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Anton Semyonovitsch Makarenko. Analyse seiner pädagogischen Ideen in bezug auf die sowjetische Gesellschaft | APuZ 13/1962 | bpb.de

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APuZ 13/1962 Anton Semyonovitsch Makarenko. Analyse seiner pädagogischen Ideen in bezug auf die sowjetische Gesellschaft

Anton Semyonovitsch Makarenko. Analyse seiner pädagogischen Ideen in bezug auf die sowjetische Gesellschaft

FREDERIC LILGE

I. Einleitung

Abbildung 1

A. S. Makarenko (1888— 1939), der in den englisch-sprachigen Ländern bis heute weniger Beachtung gefunden hat als in Deutschland, nimmt in der Geschichte der sowjetischen Pädagogik einen breiten Raum ein. Er hatte eine außerordentliche Karriere: aus dem Leiter einer anfänglich kaum beachteten ukrainischen Kolonie für jugendliche Obdachlose und Kriminelle wurde ein gefeierter Pädagoge und Schriftsteller. Kurz vor seinem Tode wurde er mit dem Orden des Roten Banners der Arbeit für hervorragende literarische Leistungen ausgezeichnet. Das Zentralkomitee der Partei widmete ihm ein Jahr später (29. März 1940) einen Nachruf, in dem es seine Verdienste um die sowjetische Erziehung würdigte und seine Ideen über kollektive Disziplin als für alle sowjetische Pädagogen vorbildlich hinstellte.

Seitdem sind die Werke Makarenkos in der Sowjetunion Gegenstand zahlreicher Artikel, Dissertationen und Bücher geworden. Die Lehrbücher der pädagogischen Institute nehmen darauf Bezug und würdigen seine Verdienste; ja es gibt heute kaum einen Lehrer in der Sowjetunion, der seine Werke nicht kennt. An der Akademie für pädagogische Wissenschaften wurde ein Institut errichtet, das sich ausschließlich der Makarenko-Forschung widmete und die Herausgabe seiner gesammelten Werke übernahm. Seine Schriften gehören zum kulturellen Export der Sowjetunion nach den Ländern in Ost-und Mitteleuropa, deren Erziehungssysteme mehr oder weniger getreue Abbilder des sowjetischen Systems geworden sind. Sein Ruf erreichte seinen Höhepunkt in den vierziger und fünfziger Jahren, und erst in neuester Zeit bahnt sich eine noch vorsichtige Kritik seines Werkes in der sowjetischen Literatur an.

Die Bedeutung Makarenkos, die im folgenden untersucht werden soll, mag unter einem dreifachen Aspekt gesehen werden. Einmal spielte er in der Fürsorge für vagabundierende Kinder und Jugendliche, die als besprizornie bekannt geworden sind, eine hervorragende Rolle. Die besprizornie waren die verlorene Generation der zwanziger Jahre, die allein schon zahlenmäßig ein gewaltiges soziales Problem darstellten. Zum zweiten war er der einzige Pädagoge aus der frühen Periode des revolutionären Idealismus und der pädagogischen Experimente, der die politischen Stürme und radikalen Kurs-schwenkungen der Erziehungspolitik in den dreißiger Jahren nicht nur überstand, sondern sogar triumphierend aus ihnen hervorging. Schließlich — und das ist für diese Abhandlung vor allem von Bedeutung — war er ein Erziehungstheoretiker, der jenseits aller ideologischer Orthodoxie in der menschlichen Natur selber nach der ethischen und psychologischen Rechtfertigung einer sozialistischen Gesellschaft suchte.

Wenngleich der Originalität und Aussagekraft der pädagogischen Ideen Makarenkos die gebührende Anerkennung gezollt werden wird — dies um so mehr als sie seinen eigenen Erfahrungen entstammen —, müssen wir sie doch immer auf dem Hintergrund des politischen und sozialen Lebens der Sowjetunion sehen. Das Interessanteste dabei ist vielleicht die Frage, inwieweit seine pädagogische Ethik dazu beigetragen hat. junge Menschen für die Anforderungen und Konflikte des sowjetischen Lebens vorzubereiten, ohne dabei die kommunistischen Ideale zu kompromittieren.

Die nachfolgende Untersuchung stützt sich vor allem auf die Hauptwerke und die relevanten Aufsätze Makarenkos. Übersetzungen sind, soweit wie irgend möglich, herangezogen worden. Nur drei seiner Werke liegen in englischer Sprache vor; mehrere andere sind ins Deutsche übertragen worden; eine ganze Reihe von Studien über erziehungstheoretische Fragen mußten jedoch in russischer Sprache konsultiert werden.

Als Einleitung zu dieser Abhandlung mag eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Elemente seiner Erziehungskonzeption nützlich sein. Von zentraler Bedeutung ist zunächst seine Vorstellung von der Erziehung im Kollektiv und für das Kollektiv. Obgleich das Kollektiv ein bekannter Begriff in der sowjetischen Ideologie ist, hatte es für Makarenko infolge seiner persönlichen Erfahrungen als ’ ehret von jugendlichen Vagabunden eine besondere Bedeutung. Es war ihm nur durch die Einführung eines straffen Regimentes möglich, diese jungen Menschen zu rehabilitieren und sie als produktive Glieder der sowjetischen Gesellschaft zuzuführen. Die erste Forderung der kommunistischen Ethik bestand seiner Auffassung nach darin, jeden Jugendlichen in ein Jugendkollektiv einzugliedern, damit seine Gefühle, Wünsche und Verhaltensweisen von dem Geist des Kollektivs erfüllt werden konnten. Solche Form der Sozialisierung bedeutet für ihn nicht die Erziehung zum Massen-menschen ohne jede persönliche Ausprägung.

Ein Kollektiv ist etwas anderes als Masse; in seiner Idealform ist es eine Organisation, deren wesentliche Elemente gegenseitige Verantwortlichkeit, Selbstverwaltung und Selbstbestimmung sind, wodurch das Individuum die Bedeutung moralischer Prinzipien und ihrer Anwendung begreifen lernt und die Sicherheit findet, die es zu einer Weiterentwicklung braucht. Nach Makarenkos Auffassung formt das Kollektiv das Individuum für sein ganzes Leben.

Dies wiederum ist die Voraussetzung seiner These: Erziehung im Kollektiv ist gleichbedeutend mit kontrolliertem moralischem Wachstum. Dieses kann nur dadurch erreicht werden, daß die Mitglieder des Kollektivs sich in wachsendem Maße der moralischen Forderungen der Gesellschaft bewußt werden. Auf diese Weise entwickeln sich geistige Fähigkeiten, die eine höhere Lebenspotenz entstehen lassen. Nach kommunistischer Anschauung bringt ein guter Lehrer seine Achtung gegenüber der Persönlichkeit des Lernenden dadurch zum Ausdrude, daß er ihn davon überzeugt, daß schwere Aufgaben von ihm zu bewältigen sind.

Für die Erfüllung dieser Aufgaben gibt es keine Grenzen, und daher ist auch das moralische Wachstum unbegrenzt. Um junge Menschen dahin zu bringen, daß sie diesen Erwartungen gerecht werden, ist es notwendig, in ihnen zunächst — d. h. bereits im Kindheitsstadium — Gefühle des Vertrauens und der Zusammengehörigkeit zu pflegen. Später muß man sie dann lehren, die Befriedigung ihrer Wünsche zu sublimieren oder in die entfernte Zukunft zu verschieben.

Darüber hinaus erfordert die Hinführung zum moralischen Wachstum Lehrer, die es verstehen, die Pädagogik als praktische Wissenschaft anzuwenden. Makarenko glaubte, daß es möglich sei, selbst den Durchschnittslehrer dahin zu bringen, daß er die Persönlichkeit seines Schülers zu formen und zu lenken lernte, wenngleich die sowjetischen Lehrerseminare nach seiner Ansicht noch weit von diesem Ziel entfernt waren. Er verließ sich nicht auf Tests oder ähnliche wissenschaftliche Untersuchungen, sondern fast ausschließlich auf seine intuitiven Erkenntnisse und seine scharfe Beobachtungsgabe. Was er anstrebte, war eine Technologie der Persönlichkeitsformung: so z. B. welche Methoden anzuwenden seien, um zu gewünschten Ergebnissen zu kommen; wie gefühlsmäßige Reaktionen auf gewisse Maßnahmen im voraus berechnet werden könnten und schließlich, wie persönliche Kräfte zu sozial gerechtfertigter Arbeit zu verwenden seien.

Schließlich verdient Makarenkos Sinn für Maß und Mitte im Menschen Beachtung. Es handelt sich hier sowohl um eine ästhetische als auch moralische Komponente seines Denkens, die sich in verschiedenen Formen manifestiert. Kinder sollten weder mit blinder Zärtlichkeit noch mit Härte behandelt werden. Sie sollten vielmehr lernen, sich der festen Hand einer von der Vernunft gelenkten Autorität zu beugen. Disziplin ist besser als bloßer Gehorsam, weil sich daraus Selbstdisziplin entwickeln kann, welche vom Individuum bewußt auf sich genommen wird. Die Organisation des Kollektivs dient nicht nur nützlichen sozialen Zielen, sie verleiht dem menschlichen Leben auch Form und Gestalt Menschen erziehen heißt, sie zu lehren, in Gemeinschaft zu leben. Und ein solches Leben verlangt die rechte Mischung von Lernen, produktiver Arbeit, Selbstverwaltung und gemeinschaft-liehen Bräuchen.

II. Einige Gründe für Makarenkos politischen Erfolg

Kenner der zeitgenössischen pädagogischen Literatur der Sowjetunion mögen Überraschung und Erleichterung empfinden, wenn sie zum ersten-mal Makarenkos Werke lesen. Denn die langatmigen Tiraden, die Schmähungen und Lobhudeleien, die zahllosen Zitate sowjetischer Autoritäten, die die Publikationen sowjetischer Intellektueller unter Stalin oft so ungenießbar mähten, fehlen hier völlig. Man begegnet in seinen Werken einer Persönlichkeit von großer Integrität, einem Manne, der schreibt, was er für richtig hält — ohne Rücksicht auf die Parteilinie, deren korrekte Interpretation für sowjetische Intellektuelle sonst von so entscheidender Bedeutung ist. Makarenkos Ideen und Über-zeugungen sind eht, sie entspringen dem Reichtum seiner persönlichen Erfahrung. Daher gelingt es ihm, den Leser mitzureißen. Man spürt förlich, daß sich dieser Marrn leidenschaftlich einer sozialpädagogischen Revolution verschrieben hat und die Folgen dieser Revolution mitverantwortlich tragen will. Das Ziel aller seiner theoretischen Erkenntnisse und praktischen Bemühungen war die Schaffung eines neuen Menschentyps kommunistischer Prägung. Lind wenngleich ein solches Ziel für einen sowjetischen Pädagogen, dessen Aufgabe darin besteht, einer Ideologie zu dienen, eigentlich selbstverständlich ist, so bereicherte Makarenko diese Ideologie doch durch viele neue Erkenntnisse. Seine Hingabe an die Sahe hatte nihts mit Karrieremaherei zu tun, sie war von einem Charisma getragen. Die Identifizierung mit der kommunistischen Ethik war bei ihm so stark, daß man den Eindruck gewinnt, die von ihm postulierten pädagogishen Grundsätze und Methoden seien niht die Früchte einer orthodoxen Lehre, sondern ganz und gar seinem Geist entsprungen.

