pDer vorliegende Beitrag findet Aufnahme in I »Vollmacht des Gewissens“ — heraus-e yeben von der »Europäischen Publikation Fp'ran'k., furt'a. dMer„ edresmchneäicnhtst beim Metzner-Verlag,
Einleitung
Der Abhandlung sind einige Bemerkungen vorauszuschicken. Sie befassen sich teils mit Grundsätzlichem im deutschen Führerstaat, teils mit Eigenschaften Hitlers; sie streifen Gegebenheiten bei Kriegsausbruch sowie Auswirkungen des ersten Kriegsjahres. Sie sollen dem Leser insgesamt Tatsachen in die Erinnerung rufen, die fortlaufend zu beachten bleiben und deren Kenntnis zur Beurteilung von Tun und Lassen der deutschen Führung wesentlich ist.
Das Dritte Reich, der deutsche Führerstaat, war von Beginn an keine Demokratie und sollte auch keine sein. Die zunächst gelegentlich noch gewahrten demokratischen Spielregeln wurden schnell genug völlig beiseite geschoben. Bereits die Vorgeschichte des Krieges wie sein Ablauf bis zum Ende des Westfeldzuges hatten erkennen lassen, wie weit und wie stark sich die Verhältnisse in Deutschland vom allgemein Gewohnten abhoben, wie sehr sich in den wenigen Jahren seit 1933 die Kräfte verlagert hatten, zu welchem Zentralpunkt Hitler geworden war, um den alles kreiste. Erst in weitem Abstand folgte der zweite Mann im Staate — Göring. Aber auch er hatte im Sommer 1940 noch überragende Wirkungsmöglichkeit nach den verschiedensten Richtungen in seiner bewußt herausgehobenen Stellung als Politiker, Parteimann, Soldat und erster Wirtschaftsführer.
Alle in Deutschland wirkenden Personen von hohem politischen, soldatischen oder wirtschaftlichen Rang, die nicht aus der NSDAP hervorgegangen waren, standen damit einer Lage gegenüber, die für sie mit früher Gewohntem völlig unvergleichbar war.
Trotzdem soll der Versuch gemacht werden, objektiv kritisch das Handeln der Obersten Führung Deutschlands in dem Jahr von Mitte 1940 bis Mitte 1941 zu betrachten, dem Jahr, das vielleicht das entscheidende im Kriegsablauf war. Außer Betracht bleibt, inwieweit eine siegreiche Beendigung des Krieges dem Dritten Reich zu wünschen war. Jeder historisch-militärische Beitrag kann nur mit dem üblichen Maßstab messen, daß jede Führung nach dem Sieg streben muß.
Die Quellenlage und die Möglichkeit ihrer Verwertung hat sich in den letzten Jahren erfreulich verbessert; in den Jahren 1958 bis 1960 erfolgte eine Anzahl von Veröffentlichungen, die manche bisher noch dunkle Frage zum mindesten weiter aufzuhellen vermögen. Die Dokumentation ist beachtlich vervollständigt.
Und doch können selbst die besten und gesichertsten Unterlagen in vielen Fällen keinen wirklich eindeutigen und befriedigenden Weg in Folgendem öffnen: Hitler hat zweifelsfrei dem einen Gesprächstpartner zur gleichen Sache dies, einem anderen jenes gesagt; bei seinen oft sprudelnden Gedanken mag sicher gelegentlich eine momentane Eingebung, die sofort von sich zu geben er allzu geneigt war, eine beachtliche Rolle gespielt haben. Es kann also zum gleichen Thema durchaus voll belegbare Abweichungen geben, was häufig irritierend wirkt. Aber hat Hitler immer oder jemals gesagt, was er w i r k
In der Gesamtrüstung war im Herbst 1939 erst eine der vielen Etappen erreicht; ihr planmäßiges Ziel lag mehrere Jahre später. Die Wehrmacht war somit noch mitten im Aufbau, es war nichts fertig, es mangelte an jeglicher Bevorratung, ja es fehlten noch in weitem Umfang z. B. Ersatzteile. Sowohl das Offizier-wie das Unteroffizierkorps wiesen bei der von Hitler erzwungenen überstürzten Durchführung der Neuaufstellungen zwangsläufig noch äußere wie innere Mängel auf. Es war vorwiegend in die Breite gerüstet worden; die Rüstung in die Tiefe hatte erst in einer späteren Phase folgen sollen. Eine Offensive im Westen gegen zwei Großmächte im Herbst 1939 wäre schon aus den eben genannten Gründen nicht durchführbar gewesen. Erst ihre dauernde Verzögerung um über ein halbes Jahr gab die Möglich-keit, die dringlichsten Lücken zu füllen oder wenigstens ihre Bedeutung zu schmälern. Der Gedanke muß daher naheliegen, daß Hitler in diesen Zusammenhängen, die ihm natürlich nicht unbekannt waren, nur einen „lokalen" Einsatz der Wehrmacht in seine Rechnung einstellen, aber nie einen „globalen" Krieg wollen konnte.
Bei Betrachtung der in Szene und Partnern oft kaleidoskopartig wechselnden Lage in den zu behandelnden Monaten und bei Einschätzung auch aller mit Sicherheit zu erwartenden Risiken sollte man sich in Erinnerung zurückrufen, welche Eigenschaften Hitler schon auf dem Höhepunkt der Narvikoperation als Wehrmachtsführer hatte erkennen lassen. Nach immer wiederholten Eingriffen in die Führung, die bis in Einzelheiten gingen, entwickelte sich bei ihm auf Grund der Landung beträchtlicher englischer Kräfte bei Narvik eine Nervenkrise, die am Morgen des 15. 4. 40 in ihm den Entschluß reifen ließ, das Unternehmen aufzugeben, das mit so außerordentlichem Risikoeinsatz begonnen und zu so großen Anfangserfolgen geführt hatte. Diese unsichere und wenig kraftvolle Führung, die schließlich sogar bere
Zwei ähnliche, wenn auch äußerlich nicht so krasse Fälle hatten sich während des Westfeldzuges abgespielt; sie unterschieden sich auch in ihrer Bedeutung. Es waren einmal Eingriffe der Obersten Führung aus politischen, teilweise sogar propagandistischen Gründen in die operative Führung der Heeresverbände und andererseits wiederum Zeugnisse für die mangelnde Bereitschaft Hitlers, Risiken auf sich zu nehmen in der auf Können beruhenden Gewißheit, sie zu meistern. Aml 7.
Unabhängig von der hier nicht zu erörternden Frage, wer der „Initiator" dieses verhängnisvollen Entschlusses gewesen ist — Hitler oder Rundstedt —, es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Hitler als dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht die volle Verantwortung für seine Durchführung und überlange Aufrechterhaltung zugemessen werden muß. An diesem Vorfall sind besonders aufschlußreich: der Eingriff der Obersten Staats-und Wehrmachtsführung in operative Maßnahmen unmittelbar an der handelnden Befehlsstelle, also nicht etwa über den Oberbefehlshaber des Heeres, sondern auf dem Befehlsstand der zuständigen Heeresgruppe; das Außerachtlassen der gebilligten und befohlenen Grundidee des Feldzuges im entscheidenden Augenblick; die Fehlbeurteilung von operativen Erfolgsmöglichkeiten und die Verkennung der Bedeutung hemmender Eingriffe von oberster Stelle aus; die Zuerkennung des Primats der Politik mitten im Ablauf erfolgreichen militärischen Handelns; der Verzicht auf sich anbahnende strategische Erfolge größten Ausmaßes — Vernichtung des gesamten englisch-französischen Nordflügels — zu Gunsten weiterer operativer, aber zweitrangiger strategischer Vorhaben — der 2. Phase des Feldzuges gegen das französische Restheer. Und letzten Endes wieder die Scheu vor einem Risiko für die Panzerverbände in Flandern, das sich wesentlich aus den Nebeln der Erinnerung eigenen Erlebens im Jahre 1914 zu erheben schien.
Diese Scheu vor dem Risiko, das zwar mannhaft von Hitler häufig mit Worten beschworen worden, das er aber aus Wägen und Wagen zu meistern nicht imstande war, sollte in den entscheidungsträchtigen nächsten 12 Monaten eine weitere Rolle spielen. Schließlich darf die psychologische Auswirkung des bisher Erreichten nicht außer Betracht bleiben. Seit seiner Machtübernahme von einem politischen Erfolg zum nächsten eilend, stand Hitler nun nach drei siegreich bestandenen Feldzügen, deren Ergebnisse zudem noch selbst die Erwartungen der Optimisten weit übertrafen und die einstigen Besorgnisse der militärischen Fachleute und Berater ad absurdum geführt zu haben schienen, anscheinend auf der Höhe seiner Macht. Von zu höchsten Tönen gesteigerter Propaganda umrauscht, von den Glückwünschen weiter ausländischer politischer Kreise umschmeichelt oder wenigstens teils verwundert teils widerwillig anerkannt, mußte Hitler wohl selbst glauben, zu allem und jedem befähigt zu sein. Er konnte nach dem 22. 6., dem Abschluß des Waffenstillstandes mit dem letzten Festlandsgegner, in seinem fanatischen Willen, in seiner Überzeugung, in und mit ihm und zudem noch an der Spitze der schlagkräftigsten Wehrmacht der Welt, jeder Macht gewachsen zu sein, kaum zweifeln, nicht jedes Ziel leicht erreichen zu können. Seine Selbstsein-und -Überschätzung war weit entfernt davon, die Gefahr der Hybris zu erkennen. Es lag wohl auch nahe, daß dies übersteigerte Bewußtsein, die Welt plötzlich greifbar vor und unter sich ausgebreitet zu sehen, ihn im Augenblick dazu verführte, den bisher so beachteten Zeitfaktor gering zu schätzen und zu glauben, sich Zeit lassen zu können 7).
Eine gewisse Erfolgs-Schockwirkung auf die militärischen Berater und höchsten Führer der Wehrmacht ist bereits gestreift; zu der Verblüffung und teils freiwilliger und teils widerwilliger Anerkennung der durch Hitler insgesamt erzielten Erfolge kam die im Augenblick begreifliche Erleichterung über das Entfallen einer durch Monate tief empfundenen Verantwortungslast. Die Gefahr stand auf, die von Beruf aus zu kritischer Einstellung Verpflichteten könnten hierin nachlassen. Auch im Volk herrschte weithin das Gefühl, glückhaft und eigentlich überraschend von einem Albdruck befreit zu sein; es schob zunächst jedes realistische Denken in den Hintergrund und ließ das sichere Augenmaß für das politisch Wahrscheinliche und militärisch Mögliche verloren gehen. Hitlers engste Berater aller Art waren hiervon keineswegs ausgeschlossen. D i e Strategie schien auf Urlaub gegangen zu sein. Diese „Erfolgserschlaffung“ verführte zumVerkennen, ja zumAußer:
achtlassen des m i 1 i t ä r i s c h -p olitisch Notwendigen — dieWeisheit und Wahrhaftigkeit des alten Spruchs „ s i vis pacem, para bellum“ wurde vom „Führer und seiner Gefolgschaft weitgehend übersehen!
Hitlers politische Konzeption gegenüber England
Hitler hat zwar in seinem sogenannten politischen Testament vom 29. 4. 1945 bestritten, daß er oder irgend jemand anderes in Deutschland im Jahre 1939 den Krieg gewollt habe; aber an der Tatsache ist nicht zu deuteln, daß der von ihm am 1. 9. 1939 gegen Polen entfesselte Krieg gleichzeitig den Krieg mit den Westgegnern Frankreich und England riskierte. Dieses Risiko sollte nach seiner „festen Überzeugung“ freilich nicht wirksam werden. Insofern hat er den Welt krieg sicherlich nicht gewollt, ja nicht einmal erwartet und sich auf ihn auch in keiner Weise vorbereitet.
Man hätte allerdings annehmen sollen, daß Hitler erkannt hatte, daß die Verwirklichung seiner politischen Konzeption, nämlich die Gewinnung von „Lebensraum''für das wachsende deutsche Volk im Osten
Hitler zerstörte freilich selbst diese Erwartungen: er vernichtete mit dem Gewaltstreich von Prag im März 1939 die Grundelemente von Chamberlains Appeasementpolitik und führte eine radikale Wendung der britischen Außenpolitik durch Chamberlain selbst herbei. Da er das Münchener Abkommen wörtlich und seinem Geiste nach gebrochen und gleichzeitig auch seine oft und laut verkündeten politischen Zielsetzungen: Berücksichtigung und Achtung des Selbstbestimmungsrechts, Nichteinbeziehen fremden Volkstums, Abschluß aller territorialen Forderungen verleugnet hatte, verlor er jegliches politische und menschliche Vertrauen bei den anderen Mächten und beraubte sich jeden politischen Kredits. Die wenig später erfolgende Kündigung des deutsch-englischen Flottenabkommens von 1935, die auch ein Vetrragsbruch war, da man keine Kündigung im Vertrag vorgesehen hatte, konnte von den Engländern nur so aufgefaßt werden, daß Hitler nunmehr gewillt war, wieder eine Macht zur See aufzubauen, die sich logischerweise nur gegen England richten konnte.
Der Monolog Hitlers vor seinen höchsten mili tärischen Führern am 23. 5. 1939 (sogenanntes Schmundt-Protokoll)
Der am 10. 5. 1940 begonnene Westfeldzug führte zu Erfolgen, die hinsichtlich Zeitbedarf, Ausmaß und politischer Bedeutung selbst von Hitler und den größten Optimisten nicht erwartet worden waren, von den Bedenken, Sorgen, ja Befürchtungen maßgeblicher Soldaten vor Beginn ganz zu schweigen, die Gefahren einer unberechenbaren Kriegsausweitung sahen und sich der Beurteilung französischer militärischer Stärke und den militärischen Erinnerungen an 1914/18 nicht völlig zu entziehen vermocht hatten.
Es entsprach Hitlers Grundhaltung, daß sofort, als an der Tatsache des Sieges im Westen nicht mehr zu zweifeln war, erneute Bemühungen einsetzten, über diplomatische Kanäle im Ausland auf England einzuwirken. Ihnen folgte, dies sei zeitlich vorweggenommen, Hitlers „Appell an die Vernunft“ in der Reichstagsrede vom 19. 7. 1940. Dieser Appell war jedoch kein wirklich großzügiges aufrichtiges und detailliertes Friedensangebot — fast einen Monat nach Abschluß des deutsch-französischen Waffenstillstandsvertrages; er richtete sich aus Propaganda-gründen gleichzeitig an die Weltöffentlichkeit, obwohl ein echtes Angebot sicher zukunftsträchtiger durch diplomatische Vermittlung geleitet worden wäre.
Die militärpolitische Lage nach dem Westfeldzug
Die sich nach dem siegreichen Westfeldzug schnell — und schneller als erwartet — in überraschend großer Zahl und in ebenso bedeutendem Ausmaß ergebenden Probleme wurzeln in der militärpolitischen Lage im letzten Monats-drittel des Juni 1940. Ein Umblick ergab:
Frankreich als Machtfaktor war ausgeschaltet: die Bedingungen des Waffenstillstands waren — anscheinend ein Zeichen politischer Klugheit — maßvoll gehalten worden. Man hatte deutscherseits, insbesondere hinsichtlich der Flotte und des Kolonialreichs, auf Forderungen verzichtet, die für die Zukunft hätten belastend sein können, hatte zusätzlich die ursprünglich völlig unrealistischen italienischen Ansprüche auf ein Minimum zurückgeführt und hatte Frankreich die Möglichkeit offengelassen, selbst zum Erhalten und Schutz der Kolonien tätig zu werden. Freilich fehlte — mangels einer schon fest gefügten Konzeption über die künftige Gestaltung Europas — manches in den Bestimmungen, was Ersprießliches für die Zukunft hätte erwarten lassen. War es klug gewesen, alle Festlegungen auszuklammern, die klares Licht auf den beabsichtigten Weg im deutsch-französischen Verhältnis geworfen hätten? Es wird hierauf noch zurüdezukommen sein; gestreift sei nur die Unklarheit über die zukünftigen deutsch-französischen Grenzen und hinsichtlich Elsaß-Lothringens. Dazu bereiteten teils deutsche politische, teils organisatorische Maßnahmen den Franzosen sofort Sorgen: was wurde aus den Millionen Kriegsgefangener? warum durften die Flüchtlinge aus dem Raum nördlich der Somme nicht in ihre Heimat? Warum wurden die Departements Nord und Pas de Calais mit Belgien unter einem Militär-Befehlshaber vereinigt belassen?
