für jeden Versuch, einen bereits bestehenden oder gar absichtlich herbeigeführten Zustand der zwangsweisen Separierung eines Volks-teiles vom Gesamtvolk gewaltsam aufrechtzuerhalten.
Die sowjetische Argumentation, die angeblich primär unter sozialem, gesellschaftspolitischem Vorzeichen stehende Spaltung Deutschlands berühre nicht den Selbstbestimmungsgrundsatz, mißachtet aber auch andere ausdrücklich und verbindlich erklärte Grundsätze der VN. Nach der bereits erwähnten Definition des Selbstbestimmungsrechts in den Entwürfen der Men-schenrechtskonvention beinhaltet das Recht der Selbstbestimmung nicht nur das Recht der Völker und Nationen, über ihren politischen, sondern auch über ihren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Status zu bestimmen. Ein von einem fremdnationalen Staat einem anderen Volk oder Teil eines Volkes zwangsweise auferlegter wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Status ist somit eine ständige Verletzung des Selbstbestimmungsrechts.
Ebendies aberistin der So wj etzone Deutschlands derFall. Auch dasgegenwärtig dort etablierte wirtschafts-und gesellschaftspolitische System ist kein Produkt der Selbstbestimmung, sondern der Fremdbestimmung, ist ein Teiltatbestand des Systems der sowjetrussischen Fremdherrschaft. Die Methoden der Zwangsenteignungen, der Zwangskollektivierung des Handwerks, der Landwirtschaft und der freien Berufe sowie der permanente Terror des zur Aufrechterhaltung dieser Kopie eines fremdländischen Wirtschafts-und Gesellschaftssystems offensichtlich notwendigen drakonischen Strafrechtes sind schlagende Beweise dafür, daß die sozialökonomische Wandlung in der Sowjetzone nicht Ergebnis eines originären und spontanen gesellschaftlichen Prozesses ist, sondern auf ständigen und planmäßigen Eingriffen der Besatzungsmacht beruht. Nicht einmal ein „eigener deutscher Weg zum Sozialismus“ ist bislang den deutschen Handlangern Moskaus erlaubt gewesen, sondern als konterrevolutionäre Abweichung von der von Moskau bestimmten Generallinie verfolgt worden, wie die Verurteilung der sowjetzonalen Funktionäre Zaisser und Herrnstadt (1953) sowie Schirdewan und Oelssner (1958) beweist.
Der Sowjetzone Deutschlands ist aber nicht nur diese neue wirtschafts-und gesellschaftspolititische innere Struktur von Moskau oktroyiert worden; sie ist zudem mit ihrer gesamten wirtschaftlichen Kapazität in die arbeitsteilige Großraumwirtschaft des Ostblocks (COMECON) eingegliedert. Für die Wirtschaft der Sowjetzone ergibt sich hieraus — ebensowie für die Volkswirtschaften der osteuropäischen Satellitenstaaten — ein Zustand einseitiger funktionaler Abhängigkeit und Unterordnung unter die fremdnationalen sowjetrussischen Interessen, da allein die sowjetrussische Staatswirtschaft das Privileg einer Autarkie auf allen Gebieten hat und die Entscheidung über die nationale Wirtschaftsverfassung und -gestaltung von der hegemonialen Sowjetunion usurpiert wird. Als hochindustialisierte „Werkstatt des Ostblocks“ ist damit die Sowjetzone Deutschlands nichts anderes als ein Objekt wirtsc ha fliehet Ausbeutung, eine sowjetrussische Arbeitskolonie.
Der Verfasser des Prawdaartikels lehnt in diesem Zusammenhang die deutsche Forderung nach freien gesamtdeutschen W ahI e n rundweg ab. Sie seien ein untaugliches Mittel, um die primär unter wirtschafts-und gesellschaftspolitischem Vorzeichen stehende deutsche Spaltung zu überwinden.