In diesem Zusammenhang erhebt sih nun die Frage, wie es möglich war, daß ein starker und unabhängiger Denker, in dem noh die missionarishe Glut der Revolution brannte, unter Stalin zu hohen Ehren gelangen konnte -in einer Zeit also, wo derartige Männer Verdacht erregten. Makarenko ist der einzige Pädagoge, dessen Werk aus dem Frühstadium des Kommunismus, das reih an Experimenten und lebendigen Auseinandersetzungen war, stammte und dennoh vom Stalinismus anerkannt wurde, während das Ansehen von Leuten wie Blonsky, Shatsky, Shulgin, Lunatharsky und selbst der Krupskaya vorübergehend verblih. Die Antwort auf diese Frage ist zunähst, daß Makarenko in den zwanziger Jahren kaum sehr bekannt war, und weiterhin, daß seine Theorien und pädagogishen Experimente niht die Gunst der Wissenschaftler gefunden hatten, die zu Beginn der Revolution und bis in die dreibiger Jahre hinein auf dem Gebiet der Erziehung»wissenshaft über Einfluß und Mäht verfügten-Es war dies eine Periode relativer Toleranz, und so gelang es Makarenko, seine praktische Arbeit — wenn auch unter Schwierigkeiten — weiterzuführen und seine Werke zu veröffentlichen, wenngleich sie damals kaum gelesen wurden. Als dann später andere Strömungen in der Erziehungspolitik die Oberhand gewannen, wollte es ein glücklicher Zufall, daß diese mit seinem Denken übereinstimmten.

Als Makarenko von dem Ukrainischen Kommissariat für Volkserziehung im Jahre 1920 mit der Betreuung jugendlicher Krimineller beauftragt wurde, gab es zwar verschiedene Strömungen und Richtungen auf dem Gebiet der Erziehungswissenschaft, aber noch keine amtlich autorisierte sowjetische Erziehungstheorie. Angeblich enthielten die Werke von Marx und Lenin eine solche Theorie, wie sie überhaupt die Grundlage für sämtliche Lebensbereiche der sozialistischen Gesellschaft darstellten. Wenn man von Makarenkos gelegentlichen autobiographischen Aufzeichnungen, und nicht von denen seiner sowjetischen Biographen, ausgeht, so erscheint es unwahrscheinlich, daß er bereits zu jener Zeit mit der marxistischen Lehre intim vertraut war. Auf jeden Fall ist es zweifelhaft, ob der Marxismus ihm bei der Lösung eines Problems geholfen hat, mit dem sich kein marxistischer Denker je zu befassen gehabt hatte. Im übrigen war der Marxismus als Lehre so breit angelegt, daß man die verschiedensten Interpretationen und praktischen Anwendungsmöglichkeiten daraus herleiten konnte. Es ist richtig, daß eines der wichtigsten Grundprinzipien der sowjetischen Erziehung, nämlich die polytechnische Ausbildung — eine Kombination von Schulunterricht und praktischer Arbeit —, auf den Marxismus zurüdezuführen ist. Ihr Ziel war es, die Trennung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit zu beseitigen. Aber in vierzig Jahren sowjetischer Erziehungsgeschichte hat auch dieses Prinzip die verschiedensten Interpretationen erfahren. Auf dem Gebiet des Erziehungswesens legte man den Marxismus so aus, wie man es jeweils für richtig hielt. Dies galt besonders für die erste Schaffensperiode Makarenkos. Zu jener Zeit gab es unter den überzeugten Anhängern des Bolschewismus noch ein gewisses Maß von sogenannter innerparteilicher Demokratie. Innerhalb der bolschewistischen Führerschicht bestanden noch verschiedene Richtungen mit jeweils verschiedenen Programmen für die Lösung sozialer und politischer Probleme. Noch im Jahre 1929 diskutierten und kritisierten Männer wie Tomsky, Rykov und Bukharin die neue Politik Stalins.

Mit der Erziehung war es ähnlich. Verschiedene Interpretationen des Marxismus existierten nebeneinander. Es gab keine strenge Parteilinie, und die Menschen wußten noch nichts von den Konsequenzen, die das Abweichen von dieser Parteilinie eines Tages nach sich ziehen würde.

Makarenko war daher in der Wahl seiner Mittel bei der Bewältigung der ihm gestellten schweren Aufgaben relativ frei. Zwar waren die meisten Erziehungstheoretiker und Regierungsbeamten mit seinen Lösungen nicht einverstanden; so machten z. B. manche Behördenvertreter, die die Gorki-Kolonie inspizierten, keinen Hehl aus ihrer Abneigung und versuchten, ihm Hindernisse in den Weg zu legen. Aber Makarenko war nicht so leicht zu entmutigen. Als er nach acht Jahren immer heftiger werdender Kritik seinen Posten als Direktor der Gorki-Kolonie aufgab, batte er bereits eine andere Aufgabe gefunden. Die Tscheka, die Geheime Staatspolizei, bot ihm einen Direktorposten in der Dzershinsky-Kommune bei Charkow, die ihrer Aufsicht unterstand, an. Unter seiner Leitung — sie währte wiederum etwa 8 Jahre — wurde dieses Kollektiv berühmt; ausländische Fachleute und Delegationen kamen häufig zu Besuch.

Makarenkos spätere Anerkennung durch die Parteiführung wird zum Teil verständlich, wenn man bedenkt, daß es ausgerechnet die Geheime Staatspolizei war, die seinem pädagogischen Experiment Protektion verschaffte. Er sah ja in den Tscheka-Offizieren den Menschentyp verkörpert, den er in der Gorki-Kolonie heranzubilden gehofft hatte. Aber dort hatte er mit dem Widerstand des Ukrainischen Kommissariats und der Provinz-Schulabteilung zu kämpfen. Jene Pädagogen vertraten eine ganz andere Erziehungstheorie als Makarenko; für sie waren das Kind und das kindliche Leben der Mittelpunkt aller Dinge. Die Tscheka-Offiziere hingegen verkörperten für Makarenko alle die Eigenschaften, die er „mit Hilfe der Logik und der Literatur" rein abstrakt in seinem Geist konzipiert hatte, deren Inkarnation ihm aber — je länger je mehr — als eine Fata Morgana erschienen war. Die Tscheka-Offiziere repräsentierten nun für ihn den Menschentyp, den Rußland nach seiner Meinung so bitter nötig brauchte: der praktische Intellektuelle, der imstande war, seine Ideen und Pläne in die Tat umzusetzen. Makarenko bewunderte ihre pragmatische Intelligenz, die der des früheren russischen Intellektuellen weit überlegen schien; wie er überhaupt die tief verwurzelte Abneigung gegen das übertriebene Theoretisieren des ehemaligen russischen Intellektuellen empfand. Er lobte die Männer der Tscheka besonders wegen ihrer Leistungsfähigkeit und Wortkargheit. Am allermeisten beeindruckt war er von dem starken inneren Zusammenhalt ihrer Organisation, der seiner Meinung nach seine Wurzel in dem Bewußtsein des hohen moralischen Wertes der gemeinsamen Aufgabe hatte. Kurzum, diese Polizeioffiziere waren für ihn die ersten richtigen Bolschewiken, die er je mit eigenen Augen gesehen hatte

Die Macht und der Einfluß der sowjetischen Geheimpolizei waren zu dieser Zeit nicht weniger gefürchtet als später während der großen Säuberungsaktionen. Es ist daher erstaunlich, daß ein Pädagoge wie Makarenko, dessen Ziele im krassen Gegensatz zum Prinzip der Unterdrückung und Zerstörung stehen, dieser Organisation so kritiklos gegenüberstehen konnte. Es ist möglich, daß Makarenko in der kleinen ukrainischen Stadt und innerhalb seines Kollektivs — weitab von den politischen Ereignissen — wenig von dem Ausmaß des Polizeiterrors gewußt hat, der sich in den Jahren von 1918 bis 1921 im ganzen Lande ausbreitete.

Aber nicht alles, was die Geheimpolizei tat, war verwerflich. So wurde z. B. die Dzershinsky-Kommune durch freiwillige Spenden von Tscheka-Offizieren aufgebaut, und es gab noch mehr solcher Kommunen. Diese erzieherischen und sozialen Einrichtungen der Tscheka-Offiziere stammen aus dem Jahre 1921. Denn damals wurde die sowjetische Regierung zum ersten Male auf die menschenunwürdigen Verhältnisse der heimatlosen und kriminellenJugendlichen aufmerksam. Nachdem das Zentralkomitee der Partei einen Bericht über dieses Problem entgegengenommen hatte, wurde eine Sonderkommission ernannt, die sich mit der Sache befassen sollte. Der Gründer und oberste Befehlshaber der Tscheka, Felix Dzershinsky, der sich von diesem Bericht sehr beeindruckt zeigte, wurde Präsident der Kommission. Lunatcharsky, der erste sowjetische Kommissar für Volkserziehung, hatte sich außerstande gesehen, mit dem Problem fertig zu werden und erwartete nun entscheidende Maßnahmen von der Regierung. „Ich bin überglücklich", schrieb er, „daß Dzershinsky mit seiner eisernen Energie und seinem goldenen Herzen die Leitung übernommen hat. In welcher Weise wird nun die Kommission ihre Kontrollfunktionen ausüben? Eine hervorragende Rolle wird die Tscheka spielen, denn ihr Oberhaupt wird Präsident der Kommission, und auch sein Stellvertreter wird ein prominenter Tscheka-Funktionär sein. Die Tscheka, mit ihrer militärischen Schlagkraft und ihrem hoch-entwickelten Nachrichtensystem, wird das wichtigste Exekutivorgan der Kommission sein. Das ist auch im Sinne der Revolutionsmoral seht willkommen. Die Arbeit der Tscheka ist hart, denn sie befaßt sich mit dem Strafvollzug. Wir alle sind glücklich, daß die Hüter der Revolution nun, da sie ihre Aufgabe nahezu erfüllt haben, die Zeit finden, ihre Aufmerksamkeit den Kindern zuzuwenden. Diese Männer sind von dem Wunsche beseelt, die Kinder, die allein durch ihr Dasein der Revolution Glanz und Schönheit verleihen, zu schützen."

Lunatcharsky’s Erwartungen wurden jedoch enttäuscht. In den Jahren der großen Hungersnot verschlechterte sich die Lage dieser Kinder zusehends. Aber Dzershinsky lebte in der Erinnerung der Sowjetmenschen wegen seiner noblen Geste und seines „goldenen Herzens fort. In einer im Jahre 1936 verfaßten feierlichen Erklärung pries Makarenko ihn als einen großen Menschenfreund, als einem bescheidenen und freundlichen Mann, der sich voller Mitleid der durch die Revolutionskämpfe und Entbehrungen schwer betroffenen Kinder angenommen habe

Maxim Gorki bewahrte dem Chef der Geheimpolizei ebenfalls ein gutes Andenken. Er, der Zeuge des Terrors der Tscheka gewesen war und öffentlich dagegen protestiert hatte, setzte sich mit Erfolg bei Lenin und Dzershinsky für eine Reihe von Intellektuellen ein. Bis zum Schluß unterhielt er freundschaftliche Beziehungen zu Dzershinsky, und als er im Jahre 1926 die Nachricht von seinem Tode erhielt, sandte er einem hohen sowjetischen Funktionär ein Telegramm, welches die sowjetische Presse sogleich veröffentlichte. Gorki gab darin seiner Erschütterung über den Tod Dzershinsky's Ausdruck: er habe „ein gutes Herz und einen starken Sinn für Gerechtigkeit“ gehabt, und dank seiner Unterstützung habe man viel Gutes tun können

Angesichts der politischen Erfolge Makarenkos gewinnen die hier beschriebenen Tatsachen eine gewisse Bedeutung. Seine Theorie entwikkelte sich aus dem Bemühen, jugendlichen Anarchisten und Verbrechern ein soziales Bewußtsein zu geben und nahm Form und Gestalt an unter der Obhut einer Organisation, deren Aufgabe darin bestand, den Staat gegen asoziale und verbrecherische Elemente zu schützen.