Durch die Besetzung Dänemarks und Norwegens waren die Ausgangspositionen Deutschlands für einen Fortgang des Krieges ganz wesentlich verbessert worden. Das eigene Potential war durch die absolute Sicherung der schwedischen Erzgruben erheblich gestärkt; zusätzlich, war für eine eventuelle Kampfführung gegen Englands Insel eine gute Flankenstellung gewonnen. Freilich durften die klimatischen Verhältnisse Skandinaviens ebensowenig übersehen werden wie der Umstand, daß die Schaffung großräumiger Luftbasen aus geographischen Gründen kaum möglich erschien. Die U-Boot-basen für den Kampf gegen Englands Versorgung würden günstiger als bisher liegen, wenn auch die Entfernungen zu den Nordwestzufahrten nach England immer noch groß blieben und England durch die Besetzung der Färöer und Islands frühzeitig einen Gegenzug getan hatte.
Die Beziehungen zur Sowjetunion hatten in den letzten Wochen eine Trübung erfahren, nachdem schon der russische Winterfeldzug gegen Finnland erste Schatten auf das wohl beiderseits als Interims-und Zwecklösung betrachtete Paktverhältnis geworfen hatte. In der Auffassung, daß der deutsche Angriff im Westen — im Gegensatz zur ursprünglichen Hoffnung auf eine langfristige Verstrickung Deutschlands mit den Westmächten — zu schnellem Erfolge zu führen schien, beeilte sich die Sowjetunion, alle Früchte der deutsch-russischen Abmachungen vom August und September 1939 in ihre Scheuern zu bringen. Nach anfänglichen Beistandspakten mit den baltischen Staaten wurden sie, am 15. 6. beginnend, rasch völlig unter die sowjetische Botmäßigkeit gebracht. Auch das rumänische Bessarabien und die
Mit der Verstärkung des wirtschaftlichen Einflusses auf den Balkan im Laufe der letzten Jahre war die politische Einflußnahme Deutschlands Hand in Hand gegangen. Es mußte schon im Hinblick auf die für sein Kriegspotential lebenswichtigen rumänischen Ölfelder und serbischen Kupfer-und Bauxitgruben im deutschen Interesse liegen, den Stand auf dem Balkan unbedingt zu sichern, die von langher bestehenden Gegensätze zwischen seinen Nationen auszugleichen und die Ruhe aufrechtzuerhalten.
Der nunmehrige deutsche Eckposten am weitesten im Westen, am Fuß der Pyrenäen, war dem befreundeten Spanien benachbart, das sich seit der deutsch-italienischen Hilfe im Bürgerkrieg eng der Achse verbunden fühlte, ohne allerdings bisher — vom ideologischen Antikominternpakt abgesehen — engere politische Bindungen mit ihr eingegangen zu sein. Nach anfänglicher strikter Neutralität hatte sich Spanien am 12. 6. 1940, kurz nach Italiens Kriegseintritt, zur „nichtkriegführenden Macht" erklärt und am 14. 6. Truppen in die internationale Tangerzone einrücken lassen, ohne mehr als einen englisch-französischen Protest zu ernten. Nachdem Franco schon Anfang Juni Hitler seine Glückwünsche zu den deutschen Erfolgen hatte übermitteln lassen, ließ man weiterhin in Berlin durchblicken, daß Spanien — unter bestimmten Voraussetzungen — einer Kriegsbeteiligung nicht unbedingt abgeneigt sei 14). Da man in Deutschland ja aus eigenem Augenschein wie durch die Botschaftsund Abwehrberichte genauestens wußte, in wie großem Ausmaß Spanien durch den jahrelang erbittert geführten Bürgerkrieg gelitten hatte und wie hoch und lebenswichtig sein Einfuhrbedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen war, so konnte diese Bereitwilligkeit wohl nur als Anmeldung zur Durchsetzung naheliegender politischer und territorialer Forderungen im Falle eines unmittelbar bevorstehenden deutschen Endsieges gewertet werden. Ein wirksamer Beitrag zum Kriegsgeschehen oder gar das Eingehen eines irgendwie beachtlichen Risikos, wie es allein die Gefährdung der Einfuhr selbst für kurze Zeit dargestellt hätte, durfte kaum erwartet werden.
Italiens Kriegseintritt — fünf Minuten vor Zwölf und zum „Beutemachen" — war Hitler wenig gelegen gekommen. Ihm war ja die völlig unzureichende italienische Kriegsbereitschaft und Rüstung nicht nur aus Mussolinis Botschaft bekannt, die nur wenige Tage nach Abschluß des „Stahlpakts“ am 22. 5. 1939 15) durch Cavallero übermittelt worden war
Dieser Glaube, den Krieg nunmehr gewonnen zu haben, war auch der Grundzug seines Handelns und Denkens gegenüber England in den Tagen nach der Besiegelung des französischen Zusammenbruchs. England war der einzige Gegner, der noch geblieben war, England war vom Festland vertrieben und militärisch, wenigstens hinsichtlich des Heeres, wesentlich geschwächt, ohne Bundesgenossen gegenüber einem Deutschland auf der Höhe seiner Macht, in seiner lebenswichtigen Mittelmeerstellung bedroht; der angelsächsische Bruderstaat war zwar vom englandfreundlichen Roosevelt geführt, aber mit breiten isolationistisch fühlenden Schichten und noch für lange Zeit nicht kriegsbereit; die Sowjetunion — eine mögliche Hoffnung Englands — war formell mit Deutschland verbunden und angesichts Deutschlands Stärke zum mindesten im Augenblick sicher nicht gewillt, alles bisher leicht Gewonnene aufs Spiel zu setzen — wie sollte England wohl in dieser Lage noch „hoffen" können, wie sollte es zum Entschluß kommen, die ausgestreckte Friedenshand auszuschlagen und den doch aussichtslos gewordenen Krieg fortzusetzen? Er glaubte sich seiner Sache so sicher, daß bereits Demobilmachungsmaßnahmen fürs Heer vorgesehen und entsprechende Rüstungsanordnungen getroffen waren
Dies Hitler insgesamt befriedigende politische und militärische Bild wandelte sich aber überraschend schnell. Hitler mußte erkennen, daß er sich hinsichtlich Englands entscheidend getäuscht hatte: der englische Widerstandswille war keineswegs erloschen und der Mann an der Spitze der englischen Regierung, Churchill — mütterlicherseits amerikanischer Abstammung —, war nicht gewillt, sich auf irgendwelche Verhandlungen mit Deutschland einzulassen und „alles das aufzugeben, das zu bewahren England in den Krieg gezogen war"
Seine starke Flotte und die in schnellem und nachdrücklichem Ausbau befindliche Luftwaffe waren noch voll und ganz einsatzbereit, sein Heer im Wiederaufbau. Hatte schon der Mißerfolg der über die Schweiz und Schweden versuchten Friedensfühler
Der fehlende Gesamt-Kriegsplan
War es somit nicht gelungen, die Waffenerfolge in politische Münze umzusetzen, nämlich England friedensbereit zu machen und zur Anerkennung der deutschen Überlegenheit und des derzeitigen Status quo in Europa zu bewegen, so mußte nunmehr wieder der Appell an die Waffen gerichtet werden und zwar für größere Lautstärke, als in den letzten Wochen zu vernehmen gewesen war.
Spätestens im letzten Junidrittel war man sich in der politischen Führung und in den militärischen Führungsgremien der Tatsache voll bewußt geworden, daß in fehlerhafter und leichtfertiger Einschätzung des am 1. 9. 1939 eingegangenen Risikos über den Polenfeldzug hinaus keinerlei strategische Planungen bestanden, daß kein Gesamtkriegsplan vorhanden war und die Oberste Führung dieses Manko auch nicht nach dem 6. lo. 1939, der Ablehnung des deutschen Friedensangebotes, wieder gutgemacht hatte — teils hatte trügerische Hoffnung und Erwartung dies übersehen oder nicht für erforderlich erachtet, teils gingen die Gedanken der Beteiligten und Verantwortlichen in so verschiedene Richtungen, daß es nicht einmal zu ernsthaften gedanklichen Überlegungen oder gar praktischen Vorarbeiten gekommen war. Hielten doch z. B. die Maßgeblichen des Oberkommandos des Hee-res nach wie vor Deutschland nicht für fähig, einen längeren oder gar Weltkrieg zu führen und durchzuhalten, man widerstrebte aus Grundsatz den Offensivabsichten Hitlers und wollte „jeden neuen Antrieb zur offensiven Lösung von sich aus vermeiden“
Die Führung des Heeres als des auf dem Kontinent entscheidenden Wehrmachtsteils hätte unbedingt und spätestens, nachdem mit der Entscheidung der Schlacht an der Bzura das positive Ergebnis des Polenfeldzuges festzustehen schien, bei der politischen Führung Klarheit über Absichten und Ziele fordern müssen. Dies um so mehr, als die leitenden Stellen des Heeres, wie schon angedeutet, der Auffassung waren, daß Frankreich gegenüber vorerst nur Verteidigung in Frage käme, daß das Heer zum Angriff gegen die französische Festungsfront mangels entsprechender Mittel nicht befähigt sei
Dieser Sachstand ist um so unfaßlicher, als Hitler als Staatsführer und Oberbefehlshaber der Wehrmacht schon am 5. 11. 1937 (Hoßbachprotokoll) seinem damaligen Außen-und seinem Kriegsminister wie den Oberbefehlshabern der Wehrmachtsteile klar seine politischen Ziele dargelegt, ihnen erstmals den Weg der Gewalt aufgezeigt und sie mit der Möglichkeit vertraut gemacht hatte, bereits in greifbar naher Zukunft, d. h. lange vor Erreichen der bisher festgelegten Aufrüstungsziele, sich bietende Gunst des Augenblicks politisch zu nutzen
Daß Hitler selbst auf die Durchführung seines Befehls offenbar nicht gedrängt oder sie überwacht hat, dürfte feststehen. Als prinzipieller Gegner jeder systematischen Planung und Arbeit mag er auf sie keinen besonderen Wert gelegt haben; politisch hielt er sie wohl später für überflüssig — zum eigenen schweren Schaden, wie sich zeigte — , da er überzeugt war. auch ohne einen Kampf gegen England zum Ziel kommen zu können.
Es bleibt nur festzustellen, daß beim Ober-kommando der Wehrmacht und den Wehr-machtsteilen bei Kriegsausbruch keine Planungen für eine langfristige und entscheidungssuchende Kampfführung gegen England bestanden, ja daß nicht einmal die z. T. äußerst eingeengten Kampfmöglichkeiten der politischen Führung mit allem Nachdruck vorgetragen worden waren, geschweige denn daß einer der Oberbefehlshaber etwa hieraus Konsequenzen gezogen hätte. Ein Grund hierfür mag darin zu sehen sein, daß die Wehrmacht sich ia Mitte 1939 noch in vollem Aufbau und weitem Abstand von den Endzielen befand, ein mit allen Konsequenzen durchzuführender Kampf gegen England also so undurchführbar erschien, daß alles Weitere sich erübrigte. Immerhin hätte wenigstens intensive geistige Beschäftigung zur Erkenntnis mancher Probleme geführt, die später unter Zeitdruck viel Kopfzerbrechen bereiteten, übermäßig Kräfte beanspruchten oder schnell überhaupt nicht zu lösen waren.
Überlegungen zur Strategie
In der programmatischen Rede Hitlers vom 23. 5. 1939, die vorstehend erwähnt wurde, spielte die Bedeutung Englands als Weltmacht und damit als See-und Luftmacht eine große Rolle. Hitler betonte die für England gefährlich große Abhängigkeit von der Einfuhr und berührte damit erstmals in seinen Reden die Frage, die künftig aus allen Englanddiskussionen nicht mehr verschwinden sollte: die Notwendigkeit, in einem Kriegsfall mit England als entscheidendes Mittel zur Niederringung seine Nahrungsmittel-und Rohstoffeinfuhr anzugreifen und abzuschnüren und gleichzeitig die englische Flotte als den sie schützenden Machtfaktor zu bekämpfen und auszuschalten.
Sind aber hierbei die Probleme des Kampfes ge gen die weltumspannende Seemacht von dem wesentlich kontinental denkenden Hitler in ihrem Gesamtumfang und mit allen Folgerungen wirklich erkannt worden? Hatte sich Hitler wirklich ganz klar gemacht, daß ein Krieg gegen England immer interkontinentale, also größte Ausmaße annahm und entsprechende Kampf-mittel erforderte, daß er keinesfalls binnen kurzer Zeit entscheidende Erfolge bringen konnte, daher auf lange Sicht zu planen war?
Die Kriegsmarine war im Falle eines Krieges gegen England in naher Zukunft noch weit ab von ihren Endrüstungszielen und unfertig; eine Mitwirkung der Luftwaffe war schon zur Kräfte-verstärkung und Kampfabkürzung ebenso unerläßlich wie die Heranziehung aller Mittel, die in dieser Art von Seekampf einsetzbar erschienen. Auch durfte nicht übersehen werden, daß der Ersatz verlorenen Handelsschiffsraums für einen Feind schneller zu bewerkstelligen war als für Deutschland der Bau neuer Kampfmittel, mindestens der U-Boote, ganz besonders falls das Potential der USA rasch wirksam werden konnte. Die Aufstellung eines „Gesamtplans für die Seekriegführung" wäre unerläßlich gewesen; er war abhängig von der strategischen Konzeption und daher von der Obersten Führung festzulegen; der Planungsablauf war zeitlich zu regeln, da langfristige personelle und materielle Maßnahmen aufeinander abzustimmen waren. Er mußte umfassen:
Zielsetzung in der — für Deutschland auf Grund seiner geographischen Lage auf jeden Fall wenig günstigen — Ausgangslage; anzustrebende Verbreiterung und Verbesserung der Kampfbasis für Kriegsmarine und Luftwaffe, um durchschlagenden Kampferfolg überhaupt erst möglich zu machen (Skandinavien, Atlantikküste, Atlantikinseln, Westafrika)
Eine solche Regelung blieb aber vorerst zweckmäßig auf die erste Kriegsphase beschränkt, da die Entwicklung bei erfolgreicher Kriegführung schwer zu übersehen war und Basisverbreitung und wachsende Tiefe des Seekampfraumes anJere Führungslösungen erfordern konnten. Auf jeden Fall war sicherzustellen, daß innerhalb der Luftwaffe, von der ja auf jeden Fall nur Teilkräfte für den Seekrieg in Frage kamen, unter einheitlicher Führung durch eine Dienststelle alles zusammengefaßt wurde, was in Einsatz, Ausbildung, Ausrüstung usw. zum Kampf über See — gegen feindliche Zufuhr, Seestreitkräfte und eventuell auch gegen Häfen — bestimmt war; für die technische Seite — Entwicklung und Erprobung von Luftminen, -torpedos, Spezialbomben gegen Schiffsziele aller Art, Ziel-geräte, Navigationshilfsmittel usw. — wären analoge Vorkehrungen ins Auge zu fassen gewesen. Enge Koppelung dieses Luftwaffen-Seekriegsführungsstabes mit Seekriegsleitung und Befehlshaber der U-Boote war anzuordnen. Hiernach mußte es Aufgabe der beteiligten Wehrmachtteile sein, für Zahl, Zusammensetzung, Ausbildung und Ausrüstung der Verbände die nötigen Anordnungen zu treffen.
Die Luftwaffe hätte eine derartige, in der Zielsetzung klare Regelung durch die Wehrmachtsführung nur begrüßen müssen, da der überschnelle Aufbau der letzten Jahre ihre Kräfte an sich schon stärkstens beanspruchte und alle durch eine Kampfführung über weite Seeräume sich ergebenden Forderungen nicht nur fast durchweg zusätzliche Aufgaben, sondern auch beinahe ausschließlich nur für den Seekrieg nutzbar waren. Im übrigen wäre die noch verfügbare Zeit so am besten und planmäßigsten genutzt und in weitem Umfang vermieden worden, daß wesentliche Einzelfragen zu spät oder gar nicht aufgegriffen wurden.