Demokratische Abstimmungen und die freie Willensbekundung gewährleistende Wahlgesetze mögen allerdings für Kommunisten belanglos sein. In ihrer Doktrin gilt ja nicht der tatsächliche, eben nur in freien Abstimmungen und Wahlen zu ermittelnde Wille des Volkes, sondern der sogenannte „objektive Wille des Volkes“, dessen ausschließliche Interpretin die Kommunistische Partei zu sein beansprucht. Die Kommunisten mögen aber zur Kenntnis nehmen, daß für die demokratische Welt die freie Wahl ein politisches Grundrecht des Bürgers und Volkes ist und daß auch die Vereinten Nationen in der schon erwähnten Resolution 637 (VII) vom 16. 12. 1952 „Volksabstimmungen oder andere anerkannt demokratische Mittel" als verbindliche Methode erklärt haben, um den Willen eines Volkes zur Verwirklichung seines Selbstbestimmungsrechts, d. h. zur Bestimmung seines politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Status, zu ermitteln.
Die Sowejtunion hat dagegen bisher alle westlichen Vorschläge bezüglich freier Wahlen als Grundlage einer Wiedervereinigungsprozedur praktisch sabotiert und in den letzten Jahren sogar kategorisch abgelehnt. Sie hatte — offensichtlich in Kenntnis des wirklichen Willens der Bevölkerung in der Sowjetzone — Angst, die Richtigkeit ihrer Zweistaatentheorie auf die Probe zu stellen. Die sowjetzonalen Handlanger Moskaus haben 1951 sogar einer neutralen Kommission der UNO den Zutritt verweigert, die lediglich die Voraussetzungen für freie Wahlen in der Sowjetzone prüfen sollte. Ein eindeutigeres Eingeständnis der Schwäche der eigenen Position kann es nicht geben.
Die Bundesrepublik Deutschland hingegen war und ist bereit, die Frage der Wiedervereinigung dem Votum des deutschen Volkes in Ost und West zu unterwerfen. Wenn die Sowjetunion von der „Realität eines sozialistischen deutschen Staates in Gestalt der DDR“ angeblich so überzeugt ist, warum wagt sie dann nicht diese These dem Entscheid des deutschen Volkes zu überantworten? Warum — so muß weiter gefragt werden — läßt die Sowjetunion nicht in getrennten Abstimmungen die Bevölkerung der Sowjetzone frei darüber entscheiden, ob sie einen besonderen deutschen Staat mit „sozialistischer Gesellschaftsordnung“ will, wobei sie keine Majorisierung der Sowjetzone durch die an Bevölkerungszahl überlegene Bundesrepublik zu befürchten hätte? Solange diese Probe auf den Willen des deutschen Volkes nicht gemacht ist, bleibt die zwangsweise aufrechterhaltene Separierung eines Teils des deutschen Volkes vom Gesamt-volk und das ihm mit Zwang von einer fremd-nationalen Macht auferlegte politische, sozialökonomische und gesellschaftliche System eine ständige Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und Nationen.
Abschließend muß der „Prawda" mit aller Entschiedenheit geantwortet werden:
Das deutsche Volk wird sich weder durch sowjetkommunistische Begriffsverdrehungen noch Diffamierungen von seiner legitimen Forderung nach Selbstbestimmung abbringen lassen. Es erhebt diese Forderung auch im Bewußtsein, daß Universalität und Rang des Selbstbestimmungsgrundsatzes es nicht erlauben, dieses Grundrecht der Völker und Nationen einem einzelnen Volk vorzuenthalten.
Die deutsche Frage ist unter diesem Gesichtspunkt von existenzieller Bedeutung für die Völkerrechtsgemeinschaft. Über 40 Staaten mit mehr als 600 Millionen Einwohner haben in den letzten Jahrzehnten ihre staatliche Selbständigkeit auf Grund der Anwendung des Selbstbestimmungsgrundsatzes errungen. Die Hinnahme einer ständigen Verletzung dieses Grundsatzes im Falle Deutschlands müßte daher unabsehbare Gefahren für die organisierte Völkergemeinschaft im ganzen und vor allem für diese neuen Staaten heraufbeschwören, deren Existenz gerade auf der unverbrüchlichen Kraft und Universalität des Selbstbestimmungsrechts beruht. Auch im Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen osteuropäischen Nachbarvölkern wird nur die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts aller beteiligten Nationen die Grundlage für die notwendige Versöhnung und damit eine gerechte und dauerhafte Friedensordnung schaffen.