Die pädagogischen Erkenntnisse, zu denen Makarenko unter diesen Umständen gelangte, entsprachen ganz und gar den Forderungen eines Regimes, das seine Bürger lange als zumindest potentielle Verbrecher betrachtete. Makarenkos persönliche Erfahrungen mit aufsässigen Jugendlichen und kriminellen Elementen hatten ihn die Notwendigkeit einer strengen individuellen und gesellschaftlichen Zucht erkennen lassen. Auf diese Weise gab es zwischen ihm und der stalinistischen Diktatur eine Art von stillschweigendem Einverständnis, das tiefer verwurzelt war als es eine bloße ideologische Loyalität je hätte sein können. Hier liegt wohl die eigentliche Ursache für die Anerkennung, die Makarenkos Lehren später zuteil wurde. Doch auch in anderer Hinsicht leistete Makarenko dem Regime Dienste: in seinen Werken erhielt er stets die Vision einer brüderlichen Revolution aufrecht — auch dann noch, als diese durch die Wirklichkeit des sowjetischen Lebens längst in Frage gestellt worden war. Ungeachtet der Tatsache, daß die bolschewistische Politik die humanistischen Elemente des sozialistischen Glaubensbekenntnisses wieder und wieder verraten hat, sind derartige Bekenntnisse für die Parteiführung stets sehr willkommen gewesen.

Man soll sich jedoch durch diese Argumentation nicht zu der Schlußfolgerung verleiten lassen, daß die günstige Aufnahme der Werke Makarenkos damit allein gesichert war. Unter der Herrschaft eines Regimes, dessen plötzliche politischen Kehrtwendungen tödliche Konsequenzen für Menschen gehabt hat, dessen Strafen und Verfolgungen blind und willkürlich trafen, bestand wenig Aussicht, daß ein Mensch nach seinen Verdiensten behandelt wurde. Noch dazu handelte es sich bei Makarenko keineswegs um einen einfachen Fall. Einige Elemente seines Werkes standen im Widerspruch zu den damals geltenden Erziehungstheorien. Auch in seinem persönlichen Leben und in seiner Laufbahn gab es Tatsachen, die ihm zum Verderben hätten werden können. So hätte ihm z. B.seine ukrainische Abstammung und die Tatsache, daß seine praktische pädagogische Arbeit ausschließlich auf seine Heimatrepublik beschränkt blieb, die Beschuldigung des „Nationalismus“ eintragen können — eine Beschuldigung, die zur Verurteilung vieler ukrainischer Intellektueller in den Jahren von 1932— 1934 und später während der großen Säuberungsaktionen zwischen 1937 und 1938 geführt hat Doch, was noch schwerer wog: er ging so vollkommen in der Leitung der beiden Jugendkollektive auf und war so unabhängig, daß die Beschuldigung des Lokalpatriotismus ohne weiteres gegen ihn hätte erhoben werden können. Schließlich hätte man ihn auch der Linksabweichung bezichtigen können, wie das bei so vielen anderen Kommunisten geschah, in denen der missionarische Geist der ersten Revolutionsjahre noch lebendig war. Wir wissen nicht, wie es ihm gelang, all diesen Fallen zu entgehen. Die über ihn verfaßten Biographien sind von Sowjetrussen geschrieben worden oder entstammen zumindest doch sowjetischen Quellen. Es wäre daher wohl müßig, zu erwarten, daß sie uns irgendwelche Aufklärung über diese Frage geben könnten. Was ihn möglicherweise rettete, war die Tatsache, daß er lange verhältnismäßig unbekannt blieb und nie Parteimitglied oder Parteifunktionär gewesen ist. Hätte er der Partei angehört, so wäre die Gefahr der Liquidation auch für ihn — viele alte Bolschewisten wurden bekanntlich ein Opfer dieser Liquidation — im Zuge der großen Säuberungen von 1936 bis 1938 erheblich größer gewesen. In jenen letzten Jahren seines Lebens scheint er sich darum bemüht zu haben, jeglichen Verdacht von sich abzulenken. Er schrieb eine Reihe von Zeitungsartikeln, in denen er die neue Verfassung Stalins über alles lobte und sich zu der Behauptung verstieg, daß das menschliche Glück nun zum erstenmal in der Geschichte in der sowjetischen Gesellschaft seine Verwirklichung gefunden habe

Selbst in seinen letzten und ernst zu nehmenden Studien über erziehungswissenschaftliche Themen scheint sich eine gewisse politische Nervosität widerzuspiegeln; sie enthalten zahllose Hinweise auf Männer aus der obersten Spitze der Parteiführung, die ständig als Autorität zitiert werden — ein Zug, der in seinen Haupt-werken fast gar nicht anzutreffen ist.

III. Der Einfluß Maxim Gorkis

Makarenko wurde als Sohn eines Arbeiters im Jahre 1888 in Belopole, einer kleinen ukrainischen Stadt, geboren. Mit 12 Jahren trat er in eine städtische Schule ein, die sich zum größten Teil aus Kindern kleinerer Angestellter und Handwerker zusammensetzte. Sein Vater, der sich darüber im klaren war, daß diese Schule „zu hoch“ war für seinen Sohn, ermahnte diesen immer wieder, seinen niedrigen Stand durch besondere Tüchtigkeit auszugleichen. Das tat Makarenko und hatte so immer die besten Noten. Nachdem er diese Schule 3 Jahre lang be sucht hatte, nahm er an einem einjährigen Kursus für Lehrerbildung teil und erwarb sich damit die Qualifikation eines Volksschullehrers. Von 1905 bis 1914 lehrte Makarenko an mehreren Volksschulen der Ukraine; es handelte sich dabei um Schulen der staatlichen Eisenbahngesellschaft. Viele führten bis zum 6. Schuljahr, und Berichten zufolge waren sie sowohl in finanzieller als auch in personeller Hinsicht wesentlich besser gestellt als die Schulen der orthodoxen Kirche. Die Schulen der staatlichen Eisenbahngesellschaft boten den Schülern Gelegenheit, sich über die Grunderziehung hinaus in verschiedenen Handwerkszweigen auszubilden. Im Jahre 1914 trat Makarenko in das Lehrerseminar von Poltava ein. Nachdem er 1917 bei seinem Abschlußexamen mit einer Goldmedaille ausgezeichnet worden war, wurde er zum Direktor einer Mittelschule — der gleichen, die er als Schüler besucht hatte — ernannt. Dort blieb er, bis man ihn 1920 beauftragte, die Gründung eines Kollektivs für heimatlose Kinder zu übernehmen.

Zu voller geistiger Reife gelangte Makarenko in der Periode politischer Gärung zwischen den beiden Revolutionen von 1905 und 1917. In dieser Zeit las er viel — immer auf der Suche nach geistiger Führung — und fand schließlich das, was er gesucht hatte, in Maxim Gorki. Gorki, der seine literarische Karriere im Jahre 1892 begonnen hatte, veröffentlichte bereits im Jahre 1902 sein „Nachtasyl" und im Jahre 1914 den ersten Teil seiner Autobiographie „Meine Kindheit". Makarenko erschien das „Nachtasyl" als das größte moderne Drama der Weltliteratur, während die Autobiographie Gorkis in seiner pädagogischen Arbeit noch eine bedeutsame Rolle spielen sollte. Von dieser Zeit an wurde Gorki immer mehr zu seinem geistigen Vater, dem Leitbild, an dem sich seine Wertvorstellungen und Zielsetzungen orientierten.

Bereits im Jahre 1914, als Makarenko noch hoffte in Gorkis Fußtapfen zu treten, hatte er ihm ein Manuskript geschickt. Aber anstelle einer Ermutigung erhielt er die sehr ernüchternde Antwort, daß es ihm am nötigen Talent zum Schriftsteller fehle. Daraufhin gab er seinen schriftstellerischen Ehrgeiz auf und konzentrierte sich ganz auf seine Lehrtätigkeit, die er als Berufung und als seinen Beitrag zur Regeneration des russischen Volkes auffaßte. Aber der Drang seinen Erfahrungen Ausdruck und ästhetische Form zu verleihen, blieb.

Als er mit der Arbeit an jugendlichen Kriminellen begann, gab es, wie schon erwähnt, noch keine offizielle Erziehungstheorie, die er hätte zu Rate ziehen können. In seiner anfänglichen Hilflosigkeit nahm er sich die Zeit, sämtliche Werke Gorkis noch einmal zu lesen. Er erwartete dabei keineswegs in den Geschichten, Novellen und Dramen neue pädagogische Methoden zu entdecken, denn es war ihm klar geworden, daß er diese selbst finden mußte. Aber was er brauchte, war die Klärung seiner eigenen Begriffe vom Wesen des Menschen, die ihm als Richtschnur für seine pädagogischen Bemühungen dienen konnten. Angesichts der ständigen Auseinandersetzung mit korrupten und heruntergekommenen Jugendlichen mußte er sich für seine Aufgabe immer von neuem durch den Glauben an die in jedem Menschen — selbst im niedrigsten unter ihnen — angelegte Neigung zum Guten und Schönen stärken.

Gorki bestätigte ihm diesen Glauben. Der Prüfstein wirklicher Erziehung, so interpretierte ihn Makarenko, war die Fähigkeit des Pädagogen, eine solche Gemeinschaft zu schaffen, in der die in jedem Menschen angelegte Neigung zum Guten systematisch gepflegt wurde. Es ist bedeutsam, daß das erste von Makarenko geleitete Kollektiv den Namen Gorkis trug.

Makarenko hielt die Verbindung zu seinem Mentor stets aufrecht. Mehr als einmal, wenn in Zeiten innerer Krise die Zweifel ihn nicht zur Ruhe kommen ließen, bestätigten ihm Gorkis Briefe die Richtigkeit seiner pädagogischen Versuche. Wenn er an langen Winterabenden seinen Jungen aus der Autobiographie Gorkis vorlas, dann hörten viele von ihnen mit Bewunderung und Interesse zu. Sie erkannten in der Geschichte des Waisenjungen, in seiner harten und freudlosen Kindheit, einen Menschen, der gelitten hatte wie sie, und das gab ihnen Mut. Von 1925 bis 1928 korrespondierten sie regelmäßig mit dem Autor, der bei seiner Rückkehr nach Rußland im Jahre 1928 das Kollektiv auch besuchte.