Eine umfassende Auslotung der Seekriegsprobleme, nach dem Befehl Hitlers vom 23. 5. 1939 vorgenommen, kam um eine Klärung des möglichen oder wahrscheinlichen Verhaltens der USA und eine eingehende Wertung ihres Potentials nicht herum. Hitler selbst hatte die USA in seinen Ausführungen mit keinem Wort der Erwähnung wert gefunden. Es war nicht zu unterstellen, daß der angelsächsische Vetter einem Abwürgen Englands durch Abschneiden seiner Versorgung über See tatenlos zusah; ganz besonders nicht, wenn etwa in reichlich Jahresfrist der englandfreundliche Roosevelt erneut als Präsident der USA durch Wahl bestätigt würde. Die Frage war schon deswegen wichtig, weil die Tiefe des in einem riesigen stumpfen Winkel sich weit nach Westen öffnenden Seekampfraumes erst vor den Hafenstädten Kanadas, der USA, Mittel-und Südamerikas endete, dort aber zugleich sehr große Erfolgsaussichten bot.
Zu den wesentlichen seestrategischen Problemen gehörte weiterhin die Bedeutung, die dem Mittelmeerraum zukam, der Haupt-und zugleich kürzesten Zufahrtstraße aus und nach dem Nahen, Mittleren und Fernen Osten sowie Indien mit ihren für das englische Mutterland in Krieg und Frieden unentbehrlichen Rohstoffen, und welche Folgerungen und Forderungen sich durch seine Schließung ergaben.
Je weiter sich der Kampfbereich von Kriegsmarine und Luftwaffe in den Atlantik hinausschieben ließ und je umfassender das Mittelmeer einbezogen werden konnte, um so größere Aussichten boten sich zur Aufsplitterung der weit überlegenen maritimen englischen Abwehrkräfte und damit im Kampf gegen den englischen und für England fahrenden Handels-schiffsraum. Jede Beschränkung auf die engen Seegebiete um England oder gar seine Küstengewässer massierte zwar mit Sicherheit die sich bietenden Ziele, ballte und erleichterte aber gleichzeitig die feindliche Abwehr. In den weiten Seegebieten lag das Kernproblem dieses interkontinentalen Konflikts und die größte Erfolgsaussicht für die stärkenmäßig so unterlegene deutsche Flotte und für taktisch wie strategisch gut durchdachten Einsatz ihrer U-Boote, mittleren und schweren Überwasserstreitkräfte und Hilfskreuzer. An einer Lösung würde sich auch der dritte Achsenpartner Japan interessieren lassen, wenn es zielstrebig und konsequent von Deutschland und Italien angepackt wurde. Die sich auf solchen Erkenntnissen aufbauenden rüstungspolitischen Folgerungen sind bereits gestreift. Der Kampf gegen die weltumspannende Seemacht England ließ sich nach keiner Richtung teilen. Er bot sicherlich für seine einzelnen Schauplätze Unterschiede im Gewicht und in Erfolgsaussichten, in den einen oder andern spielten auch landstrategische Forderungen hinein — insgesamt war er aber komplex.
Kampfmittel und Kampfkraft von Kriegsmarine und Luftwaffe
Welche Möglichkeiten eröffneten bei solchen Erkenntnissen die vorhandenen und zunächst allein zu einem Einsatz in Frage kommenden deutschen Machtmittel: die Kriegsmarine als der klassische Vertreter jedes Kampfes zur See und die Luftwaffe als die neueste und modernste Waffe?
Kriegsmarine:
Der Aufbau jeder Flotte braucht Zeit und nochmals Zeit; zwischen erster Planung und Indienststellung von schweren Schiffen vergehen Jahre, aber auch leichte Seestreitkräfte lassen sich nicht vom Band fertigen. 1933 entsprach die vorhandene kleine Versailler-Vertragsflotte weitgehend nicht modernen Anforderungen, sie ermangelte mancher wichtiger Typen wie Flugzeugträger und U-Boote 'völlig. Erschwerend kam noch hinzu, daß die frühere hohe Leistungskraft der deutschen Werftindustrie nach 1918 schwerwiegend — auch durch Abwanderung von Spitzenkönnern — gemindert worden und keinesfalls in Kürze wieder auf die alte Höhe zu bringen war. Die Fertigungsmöglichkeiten waren noch 1939 begrenzt
Als Folge der Sudetenkrise im Herbst 1938 wurde die U-Bootklausel des Londoner Vertrags in Anspruch genommen (Berechtigung zum Bau von 100 °/o der englischen U-Boot t o n n a g e). Die Durchführung war bis 1944 vorgesehen
Dieser sogenannte „Z-Plan" der Kriegsmarine sah im Rahmen der ozeangehenden Flotte 222 U-Boote — möglichst bis 1943 — vor
Diese Pläne wurden mit dem 1. 9. 1939 bzw. 3. 9. 1939 gegenstandslos — als Hitler entgegen seinen Plänen die Flotte doch „brauchte". Von den größeren Schiffen des Z-Plans war keines so weit im Bau gediehen, daß sich die Fertigstellung lohnte; sie wurden abgewrackt. Hierunter fielen aber nicht die aus einem früheren Bauabschnitt stammenden Bismarck und Tirpitz.
Aus dem bis Ende August 1939 vollzogenen Aufbau der Kriegsmarine, aus dem Z-Plan, den Begründungen zu den einzelnen Bauabschnitten, die vorstehend nur kurz gestreift werden konnten, sowie schließlich aus den Absichten für eine Operationsführung ergeben sich klare Vorstellungen der Seekriegsleitung, wie die überaus schwierigen Aufgaben im Falle eines Krieges gegen Großbritannien hätten gemeistert werden sollen und können. Das Kriegsinstrument gegen die Seemacht England war aber infolge Versagens der Politik am weitesten in Rückstand; er beruhte allein auf den ausdrücklichen Weisungen Hitlers, des Staatsführers und Obersten Befehlshabers der Wehrmacht, der sich bei ihrer Erteilung durchaus der möglichen Folgen bewußt war. Er hätte sie daher mit Sicherheit vermeiden müssen und nicht ihr Eintreten riskieren dürfen.
Von der Kriegsmarine allein konnte demnach die Oberste Führung nur begrenzte Erfolge im Kampf gegen England erwarten.
Die Luftwaffe Im Gegensatz zur Kriegsmarine waren Aufbau und Entwicklung der Luftwaffe frei
Das Schwergewicht blieb im Aufbau der Luftwaffe zwar beim bombentragenden Kampfflugzeug, aber man entschied sich für den schnellen, d. h. einem Gegner an Geschwindigkeit überlegenen mittleren und leichten Bomber mit begrenzter Eindringtiefe, von dem auch bald noch Sturzflugfähigkeit gefordert wurde; er sollte einzeln oder in kleinen Gruppen auch gegen Punktziele eingesetzt werden können. Maßgeblich bei dieser schwerwiegenden Entscheidung war die Rücksichtnahme auf die, trotz weitgehender Autarkiebestrebungen, begrenzten deutschen Produktionsmöglichkeiten, die eingeengte Rohstofflage (Aluminium, Nichteisenmetalle usw.) und die Möglichkeiten der Treibmittelversorgung. Dieser — als Zwang empfundene — Kompromiß zwischen strategischen Erfordernissen und anscheinend nur gegebenen Möglichkeiten — die zwangsläufig langen Entwicklungszeiten bei dem völligen technischen Neuaufbau wirkten sich ebenso aus wie die sich immer steigernde politische Eile Hitlers, die jede systematische Entwicklung be-, ja fast verhinderte — hat sich später bitter gerächt und Deutschland im entscheidenden Aug e n b 1 i c k eines Kampfmittels ermangeln lassen, das doch noch zu schaffen man später zwar gezwungen war, das aber nachholend während des Krieges nicht mehr geschaffen werden konnte.
Der Ausbau der Luftwaffe, der aus propagandistischen und politischen Gründen besonders stark in die Breite — Zahl der Verbände — vorwärtsgetrieben worden war und erst 1942 sein erstes vorläufiges Rüstungsziel erreichen sollte, war im Herbst 39 somit auch nicht annähernd abgeschlossen
Mit dieser Erkenntnis deckten sich durchaus die Ergebnisse von Studien und Überlegungen innerhalb der Luftwaffenführungsstellen. Die mit ihren Verbänden im Westen und Nordwesten Deutschlands liegende Luftflotte 2 war schon im Februar 1938 vom Oberkommando der Luftwaffe — vermutlich im Zusammenhang mit den Ausführungen Hitlers am 5. 11. 1937 (HoßbachProtokoll) — beauftragt worden, die Möglichkeiten einer Kampfführung gegen England zu prüfen; das im September vorgelegte Ergebnis war durchaus negativ: mit den vorhandenen Kräften und aus der gegebenen geographischen Lage heraus — mangelnde Reichweiten usw. -r sei nur eine störende, aber keine maßgebliche Einwirkung auf England erreichbar. Zu sehr ähnlichen Schlußfolgerungen kam eine Lagebeurteilung des Luftwaffen-Führungsstabes vom 25. 8. 1938
Es sei wiederholt: die politische und W e h r m a c h t s f ü h r u n g hatte im Anfang des Neuaufbaues sich bewußt eines operativen und im vorliegenden Fall auch strategischen Kampfmittels (Viermotoriger weitreichender Bomber) begeben und sich an seiner Stelle für Auffassungen entschieden, deren Richtigkeit bisher noch nicht hatte überzeugend nachgewiesen werden können. Der neue Prototyp der Ju 8 8 kam erst 1939 in den ersten Stückzahlen zu einzelnen Verbänden. Organisatorisch wurde aus den Erkenntnissen insoweit endlich eine Folgerung durch die Luftwaffenführung gezogen, als im Sommer 1939 ein Sonderstab gebildet wurde, der sich mit Studien der in Frage stehenden Probleme befassen und dann als Ausbildungsstab für die geplanten „Seekampfverbände" dienen sollte.
Bereits als Hitler zu den Aufgaben des Staatsoberhauptes und der politischen Führung beim überraschenden Abgang Blombergs auch noch die des Oberbefehlshabers der Wehrmacht übernommen hatte, zog die Gefahr herauf, daß Fragen der strategischen Zielsetzung und der Kriegführung nicht mehr nur in voller Sachlichkeit überprüft, gegebenenfalls diskutiert und entschieden, sondern allein vom politischen Willen abhängig gemacht wurden. Die gleichzeitige Aufteilung der militärischen Führungsbefugnisse auf den Autodidakten Hitler, das Oberkommando Wehrmacht in seiner leistungs-und zahlenmäßig unzureichenden Besetzung und die Oberbefehlshaber der drei Wehrmachtteile mußte in einem Kriegsfall schwere Hemmnisse für eine straffe militärische Führung erwarten lassen. Beide Faktoren haben tatsächlich die Kampfführung der ersten Kriegs-monate gegen England vielfältig beeinflußt.
Als aus dem potentiellen Gegner England ein wirklicher und dazu stärkster Gegner geworden war, wurde als vordringliches und vorerst allein 'zu verfolgendes Kriegsziel der Kampf gegen seine Versorgung gewählt und befohlen. Sie war für das Vereinigte Königreich absolut lebenswichtig wegen der benötigten sehr großen Mengen von Holz, Eisen und aller Arten von Nahrungsmitteln; zudem mußte der gesamte Ölbedarf eingeführt werden. Churchill hatte für 1940 als Minimum an Einfuhr eine Jahresmenge von rund 43 Millionen Tonnen oder rund 3 1/2 Millionen Monatstonnen bezeichnet. Bei beiden für den Kampf vorerst in Frage kommenden Wehrmachtsteilen, Kriegsmarine und Luftwaffe, waren die einsetzbaren Kampfmittel weder sehr zahlreich noch sehr leistungskräftig; die geographische Ausgangslage war wenig günstig.
Die Weisung Nr. 1 für die Kriegführung vom 31. 8. 1939 überließ von Beginn an den Kriegsschauplatz England zwei nicht koordinierten Wehrmachtteilen; der Seekrieg wurde von Kriegsmarine und Luftwaffe gesondert geführt, es wurde ihnen nur anheim gegeben, Überein-stimmung der Auffassungen herbeizuführen und Kräfte zum gewissen Ausgleich der zahlenmäßigen Unzulänglichkeiten zusammenzufassen. Gleichzeitig wurden aber aus rein politischen Gründen, die den strategischen Erfordernissen widersprachen, Kampfeinschränkungen verfügt, die die Erfolgsaussichten stark minderten, die Gefahr an sich vermeidbarer deutscher Verluste heraufbeschworen und außerdem dem Gegner wertvolle Zeit zur Erstarkung schenkten. Noch in der Weisung Nr. 9 vom 29. 11. 1939 wurde nur von gemeinsamer Kampfführung gesprochen, es wurden aber keine ins einzelne gehenden Weisungen gegeben. Die geringe Vertrautheit Hitlers und seiner militärischen Berater mit den Gegebenheiten und Erfordernissen des See-und des Luftkrieges mag ebenso eine Rolle gespielt haben wie die Rücksichtnahme auf die Eigenwilligkeit Görings. Eine eindeutgie Regelung wäre — abgesehen vom militärisch Üblichen — um so notwendiger gewesen, als dem Oberkdo. Wehrmacht bekannt war, daß die Oberkommandos von Kriegsmarine und Luftwaffe sich in mancher Hinsicht keineswegs einig waren. Nach den ursprünglichen Aufbauplanungen hatte der Oberbefehlshaber Luftwaffe der Marine bis 1942 insgesamt 62 Seeflieger-Staffeln aufstellen sollen, an deren Bildung die Kriegsmarine personell im eigensten Interesse stark beteiligt war. Aber schon seit der zweiten Hälfte 1938 war es zu ernsthaften Differenzen zwischen den Wehrmachtteilen gekommen, als sich die Luftwaffe für die Luftkriegführung über See für zuständig erklärte, während der Oberbef. d. Kriegsmarine die Seekrieg-führung in ihrer Gesamtheit bei sich in einer Hand wissen wollte. Die endgültige Aufgaben-verteilung vom Januar 1939 war das Ende einer einheitlichen Seekriegführung: sie sah vor, daß zwar die Kriegsmarine für die Seeaufklärung und den Luft/Seekampf bei Zusammenstößen zwischen Seestreitkräften zuständig blieb, daß aber der Luftwaffe der Kampf gegen Schiffe auf hoher See aus der Luft, das Werfen von Minen, der Kampf gegen Nachschub über See sowie gegen Häfen, Stützpunkte und Werftindustrie zufallen sollte. Man hatte also den Ansprüchen Görings, die in weiter Hinsicht nicht auf Erfahrungen, sondern nur auf generalstabsmäßigen theoretischen Überlegungen beruhten und die zudem auch keineswegs durch schon vorhandene Ausrüstung und Ausbildung gesichert wurden, nachgegeben — in einer politisch bereits höchst gespannten Lage! Man hatte eine Kriegsform in zwei Teile zerlegt anstatt bei der gegebenen Schwäche der Mittel das Gemeinsame in den Vordergrund zu stellen und dem Erfahrenen zum mindesten solange die alleinige Führung zu belassen, bis bei der Luftwaffe überhaupt erst die personellen und materiellen Voraussetzungen zur Durchführung der von ihr für sich geforderten Aufgaben geschaffen waren.
Dieser Aufgabenteilung entsprechend waren gleichzeitig die Staffelzahlen für die Kriegsmarine von den ursprünglichen 62 Staffeln auf 29 herabgesetzt worden — neun Flugbootstaffeln für Fernaufklärung, 18 Mehrzweckstaffeln für Aufklärung und U-Bootjagd, zwei Bordfliegerstaffeln. Hiervon waren am 1. 9. 1939 nur rund 50 Prozent, d. h. 15 Staffeln einsatzbereit.
Raeder hatte seiner Überzeugung nicht Geltung zu schaffen vermocht, daß jede moderne Marine ohne starke eigene Seeluftwaffe ein Torso bleiben müsse. Die Kriegsmarine mußte so in den ersten Kriegsmonaten viele Aufgaben im Seekrieg der Luftwaffe überlassen, für deren Durchführung Kenntnisse und Ausbildung bei der Luftwaffe noch stark mangelten, während sie bei der Kriegsmarine vorhanden waren
Auch die Weiterentwicklung von Flugzeug-typen, die für die Seekriegführung wichtig waren, brachte für die Kriegsmarine fortlaufende Schwierigkeiten. Die Zusammenarbeit im Kampf erschwerte zusätzlich, daß die Luftwaffe auch eigene Navigations-und Schlüsselmittel entwickelt und eingeführt hatte. Auf die gleichfalls divergierenden Auffassungen hinsichtlich Luft-torpedos und Luftminen wird bei den Rüstungsbetrachtungen eingegangen.
Noch schwerwiegender und belastender war für die Seekriegsleitung, daß es ihr nicht gelang, bei der obersten politischen und militärischen Führung stärkste Förderung des Kampfmittels durchzusetzen, das bei der im Herbst 1939 gegebenen Lage am ehesten noch Aussichten auf durchschlagenden Erfolg im Kampf gegen England eröffnet hätte: des U-Bootes. Der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine hatte zwar sofort für den ersten Kriegsmonat die Erhöhung der Monatsbaurate auf 29 U-Boote angeordnet; die Werftindustrie hätte dieser Forderung um so eher genügen können, da gleichzeitig ja der Bau der schweren Schiffe weitgehend eingestellt worden war. Hitler war aber nicht zum Erlaß der notwendigen Dringlichkeitsanordnungen zu bewegen, ihn drückten die rüstungswirtschaftlichen Unterlassungssünden der Vorkriegszeit. So vertröstete er den Oberbefehlshaber der Marine immer wieder auf die Zeit nach Abschluß des Westfeldzuges. Es blieb schließlich ab März 1940 mit dem monatlichen Baubeginn von höchstens 25 U-Booten; da vom Baubeginn eines Bootes bis zur Indienststellung nach beendeter Besatzungsausbildung rund zwei Jahre vergingen, konnte demnach vor Ende 1941 nicht mit höheren U-Bootausbringungszahlen gerechnet werden
Das Bemühen der Seekriegsleitung, die schwachen Mittel von vornherein stärkstens zur Bekämpfung des englischen Handelsverkehrs auszunutzen, um sich zunächst die sicherlich noch schwache Abwehr und mangelnde Erfahrung des Gegners zunutze zu machen, war vorerst noch zusätzlich dadurch erschwert, daß die Wehrmacht-führung aus politischen Gründen weitgehende Einsatzbeschränkungen, die z. T. noch über die 53
Prisenordnung hinausgingen, verfügt hatte. 1939 wurden nur die einengendsten Beschränkungen aufgehoben und 1940 wurde nur schrittweise der uneingeschränkte U-Bootkrieg ohne Vorwarnung eingeführt, der die geringe Zahl der Boote endlich in gewissem Maße ausglich; erst im August 1940 wurde die totale Blockade, die der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine bis dahin immer wieder, aber vergeblich gefordert hatte, rund um England erklärt — zu einem Zeitpunkt also, in dem längst feststand, daß nur Gewalt England zum Einlenken bringen konnte. Ein aufschlußreicher, wenn auch sehr negativer Hinweis für das Problem der Beziehungen zwischen Politik und Kriegführung! Die Erfolge der Seestreitkräfte waren trotz aller Hemmnisse beachtlich. Der dem englischen Schiffsraum durch Überwasserkräfte, U-Boote und Minen zugefügte Verlust beträchtlich: er betrug für die Zeitspanne September 1939 — März 1940 fast 11/4 Mill. BRT; er blieb aber weit unter der Summe, die für Englands Versorgung hätte bedrohlich sein können. Bis Sommer 1940 ließ er Schlüsse zu, ob und inwieweit auf diesem Wege ein entscheidender Erfolg zu erhoffen oder zu erzielen war bzw. welche weitergehenden Schlußfolgerungen gezogen werden mußten.
Der Luftwaffe standen für den Seeluftkrieg nur sehr eingeschränkte Kräfte und Mittel zur Verfügung. Für den Kampf über See waren ja nur Verbände geeignet und fähig, die entsprechend ausgerüstet und ausgebildet waren. Sie waren von Beginn an — gemessen an der Bedeutung des Seeluftkrieges, der Masse der Ziele, der Weite und Tiefe des Kampfraums — viel zu schwach. Von anfänglich nur zwei Kampfgruppen konnten bis Frühjahr 1940 schließlich sechs Kampfgruppen (He 111, später Ju 88) zum Kampf über See eingesetzt werden; bei einem Istbestand von 120— 150 Flugzeugen lag ihre Einsatzbereitschaft bei 60— 90 Flugzeugen. Ende Oktober 1939 unterstellte sich der Oberbefehlshaber der Luftwaffe das für diesen Kampf eingesetzte, aus der am 3. 9. 1939 gebildeten 10. Fl. Div. (ehemaliger Ausbildungsstab für die Seekampfverbände hervorgegangene X. FL K. (30. 9. 1939), unmittelbar. Hieraus kann zwar geschlossen werden, daß die Bedeutung des Seekriegsschauplatzes erkannt war; die Zweckmäßigkeit muß aber bezweifelt werden — die Luftflotte 2, dem der Verband bisher unterstand, war die einzige Dienststelle in der Luftwaffe, die sich mit den Englandproblemen seit längerem befaßt hatte, und das Oberkommando der Luftwaffe verfügte ja nicht über eine Truppen-Führungsorganisation.
Nadi der grundlegenden Weisung Nr. 1 für die Kriegführung vom 31. 8. 1939 sollte die Luftwaffe im wesentlichen nur Vorbereitungen für den späteren Einsatz gegen England von günstigerer Basis aus treffen. Auch ihr waren sehr eingehende Einsatzbeschränkungen auferlegt. Noch in der Weisung Nr. 9 vom 29. 11. 1939 (für die Kriegführung gegen die feindliche Wirtschaft) wurden die bisher erlassenen Einschränkungen ausdrücklich aufrechterhalten und ihre Aufhebung erst in Aussicht gestellt, wenn der Westangriff begonnen habe. Eine Weisung des Oberkommandos der Wehrmacht vom 17. 1. 1940 enthielt — nach einer fast gleichlautenden des Oberkommandos der Luftwaffe vom 6. 1. 1940 — immer noch den Absatz: Es liegt nicht im Interesse der Gesamtkriegführung, durch eigene Initiative den Luftkrieg gegen England in vollem Ausmaße zu entfesseln, bevor nicht auf unserer Seite eine günstige Ausgangsbasis ge-schaffen und starke, für den Einsatz gegen England geeignete Kräfte vorhanden sind
Die im Rahmen der erteilten Weisungen seitens der Luftstreitkräfte im September und Oktober, z. T. gemeinsam mit der Kriegsmarine durchgeführten Vorstöße gegen englische Flottenteile und Schiffsverkehr in englischer Küstennähe blieben fast völlig erfolglos, zumal letztere mit unzureichenden Kräften unternom-men werden mußten, da die Ausbildung noch nicht abgeschlossen war (!). Die englische Abwehr an der Ostküste und über den Stützpunkten nahm im Winter 1939/1940 schnell so zu, daß ernstliche Angriffe nicht mehr durchgeführt wurden. Das X. FL Korps flog ab Dezember 1939 im wesentlichen nur noch bewaffnete Aufklärung. Später fiel ihm die Zusammenarbeit mit den beim Dänemark-Norwegen-Unternehmen eingesetzten Teilen von Heer und Kriegsmarine zu. Die Bekämpfung des englischen Schiffsverkehrs mit aus der Luft geworfenen Minen wurde seitens der Luftwaffe erst ausgenommen, als im Frühjahr 1940 eine ausreichende Zahl von Minen zur Verfügung stand; als durchführender Verband war am 1. 2. 1940 die 9. FL Div. gebildet worden, die später zum IX. FL K. erweitert wurde.
Die Ergebnisse der im Seeluftkrieg eingesetzten beschränkten Kräfte waren teils ent-täuschend, teils befriedigend, wobei die noch keineswegs abgeschlossene Ausbildung und vielfach noch unzureichende Ausrüstung im Auge behalten werden müssen; die Versenkungsergebnisse aus der Luft waren relativ gering geblieben, der Einsatz gegen Seestreitkräfte war fast ergebnislos gewesen; dagegen hatte der Minen-wurf — trotz unglücklicher Begleiterscheinungen zu Beginn: Fehlwürfe ins Watt vor der englischen Küste hatten die Engländer die neuartigen Magnetminen schnell entdecken und mit äußerster Anstrengung Gegenmittel schaffen lassen — größere Erfolge gebracht als erwartet worden waren. Sie ermöglichten bei nüchterner Beurteilung erste und ernste Entschlüsse auf die Möglichkeiten entscheidender Einwirkung aus der Luft, sie gaben nachdrückliche Hinweise in technischer Hinsicht und für die Ausbildung.
Suche nach einem neuen Teilplan
Während die deutsche politische Führung, wie schon erwähnt, nach dem Zusammenbruch Frankreichs sich noch eine Zeitlang mit der Hoffnung trug, ohne erneuten Waffeneinsatz England zum Friedensschluß bewegen zu können, setzte bei den militärischen Führungsstellen sehr schnell das Bemühen ein, nachzuholen, was man seit der englischen Kriegserklärung versäumt hatte: einen Plan zu finden, nach dem Großbritannien in absehbarer Zeit und nachdrücklich niedergeworfen werden konnte. Da die Vorüberlegungen der drei Wehmachtteile vom November/Dezember 1939 bezüglich einer Landung in England dem Oberkommando der Wehrmacht nicht zur Kenntnis gekommen waren (s. Fußnote 33), war nicht nur wertvolle Zeit für andernfalls sicher angeordnete gemeinsame Prüfung der Probleme, sondern auch für Einleitung materieller Vorbereitungen verloren gegangen. Gemessen an der Ausgangslage für eine Kampfführung gegen England vor dem Beginn des Westfeldzuges hatte sich nunmehr ihre operative Grundlage so gestaltet, wie sie günstiger nicht gewünscht werden konnte: die Heereskräfte standen vor der englischen Insel am Kanal, für Luft-und Seestreitkräfte waren Stütz-und Ausgangspunkte von Nordnorwegen bis zur spanischen Grenze gewonnen; sie mußten freilich, was für die Berechnung des Zeitbedarfs für einen Kampferfolg gegen England wichtig war, für ihre volle Ausnutzung noch eingerichtet werden.
Die Besprechung des General-Stabschefs des Heeres mit Staatssekretär von Weizsäcker am 30. 6. 1940 wurde bereits erwähnt — „voraussichtliche Notwendigkeit einer Demonstration der militärischen Gewalt gegenüber England“. Ihr folgte am 1. 7. eine eingehende Unterhaltung Halders mit dem Stabschef der Seekriegs-leitung über die Kriegführung gegen England und anschließend mit dem Chef Heereswaffen-amt; bei beiden Besprechungen haben offenbar die mit einer Landung verbundenen Probleme stark im Vordergründe gestanden. Der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine selbst hatte bereits am 21. 5. und erneut am 20. 6., gelegentlich von Sachvorträgen bei Hitler, von sich aus das Landungsproblem berührt; Hitler war aber nicht darauf eingegangen. Der Chef des Wehrmachtführungsstabes Jodl verfaßte am 30. 6. eine Denkschrift, die sowohl die Möglichkeiten für einen unmittelbaren wie mittelbaren Angriff auf die Welt-macht England untersuchte
Auf diesen Überlegungen des maßgeblichen militärischen Beraters Hitlers fußte die erste Weisung des Oberkommando der Wehrmacht vom 2. 7. 1940 für die Einleitung von Vorbereitungen für die Landung in England und das Prüfen aller hierbei anfallenden Fragen; für die Luftwaffe bezog sich dies schwerpunktmäßig auf Zeit-und Kräftebedarf für Erringen entscheidender Luftüberlegenheit
Der Weisung 16 folgte am 1. 8. die Weisung Nr. 17 für die Führung des (verschärften) Luft-und Seekriegs gegen England, „um die Voraussetzung für die endgültige Niederringung Englands zu schaffen“
Damit hatte sich die Oberste politische und militärische Führung für den Weg des direkten Angriffs, die Luftoffensive und notfalls Landung in England entschieden und die Vernichtungsstrategie gewählt. Der Blockadekrieg gegen Einfuhr und Schiffsraum sollte im Rahmen der vorhandenen oder verfügbaren Kräfte und Mittel weitergeführt werden. Es sei vorweggenommen, daß sich der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, sowohl im Rahmen der in Weisung 17 erteilten Kampfanweisung wie im Hinblick auf die — gemessen an den bevorstehenden Auf-gaben — nicht allzugroße zahlenmäßige Stärke der Kampfverbände, veranlaßt sah, auch die See-kampfverbände (IX. und X. FL Korps) wie Spezialeinheiten mehrfach zu Luftangriffen auf die englische Insel heranzuziehen. Der Seekrieg-führung wurden damit Kräfte entzogen. Andererseits konnte der Befehlshaber der U-Boote von den Atlantikbasen aus nunmehr den im Frieden vorsorglich und mit Erfolg geübten Gruppeneinsatz von U-Booten gegen Geleite vor dem Nordkanal durchführen.
Mißlingen des unmittelbaren Angriffs
Die deutsche Luftwaffe hatte bereits am 25. 6.den Kampf gegen die englische Schifffahrt im Kanal eröffnet. Nach einer Weisung des Oberbefehlshabers der Luftwaffe erfolgten ab 17. 7. mit Einzelflugzeugen und kleinen Verbänden, bei Tage und bei Nacht, Angriffe gegen Seeziele, Häfen an der Südwest-und Ost-küste wie am Kanal sowie gegen Ziele der Rüstungsindustrie. Hiermit sollte der Kampf gegen die Versorgung Englands in gewissem Umfange noch aufrechterhalten und gleichzeitig der Kampf gegen die englische Jagdwaffe über dem Kanal und an der Küste, d. h. unter für die deutschen Verbände möglichst günstigen Bedingungen ausgenommen werden. In der gleichen Zeitspanne ging der Aufmarsch der Luftwaffe in Nordfrankreich gegenüber der englischen Insel vor sich, die Bodenorganisation wurde beschleunigt so vollständig wie möglich ausgebaut, die Verbände wurden aufgefrischt und verlegt.
Schlechtes Wetter erzwang Verschiebung des Beginns des verschärften Luftkriegs gegen England, der ja ab 5. 8. durch die Weisung 17 freigegeben war. Erst am 13. 8. erfolgten die ersten schweren zusammengefaßten Luftangriffe gegen die englische Fliegerbodenorganisation in Süd-ostengland. Damit hatte die Luftwaffe den Kampf um die Luftherrschaft über dem Südteil der Insel, ihre vordringlichste Aufgabe, eröffnet; sie hoffte, die Luftherrschaft i n etwaeinerWoche erkämpfen zu können. Das Ziel der nachdrücklichen Bekämpfung von Industrie, Häfen und Bevorratung, die sich anschließen sollte, nämlich die weitgehende Zerrüttung des englischen Potentials und der Versorgungswirtschaft, glaubte man b i s Mitte September erreichen zu können. Durch die drei Wehrmachtsteile, insbesondere die Hauptbeteiligten: Heer und Kriegsmarine, waren inzwischen nachdrücklichst die Vorbereitungen für die Durchführung einer Landung in taktischer, organisatorischer und technischer Hinsicht wie durch entsprechende Ausbildung betrieben worden.
Als Invasionstermin war schließlich nach mehrfacher Verschiebung das letzte Septemberdrittel vorgesehen.