Als Makarenko zu dieser Zeit Gorki von seinem Plan, die Geschichte der Entstehung des Kollektivs von seinen ersten schwierigen Anfängen bis zur Mustereinrichtung zu schreiben, erzählte, war dessen Reaktion ermutigend. Noch im gleichen Jahr beendete er dieses Buch und taufte es „Der Weg ins Leben" — eine freie Übertragung des russischen Titels „Ein pädagogisches Poem“. Eingedenk der früheren kritischen Bemerkungen Gorkis, die ihm noch frisch in Erinnerung waren, legte Makarenko das Manuskript beiseite, und 5 Jahre lang fand er nicht den Mut, es seinem Freunde zu zeigen. Während nun sein zukünftiges Meisterwerk in einer Schublade vergraben lag und er bereits zur Dzershinsky-Kommune übergesiedelt war, schilderte Makarenko in einer im Jahre 1932 unter dem Titel „Der Marsch des Jahres 1930“ veröffentlichten Beschreibung das täglichen Leben in dieser zweiten Anstalt. Das Buch fand kaum Beachtung, aber Gorki las es und schrieb ihm daraufhin einen sehr anerkennenden Brief. Schließlich überwand er seine Scheu und veröffentlichte im Jahr 1933 den ersten Teil seines Buches „Der Weg ins Leben“, das in kurzer Zeit zu einem pädagogischen Standardwerk wurde; zwanzig Jahre später konnte es 41 Auflagen mit insgesamt 1 125 000 Exemplaren allein in der Sowjetunion verzeichnen

In ihrem Wesen weisen die beiden Männer ähnliche Charakterzüge auf, wobei Makarenko stets der Schüler und Gorki der Meister war. Obwohl sie auf verschiedenen Gebieten arbeiteten, waren beide im Grunde Erzieher und Moralisten. Zu Beginn seiner literarischen Laufbahn hatte Gorki geschrieben, daß er „ein Gefühl der Scham in den Herzen der Menschen wecken“ wolle Scham darüber, daß sie die erniedrigenden Verhältnisse, unter denen sie lebten, ertrugen. Beide waren Optimisten, doch ihr Optimismus hatte einen fast verzweifelten Grundton: die Mißstände der früheren russischen Gesellschaft, die sie aus eigener Erfahrung kannten, mußten absolut beseitigt werden. Dieser Aufgabe widmeten beide ihre Lebensarbeit. Beide waren sich im Grunde klar darüber, daß eine solche moralische Revolution sich nur schwer und mühsam vollziehen würde. Die alten Gesellschaftsformen konnten zwar zerstört und durch neue ersetzt werden, aber die menschliche Persönlichkeit ließ sich nur schwer umgestalten. Wie stark die alten Vorstellungen das Leben der Sowjetmenschen noch immer bestimmten, bestätigt uns Makarenko noch in seinen letzten Lebensjahren. Er schrieb damals:

„Am gefährlichsten sind die uralten Sehnsüchte, die überlieferten Gewohnheiten und das Streben nach Glück."

Beide Männer hatten eine Abneigung gegen Intellektuelle: ihre Intoleranz richtete sich im besonderen gegen die russische Intelligenz, der sie das Philosophieren und Räsonieren vor-warfen. Sie beschuldigten sie, daß sie die Möglichkeit einer echten Revolution leugne und kein Verhältnis zu den breiten Massen des russischen Volkes habe.

Keiner von beiden fand sich zu dem Zugeständnis bereit, daß der Intellektuelle, wenn er seiner besonderen Rolle in der Gesellschaft gerecht werden will, notwendigerweise in einer gewissen Distanz zu den sozialen Bewegungen und Kämpfen leben muß. Diese Einstellung zeichnete sich bereits deutlich in den frühen Werken Gorkis ab und verschaffte ihm bei den russischen Marxisten der vorrevolutionären Periode große Beliebtheit. Im Gegensatz zu Marx selbst, der in seinem kommunistischen Manifest dem Intellektuellen einen Standort außerhalb des Klassenkampfes zuwies, von wo aus er den historischen Prozeß überblicken und in seiner Richtung erkennen sollte, tolerierten die Marxisten den Intellektuellen nur als Vertreter der Interessen des Proletariats.

Am Ende wurden beide Männer zu Apologeten und Propagandisten des Stalinismus. Gorki trug mit dazu bei, den zur Pflicht gemachten Optimismus — er findet seinen literarischen Ausdruck im sozialistischen Realismus — zu etablieren, dessen Sterilität die sowjetischen Schriftsteller seit Stalins Tod zu entrinnen versuchen. Makarenko, der am Ende die Weltgeschichte in die Zeit vor und nach Stalin einteilte, verherrlichte das neue Glück des Sowjetmenschen. Propaganda, die der Feder solcher Männer entstammte, wurde natürlich von dem Regime begrüßt, denn sie erhöhte das Prestige der Partei im In-und Ausland. Während die professionellen Propagandisten nur autorisierte Schlagzeilen wiederholen konnten, verliehen diese Männer ihrer Propaganda das Gewicht ihrer Persönlichkeit und ihres schriftstellerischen Namens. Und da sie vom Ethos des Sozialismus aufgrund frühzeitiger persönlicher Erfahrungen zutiefst durchdrungen waren, vermochten sie ihre Propaganda auch mit Überzeugung vorzutragen.

Makarenko verehrte Gorki nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als politischen Revolutionär. Für ihn und seine Schützlinge sei Maxim Gorki der Mann gewesen, der das marxistische Weltgefühl vollendet verkörpert habe. „Obwohl unser Verständnis der Geschichte natürlich durch die bolschewistische Propaganda und die revolutionären Ereignisse geweckt wurde, lehrte uns Gorki erst die Gewalt dieser Geschichte auch zu fühlen.“

Sowohl Gorki wie Makarenko sprachen einer sehr unorthodoxen Form des Marxismus das Wort. Lehrer und Schüler waren gleichermaßen undoktrinäre, wenngleich radikale und vielleicht sogar romantische Revolutionäre. Sie haßten das Leben der vorrevolutionären Zeit. Gorki beschrieb die Gier und Bestialität der Bauern, die Philisterei des Kleinbürgertums und den Fatalismus des russischen Charakters. Beide maßen das Leben an moralischen und ästhetischen Prinzipien, oder zumindest träumten sie davon wie edel das Leben doch sein könnte. Aber die Verwirklichung dieser Träume — das organisatorische und praktisch-revolutionäre Problem, auf das sich der Marxismus vor allem konzentrierte — war, zumindest für Gorki, von zweitrangiger Bedeutung. Ihre Sympathie für die Sozialdemokratische und später für die Bolschewistische Partei wurde nicht etwa durch die bis ins kleinste ausgearbeitete Wirtschaftstheorie, Geschichtsphilosophie oder gar die Strategie dieser Parteien geweckt, sondern vielmehr durch deren Bekenntnis zu großen moralischen Zielen und die Ankündigung großzügiger Reformen.

IV. Die Entstehung eines Kollektivs

Das Elend der heimatlosen Kinder und die damit verbundenen sozialen Probleme waren eine Folgeerscheinung des ersten Weltkrieges. Damals flohen Millionen von Russen aus den durch Kriegshandlungen und militärische Besetzung bedrohten Gebieten; Eltern und Kinder wurden durch die Flucht auseinandergerissen. Während des Bürgerkrieges von 1918 bis 1921 nahm die Zahl der heimatlosen Kinder erschreckende Ausmaße an und erreichte nach der großen Hungersnot von 1921 bis 1922 ihren Höhepunkt. Exakte Zahlen sind nicht verfügbar, und die Schätzungen weichen stark voneinander ab. So bezifferte der Kommissar für Volkserziehung Lunatcharsky die Zahl der Kinder auf 2 Millionen. Die American Commission for Russian Relief hingegen berichtete von 5 Millionen, und die Große Sowjetische Enzyklopädie (Ausgabe 1927) wie auch Mme Krupskaya schätzte die Zahl der heimatlosen Kinder im Jahre 1922 auf 7 Millionen. Es besteht jedoch Übereinstimmung darüber, daß das Los dieser Kinder durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes, durch Arbeitslosigkeit und soziale Auflösungserscheinungen noch verschlimmert wurde. Im Jahr 192 5 gab Mme Krupskaya, die Witwe Lenins, die sich weiter sehr aktiv in der Erziehungsarbeit betätigte, offen zu, daß keineswegs nur das Gesellschaftssystem der vergangenen Epoche an den Zuständen schuld war: rund drei Viertel der heimatlosen Kinder seien Opfer gegenwärtiger Verhältnisse.

Der Regierung war es trotz Dzershinsky’s Sonderkommission nicht gelungen, der jugendlichen Vagabunden und Verbrecher Herr zu werden. Noch viel weniger war sie in der Lage, die notwendigen Mittel für die Unterbringung, Versorgung und Erziehung der Kinder bereitzustellen. Die für diese Zwecke in aller Eile notdürftig eingerichteten Heime, Waisenhäuser und Arbeitslager haben wohl nie mehr als 300 000 Kindern Unterkunft gewährt; das waren in den schlimmsten Jahren nicht einmal 10°/0 der Gesamtzahl Die damalige Propaganda gegen die Familie trug vielfach dazu bei, daß Eltern ihre Kinder vernachlässigten, ja sogar im Stiche ließen. Wenngleich Lenin selber sich darum bemühte, keine allzu extreme Haltung in diesem Punkt aufkommen zu lassen, so verwarfen doch gewisse Parteifunktionäre und Pädagogen die Familie als eine Institution der Bourgeoisie und forderten eine rein staatliche Betreuung der Kinder. Zwar blieben diese Ideen zumeist im Stadium der Propaganda stecken. Andererseits verfehlten die Frauenemanzipation und das Aufkommen sexueller Freiheit, durch äußerst liberale Ehescheidungsgesetze begünstigt, ihre Wirkungen nicht.

Diese Emanzipations-und Jugendpolitik erreichte vor der Einführung des ersten Fünfjahresplanes ihren Höhepunkt, schlug aber dann in den dreißiger Jahren um. Die Meinungen einiger prominenter Bolschewisten in den zwanziger Jahren mögen den scharfen Kontrast der Vorstellungen innerhalb von zwei Jahrzehnten erläutern. Lilina, die Frau Zinoviews, machte geltend, daß Elternliebe einen verderblichen Einfluß auf die Kinder ausübe, und bezeichnete die Familie als ein Bollwerk des Individualismus und des Egoismus. Professor Zalkind erkannte zwar die physischen und moralischen Gefahren, denen die besprizornye ausgesetzt waren, dennoch gab es für ihn hier auch durchaus positive Aspekte. Die Kinder waren nach seiner Ansicht fähig, gemeinschaftlich zu handeln, und hatten eine starke Aversion gegen die bürgerliche Lebensart. Mme Levitina-Maro ging sogar noch weiter. Sie stellte fest, daß diese heimatlosen Kinder einige bewundernswerte Züge mit den Jungkommunisten gemeinsam hatten. Sie waren durch und durch Materialisten und bar religiöser Vorurteile. Sie schätzten ihre Freiheit über alles und brachten der Arbeit (!) und dem zeitgenössischen Leben starkes Interesse entgegen 1927 war die Zahl vagabundierender Kinder inzwischen stark zurückgegangen, stieg dann aber im Jahre 3 928 infolge einer Welle von Enteignungen, Verhaftungen und dem gewaltsamen Auseinanderreißen vor allem der Kulakenfamilien wieder an. So blieben also die besprizornye bis weit in die dreißiger Jahre ein soziales Problem für die Sowjetunion. Dann ergriff die Regierung schließlich Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendkriminalität. Zum Beispiel sollte das Strafrecht nunmehr auch auf Kinder über 12 Jahren Anwendung finden

Dies bedeutete eine drastische Abkehr von den unmittelbar nach der Revolution verabschiedeten Gesetzen, die bestimmten, daß straffällige minderjährige Personen unter 17 Jahren nicht von ordentlichen Gerichten, sondern nur von Sonderkommissionen gerichtet werden durften. Die Mitglieder dieser Kommissionen setzten sich zum größten Teil aus Pädagogen und Ärzten zusammen, die die jungen Verbrecher als Opfer der Verhältnisse ansahen.