In seiner Lagebeurteilung vom 13. 8. war Jodl der Auffassung, daß die Luftwaffe d i e Vorausetzungen für eine Landung, Erringen der Luftherrschaft, schaffen könne. Allerdings bestehe hierfür noch keine Gewißheit, die nächsten 8 Tage würden aber Klarheit bringen, da ja die Luftwaffe hoffte, das Ziel in dieser Zeitspanne erreichen zu können. Sollte allerdings die Kriegsmarine die ihr zufallenden Aufgaben des Übersetzens relativ starker Kräfte usw. nicht erfüllen können, was nunmehr eindeutig zu klären sei, so sollte die Landung besser unterbleiben, da sie auf keinen Fall mißlingen dürfe. England wäre dann auf anderm Wege in die Knie zu zwingen.
Die — immer wieder durch ungünstiges Wetter behinderten — fortgesetzten Angriffe der Luftwaffe auf die englische Fl. Bodenorganisation und ihre Leitstellen führten bis Anfang September zu einer deutlichen Überlegenheit der Luftwaffe im südostenglischen Raum; die bis dahin erbittert geführte Abwehr der englischen Jäger begann anscheinend nachzulassen und Ermüdungserscheinungen zu zeigen. Die Verluste auf beiden Seiten waren beträchtlich. Da die Ausschaltung der englischen Abwehr in ausreichendem Umfang gelungen schien, verlegte die Luftwaffe mit einem in der Nacht vom 5. /6. 9. geführten schweren Angriff gegen militärische Ziele in London nunmehr den Schwerpunkt auf den Kampf gegen das englische Wirtschaftspotential. Man hoffte gleichzeitig, hierdurch die englischen Jäger in ihrer vollen noch vorhandenen Stärke zum Kampf zwingen und dabei endgültig ausschalten zu können. Ihren Höhepunkt erreichte die in dieser Form fortgesetzt durchgeführte „Luftschlacht“ in einem Großangriff auf London am 15. 9.
Noch am Tage zuvor hatte Hitler die Wirkung der Luftangriffe wegen des nachteiligen Wettereinflusses als n i c h t so groß bezeichnet, daß die für die Durchführung einer Landung erforgerliche Luftlage schon erreicht sei
Da die Wetterlage neben einer Verzögerung der Transportraumbereitstellung und teilweiser Verhinderung der Minenräumarbeiten im Kanal das völlige Niederkämpfen der englischen Luftwaffe bisher unmöglich gemacht hatte — sie zeigte in den Nächten zum 15. und 16. 9 durch Angriffe auf die deutsche Transportflotte in den Einschiffungshäfen und Tätigkeit ihrer Minenlegerstaffeln sogar beachtliche Aktivität — und eine Änderung der ungünstigen Großwetterlage nicht zu erwarten war, entschloß sich Hitler am 17. 9., die Herausgabe des Befehls über die Landung in England „bis auf weiteres“ zu verschieben. Die Landung war damit de facto aufgegeben. Am 12. 10. verzichtete er auch formell auf sie im Jahre 1940.
Der Wille der Obersten deutschen Führung, auf dem unmittelbaren Wege, durch Nieder-ringen der englischen Luftwaffe und ihrer Rüstungsindustrie und schließlich durch Landung zum schnellen Siege über England zu kommen, ist nicht anzuzweifeln. Es ist nicht richtig, wie vielfach in der einschlägigen Literatur zu finden ist, Planung und Vorbereitung einer Landung nur als politisches Druckmittel anzusehen oder gar in den Bereich der psychologischen Kriegführung zu verweisen. Angesichts der aufgewandten riesigen Arbeit, vieler völlig neuartiger Versuche technischer Art mit Entwicklung bis zur Einsatzreife in kurzer Frist wie z. B. versenkbarer Panzer mit Schnorchel, schwimmfähiger Panzer, von Siebelund Herbertfähren, angesichts der eingesetzten erheblichen Mittel materieller Art und Tausender von Arbeitskräften, die u. a. die Marine im U-Boot-und Tirpitzprogramm schmerzlich entbehren mußte, angesichts der nicht zu unterschätzenden, teilweise einschneidenden Behinderung der Kriegswirtschaft durch monatelangen Entzug von Hunderten von Schiffsgefäßen aller Art, dem befohlenen Vorrang der Seelöweforderungen in der Rüstungswirtschaft und dem tatsächlich Mitte September erreichten Grad der Bereitschaft zum Übersetzen geht eine solche Auffassung völlig fehl. Wenn wirklich bei der politischen Führung der ernstliche Wille zur Durchführung einer Landung bei Erfüllung ihrer Voraussetzungen gefehlt hätte — wie wäre dann das Unterlassen jeglicher anderweitigen Planung und Vorbereitung zum ents c h e i d u n g s u c h e n d e n Kampf gegen England, von dem noch zu sprechen sein wird, zu erklären?
Die Gründe für den Fehlschlag
Inwiefern waren die Erfolgserwartungen der deutschen Führung begründet und berechtigt, und inwieweit lagen Trugschlüsse vor, die zu vermeiden gewesen wären?
Was den See-und Luftkrieg gegen die englische lebenswichtige Zufuhr über See anlangt, so war ihm, wie dargestellt, in der Zeitspanne des entscheidungsuchenden unmittelbaren Angriffs nur eine Nebenrolle zugedacht worden. Man hatte zutreffend geurteilt, daß selbst bei Einsatz aller verfügbaren Kräfte im Blokkadekrieg keine Entscheidung unter 1— 2 Jahren erwartet werden könne. Er sollte aber England weiter zum Einsatz beträchtlicher Kampfmittel zwingen, Feindkräfte binden und zersplittern, Erfahrungen sammeln lassen, insgesamt die Zeit nutzen, bis entweder der Sieg auf unmittelbarem Wege errungen war oder neue Entschlüsse zu fassen waren. Die Erwartungen konnten somit auf nicht mehr als eine Störung der englischen Versorgung mit im Glücksfall vielleicht beachtlichen materiellen und personellen feindlichen Verlusten gerichtet sein.
Sie wurden nicht enttäuscht.
Wie stand es mit den Erwartungen hinsichtlich der Hauptaufgabe, den Aufgaben, die der Luftwaffe zur Erkämpfung der Luftherrschaft oder wenigstens ausreichender zeitlicher und örtlicher Luftüberlegenheit und zur anschließenden Zerstörung des Wirtschaftspotentials gestellt waren?
Der Zeitfaktor wäre hier besonders in Rechnung zu stellen gewesen, denn der Luftwaffe war diese Aufgabe nicht etwa als Aufgabe eines selbständigen Luftkriegs, d. h. eines Zermürbungskrieges mit immer relativ langen Fristen, sondern nur zur Verwirklichung einer unabdingbaren Voraussetzung für eine gegebenenfalls zum frühest möglichen Zeitpunkt durchzuführende Landung gestellt worden. Da eine Landung spätestens vor Einsetzen der herbstlichen Schlechtwetterperiode durchgeführt werden mußte, war Eile um so mehr geboten, als die materielle und personelle Vorbereitung des Luftwaffenangriffs auf England — mangels jeglicher gedanklicher und tatsächlicher rechtzeitiger Vorbereitung
Die Luftkämpfe vor Beginn des verschärften Luftkrieges hatten ferner deutlich werden lassen, daß die englischen Jäger sich dem Luft-kampf mit deutschen Jägern entzogen, ja ausdrücklich Befehl hierzu erhielten, wie mitgehört werden konnte; sie waren bestrebt, nur deutsche Bomber anzugreifen. Sie schonten sich offensichtlich für den Tag, an dem die Luftwaffe mit starken Bomberverbänden antreten würde. Die hohe Zahl der verfügbaren Einsatz-und Ausweichflugplätze, die z. T. außerhalb der für die gestellte Aufgabe unzureichenden taktischen Reichweite der deutschen Jäger lagen, erleichterte dem Feind seine Defensivaufgabe. Schließlich wurde der Luftwaffenführung bald bewußt, daß die Einsätze dem deutschen Angreifer relativ stärkere personelle Verluste brachten als dem englischen Verteidiger, denn jeder Abschuß eines deutschen Flugzeuges jenseits der französischen Küste war ein Totalverlust; ein hoher Prozentsatz der englischen Flugzeugbesatzungen konnte sich dagegen bei Abschuß über eigenem Boden durch Fallschirm retten.
Das Auftreten technisch sehr leistungsfähiger, schneller und stark bewaffneter englischer Jäger schon in den Einleitungskämpfen vor dem 13. 8. bedeutete auch für den Haupt-träger des deutschen Angriffs, den Bomber, eine bittere Erkenntnis, die im Grunde alle zeitlich und w i r k u n g s m ä ß i g gehegten Führungshoffnungen nicht hätte aufkommen lassen dürfen: beim mittleren und leichten deutschen Bombenflugzeug, in Spanien gegen erheblich langsamere Jäger erprobt und bewährt, lag die Hauptstärke in der relativ hohen Geschwindigkeit; man hatte daher geglaubt, die Abwehrbewaffnung entsprechend schwach halten zu können, eine Panzerung fehlte zunächst vollkommen, die Tragfähigkeit oder Bombenzuladung betrug normal nur 1000 kg, die taktische Eindringtiefe lag bei höchstens 600— 700 km. Es war daher von vornherein in Rechnung zustellen, daß die Bomberverbände gegenüber einem so leistungsfähigen Gegner eines starken und dauernden Schutzes bedurften, falls man untragbare Verluste vermeiden wollte. Dieser Schutz mußte nicht nur während des gesamten Hin-und Rüdemarsches ausgeübt werden, sondern auch noch auf den Schutz der Landehäfen ausgedehnt werden. Hierdurch wurden starke Jagdkräfte der „freien Jagd" entzogen, sie mußten auch während des Begleitschutzes die Initiative voll dem Feind überlassen, waren also taktisch stark im Nachteil. Schmerzlicherweise erwies sich sehr schnell, daß der in erster Linie für diesen Begleitschutz erdachte zweimotorige „Zerstörer", die Me 110, seiner Aufgabe — da gegenüber modernen englischen Jägern zu langsam, zu wenig wendig, zu schwach bewaffnet — nicht gewachsen war und diese bald fast ganz den einmotorigen Jägern übertragen werden mußte. Dies Erfordernis starken Begleitschutzes der Bomberverbände im Zusammenhang mit der geringen Reichweite der deutschen Jäger entzog von vornherein weite Teile der englischen Rüstungsindustrie und Versorgungsanlagen der deutschen Kampf-einwirkung. Die Nichterfüllung der ersten deutschen Luftwaffen-Aufgabe beeinflußte damit maßgeblich die Erfolgsmöglichkeiten für die zweite Aufgabe.
Alle diese Umstände hätten der deutschen Führung bei sachlicher Beurteilung ihrer voraussichtlichen Wirkung die Erwartung, die Luft-herrschaft in acht Tagen erringen zu können, unrealistisch erscheinen lassen müssen.
Taktische und technische Bombenwurfsversuche des Lehrgeschwaders der Luftwaffe in Friedenszeiten hätten vor übersteigerten Hoffnungen gleichfalls warnen müssen. Treffsicherheit und Bombenwirkung selbst waren geringer als erhofft gewesen. Gegenüber Zielen, wie sie in England angegriffen werden sollten, fehlten diesbezüglich alle Erfahrungen. Stärke der einsatzbereiten Verbände, Ausbildungsstand und technische Gegebenheiten vielfältiger Art auf der einen Seite, Masse der angriffswürdigen Ziele, weite Verteilung und unerwartet starke Abwehr auf der anderen, hätten Grund genug geben müssen, weder auf schnellen noch auf durchschlagenden Erfolg zu bauen
Stellten Planung und Vorbereitung des verschärften Luftkrieges schon die Führung vor eine große Zahl von Problemen, so ergaben sich weitere im Ablauf; nur in diesem Rahmen soll auf ihn eingegangen werden.
Trotz aller Erfolgseinschränkungen, die, wie gezeigt, fast durchweg hätten vorausbedacht werden können, war es der Luftwaffe bis 6. 9. — also in etwa 3 1/2 Wochen, aber nicht, wie erhofft, in 8 Tagen — gelungen, ein solches Maß von Luftüberlegenheit, wie man annahm, zu erringen, daß die Luftwaffenführung glaubte, zu geballten Angriffen auf die Versorgungsanlagen der Hauptstadt London, gleichzeitig des Haupteinfuhr-und Umschlaghafens Englands, übergehen zu können. Dieser Zielwechsel ist von der politischen Führung wesentlich aus propagandistischen Gründen mit Vergeltung für englische Angriffe auf Berlin begründet worden. Die Führung der Luftflotten hat aber, wie schon gestreift, nachweisbar erwartet, gerade durch diese Angriffe die Restbestände der englischen Jagdabwehr zum Einsatz zwingen und hierbei aufreiben zu können Die Gründe für den — auch den Gegner völlig überraschenden — Ziel-wechsel kamen zwar der Wirklichkeit sehr nahe, sie entsprachen ihr aber nicht
Die Masse der Bomber griff ab Oktober nur noch nachts ihre Ziele an.
Diese unter Feinddruck und erst im Kampf erdachten Behelfe und Improvisatoinen mußten als Beweis dafür angesehen werden, daß mit den gewohnt gewesenen Mitteln und Einsatzgrundsätzen das Kampfziel nicht zu erreichen gewesen und auch nicht mehr zu erreichen war. Die Erfolgsaussichten der neuen Kampfmethodik konnten schon deswegen nicht besonders hoch eingeschätzt werden, weil die Anwendung von Navigationsmitteln, die im Frieden für Tagesschlechtwettereinsätze, aber nicht für einen Angriff bei Nacht entwickelt worden waren, noch keineswegs voll befriedigte, weil es an Ausbildung in diesem meist völlig neuen Kampfverfahren mangelte, weil gerade die alten erfahernen Besatzungen sehr starke Verluste erlitten hatten und weil die Wirkung englischer Täuschungsmaßnahmen — Scheinbrände, funktechnische Störungen — nicht unbeachtet bleiben konnte. Der Luftwaffen-wie der politischen Führung konnte aus all dem nicht verborgen geblieben sein, daß die Wirkung selbständig geführten Luftkrieges wesentlich begrenzter als erwartet war und daß er im Grunde einen Abnützungskrieg darstellte, der Ergebnisse nur in langen Fristen erzielen konnte. Ihr mußten aber auch Gefahren bewußt werden, die sich für die Lesitungskraft der Luftwaffe bei weiterer Fortsetzung dieses Kampfes ergaben.
Als sich Hitler am 17. 9. entschloß, die Herausgabe des Befehls für die Landung bis auf weiteres zu verschieben, war der tiefste und entscheidende Grund: dieLuftherrschaft hatte trotz größten und sicherlich aufopferungsvollsten Einsatzes nicht erreicht werden könnnen, die Luftoffensive war ein Fehlschlag. Das von vornherein als sehr hoch eingeschätzte Risiko eines Kanalübergangs, das mangels aller rechtzeitigen Vorbereitungen und der fortgeschrittenen Zeit, die der Gegner sicher mit allen Mitteln genutzt hatte, sicher mit Recht so bewertet wurde, glaubte Hitler unter diesen Umständen nicht mehr eingehen zu können; er wollte keinesfalls einen Mißerfolg erleiden und sein Prestige wie das der bisher für unbesiegbar geltenden Wehrmacht aufs schwerste politisch und tatsächlich gefährden — Auftrieb für den britischen Kriegswillen, Einwirkung auf die Haltung der USA und der Sowjetunion. Er ist im letzten möglichen Augenblick doch noch vor einem Risiko zurückgeschreckt, das unter tragbaren Verhältnissen einzugehen er durchaus entschlossen gewesen war
Damit war aber nicht nur der unmittelbare Zugriff auf die englische Insel aufgeschoben, de facto aufgegeben; es erwies sich sehr schnell, daß unwiederbringliche Zeit verstrichen und politische Möglichkeiten entschwunden waren, die sich nicht hatten beliebig konservieren lassen.
Fortsetzung des selbständigen Luftkrieges?
In der 2. Septemberhälfte 1940 stand für die Oberste politische und militärische Führung Deutschlands fest, daß die Leistungskraft der Luftwaffe als strategisches und in gewissem Sinn auch operatives Kampfmittel überschätzt worden und daß außerdem der Einsatz aller drei Wehrmachtsteile zur Brechung des englischen Kampfwillens in unmittelbarem Angriif zunächst nicht mehr durchführbar war. Daß diese Erkenntnis wesentlich dazu beigetragen hat, daß nunmehr die Pläne für einen völligen Wechsel der Operationslinie nach dem Osten hin bei Hitler immer greifbarere Formen annahmen, kann nicht bezweifelt werden. Noch freilich waren es nur Pläne, noch war der Entschluß nicht gefaßt, das Risiko einer Invasion durch das noch viel größere Risiko eines Zweifrontenkrieges zu ersetzen.
Zugleich drängte sich die Frage auf, ob der selbständige Luftangriff fortgesetzt werden sollte, nachdem die primäre Aufgabenstellung für die Luftwaffe entfallen war. Der Entschluß zum Verschieben — und damit praktisch zur Absage — von Seelöwe ist nicht zeitlich zufällig damit zusammengefallen, daß sich in denselben Tagen erwies, wie verlustreich die Tagesangriffe ins Zentrum des englischen Kampfwillens, der englischen Versorgungswirtschaft und damit zugleich des englischen Verteidigungssystems waren
Die Schwäche der Ausweichlösungen, die den Tagesmassenangriff ersetzen sollten, wurde bereits aufgezeigt; sie ließ sich in begrenzter Frist nicht entscheidend beheben. Konnte die Führung an einen durchschlagenden Erfolg dieser Methoden glauben, der die Fortsetzung des Luftkriegs im bisherigen Ausmaß gerechtfertigt hätte, obwohl die Witterung im Winterhalbjahr eher schlechter als besser wie bisher wurde und obwohl die englische Abwehr sich sicher weiter verstärkte? Es war ja erwiesen, welch bedauerlich großen Vorsprung die englische Funkmeßtechnik besaß, der deutscherseits kaum schnell aufzuholen war; man konnte ihr unterstellen, in bemessener Frist auch entsprechende Geräte zur Verbesserung des eigenen Nachtjagdeinsatzes verfügbar zu haben
Das Mittelmeer als Kriegsschauplatz
Damit trat vor die politische und militärische Führung eine Frage, die aus mancherlei Gründen bisher als bestenfalls zweitrangig oder nicht vordringlich im Hintergrund der Überlegungen geblieben war
Es hatte sich an der Erkenntnis, daß der Zwang zum Kampf gegen England die Achse war, um die sich politisch und militärisch alles für Deutschland drehte und drehen mußte, nichts geändert. Nachdem die Landung, der Angriff auf dem unmittelbaren Weg gegen den einzigen verbliebenen Gegner, vorerst aufgegeben und mit nachdrücklichen, allmählichen vielleicht tödlichen Fol-gen des verchärften Seekrieges bestenfalls erst in langen Fristen zu rechnen war, drängten zwei Fragen zur baldigen Entscheidung: war der Feldzug gegen die Sowjetunion, dessen Durchführung sich Hitler bisher offen gelassen hatte, für dessen Beginn im Frühjahr 1941 umfassende Vorarbeiten und Vorbereitungen schon angelaufen waren, die einzig noch verbleibende Möglichkeit, England friedensbereit zu machen oder gab es noch eine Alternative? Konnte der „p e -
73) Laut amtlichen Unterlagen der Luftwaffe betrugen riphere Angriff" gegen England im Bereich des Mittelmeers als solcher angesehen werden?
Hinsichtlich eines Ostfeldzuges bestand Klarheit, daß mancherlei Gründe, insbesondere solche klimatischer und meteorologischer Art, ihn nicht vor etwa Mitte Mai beginnen lassen konnten; so verblieben noch rund acht Monate, die genutzt werden mußten. Auch eine Intensivierung des Kampfes im Mittelmeer bedurfte selbstredend zeitlichen Anlaufs, sie war aber in relativ kurzen Zeitspannen zu verwirklichen; in weiten Räumen seines Uferbereiches schuf gerade das Winterhalbjahr für Kampfhandlungen günstige Voraussetzungen. So bot sich im Augenblick der fast einzige Weg, eine ungestörte und gefährliche Wiedererstarkung Englands zu verhindern und es in seinem Potential nachhaltig zu binden, eine Verlagerung des Schwerpunkts der militärischen Kriegführung in den Bereich des Mittelmeer-Raumes
Politisch waren seit Juli 1940 schon Versuche unternommen worden. Englands Isolierung zu verstärken. Sowohl mit Spanien wie mit Frankreich liefen fortlaufend Sondierungen und Bemühungen, um das Verhältnis zu ihnen positi-ver zu gestalten und die Politik ihrer Staatsführungen mit der der Achse zu koordinieren, es waren aber nicht gerade sonderlich intensive „Versuche". Auch zu den Balkanländern wurden weiter Fäden gesponnen. Sehr nachdrücklich waren die Bemühungen um Japan. Wenn auch Hitler glaubte, daß die USA — trotz der kürzlich nach langen Verhandlungen erfolgten Überlassung von 50 alten Zerstörern an Großbritannien gegen territoriale Pfänder und des am 19. 8. 1940 abgeschlossenen Verteidigungsbündnisses USA/Kanada, mit dem sich ja Deutschland schon im Kriege befand — auf absehbare Zeit nicht in den Krieg eingreifen würden, so erschien es ihm zweckmäßig, den Versuch zu machen, durch möglichst eng gestaltete Beziehungen, ja durch ein Militärbündnis mit Japan das Risiko für die USA zu erhöhen und gleichzeitig ein Vorgehen Japans gegen die englischen Besitzungen im Fernen Osten zu erreichen. Ein guter Ansatzpunkt für die Bemühungen hatte sich dadurch ergeben, daß Japan den Zusammenbruch Frankreichs und die gleichzeitige Schwäche Englands zu Gunsten seiner Chinapolitik genutzt hatte — Besetzung Nordindochinas, Zugeständnis Englands zur Sperrung der Burmastraße und damit zur Unterbindung der Zufuhr von Kriegsmaterial nach China. Bis Mitte September hatten jedoch alle diese deutschen Versuche noch zu keinem greif-und nutzbaren Ergebnis geführt; die Zeit drängte jedoch. Die Bedeutung des Mittelmeer-Raumes für England — und ganz besonders in seiner derzeitigen Lage, in einem Zustand immer noch großer, nicht schnell behebbarer Schwäche (die Flotte ausgenommen) — konnte kaum überschätzt werden. Er stellte von jeher die See-und zum Teil auch Landbrücke zwischen den britischen Inseln und den Commonwealth-Gliedern im Osten dar, er war das Rückgrat der britischen Machtstellung, der kürzeste Weg von und zu den britischen Kraftquellen und nicht zuletzt zum lebenswichtigen Öl des Mittleren Ostens. Sein Schutz war immer der britischen Seemacht anvertraut, die in Gibraltar, Malta und Alexandrien über erstklassige Stützpunkte verfügte. Freilich waren durch die technische Entwicklung seit dem 1. Weltkrieg, die neuzeitlichen Flugzeuge, U-Boote, Minen und leichten Seekampfmittel, den Operationen schwerer Seestreiaräfte einengende Grenzen gesetzt, seine Verteidigung war schwieriger geworden; ohne die genannten Stützpunkte war sie nicht mehr möglich. Es kam noch hinzu, daß der Ausfall der französischen Flotte das Kräfteverhältnis im Mittelmeer — wenigstens theoretisch — wesentlich zu Ungunsten Englands verschoben hatte. Es war trotzdem zu unterstellen, daß England alle Kräfte, zu deren Freimachen und Anbefördern es in der Lage war, einsetzen würde, um seine Position im Mittelmeerraum zu erhalten und möglichst noch zu verstärken. Erinnert sei, welch hohe Bedeutung England auch im 1. Weltkrieg dem Mittelmeer zumaß und daß es es ausnutzte, um aus ihm entscheidend gegen den „weichen Unterleib Mittel-europas" vorzustoßen. Ähnliche Gefahren konnten auch jetzt nicht völlig ausgeschlossen werden. Italiens Kriegseintritt hatte diesen Raum plötzlich ins nahe Blickfeld aller noch Krieg-führenden geschoben und dort künftig militärische Aktionen erst möglich gemacht. Italien war dabei zweifelsohne der schwächere Partner der Achse. Die dem 10. 6. folgenden Wochen hatten nicht nur einen, in diesem Ausmaß selbst von Hitler nicht erwarteten Mangel an jeglicher militärstrategischen Initiative erkennen lassen, sie hatten auch eine fast unfaßbar unzureichende Vorbereitung militärischer Operationen und höchst mangelhafte Ausrüstung der italienischen Wehrmacht, in erster Linie des Heeres, enthüllt. Auch für den Gegner war dies sehr offensichtlich geworden. Hinzu kam die ebenso Deutschland wie England bekannte Schwäche der italienischen Kriegswirtschaft, die durch Mangel vieler zur Kriegführung unentbehrlicher Rohstoffe wie Kohle, Erz, Öl das wirtschaftliche Potential Deutschlands unerfreulich stark belastete. Das „Imperium" Italiens, Abessinien und Somaliland, war infolge Fehlens aller Land-und vorerst auch See-und Luftverbindungen völlig vom Mutterland abgeschnitten und damit äußerst bedroht.
Schien so einerseits der Mittelmeerraum für einen mittelbaren Angriff auf England — nach Schaffung verschiedener Voraussetzungen — erhebliche Chancen für nachdrückliche Erfolge zu bieten, wenn auch nicht vorweg mit Sicherheit erwartet werden konnte, daß ein Verlust der Position im Mittelmeer England zur Kampfaufgabe zwingen würde, so bot er andererseits auch Gefahren, die in ihm nach Italiens Kriegs-beteiligung und angesichts seiner Unvorbereitetheit schnell heraufziehen konnten
Erschien somit die Ausnutzung des Mittelmeerraums für den Kampf gegen England sowohl zweckmäßig wie dringlich, so erhob sich sofort die Frage, ob der Schwerpunkt der deutschen bzw. Achsenkriegführung ins Mittelmeer verlegt oder der Erfolg nur mit Teil-k r ä f t e n , etwa der Unterstützung der italienischen Wehrmacht, angestrebt werden sollte, d. h. welche strategischen und operativen Ziele zu setzen waren. Auch war sehr sorgfältig zu prüfen, innerhalb welcher Fristen mit dem Anlaufen von Operationen — je nach Ausmaß — und dem Erzielen erster greifbarer Erfolge, etwa als Ausgangsbasis für weiteres Vorgehen gerechnet werden konnte. Der Standpunkt des Oberkommandos des Heeres, daß der ins Auge gefaßte und in militärischer Vorbereitung befindliche Ostfeldzug alle verfügbaren deutschen Kräfte beanspruchen würde, daß also etwaige anderweitige militärische Planungen nur vor oder nach diesem Feldzug oder an seiner statt verwirklicht werden konnten, zwang die Oberste Führung sorgsamst zu überlegen, ob Kampf im Mittelmeer und gegen die Sowjetunion nach-oder gar nebeneinander möglich seien. Hierin war eingeschlossen, ob etwa eine begrenzte Lösung wie z. B. nur Angriff auf Ägypten und den Suezkanal zur Schaffung einer Landbrücke nach Italienisch-Ostafrika und als Ausgangsbasis für weiteres Vorgehen gegen den Nahen Osten nach Kräfte-und Zeitbedarf überhaupt Aussicht auf Erfolg zu bieten schien und damit als Chance im Kampf gegen England gewertet werden konnte. Allein aus dem Gesichtswinkel des Zeitbedarfs konnte wohl die Antwort nur dahin lauten, daß weder eine Teillösung noch ein Nebeneinander von Mittelmeer-und Ostfeldzug durchführbar war. Zudem konnte auch nur die völlige Ausschaltung Englands aus dem Mittelmeerraum die Austilgung der aus ihm resultierenden Gefahren bringen. Die Begrenztheit des deutschen Potentials stellte jetzt, nachdem die Erwartung eines kurzen Krieges endgültig als Illusion erkannt war, als unabdingbare strategische Forderung die Zusammenfassung aller verfügbaren Kräfte auf e i n Ziel. Nur hierdurch konnte auch dem Zeitfaktor Rechnung getragen werden, der nicht mehr für Deutschland arbeitete. Das a d -a c t a -L e g e n aller Ostfeldzugsplanungen für absehbare Zeit war damit unvermeidbar; doch waren neben Sicherung im Westen — vorsorgliche Mindestsicherungen im Osten nötig und bei der zahlenmäßigen derzeitigen Stärke des Heeres auch möglich. Die Mehrzahl der großen deutschen Einheiten würde kaum im Mittelmeerraum benötigt werden, ja ließ sich aus operativen, Transport-und Versorgungsgründen dort gar nicht einsetzen.
An die Stelle der militärischen Planung gegen den Osten hatte zusätzlich politische Aktivität i n und mit dem Osten zu treten
Wie bereits erwähnt, konnten die aus der Schwäche Italiens erwachsenden Gefahren nur dadurch völlig gebannt werden, daß Großbritannien sobald als möglich jede Chance genommen wurde, den Mittelmeerraum, den es seinerseits als Hauptkriegsschauplatz betrachtete, jemals wieder zur Bedrohung Kontinentaleuropas zu verwerten. Da jeder „Schritt zurück" Italiens einen „Schritt vorwärts" für England bedeutete, mußte achsenseitig das Mittelmeer aus der bisherigen Rolle des Nebenkriegsschauplatzes, soweit es Deutschland betraf, herausgehoben werden. Die strategische und operative Zielsetzung hatte zu lauten: Angriff und Wegnahme der englischen Brückenköpfe Gibraltar, Malta, Alexandrien, Inbesitznahme der unter britischem Einfluß oder Bedrohung stehenden Randgebiete
Eine derartige Zielsetzung nahm keineswegs alle etwa später zu fassenden Entschlüsse vorweg; sie ließ durchaus noch Entscheidungsfreiheit für die Zeit nach Gewinnung des Mittelmeerraums — sowohl hinsichtlich Großbritanniens wie hinsichtlich der Sowjetunion. Der Politik waren durch die jetzt in den Vordergrund tretenden militärischen Maßnahmen nicht nur nicht die Hände gebunden, sie sollten ihr vielmehr erst wieder den Weg zu erfolgreicher Betätigung frei machen.
Es sei nochmals z u s a m m e n g e f a ß t: Ein positiver Ausgang des Kampfes um den Mittelmeerraum war als durchaus real zu bezeichnen, solange Deutschland den Rücken im Osten frei hatte und darüber hinaus eine Erweiterung des Dreimächtepaktes zum Viermächtepakt durch Einbeziehung der Sowjetunion nicht völlig ausgeschlossen erschien; solange ferner England noch nicht wieder erstarkt war und eine Heranführung Frankreich und Spaniens an die Achse erreichbar erschien, solange schließlich Ruhe auf dem Balkan gewährleistet werden konnte, was allein aus kriegs-wirtschaftlichen Gründen erforderlich war.
Zu übersehen war freilich nicht, daß Deutschland bei einem derartigen Entschluß und zum Erreichen der angestrebten Ziele beträchtlichen Belastungen unterworfen wurde: Italien war nur zu begrenzter Leistung fähig, die Hauptlast würde auf den deutschen Schultern liegen; die Versorgungs-und Nachschublage für starke auf dem Südufer des Mittelmeers operierende Verbände würde sich nicht einfach gestalten und für längere Frist starke Anforderungen an Transportraum und, zunächst wenigstens, seine Sicherung zu Wasser und aus der Luft stellen. Mit einem Kriegseintritt Spaniens waren nicht nur sofort seine, sondern auch Portugals Küsten bedroht; ihre Sicherung konnte nicht unberücksichihrer bleiben. Die ebenso große Gefährdung 86 Kolonien konnte nur hinsichtlich der nordwestafrikanischen durch den Kampfausgang selbst beseitigt werden. Am belastendsten war wohl die schlechte wirtschaftliche Lage Spaniens, besonders hinsichtlich Lebensmitteln und Rohstoffen, die zunächst eine Dauerbelastung Deutschlands darstellte, sofern nicht der Kampf-ausgang eine fühlbare Erleichterung brachte.