Das Leben dieser Kinder ist wiederholt sowohl vom physischen wie auch vom moralischen und psychologischen Standpunkt aus behandelt worden. Es wurde zum Gegenstand von Romanen, wissenschaftlichen Studien, Berichten und zahllosen Zeitungsartikeln in der Sowjetunion. Es ist jedoch bemerkenswert, daß in der neuesten Ausgabe der Großen Sowjetischen Enzyplopädie die besprizornye überhaupt nicht mehr erwähnt werden. Man darf wohl annehmen, daß es sich hier um ein Kapitel der Geschichte handelt, das man im heutigen Sowjetrußland lieber vergessen möchte.

Geschwächt, unterernährt und krank lebten die besprizornye vom Betteln, von Diebstahl und Prostitution. Gelegentlich traten sie auch als organisierte Banden auf und begingen schwerere Verbrechen. Im Winter belagerten sie die Züge nach der Ukraine und der Krim. Von Ungeziefer wimmelnd und mit stinkenden Lumpen bedeckt, schliefen sie des nachts in Kellern, Abwässerkanälen, verlassenen Häusern, abgestellten Güterwagen und anderen Unterkünften, die sie gerade fanden. Die meisten von ihnen waren an den ständigen Genuß von Alkohol, Tabak und anderen Betäubungs-und Genußmitteln gewöhnt. Es ist anzunehmen, daß der größte Teil dieser Kinder an Hunger und Epidemien zugrunde ging — andere wieder mögen sich zu ausgewachsenen Verbrechern entwickelt haben — und daß nur ein verschwindend geringer Teil von ihnen rehabilitiert werden konnte. Viele, die vorübergehend eine Bleibe gefunden hatten, liefen wieder davon, weil die Verhältnisse in den überfüllten Asylen ihnen unerträglich erschienen oder weil die Leiter dieser Einrichtungen nicht imstande waren die Kinder an Disziplin, Arbeit und einen geregelten Unterricht zu gewöhnen. Direktoren, die wie Makarenko Erfolg in ihren Bemühungen hatten, bildeten Ausnahmen.

Das Gorki-Kollektiv war zunächst alles andere als ein wohlgeplantes Experiment. Weder Makarenko noch der Leiter der Abteilung für Volkserziehung in der Provinzialregierung von Poltava wußten, wie man es anfangen sollte aus jugendlichen Kriminellen produktive und achtbare Glieder der Gesellschaft zu machen. Als Makarenko den Einwand vorzubringen wagte, daß er diese schwierige Aufgabe vielleicht nicht zu bewältigen vermöge, schrie ihn sein Vorgesetzter an: „Was heißt hier bewältigen, die Arbeit muß getan werden. Wir werden ja sehen, was dabei herauskommt . . ., schließlich müssen wir ja alle lernen, und auch Sie werden lernen!“

Einen Winter lang befaßte sich Makarenko intensiv mit der Erziehungswissenschaft, dann kam er zu der Überzeugung, daß ihm Bücher nur wenig weiterhelfen könnten. Es wurde ihm klar, daß seine Handlungsweise sich unmittelbar aus der Situation heraus ergeben müßte.

Im ersten Jahr glich das Kollektiv eher einer Höhle von Dieben und Halsabschneidern als einer Stätte der Erziehung. Die Jungen waren dem Direktor und den Lehrern gegenüber frech und lümmelhaft. Makarenko war wütend über ihr Betragen und über seine eigene Unfähigkeit, sie zu bändigen. Eines Tages, als er wieder einmal eine unverschämte Antwort von einem der Ältesten und Stärksten der Jungen bekommen hatte, verlor er die Selbstbeherrschung und schlug den Jungen hart. Dieser Zwischenfall erwies sich als ein Wendepunkt für die Disziplin-schwierigkeiten im Kollektiv. Obgleich körperliche Züchtigung gesetzlich verboten war und Makarenkos ethischer Grundauffassung widersprach, waren die Jungen beeindruckt von dieser spontanen Gefühlsäußerung. Es schien Makarenko, als er später über diesen Wutausbruch nachdachte, daß sie nicht nur seinen körperlichen Mut bewundert hatten — der Junge war viel stärker und größer als er — als vielmehr davon betroffen waren, einem Menschen begegnet zu sein, dem ihr Schicksal nicht gleichgültig war, sondern der sich um sie sorgte und bemühte. Er hatte seitdem die Hoffnung, daß sich endlich ein menschlicher Funke in den Jungen entzündet hatte.

Aber damit allein ließen sich natürlich die Disziplinschwierigkeiten auf die Dauer nicht überwinden und erst recht keine Erziehungsprobleme lösen. Er hatte es mit jungen Menschen zu tun, für die Dreck und Ungeziefer, Lügen und Stehlen, Wetten und Messerstechereien etwas Alltägliches waren. Einige wenige von ihnen hatten sogar bereits Raubüberfälle und Mordtaten begangen. Makarenko erkannte, daß seine eigentliche Aufgabe darin bestand, ein Kollektiv zu schaffen, das über genügend psychologische Autorität verfügte, um die kriminellen und anarchischen Gewohnheiten seiner jungen Rowdies zu brechen und diese durch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu ersetzen. Überredungskünste, Appelle an das Schamgefühl — ja selbst die Drohung mit dem Ausschluß aus dem Kollektiv — mußten versagen, solange nicht ein echtes Kollektivbewußtsein vorhanden war. Ein entscheidender Fortschritt konnte erzielt werden, als es zum ersten Male gelang, Mitglieder des Kollektivs gegen außenstehende Personen einzusetzen, die illegaler und asozialer Umtriebe verdächtig waren. Wenn die Staats-förster um Hilfe beim Patrouillieren der Wälder baten, um nächtlichen Holzdieben das Handwerk zu legen, oder wenn Makarenko den Befehl erhielt, Bauernhöfe nach illegalen Schnapsbrennereien zu durchsuchen, dann waren die Jungen stolz auf ihre ungewohnte Rolle als Polizisten und Hüter der sozialen Ordnung. Diese pädagogischen Methoden waren drastisch und riskant, und doch schien es ihm, daß damit „die ersten schüchternen Anfänge eines gesunden kollektiven Geistes gefördert wurden".

Das Zweideutige an dieser Kampf-und Abenteuermoral, die immer neue Aufgaben forderte, um das Kollektiv in Unruhe und Aufregung zu halten, ist von einem deutschen Pädagogen beleuchtet worden In dieser Hinsicht erschienen auch die Übersiedlungen und besonders die Übernahme der verkommenen Kuriasher Kolonie als neue Aufgaben und boten Gelegenheit, dem Stillstand und der Depression zu entgehen. Die häufigen schweren Verstöße gegen die Disziplin und die Rückfälle in ein destruktives Verhalten brachten Makarenko manchmal fast zur Verzweiflung, und er kam zu der Einsicht, daß grundsätzlich andere und bessere Wege gefunden werden müßten, wenn sich ein echter Gemeinschaftsgeist entwickeln sollte. „Einem unbewußten pädagogischen Instinkt gehorchend“ begann Makarenko Exerzierübungen und militärische Disziplin einzuführen. Die Jungen, die dies als eine Art Spiel betrachteten, reagierten mit großer Begeisterung; ihr Verhalten — auch bei der Arbeit — besserte sich merklich. Alle Mitglieder des Kollektivs wurden nun in Arbeitsbrigaden eingeteilt, die jeweils von einem „Kommandeur“ geführt wurden. Diese Kommandeure wiederum waren zu einem Rat der Kommandeure zusammengeschlossen, den Makarenko zusammenrief, wenn wichtige Entscheidungen zu treffen waren. Dieser Rat, zunächst als beratendes Organ gedacht, entwickelte sich nach und nach zu einem Exekutiv-Organ.

Nach nahezu drei Jahren des Experimentierens und härtester Arbeit hatte Makarenko schließlich einen Organisationstyp entwickelt, der es ermöglichte, die Verhaltensweisen der jungen 19 Vagabunden unter Kontrolle zu bringen und zu reformieren. Der „sozialistische Wettbewerb“ zwischen den verschiedenen Arbeitsbrigaden entwickelte in den Jungen einen Sinn für Leistung, Stolz und Gruppensolidarität. Die Selbstverwaltung gab ihnen Macht, die wiederum untrennbar mit Verantwortung verbunden war. In dem Maße, wie das neue Kollektiv aufblühte und die Zusammenarbeit aller Glieder reibungslos zu funktionieren begann, betrachteten seine Mitglieder es immer mehr als eine Ehre, dazu-zugehören, und als die schlimmste Strafe, aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Zu Anfang griff Makarenko zur Selbstherrschaft. Wenn man aber berücksichtigt, mit welchem Menschenmaterial er es zu tun hatte, so blieb ihm kaum eine andere Wahl. Seinem Bericht über das Gorki-Kollektiv zufolge, den er in dem Buch „Der Weg ins Leben“ gegeben hat, ging er nach und nach immer mehr zu Formen der kollektiven Selbstverwaltung durch den Kollektiv-Sowjet über. Zwar folgte dieser seinen Ratschlägen, und seine Beschlüsse konnten durch ein Veto Makarenkos zunichte gemacht werden, denn als Direktor des Kollektivs trug er ja auch die letzte Verantwortung. Die Funktionen des Rates hielten sich in den Grenzen, die Makarenko gesteckt hatte. Aber innerhalb dieser Grenzen übte er echte Selbstverwaltung aus. Das Kollektiv kannte auch kein Schikanieren durch Vorgesetzte. Obgleich die Kommandeure der einzelnen Brigaden ihre Stellung lange Zeit hindurch innehatten, genossen sie doch keinerlei Privilegien und mußten genauso mitarbeiten wie ihre Untergebenen. Sie arbeiteten z. B. auch als gewöhnliche Arbeiter in den sogenannten „gemischten" Brigaden mit, die kurzfristig organisiert wurden, um saisonbedingte Arbeiten, wie die Einbringung der Ernte, zu verrichten. Die Kommandeure der Brigaden — ganz gleich, ob es sich nun um gemischte oder ständige Brigaden handelt — wurden zunächst von Makarenko ernannt, dann von dem Rat der Kommandeure gewählt und schließlich von allen Mitgliedern des Kollektivs. Gerade im Wechsel zwischen Dienen und Befehlen, zwischen der Ausführung von Arbeiten und organisatorischer Verantwortung sah Makarenko den eigentlichen Wert der kommunistischen Erziehung.