Ein Vergleich mit den Anforderungen und Aussichten eines Ostfeldzuges konnte nur positiv für ein Mittelmeerengagement ausfallen.
Strategisch wurde — vorerst — die vielleicht tötliche Gefahr eines Zweifrontenkrieges vermieden, die Erfolgsaussichten waren überschaubarer, der mit einem Ostfeldzug angestrebte indirekte Schlag gegen England wurde durch einen direkten ersetzt; die Kraft der Kriegswirtschaft wurde nicht nur gesichert, sondern sogar verstärkt — im Ostfall dagegen erheblich geschwächt und gefährdet.
Fraglich blieb allerdings, ob gegen die dann sicherlich bald vereinten Angelsachsen und ihr übergroßes wirtschaftliches Potential eine EntScheidung zu erreichen war; die zeitlich und räumlich schwer übersehbare Kriegsausweitung konnte Gefahren in ihrem Schoß bergen — bei maßvollen politischen Zielen erschien aber eine echte Einigung Europas unter deutscher Führung durchaus erzielbar; vertrauensvolles Zusammengehen mit Frankreich mußte zur unbedingten Sicherung Europas und auch Nordafrikas Führen und damit jede Invasionsgefahr künftig restlos ausschalten. Das Mindeste war also wohl — gesamtstrategisch gesehen — die Aussicht auf ein Remis zwischen einem geeinten Europa-Nordafrika und den Angelsachsen, vielleicht auch der Sowjetunion
Italien als Koalitionspartner
Die Politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Italien waren von jeher zweck-bedingt gewesen. Die von Mussolini nach dem ersten Besuch Cianos in Deutschland am 1. 11. 1936 verkündete „Achse" war noch keineswegs ein Bündnis, sondern nur eine weitgehende außenpolitische Koordinierung. Mussolini gedachte die Dynamik des schnell wiedererstarkenden Deutschland als Rückendeckung und Druckmittel gegen die Westmächte beim weiteren Ausbau der Position im Mittelmeer und in Afrika einzusetzen, Hitler seinerseits kalkulierte die Anlehnung an Italien bei der Verfolgung seiner Mitteleuropapläne ein
Die dem Albanienhandstreich folgenden Garantieerklärungen der Westmächte für Griechenland und Rumänien waren für Rom An'aß, die Paktabsprachen mit Berlin erneut aufzunehmen; ein Bericht Attolicos vom 20. 4. 1939, daß ein Vorgehen Deutschlands gegen Polen unmittelbar bevorstände, führte zur Beschleunigung eines Treffens Cianos mit Ribbentrop
Hitler seinerseits, der durch Ribbentrop telefonisch unterrichtet wurde, gab dem weitgehenden militärischen Paktvorschlag Mussolinis seine Zustimmung
Ribbentrop vermied es peinlich, Ciano über die deutschen Planungen gegen Polen und die bereits ergangenen militärischen Weisungen (Fall Weiß vom 3. und 11. 4. 1939) zu unterrichten, sprach nur von möglicher polnischer Provokation und stellte in Aussicht, falls Deutschland etwa zum Kriege gezwungen würde, ihn mit schnellen Schlägen zu beenden, ihn also zu lokalisieren; andererseits bezeichnete er aber noch 4— 5 Jahre für erforderlich, um auch die deutsche Wehrmacht weiter aufzurüsten. Die dem europäischen Frieden von Hitler drohende Gefahr wurde also bewußt verharmlost.
Es kann kein Zweifel bestehen, daß Italien, bewußt von Hitler hinsichtlich seiner wahren Absichten hintergangen und durch Ribbentrops Taktik irregeführt
Die Unterzeichnung des Paktes erfolgte am 22. 5. 1939 in Berlin. Hitler erklärte bei dieser Gelegenheit Ciano erneut, daß die Mittelmeer-politik von Italien bestimmt werden sollte
Schon am nächsten Tage, dem 29. 5. 1939, bewies Hitler, daß das Bündnis von ihm als Instrument des Krieges gedacht war — er eröffnete den Oberbefehlshabern der Wehrmachtteile seinen Entschluß, bei der ersten passenden Gelegenheit Polen anzugreifen. Mussolini seinerseits versuchte die Wirksamkeit des Bundes für einen einstweiligen Frieden herauszustellen — er übersandte am 3. 6. Hitler eine persönliche Botschaft mit der erneuten Forderung nach einer mehrjährigen Friedensperiode, die es überhaupt erst ermöglichen sollte, Italien für eine kriegerische Auseinandersetzung bereit zu machen
Die von Hitler bei der Entfesselung des Polenkrieges nicht eingehaltenen Paktverpflichtungen (Pflicht zur Konsultation) waren am 25. 8. 1939 der formale Anlaß, daß Mussolini seinerseits die von ihm selbst herbeigeführte Automatik der militärischen Bündnisverpflichtung brach; er erklärte Italiens Nichtkriegführung. Schon 14 Tage vorher hatte die Besprechung mit Hitler und Ribbentrop in Salzburg, auf der der Wille der deutschen Führung zum Krieg brutal zum Ausdrude gekommen war, Ciano dazu geführt, sich von seiner bisherigen Achsenpolitik abzukehren und zu einem scharfen Gegner Deutschlands zu werden — in der nunmehr klaren Erkenntnis, welche Gefahren Italien aus dem deutschen Ehrgeiz und der Ausweitung von Hitlers Macht drohten
Die deutsch-italienischen militärpolitischen Beziehungen standen naturgemäß von Beginn an im Schatten der beiderseitigen Politik. Ab April 1937 wurde auch deutscherseits die militärische Hilfe für Franco verstärkt, im Juni besuchte Blomberg die italienische Wehrmacht; während er von Luftwaffe und Marine befriedigt schien, erkannte er klar beim Heer die Mängel in Ausbildung und Bewaffnung. Gelegentlich Hitlers Staatsbesuch in Rom 1939 traf Keitel zwar mit dem italienischen Heeres-Generalstabs-Chef zusammen, Hitler hatte ihm aber jede engere Fühlungnahme untersagt. Auch bei Parianis Gegenbesuch im Juli 1938 ergaben sich keinerlei Vereinbarungen
Im gleichen Monat besuchte Brauchitsch das italienische Heer, ohne daß militärische Kernfragen berührt worden wären. Erst lange nach Kriegsausbruch erfolgte seitens des Oberkommandos des Heeres der einzige Versuch, mit Italiens Wehrmachtführung vor seinem Kriegseintritt eine gemeinsame Operation zustande zu bringen: es wurde vorgeschlagen, daß eine Anzahl italienischer Divisionen hinter der deutschen 7. Armee den Rhein überschreiten und durch Stoß rhoneabwärts den italienischen Hauptkräften den Austritt aus den Alpen öffnen sollten. Von Italien wurde hierauf nicht ein-gegangen
Das Urteil der deutschen militärischen Führungsstellen über den Wert der italienischen Wehrmacht war eindeutig: das Heer war nur ein Rahmenheer, die Ausbildung des Offizierkorps nicht vollwertig, die Zahl der Unteroffiziere viel zu gering. Es befand sich 1938/39 mitten in der Umorganisation der Divisionen von drei auf zwei Regimenter. Die Artillerie war großenteils unmodern, die Panzerwaffe im ersten Aufbau, Panzerabwehr und Motorisierung waren ganz unzulänglich. Die Aufgabe der Schnellen Truppen sollte durch 12 Reiterregimenter, einige Kradbataillone und eine einzige Panzerdivision erfüllt werden. Der Einsatz in Abessinien und Spanien hatte starke Verluste und Verbrauch an Material gebracht.
Der Kampfwert der italienischen Flotte war relativ höher, ihr Stärkeverhältnis zu englischen Mittelmeerkräften nicht ungünstig, die Zahl der vorhandenen leichten Seestreitkräfte war beachtlich. Die Flotte war aber waffentechnisch, auch hinsichtlich der zahlreichen U-Boote, zurückgeblieben, die taktische Ausbildung war besonders für Aufklärung und Nachtkampf ungenügend. Die Marineluftwaffe war an Stärke und Ausbildung den zu stellenden Anforderungen nicht gewachsen. Da Flugzeugträger fehlten, war die Flotte außerhalb der Landjäger-Reichweite ohne Luftschirm. Radar war nicht vorhanden. Die geringen Ölreserven behinderten beweglichen Einsatz. Gegenüber der englischen Flotte bestanden eindeutige Minderwertigkeitskomplexe. Im August 1940 sollten die beiden neuesten Schlachtschiffe zur Flotte treten, denen die englische Mittelmeerflotte materiell nichts Gleichwertiges entgegenstellen konnte.
Die Luftwaffe entsprach in Organisation und technischen Ausstattung etwa der der andern Großmächte, die Stärke war aber unzureichend und die Ausbildung nicht durchweg vollwertig.
In dem großen Mangel an Rohstoffen aller Art (Kohle, Erz, Öl, Gummi) sowie an Devisen lag die ausgesprochene Schwäche des wirtschaftlichen Kriegspotentials.
Diese Gesamt-Sachlage war der Obersten deutschen Führung durchaus bekannt; erinnert sei nur an die sehr offenen Ausführungen Parianis gegenüber Keitel am 5. 4. 1939 in Innsbruck.
Das Oberkommando des Heeres hatte schon im Winter 1938/39 eine geheime Denkschrift über die Einsatzfähigkeit der italienischen Armee und Rüstung verfaßt; Hitler befahl ihre Ein-ziehung
Audi in Italien wurde die Wehrmachtführung von der Staats-und politischen Führung völlig unzureichend oder überhaupt nicht zur Vorbereitung politischer Entschlüsse herangezogen, vielmehr fortlaufend vor vollendete Tatsachen gestellt: erst am 29. 5. 1940 hatte Mussolini den Generalstabs-Chefs seinen Entschluß zum Kriegseintritt bekanntgegeben! Er wollte zu nächst rein defensiv bleiben; auf Badoglios Einspruch hin wurde wenigstens für Luftwaffe und Marine die Aktion freigegeben, sofern sich eine günstige Gelegenheit bot.
Tatsächlich waren sowohl Hitler wie das Oberkommando der Wehrmacht völlig unorientiert, ob bzw. wo und wann Italien mit seinem K r i e g s e i n t r i 11 militärisch aktiv werden würde. Zwar waren als strategische Konzeption außergewöhnlicher Art für eine gemeinsame Kriegführung von Mussolini der „Parallelkrieg“ und von Hitler die „getrennten „Räume" erfunden worden, jedoch hätte Hitler sofort nach Mussolinis Bereitschaftserklärung zum Kriegseintritt auf eine Aussprache über wirklich gemeinsame Kriegführung drängen müssen — unabhängig davon, daß er den Krieg bereits gewonnen glaubte, und im ureigensten Interesse. Denn Italiens Kriegseintritt verschob die bisherige strategische Lage grundlegend. Hitler war zwar am Mittelmeerraum nicht interessiert (daher die „getrennten Räume"), aber er hätte sich spätestens jetzt bewußt werden müssen, daß durch Italiens Kriegsteilnahme das gesamte Mittelmeer mit seinen Randgebieten ins Kriegstheater einbezogen wurde und welche Möglichkeiten auch zur Verschärfung des Drucks auf England in Italiens Hand lagen.
Das Ergebnis der überstürzten italienischen Kriegsbeteiligung, der völlig mangelnden operativen, organisatorischen und technischen Vorbereitung — Friede bis mindestens 1943! — zeigte sich sehr schnell: man versäumte, solange Frankreich sich noch im Kriege befand, die Pfänder in die Hand zu nehmen, die man immer als Beute eines Krieges vor Augen gehabt hatte und die Ausgangspunkt für Weiteres hätten sein können, in erster Linie Tunis. Man versäumte ferner als unerläßliche Vorbedingung eines erfolgreichen Ausgangs des Kampfes gegen England im Mittelmeer die blitzartige Wegnahme Maltas im Zustand seiner größten Schwäche, des Pfahls im Dreieck Sizilen-Tripolis-Cyrenaika, innerhalb dessen die für Italien wichtigsten und gleichzeitig gefährdesten Seeverbindungen liefen
Die Luftwaffe führte nur fast wirkungslose Angriffe gegen Malta. Die ersten Zusammenstöße zwischen der italienischen Flotte und den englischen Mittelmeerverbänden brachten trotz taktisch günstiger Lage, infolge nicht ausreichender italienischer Nachtgefechtsausbildung, keine greifbaren Ergebnisse. Das Gefecht bei Punta Stilo am 9. 7. enthüllte alle Mängel der italienischen Marinerüstung. Es wurde nicht nur auf einen kombinierten Angriff auf Malta verzichtet, sogar die Sperrung der Straße von Sizilien durch Minen wurde unterlassen.
Die von Mussolini immer wieder geforderte Ägyptenoffensive kam infolge der Vorbereitungsmängel erst am 13. 9., also drei Monate nach Kriegsausbruch und im Grunde gegen den Willen Badoglios, in Gang
Die Auffassungen Hitlers und Mussolinis vom „Parallelkrieg“ in „getrennten Räumen" mußten bei rein sachlicher Betrachtung der in der zweiten Septemberhälfte 1940 sich stellenden Probleme als unrealistisch und nicht mehr aufrechtzuerhalten erkannt werden: denn England war noch nicht besiegt, Italiens Streitkräfte entbehrten, allein auf sich gestellt, der Stoßkraft, um das tatsächlich zu vollbringen, was Rom „erwartete“, sie waren allein nicht imstande, England im Mittelmeer auszuschalten, woran nunmehr auch Deutschland sehr interessiert war. Es war hohe Zeit, diese gegen die Grundsätze der Strategie wie gemeinsamer Kriegführung verstoßenden Gedankengänge schleunigst zu korrigieren. Die Zeit drängte um so mehr, als wertvolle Monate für die Vorbereitung durchzuführender Maßnahmen schon verloren waren. Ein Koalitionskrieg, der zum Sieg führen sollte, verlangte auf politischem, psychologischem und besonders auf militärischem Gebiet klare Erkenntnis des jetzt Notwendigen.
An die Stelle des bisherigen beiderseitigen Mißtrauens, der Geheimniskrämerei und des Verfolgens selbstsüchtiger Kriegsziele
Dieses Zurückstellen der „nationalen Aspirationen“ bis nach dem Sieg, verlangte allerdings viel: von Italien den Verzicht auf alle territorialen Forderungen, die im Kampf zu realisieren man bisher versäumt hatte; hierunter fielen Tunis und alle sonst noch erstrebten Teile Französisch-Nordafrikas, Korsika und der Raum um Nizza. Auch Deutschland hatte großen Wünschen in Afrika vorerst zu entsagen und Träume in den Gebieten vor seiner Westgrenze aufzugeben. Italien mußte ferner mit der Wiederaufrüstung der französischen Wehrmacht in Nordafrika sich abfinden, die es bisher als eine Gefahr im Rücken der eigenen relativ schwachen Nordafrikaposition angesehen hatte. Wollte die politische Achsenführung Frankreich für sich gewinnen, so war das nur, wie noch behandelt wird, durch Offenlegen aller Pläne und Absichten möglich; Frankreich mußte sich in klarer Erkenntnis dessen, was von ihm verlangt und was ihm geboten wurde, entscheiden können. Die genannten politischen Konsequenzen verlangten somit von beiden Diktatoren, die bisher selbstsüchtig auf Eroberungen aus waren, die Aufgabe vieler Wunschträume, das Breschen mit manchen als selbstverständ-lieh angesehenen Grundsätzen, das Ausschalten aller nur national bedingten Gesichtspunkte aus der künftigen Strategie-sie verlangten die illusionslose Erkenntnis der nunmehr unabdingbaren Voraussetzungen für einen Sieg, der schwer genug würde erkämpft werden müssen, sie verlangten aber auch das Sich-bewußt-werden der — vorerst zwar noch im Hintergrund lauernden — Gefahr für ihre Herrschaft. Die Politik hatte wieder zur Kunst des Möglichen zu werden, dieKriegführung den Rang als eminent politisches Problem anstatt reinen Machtkampfes zurückzugewinnen.
Schwierigkeiten bei der militärischen Koordinierung
Militärisch stellte sich das Problem der zweckmäßigsten Form einer gemeinsamenKommandogewalt.
An den Kampfhandlungen um die angestrebten operativen Ziele würden alle Wehrmacht-teile der Verbündeten und eventueller künftiger Partner beteiligt sein. Es mußte also erreicht werden, ihre maximale Kraft sich dadurch voll auswirken zu lassen, daß ihre Kampfmittel, wirksam koordiniert, zum Erreichen eines richtig gewählten gemeinsamen Operationszieles eingesetzt wurden. Das Schwergewicht mußte ohne Zweifel hierbei der wohlausgebildeten und wohlausgerüsteten, noch unverbrauchten und sieggewohnten deutschen Truppe unter ihren kriegserfahrenen General-stäben zufallen. Andererseits war das größere Potential der italienischen Flotte bei der schwerwiegenden Bedeutung der Sicherung von Transporten und Versorgung in Rechnung zu stellen.
Hinsichtlich des Problems des Oberbefehls über koalierte Streitkräfte, lehnt der über besondere Erfahrungen in Koalitionsfeldzügen verfügende Oberbefehlshaber der Alliierten Streikräfte im 2. Weltkrieg, Eisenhower, in seinen Erinnerungen
Schon im Hinblick auf die unterschiedliche militärische Leistungskraft der beiden Achsen-partner und ihrer Wehrmachtteile und die damit Die besonders wichtige Koordinierung von Forderun- gen und Durchführungsmöglichkeiten erschien die Schaffung eines allein verantwortlichen Achsen-Oberbefehlshabers zweckmäßig und notwendig. Er war selbstverständlich an die gemeinsam erstellten politischen Richtlinien für die Kriegführung gebunden. Von der Tatsache eines einzigen für die militärische Führung Verantwortlichen konnte vielleicht auch die heilsame Wirkung erwartet werden, daß die in ihren militärischen Neigungen und Eignungen sehr unterschiedlichen Diktatoren — beide Autodidakten, was militärische Zielsetzung und Führung anlangt — gehalten wurden, sich vorher auf ein Ziel zu einigen bzw. es gemeinsam mit dem Oberbefehlshaber zu erarbeiten, anstatt sprunghafte „einsame“ Entschlüsse zu fassen, und Sonderinteressen zu unterdrücken.
Für den Oberbefehlshaber wäre als Arbeitsinstrument ein entsprechend den Anforderungen gegliedertes und personell besetztes Oberkommando der Achse zu schaffen gewesen. Als Sitz bot sich Rom an, wo es den künftigen Fronten und ihren Basen am nächsten war. Die Leistungsfähigkeit dieses gemeinsamen Befehlsapparates würde freilich auch davon abhängig sein, daß alle beteiligten höchsten Instanzen (Ministerien, Oberkommandos der Achsenwehrmachtteile usw.) bereit waren, national bedingte Differenzen, welche die Verwendung der vereinigten Streitkräfte berührten, auszugleichen und den auf den einzelnen Kriegsschauplätzen ernannten einheitlichen Oberbefehlshabern rückhaltlos Vertrauen und Unterstützung zu gewähren.
Zuständigkeit eines derartigen militäri115schen Oberkommandos etwa räumlich oder schauplatzmäßig einzugrenzen — Kampf um die englische Insel, Abessinien usw. als Beispiele —, war abzulehnen. Das Oberkommando mußte in der Lage sein, über alle zur Verfügung stehenden militärischen Mittel zu entscheiden und alle Anforderungen und Bedürfnisse untereinander auszugleichen. Die Ziel Setzung lag ja sowieso bei der gemeinsamen politischen Krieg-führung. Der Umstand, daß zur Achse ja noch weitere Partner treten sollten, als nächste Frankreich und Spanien, ließ gleichfalls eine so geartete Institution unbedingt nötig erscheinen. Sie konnte am schnellsten und zielsichersten nötige Vereinbarungen oder Entscheidungen treffen, Erfahrungen zur Verfügung stellen usw. Andererseits wußten die neuen Partner von vornherein, an wen allein sie sich einschlägig zu wenden hatten.
Zwangsläufig war gleichzeitig noch ein Problem zu lösen, das auf deutscher Seite bisher nicht befriedigend gelöst war, dessen Lösung auch bei Einfrontenkrieg und bisherigen Blitz-kriegen zu Lande bisher nicht als unbedingt lebenswichtig hatte bezeichnet werden müssen: Das Problem der deutschen Wehr-mac h t f ü h r u n g , eines der schwerwiegendsten Probleme. Es war mit dem Abgang Blombergs im Februar 1938 von Hitler bewußt in der Schwebe gehalten bzw. einseitig in seinem Sinne „gelöst“ worden, im Sinne seiner Devise divide et impera.
Aus der Bildung eines Achsen-Oberkommandos, mit einem für die militärische Führung allein verantwortlichen Oberbefehlshaber, ergab sich eine Beschränkung der Staatsführung auf die Politik und die Zielsetzung für die Krieg-führung. Sie wurde durch die schon erfolgte Kriegsausweitung, ihre teils angestrebte (Spanien, Frankreich), teils noch mögliche weitere Dehnung vor außerordentlich wichtige, vielfältige, dringliche und durch den künftigen Zwang zur Koordinierung dabei zeitfordernde Aufgaben gestellt. Ihre Meisterung konnte nur gelingen, wenn die politische und Staatsführung nicht mehr durch andere Aufgaben abgelenkt und in Anspruch genommen wurde, die nicht ihres Amtes waren.
Für die Führung der deutschen Wehrmacht bot sich eine dem Achsen-Oberkommando ana-loge Lösung an, dem ja keinesfalls aufgelastet werden konnte, sich mit einzelnen Wehrmacht-teilen Auseinandersetzungen oder gar widerstrebende Interessen von sich aus auszugleichen. Das bisherige „militärische Sekretariat des Führers" war demnach in ein militärisch voll verantwortliches und mit Führungskompetenzen ausgestattetes Oberkommando der Wehrmacht umzugestalten
Das Verhältnis zu Frankreich — Grundlagen und Wandlungsmöglichkeiten
Ähnlich wie das Fernziel im Osten ist in „Mein Kampf“ auch das Ziel gegenüber Frankreich umrissen
Zwar hat Hitler in einem Interview mit de Jouvenel vom Paris Soir am 21. 2. 1936 widerrufen: „ ... ich berichtige . Mein Kampf'gegenüber Frankreich am besten dadurch, daß ich mit allem Nachdruck für eine deutsch-französiche Verständigung eintrete“
Nach Abschluß des Waffenstillstands am 22. 6. 1940 bestand vorerst kein Anlaß für Hitler, das Problem einer endgültigen „deutsch-französischen Verständigung“ ernsthaft zu überdenken; der Endsieg und mit ihm die Verwirklichung weitgesteckter machtpolitischer Ziele erschien ja greifbar nahe. Doch der Donnerschlag des engl. Flottenangriffs auf die französischen Flottenteile in Oran und Dakar (3. und 8. 7. 1940) hätte diese Illusionen zerstören und Hitler die politische Bedeutung dieses brutalen — und im Grunde tatsächlich ungerechtfertigten — Angriffs auf den bisherigen Bundesgenossen erkennen lassen müssen
Der Verzicht auf die französische Flotte und auf demütigende Bestimmungen im Waffenstillstandsvertrag schienen das erwarten lassen zu können. Dieser Verzicht konnte jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß der baldige Friedensschluß ausblieb, auf den die französische Staatsführung bestimmt gehofft hatte. Sie hätte jede Kompetenz gehabt, einen Friedensvertrag abzuschließen und aus ihm gegebenenfalls jede politische Konsequenz zu ziehen. Hieß es doch in der Begründung des Abstimmungsvotums der französischen Nationalversammlung vom 10. 7. 1940: „Der Text verleiht der Regierung Marschall Petain die verfassung-gebende, gesetzgebende und ausführende Gewalt“. Mit diesem Verfassungsgesetz und den darauf fußenden Verfassungsakten der Regierung vom 11. 7. 1940 übte Petain tatsächlich eine Macht aus, wie sie in keiner Hand während der französischen Republik vor ihm jemals ver-einigt war. Daneben hätten die Ritterlichkeit und Charakterfestigkeit des Soldaten Petain Hitler auch jede Gewähr für Innehaltung jeder fairen Abmachung geboten. In Laval, der seit 23. 6. 1940 die Stellung als stellvertretender Ministerpräsident bekleidete, verfügte zudem Petain als Ergänzung über einen Politiker, der bei sprühender Vitalität, großer Beweglichkeit und Treffsicherheit von Gedanken und Worten, ein ausgesprochener Anhänger und Befürworter einer deutsch-französischen Verständigung war — zum mindesten solange, als er an einen deutschen Sieg glaubte
Frankreichs neue Führung war von dieser Haltung Deutschlands bitter enttäuscht. Die Verweigerung des Friedensschlusses, die Ablehnung bzw. endlose Hinauszögerung der von Frankreich mehrfach erbetenen Entlassung der Kriegsgefangenen, die allmählich einsetzende Zwangsrekrutierung von Arbeitern neben sonstigen wirtschaftlichen Maßnahmen wie Demontage von Werkzeugmaschinen usw. ließ die fraglos vorhanden gewesene aufrichtige französische Bereitschaft zum Zusammengehen langsam erkalten, entfremdete durch das Ausbleiben greifbarer politischer Erfolge die französische Regierung ihrem Volk und untergrub damit auch die Stellung Lavals, den Deutschland selbst als Partner wünschte. Dies Verkennen und Übersehen psychologischer Gegebenheiten in der Außenpolitik entsprach freilich von je und zunehmend Hitlers politischen Maximen. Das Aufrechterhalten der noch während des Feldzuges verfügten Ausgliederung der Departements Nord und Pas de Calais aus dem Bereich des Militärbefehlshabers Frankreich und ihrer Zuteilung zum Bereich des Militärbefehlshabers Belgien-Nordfrankreich, das Verhindern der Rüdekehr der französischen Flüchtlinge in den Raum nördlich der Somme, das Einsetzen deutscher Gauleiter im Elsaß und in Lothringen verschärfte die Sorgen der französischen Politiker und mußte sie für einen Friedensschluß Schlimmes befürchten lassen
Unerwartet und überraschend bot England selbst Hitler erneut die gleiche Chance wie 2 1/2 Monate zuvor: Vom 23. -25. 9. 1940 unternahmen englische und freifranzösische Kräfte de Gaulles einen nochmaligen, sehr nachdrücklichen Angriff auf Dakar und die in seinem Hafen liegenden französischen Kriegsschiffe. Die Abwehr der örtlichen französischen Kräfte war so entschieden und für die Angreifer auch verlustreich, daß sich die alliierten Streitkräfte zur Aufgabe des Unternehmens gezwungen sahen. Die Vichyregierung erwiderte den Überfall mit Luftangriffen aus Südfrankreich auf Gibraltar, die allerdings bei der Schwäche der eingesetzten Kräfte nur als eindeutige Demonstration zu werten waren.
Zeitlich folgte dieser klar gezielte englische Vorstoß und seine erfolgreiche Zurückweisung der tatsächlichen Aufgabe des unmittelbaren deutschen Angriffsversuchs auf England (Seelöwe); er führte mitten im Dilemma der politischen und militärischen Planungen des Sommers 1940 für die weitere'Kriegführung den Führern der Achse blitzartig Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Gefahren zugleich vor Augen — hatte doch Hitler selbst noch eine knappe Woche zuvor, am 14. 9. 1940, zu Halder von den Gefahren einer feindlichen Luftbasis in Nordwestafrika gesprochen
Die politische Reaktion auf den Dakar-Angriff erfolgte verblüffend schnell und eindeutig: der Vorsitzende der französischen Waffenstillstandskommission machte bereits am 23. 9. unverblümt zu seinem deutschen Gegenspieler v. Stülpnagel Anspielungen auf den Wunsch nach einem deutsch-französischen Bündnis und erhielt die Antwort: „Sache wird sehr ernst geprüft"
Und am 27. 9. zieht wieder Halder die realistische Schlußfolgerung: „Die Entwicklung der Lage kann Frankreich als Bundesgenossen an unsere Seite führen und damit schwierige politische Probleme aufwerfen"
Die militärische und politische Problemstellung lautete demnach im Rahmen der überraschenden Lageentwicklung erneut:
Was ist möglich und notwendig, um die klare französische Bereitschaft zum Zusammengehen und sein Potential, in erster Linie in Gestalt der Flotte und in den Kolonien einschließlich Mandatsgebiet Syrien, im Kampf gegen England schleunigst zum Tragen zu bringen und mit den Interessen der Achse und sonstiger Mächte (Spanien) abzustimmen?
Die Antwort konnte logischerweise nur lauten:
Klarer politischer Kurs gegenüber Frankreich mit eindeutiger, unwiderruflicher deutscher und italienischer Zusage zum Friedensschluß mit dem Ziel: Erhaltung Frankreichs als souveräne Großmacht in einem zu einenden Europa und Sicherstellung seines Kolonialbesitzes, wenigstens der Größenordnung nach. Die Entscheidung war nunmehr schnell zu treffen, solange der deutsche Sieg noch nicht ernstlich in Frage gestellt, solange England noch relativ schwach und die USA erst im Anfangsstadium der Aufrüstung waren.
Da man Frankreichs Mithilfe gewinnen wollte, mußte man ihm Klarheit geben, wofür es noch einmal kämpfen sollte, und daß dem Volk es sich lohnte, hierfür zu kämpfen.
Nur ein sichtbarer politischer Erfolg konnte die französische Regierung dem Volk den Beweis liefern lassen, daß ihre Politik richtig gewesen und richtig war. Da Frankreichs militärisches und strategisches Potential, allein infolge der gegebenen geographischen Lage, ganz erheblich höher zu werten war als das Italiens — insbesondere auch für die Möglichkeiten erfolgreichen Seekriegs und sogar für eine Sicherung Italiens —, mußte der Achsenpartner Italien mit allen Mitteln dazu bewogen werden, einen Großteil seiner Wünsche zurückzustellen.
Bei diesen Schlußfolgerungen durfte nicht außer Betracht bleiben, welche Auswirkungen etwaige englische Erfolge auf die künftige Haltung Frankreichs haben konnten, falls die Lage im Mittelmeer und in Afrika seitens der Achse weiter labil gehalten wurde. Für Deutschland und Italien bestand nunmehr nach dem klar erkennbaren strategischen Willen Englands zum Griff nach Afrika hinsichtlich Frankreichs nur die Wahl, sich entweder mit ihm gutwillig und aufrichtig zu verständigen und zur Zusammenarbeit zu kommen oder die Besetzung Nordwestafrikas erzwingen zu müssen, wenn die Achsenpartner nicht für sich selbst in der Zukunft schwerste Gefahren heraufbeschwören wollten. Die Entscheidung hätte nicht zweifelhaft sein dürfen.
Als Konsequenzen m i 1 i t ä r politischer Art ergaben sich beim positiven Entschluß zu weitestgehender Zusammenarbeit mit Frankreich:
Freiheit für Frankreich zur Wiederaufrüstung sowohl möglichst starker Kräfte in seinem afrikanischen Besitz wie in Syrien als auch volle Mobilisierung der Flotte, um das Kolonialreich gegen jeden angelsächsischen Angriff sichern und halten, schon Verlorenes möglichst wiedergewinnen und am Kampf gegen England selbst, mit Schwerpunkt im Mittelmeer, sich beteiligen zu können. Im Interesse der Achse lag Beteiligung an der unbedingten militärischen Sicherung der wesentlichsten strategischen Punkte: von Tunis als Brückenpfeiler im Mittelmeer, von Casablanca in Nordwest-und von Dakar in Westafrika nicht nur als Luft-und Flottenstützpunkte für den Kampf im und um den Atlantik, sondern gleichzeitig und gleichrangig als Sicherung Italiens und des Mittelmeeres.
Anmerkung:
R. Bogatsch, geb. 14. 9. 1891 in Breslau. Seit 1910 aktiver Militärdienst: 1935 Übertritt zur Luftwaffe: 1941 General der Flieger: bei Kriegsende Kommandierender General des IV. Flakkorps. Mitglied der „Europäischen Publikation e. V.", München.