V. Die Entwicklung der Erziehungstheorie Makarenkos

Die vielen Besucher, die das Kollektiv teils aus Neugier, teils in amtlicher Funktion besichtigten, waren immer wieder erstaunt über seinen fast militärischen Aufzug, und bald wurde es der „Regimentspädagogik“ und „Kasernendisziplin" angeschuldigt. Professoren und Mitglieder des Kommissiariats für Volkserziehung nahmen Anstand am Gebrauch von Strafe und Belohnung undbeschuldigten Makarenko, bei seinen Methoden die Würde des Menschen zu verletzen, die nach ihrer Überzeugung nur durch spontane, freie Handlungen zum Ausdruck kommen konnte. In der Folgezeit wurde seine Geduld oft auf eine harte Probe gestellt, denn immer wieder mußte er diesen Beschuldigungen entgegentreten. Die Drohungen und Kritik von Seiten der Erziehungsbehörden führten zu heftigen Auseinandersetzungen. Diese Verstimmungen blieben jedoch nicht ohne Gewinn. Unter der Notwendigkeit, sich ständig gegen feindliche Kritiker und Vorgesetzte rechtfertigen zu müssen, nahm Makarenkos Pädagogik schärfere Konturen an.

Den Vorwurf, er übe Kasernendisziplin, konterte er mit dem Hinweis, daß er keineswegs die Absicht habe, junge Menschen zu Militaristen zu erziehen. Was er suchte, war vielmehr ein neuer Stil im Gemeinschaftsleben. Er wollte Tradition und Autorität schaffen, ohne die die Jugendkollektive zum Scheitern verurteilt sein mußten. Und tatsächlich scheiterten auch viele ähnliche Versuche. Er legte dar, daß er nach Formen suche, um die ästhetischen und spirituellen Kräfte des Gemeinschaftslebens zu objektivieren — Kräfte, die ihren Niederschlag in festbegründeten gesellschaftlichen Gepflogenheiten und Gebräuchen finden mußten. Abgegesehen von dieser konkreten Aufgabe, die er zu lösen hatte, scheint Makarenko erkannt zu haben, daß die durch die Revolution weggefegten Traditionen noch nicht durch neue ersetzt worden waren und daß abstrakte moralische Vorstellungen dafür einen nur unzulänglichen Ersatz boten. Auf den Vorwurf, daß das Prinzip der Strafe und Belohnung die freie Entfaltung des Kindes hemme, antwortete Makarenko, daß nicht jede Strafe eine Degradierung darstelle und, was er als noch wesentlicher ansah, daß Kinder nicht in irgendeinem Paradies aufwachsen, sondern in einer Gesellschaft, von der ihre Handlungen beobachtet und somit gebilligt oder mißbilligt werden. Er trat auch für das Prinzip der Lohnzahlung ein, eine verdammungswürdige Ketzerei nach der damals geltenden Erziehungstheorie. Das rein landwirtschaftlich orientierte Gorki-Kollektiv, das keine Gewinne erzielte, zahlte den Jugendlichen keine Löhne; im Dzerskinsky-Kollektiv hingegen, dessen Mitglieder in der Industrieproduktion beschäftigt waren, wurde die Arbeit bezahlt. Makarenko wies darauf hin, daß der tiefere Zusammenhang zwischen persönlichen und sozialen Interessen für junge Menschen erst dann wirklich erkennbar wird, wenn sie einen Verdienst — und sei er auch noch so bescheiden — haben, und das Geld auch ausgeben können. Er wollte nicht, daß die Jugendlichen aus dem Kollektiv ausschieden wie junge Damen aus dem Internat, wo sie nichts lernten als „Ideale“. Und als man Kritik an ihm übte, weil er angeblich sein Erziehungssystem nicht auf den Interessen des Kindes aufbaute und dem Kollektiv eine Erwachsenendisziplin oktroyierte, gab er zur Antwort, daß Kinder durchaus nicht immer am besten wissen, was gut für sie ist und daß Disziplin sich „als Folge eines sanften Zwanges durch das Kollektiv“ entwickelt

Diese Streitereien, die schließlich zur Verurteilung der Methoden Makarenkos durch das Kommissariat für Volkserziehung führten, regten ihn zu Betrachtungen über die Meinungsunterschiede an, die zwischen ihm und jenen, die, wie er sagte, „auf dem unendlichen Ozean einer abstrakt aufgefaßten Kindheit umhersegelten“, bestanden. Ihre Ziele waren die gleichen: beide wollten einen neuen Menschentyp für die im Entstehen begriffene kommunistische Gesellschaft. Aber in ihren Methoden gab es grundlegende Unterschiede. Die sogenannten „freien“ russischen Erzieher jener Epoche glaubten, daß die Kinder sich bei einer schöpferischen Betätigung gewissermaßen von selber zu kommunistisch geprägten Persönlichkeiten entwickeln würden — eine sehr schöne Theorie, die sich aber leider für jemanden, der Tag für Tag un-gebändigte Jugendliche zu zähmen hatte, als unhaltbar erwies. Diese Beschäftigung war anstrengend, sie verlangte große persönliche Opfer, und man kann sich daher nicht darüber wundern, daß Makarenko, durch die Kritik und das mangelnde Verständnis seiner Gegner verbittert, gelegentlich alle Erziehungstheoriker als die scheinheiligsten aller Heuchler verfluchte.

Aber dennoch ließ er sich bei seinem Suchen nach geeigneten Erziehungsmethoden nicht beirren. Das Problem, das ihn am meisten beschäftigte, war die Möglichkeit einer Voraussage und Vorbestimmung der Ergebnisse aller pädagogischen Arbeit. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß gewisse Aspekte der menschlichen Persönlichkeit und des menschlichen Verhaltens „gesetzmäßig" entwickelt werden könnten, wenn die Erziehung das „Modell" dazu lieferte. Er gab zu, daß Pädagogik im besten Sinne des Wortes eine sehr persönliche Kunst sei. Sein Anliegen aber war es, eine Art Technologie der Erziehung zu entwickeln. „Wie kommt es , klagte er, „daß an allen Technischen Hochschulen und Instituten der Widerstand der Materie untersucht wird, während in den pädagogischen Hochschulen keinerlei Untersuchungen über den Widerstand der Persönlichkeit in der Reaktion auf Erziehungsmaßnahmen durchgeführt werden?" Hier beginnt sich nun Makarenkos Theorie herauszuschälen. Die erste Reaktion eines Liberalen oder Humanisten ist höchstwahrscheinlich ein Protest gegen die in Makarenkos Technologie zum Ausdruck kommende Abwertung des Menschen; und da die Bedrohung der menschlichen Werte von einem Kommunisten ausgeht, wird sie als besonders unheilvoll empfunden. Wenngleich nun Makarenkos Analogie wohl nicht die ganze Wahrheit enthält, so ist doch nicht zu leugnen, daß die Menschen in vieler Hinsicht einander ähnlich sind und ähnlich reagieren. Die Ironie des Schicksals will es im übrigen, daß Wissenschaften wie die Psychologie, die Soziologie und die Anthrophologie, die die menschliche Natur zu bestimmen und definieren versuchen, in westlichen liberalen Staaten viel intensiver gefördert werden als in der Sowjetunion. Darüber hinaus gibt es in der Geschichte der Erziehungswissenschaft eine ganze Reihe von berühmten Männern, deren Gedankengänge denen Makarenkos nicht unähnlich waren: Platos rigorose Erziehung der jungen Wächter; die Überzeugung von Helvetius und Robert Owen, daß die Kontrolle der Ilmweltbedingungen für den Menschen von entscheidender Bedeutung ist; und schließlich der Verlaß auf allgemeingültige Methoden bei Komenius, der in seiner Didaktika Magna die Hoffnung aussprach, daß die pädagogische Praxis mit der Präzision eines Uhrwerks und der Genauigkeit einer Druckmaschine entwickelt werden könne. Wollte man behaupten, daß die Theorien dieser Männer und die darauf aufbauenden Methoden die menschliche Natur entwerten, so hieße das ihren Intentionen und Zielen Unrecht tun. In Zeiten moralischer Umwertung und gesellschaftlicher Krisen erscheint der Wunsch nach einer strengen Wissenschaft des menschlichen Verhaltens sehr gut verständlich. Eine sehr viel ernster zu nehmende Kritik an Makarenkos Theorie ist von einem zeitgenössischen deutschen Autor geübt worden. Er stellt fest, daß Makarenko die Pädagogik zu einer Technologie degradiert habe, weil er einem Staate diente, der die Ziele der Erziehung jedem Argument enthoben habe. Damit wäre die Pädagogik der Möglichkeit beraubt, die Grundfragen nach dem Sinn des Lebens und nach dem Wesen des Guten, der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu stellen, und die freie Forschung und offene Diskussion wären unmöglich gemacht. Obwohl diese Kritik der sowjetischen Pädagogik, Philosophie und dem intellektuellen Leben gegenüber berechtigt ist, gilt sie nicht unbedingt für Makarenko. Seine Vorstellungen waren nicht das Produkt einer Ideologie.

Sie wurzelten in einer starken moralischen Überzeugung und in einem Reichtum an persönlichen Erfahrungen. Wenn er zu Schlußfolgerungen kam, die dem Regime aus guten Gründen willkommen waren, so geschah das aus echter Überzeugung und ohne jede Berechnung. Es mangelte ihm nicht am Schöpferischen; ja, seine Schriften trugen selbst dazu bei die Wesenszüge des Menschen kommunistischer Prägung schärfer herauszustellen. Man kann nicht leugnen, daß er mit moralischem Emst bei seiner Sache war und, natürlich innerhalb gewisser weltanschaulicher Grenzen, lange auf der Suche blieb; der Zweifel an sich selbst und seinen Ideen war ihm nicht fremd. Zwar entsprach seine Denkweise nicht der einer klassischen Objektivität, denn er war ganz und gar Lhomme engage. Aber die Anerkennung des Primats der Politik über die Erziehung bedeutete für ihn nicht (mit Ausnahme der stalinistischen Propaganda, die er in den letzten Jahren seines Lebens betrieb) den Verzicht auf eigene Verantwortung. Er empfand mit nahezu schmerzhafter Klarheit, daß es allgemein den Prinzipien der kommunistischen Ethik und Erziehung im Lande weitgehend beim Nachbeten und Ja-sagen blieb und bemühte sich daher, diese Prinzipien als Pädagoge menschlich zu verwirklichen.

VI. Die Disziplin des Individuums

Ein immer wiederkehrendes Problem in der westlichen Erziehungstheorie ist das Bemühen um einen Ausgleich zwischen den Forderungen der Gesellschaft und des Individuums. In einer nach rein nationalen Gesichtspunkten orientierten Gesellschaft — wenn es sie überhaupt gäbe — könnten diese Forderungen nicht kollidieren. Denn so wie das Individuum für seine Selbstverwirklichung und Integrierung feste gesellschaftliche Traditionen braucht, so braucht die Gesellschaft Individuen, die fähig sind, ihre Institutionen neuen Ilmweltsbedingungen anzupassen. Aber in der Geschichte der westlichen Erziehungswissenschaften kann man nur selten ein solches Gleichgewicht verzeichnen. Plato und Dewey z. B„ um einige bekannte Namen zu nennen, bemühten sich, die Sache der Gesellschaft und des Staates zu vertreten, Rousseau und Froebel dagegen die der kindlichen Person.

In der sowjetischen Erziehungstheorie ist nun der Ausgleich zwischen den kollidierenden Interessen der Gesellschaft und des Individuums von ausschlaggebender Bedeutung. In offener Reaktion gegen den Individualismus des Westens, der, teils aus Unwissenheit, teils aus bewußter Übertreibung, als eine zersetzende Kraft hingestellt wird, sehen sowjetische Pädagogen ihre Aufgabe in der Schaffung von Kollektiven, die die Charakterbildung des Individuums gestalten sollen. Dennoch würden sowjetische Pädagogen nie zugeben, daß sie das Individuum unterdrükken oder seine freie Entwicklung auch nur hemmen wollen. Ganz im Gegenteil; sie behaupten, daß sie ein Problem gelöst haben, an dem westliche Denker gescheitert sind. Makarenkos Ausführungen zufolge besteht die Lösung darin, „das Individuum so in das Kollektiv hineinwachsen zu lassen, daß es schließlich glaubt, diesem Kollektiv aus freier Entscheidung und ohne jeden Zwang anzugehören.“

Angesichts der Tatsache, daß Zwang in der sowjetischen Gesellschaft und Erziehung nun einmal besteht, mögen wir geneigt sein, eine solche Lösung als zynische Beschönigung oder naiv idealisierende Propaganda abzutun. Makarenko war aber weder Zyniker noch Propagandist, sondern ein sehr aufrichtiger Denker, für den die Schaffung des Kommunismus ein ethisches Problem war. Wenn er die Disziplin des Kollektivs mit der Freiheit des Individuums gleichsetzte, so war das für ihn nicht eine dialektische Phrase, sondern eine pädagogische Erfahrung. Die meisten Kinder, die in seine Jugendkollektive ausgenommen wurden, hatten in Banden gelebt, wo sie der Macht der älteren und stärkeren Anführer ausgeliefert gewesen waren, so wie nach sowjetischer Auffassung in der kapi-talistischen Gesellschaft die Individuen angeblich durch eine mächtige und rücksichtslose Minderheit ausgenutzt werden. Makarenko war der Überzeugung, daß für solche Kinder die Disziplin des Kollektivs die Rettung und die Grundlage für eine Entwicklung zum vollen Menschentum bedeutete. Sie lernten, daß „Disziplin im Kollektiv für den einzelnen gleichbedeutend ist mit vollkommener Sicherheit.“ Jeder wußte, daß er gewisse Rechte genoß und wie er sie wahren konnte. Nachdem es Makarenko einmal gelungen war, die Disziplin durch die bereits beschriebenen drastischen und unkonventionellen Methoden einzuführen, begannen die Jugendlichen sich mehr und mehr daran zu gewöhnen und Verstöße gegen diese Disziplin als eine Störung ihres neugewonnenen Sicherheitsgefühls zu empfinden. Tatsächlich wurden diejenigen, die am meisten unter der auf den Straßen herrschenden Anarchie und dem „Krieg aller gegen alle“ gelitten hatten, zu den stärksten Verfechtern der Kollektivdisziplin.

Während nun die Disziplin einerseits als Schutz für das Individuum dargestellt wurde, bedingte dies wiederum, daß im Falle von Konflikten die Gruppeninteressen über die Interessen des Individuums gestellt wurden. Es handelt sich hier um ein allgemeingültiges sowjetisches Prinzip, das auf allen Gebieten praktiziert wird. Um eine Verwechslung des westlichen Begriffs „Gruppe“ mit dem sowjetischen Begriff „Kollektiv" zu vermeiden, sollte hinzugefügt werden, daß es in der Sowjetunion keine autonomen Gruppen, Verbände und Gemeinschaften gibt. Die Leitung eines jeden Kollektivs vertritt die Interessen der Partei schlechthin. Wäre dies nicht der Fall, so wäre die Einparteienherrschaft und das gesamte totalitäre System gefährdet — eine Situation, die von der Parteileitung niemals geduldet werden würde.

Wie jeder andere sowjetische Schriftsteller mußte auch Makarenko dem monolithischen, auf eine Partei gegründeten Staat das Wort reden. Es ist jedoch interessant, daß er in seiner pädagogischen Praxis, ja sogar in seiner Erziehungstheorie nicht ganz mit diesem Staat konform ging. In all seinen Diskussionen über den pädagogischen Wert des Kollektivs — ganz gleich ob es sich um Jugendkollektive oder Schulen handelte — betonte er, wie wichtig es sei, daß eine führende Persönlichkeit von starker Autorität der Gruppe ihren Stempel aufprägt und Formen und Traditionen des Gruppenlebens schafft, mit denen sich die Mitglieder der Gruppe identifizieren können. Die Schaffung eines Zusammengehörigkeitsgefühls unter den Mitgliedern übersichtlicher kleiner Gruppen mochte vielleicht keine ernsthafte Bedrohung für den monolithischen Staat darstellen. Die Mitglieder waren noch minderjährig und das endgültige Ziel dieser Kollektive bestand ja darin, die Jugendlichen in das größere Kollektiv des sowjetischen Staates hineinzuführen. Aber für Makarenko waren die Jugendkollektive keineswegs nur vorbereitende Organe, sondern soziale Einrichtungen mit eigenen Aufgaben, deren Mitglieder durch gemeinsame Arbeit, Disziplin und Selbstverwaltung lernen mußten, des gemeinschaftlichen Lebens überhaupt fähig zu werden. Eine solche Erziehung mußte notwendigerweise Loyalität und Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen. Viele junge Menschen, denen Makarenko den Weg zu einem arbeitsamen und achtbaren Leben geebnet hatte, schrieben ihm später regelmäßig und erinnerten sich seiner mit Dankbarkeit.

Solche persönlichen Werte sind kaum in Einklang zu bringen mit den Verhaltungsweisen, die die Parteiführung einzuführen versuchte, ja, sie stehen sogar im Widerspruch dazu. Angesichts der Notwendigkeit, die Durchführung zentraler politischer Maßnahmen zu überwachen und jede Abweichung von der Parteilinie im Keim zu ersticken, funktioniert der sowjetische Staat als eine Art von Wach-und Schließgesellschaft, im Rahmen derer es den Parteiorganisationen auf den verschiedenen Ebenen zur Pflicht gemacht wird, die Orts-Sowjets, die Behörden wie auch Fabrik-und Kolchos-Manager zu überwachen. Es gibt darüber hinaus umherreisende Partei-Schulungsleiter und Betriebsaktivisten, ganz zu schweigen von der Geheimen Staatspolizei, die unter Stalin alles überwachten. Im Rahmen dieses Systems der vielfältigen Kontrollen und des gegenseitigen Mißtrauens sind ständig „Sabotageakte", „Irrtümer“ und Probleme aufgedeckt worden, die z. T. eine Folge der sich widersprechenden und unklaren Direktiven sind. Auf diese Weise fühlt sich jeder — mit Ausnahme der obersten Parteiführer beobachtet, und die Funktionäre in den verantwortlichen Positionen leben ständig in einem Gefühl akuter Unsicherheit. Barrington Moore hat dieses System als „A vested Interest in Confusion“ (Verwirrung als Prinzip) bezeichnet und Fainsod nennt es „„Institutionalized Suspicion“ (Das institutionalisierte Mißtrauen). Als Reaktion entstehen „Beziehungen und Bekanntschaften“, ohne die das System besonders wirtschaftlich kaum funktionieren könnte.

Als Direktor der beiden Jugendkollektive scheint Makarenko von den Schikanen dieses Systems verschont geblieben zu sein. Seine Differenzen mit dem Kommissariat für Volkserziehung waren ganz anderer Natur und betrafen Fragen der pädagogischen Methodik. Sehr wahrscheinlich brauchte man selbst in der StalinÄra eine gewisse Zeit, um das System bis zur Perfektion zu entwickeln. Makarenko mag also in seiner frühen Schaffensperiode Glück gehabt haben. Aber auch in späteren Jahren, als er im Dzershinsky-Kollektiv lebte, das dem Kommissariat für Innere Angelegenheiten bzw.der Geheimen Staatspolizei unterstellt war, ließ man ihn — vielleicht gerade deshalb — gewähren. Als Verwalter und Theoretiker erfreute er sich einer fast ungeteilten Autorität und konnte sich so ungehindert zu einer starken Persönlichkeit entfalten. Die einzige Organisation, die nach den geltenden Regeln eine konkurrierende Autorität hätte sein können und sollen, war das Komsomol. Im Dzershinsky-Kollektiv waren die Komsomolzen stark vertreten, fügten sich aber anstandslos der Disziplin des Kollektivs. Diese offensichtlich ungewöhnliche Situation ist von den Verfassern eines an sowjetischen Lehrer-seminaren vielbenutzten Lehrbuches nicht unbemerkt geblieben. Sie betonen daher nicht nur ausdrücklich und in Übereinstimmung mit dem sowjetischen Prinzip, daß die Komsomol-Organisation das führende Element jedes Jugend-kollektivs und jeder Schule ist und daß der Lehrer sich ihrer Unterstützung versichern muß, wenn er jungen Menschen eine moralische Erziehung vermitteln will, sondern sie nahmen auch einige Korrekturen an Makarenkos Wirken vor. „Es ist bekannt“, so schreiben sie, „daß es dem großen sowjetischen Pädagogen A. S. Makarenko erst gelang ein echtes sowjetisches Kollektiv aufzubauen, nachdem eine Komsomol-Organisation in seiner Kolonie gegründet worden war.“ Wie Makarenko in seinem Buch „Der Weg ins Leben“ berichtet, sah es jedoch so aus, daß ein Komsomol-Schulungsleiter erst im Jahre 1923 in das Gorki-Kollektiv eintrat, d. h. also, nachdem es Makarenko bereits gelungen war, die Grundlagen für eine strenge Disziplin zu schaffen. Die Tätigkeit dieses Komsomol-Vertreters, der eine kriminelle Vergangenheit hatte, ist nur an einer Stelle des Buches kurz erwähnt, und es gibt keinerlei Beweise dafür, daß er in dem von Makarenko eingeführten und überwachten Erziehungssystem irgendeine wesentliche Rolle gespielt hätte

Es könnte nun der Einwand erhoben werden, daß die in den bisherigen Ausführungen herausgearbeiteten Unterschiede ohne Bedeutung seien und daß es letzten Endes belanglos ist, ob nun Makarenko sein eigener Herr oder ein Funktionär war, der Direktiven von oben ausführte. Denn trotz aller seiner Unabhängigkeit hätte keiner das Interesse der Partei am Aufbau eines wahrhaft kommunistischen Erziehungssystems wärmer und mit mehr Hingabe vertreten können, als Makarenko es tat. Dieser Einwand übersieht jedoch eines: Eine Sache, die man aus persönlicher Überzeugung tut, und ein Dienst, den man als Funktionär leistet, haben nicht den gleichen moralischen Wert. Das Paradoxe ist nun, daß die Parteiführung zwar Makarenkos Leistungen anerkannte und sie anderen als Beispiel vorhielt, es aber gleichzeitig anderen Pädagogen unmöglich macht, seinem Beispiel zu folgen, weil es sie dem bereits geschilderten Kontrollsystem und dem ideologischen Konformismus unterwirft. Es scheint somit, als ob es nur in der sowjetischen Vergangenheit Persönlichkeiten gegeben hat, die durch ihr persönliches Beispiel den Glauben an die Mission der sowjetischen Gesellschaft aufrechterhielten.

Makarenko war immer darauf bedacht, seine relativ unbeschränkte Autorität dafür einzusetzen, um bei seinen Schützlingen auf absolute Unterordnung ihrer eigenen Interessen unter die des Kollektivs zu dringen. In der Tat gelang es ihm, diejenigen die gegen diese Regel verstießen oder gar das Vertrauen der Gemeinde verletzten, vom Kollektiv selbst verurteilen zu lassen. In diesem Zusammenhang berichtet Makarenko von einem Komsomolzen, der gleichzeitig ein Kommandeur der Dzershinsky-Kommune war. Dieser junge Mann war rückfällig geworden und hatte einem der jüngeren Mitglieder der Kommune einen Radioapparat gestohlen. Die Versammlung beschloß, den jungen Mann auszustoßen, weil er das Vertrauen des Kollektivs mißbraucht hatte. Makarenko erhob Einspruch gegen das Urteil und versuchte, dem Jungen die Möglichkeit der Bewährung zu geben. Er fand darin Unterstützung bei dem Kommissariat für Innere Angelegenheiten. Mehrere Vertreter wurden entsandt; sie bedrängten die Mitglieder der Kommune, den Jungen zu behalten mit der Begründung, daß seine Ausweisung dem Ruf der Kommune schaden würde. Es wurde ihnen auch nahegelegt, ihre Aufgabe in der Umerziehung des Schuldi-gen zu sehen. Die Funktionäre der Geheimpolizei diskutierten lange und ausführlich mit der Versammlung, aber umsonst — diese blieben bei ihrem Urteil. Makarenko berichtet, daß er lange über diesen Vorfall nachgedacht habe und schließlich zu dem Schluß gekommen sei, daß die Kommune recht hatte. Es scheint also, daß diese selbst ihrem Gründer und Meister noch Lektionen erteilte! Die Interessen des Kollektivs mußten gewahrt bleiben, auch wenn dies für das Individuum erbarmungslose Folgen hatte

Bei einem ähnlichen Vorfall, der sich an einer sowjetischen Schule ereignete, und von dem Makarenko erfuhr, verhielt sich der betreffende Lehrer jedoch entgegengesetzt. Ein Schüler hatte einige Rubel von einem Klassenkameraden gestohlen. Als der Diebstahl entdeckt wurde, nahm ihn der Lehrer beiseite und besprach die Sache persönlich mit ihm. Makarenko mißbilligte dieses „taktvolle" und „zarte“ Vorgehen, weil es dem Jungen die öffentliche Bloßstellung ersparte. Ein derartig zartfühlendes Vorgehen, so kommentierte er, war nicht im Sinne kommunistischer Erziehung. Die Handlungsweise des Lehrers bestärkte den Jungen in dem Glauben, daß er von der Meinung des Kollektivs unabhängig sei. Sie beraube ihn der wesentlichen Erfahrung, dem Kollektiv Rede und Antwort stehen zu müssen statt einer einzelnen Person

Uns mag das Urteil Makarenkos unnötig hart, ja sogar unmenschlich erscheinen. Die liberale Gesellschaft, solange sie ihren Werten treu bleibt, wird den Lehrer darüber entscheiden lassen, wie er seiner Aufgabe am besten gerecht werden kann. Der strenge Kommunist hingegen kann eine solche Autonomie nicht dulden. Er erschrickt vor dem Vertrauen auf persönliche Diskretion und Urteilskraft und erblickt darin große Gefahren. In dem angeführten Falle mag der Lehrer, wie Makarenko zugab, ein „guter“ Mann gewesen sein, aber — ein Konterrevolutionär hätte schließlich die gleiche Taktik anwenden können. Die kommunistische Erziehung kann sich seiner Auffassung nach im Prinzip nicht auf sogenannte „gute“ Menschen verlassen, ebenso wie sie nicht durch persönliche Beziehungen und Handlungen wirken kann. „Ein Sowjetmensch kann nicht durch eine Einzelpersönlichkeit erzogen werden, wie groß ihre Qualitäten auch sein mögen“ denn die kommunistische Erziehung ist ein Gesellschaftsprozeß und damit eine öffentliche Angelegenheit. Wenn das Verhalten des „taktvollen" Lehrers Schule machen würde, dann würden die Schülerkollektive bald durch gegenseitiges Mißtrauen zerstört werden, weil die Mitglieder z. B. nicht feststellen könnten, wer den Diebstahl begangen hat, und — schlimmer noch — sie könnten gleichgültig werden gegen asoziales Verhalten. Wie sollte es der sowjetischen Führung gelingen, die Wachsamkeit und den Eifer zu erzeugen, der notwendig ist, um das Individuum unter Kontrolle zu halten? Wenn der Lehrer im Sinne kommunistischer Moral gehandelt hätte, so würde er die Klasse mit der Untersuchung und Verurteilung des geringfügigen Diebstahls beauftragt haben. Er hätte auf diese Weise jeden Schüler dazu gezwungen, sich an der kollektiven und öffentlichen Aktion zu beteiligen und sich mit ihr zu identifizieren.

Diese Identifizierung des Individuums mit dem Kollektiv war die psychologische Grundlage für die Disziplin, die in Makarenkos Kolonie herrschte. Er wußte, daß die beste Methode, den Jugendlichen an die Gruppe zu binden, die war, ihn für die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung mitverantwortlich zu machen. Einer, der selbst erst vor kurzem rehabilitiert worden war und noch keine feste Beziehung zu den Wertvorstellungen hatte, die es durchzusetzen galt, würde aller Wahrscheinlichkeit nach besonders hart in seinem Urteil sein — härter sogar als Makarenko selber. Denn, indem er für die Ausweisung seines Kameraden, der des Diebstahls angeklagt war stimmte, strafte er jemanden für eine Tat, die zu begehen er selber die Versuchung verspürt hatte.

Seine unbewußte Reaktion mußte demzufolge ein Schuldgefühl sein, dessen er sich nur entledigen konnte, indem er sich der Gruppe noch stärker als zuvor unterwarf. Im sowjetischen Sprachgebrauch, der den Begriff des Unbewußten sorgsam meidet, hat dann eine solche psychologische Verwicklung „seinen Willen gestählt", der Versuchung zu asozialem Verhalten zu widerstehen und ihn für den langen Kampf um die Regeneration der Gesellschaft gestärkt. Aus diesem Grunde vertrat Makarenko den Standpunkt, daß „Strenge die höchste Form der Menschlichkeit sei, die man einem Menschen erweisen konnte" und daß das menschliche Mitgefühl dahinter zurückstehen müßte.

Makarenko stellte an sich selbst die gleichen harten Anforderungen wie an seine Schützlinge. Die Leitung der Dzershinsky-Kommune wurde ihm eines Tages plötzlich aus der Hand genommen. Es kam ein Telegramm vom Kommissariat für Innere Angelegenheiten aus Kiew, in dem angeordnet wurde, daß er unverzüglich abzureisen habe, um eine neue Aufgabe zu übernehmen. Er selber hat darüber berichtet, daß das der traurigste Tag seines Lebens war, denn dies war das unerwartete und prosaische Ende einer achtjährigen intensiven Tätigkeit voller Hingabe an die Sache. Einige Assistenten weinten, und als er die gesamte Kommune zusammengerufen hatte, um sich zu verabschieden, fiel ihm das Reden schwer. Er bemerkte jedoch, daß auf dem Klavier Staub lag und, nachdem er sich den Namen des Jungen hatte geben lassen, zu dessen Pflichten das Staub-wischen in der Halle an diesem Tag gehörte, gab er ihm auf der Stelle 5 Tage Arrest. Auf den verwunderten Ausruf des Jungen: „Aber Anton Semyonovitsch, Du willst doch gerade von uns Abschied nehmen!“ blieb er unerbittlich Man darf annehmen, daß Makarenko trotz seiner strengen Haltung nicht weniger litt als der Junge.

Obwohl Makarenko Strenge und Härte als die wichtigsten Tugenden kommunistischer Erziehung propagierte, wich er doch in der Praxis häufig davon ab, wenn er sich der Sorgen und Nöte einzelner Mitglieder annahm. Es konnte kaum anders sein bei einem Manne, dessen menschliche Hingabe ebenso groß war wie sein Interesse für die Entwicklung einer konsequenten Erziehungstheorie. Bei aller Betonung der Disziplin wollte er ihr doch nicht „die Anmut, die Originalität und Schönheit der Einzelpersönlichkeit" opfern. Die Wahl der Worte ist an sich schon bedeutsam, denn sie zeigt, daß er nicht nur in moralischen, sondern auch in ästhetischen Kategorien dachte. Er war sich der Tatsache wohl bewußt, daß diese zwei Wertkategorien miteinander in Konflikt geraten konnten, und es spricht für seine Bescheidenheit, daß er in einer seiner letzten Aussagen (1938) zugab, daß die Erziehung ein komplexes und vielseitiges Unternehmen sei. Er habe selber in seiner praktischen Arbeit „Perioden nagender Zweifel“ durchlebt und gebe zu, daß vieles an seiner Erziehungstheorie unklar und unzulänglich geblieben sei Kommentare dieser Art zeigen, abgesehen von Makarenkos Menschlichkeit, daß seine Erziehungstheorie, wie bereits bemerkt, nicht konsequent von einer offiziell beglaubigten Lehre abgeleitet war.

Noch in seinen letzten Jahren beschäftigte ihn die Frage, ob man an jede Persönlichkeit die gleichen Anforderungen stellen könne, wie dies seine strengen Ansichten über die Disziplin zu fordern schienen. Er kam zu dem Schluß, daß eine Norm aufgestellt werden müsse, diese jedoch modifiziert und dem Einzelfall angepaßt werden sollte. Auf diese Weise fand eine gewisse Flexibilität Eingang in seine Erziehungstheorie, die bis dahin sehr streng und starr formuliert worden war. Alle sollten z. B. als furchtlose, rechtschaffene und fleißige Patrioten aufwachsen, aber gleichzeitig wurde dem Erzieher die Entfaltung ungewöhnlicher individueller Gaben zur Aufgabe gemacht. Tatsächlich wurde das aber erschwert durch die allgemein zwanghafte und repressive Tendenz, die die Pädagogik Makarenkos kennzeichnete. Ein Fall, von ihm selbst berichtet, mag die sich ergebenden Konflikte anschaulich machen:

Einer seiner Jungen, ein fähiger Bursche, der seine Ausbildung an einer Zehnjahres-Schule mit sehr guten Noten abgeschlossen hatte, wollte Ingenieur werden — ein Beruf, der damals in der Sowjetunion an Glanz und Anziehungskraft gewann. Makarenko hatte jedoch beobachtet, daß der Junge ein außerordentliches schauspielerisches Talent besaß und eines Tages voraussichtlich ein großer Schauspieler werden würde, aber nur ein mittelmäßiger Ingenieur. Als der Junge auf seinem Wunsch beharrte und sich an einer technischen Hochschule einschrieb, beschloß Makarenko nicht ohne List, ihn wegen der Verletzung der Kollektivdisziplin vor die Versammlung zu beordern. Dem Jungen wurde befohlen, die technische Hochschule zu verlassen und sich stattdessen an der Schauspielschule einzuschreiben. Gebrochenen Herzens gehorchte er, weil er, wie Makarenko richtig kalkuliert hatte, nicht die Kraft fand, sich dem Kollektivbeschluß zu widersetzen. Er wurde bereits nach kurzer Zeit an ein Theater im Fernen Osten der Sowjetunion engagiert und war Makarenko dankbar dafür, daß er ihn gezwungen hatte, seine Pläne aufzugeben

Eine liberale Gesellschaft, um im Vergleich zu bleiben, mag es ebenfalls jedem zur Pflicht machen, seine Gaben voll zu entfalten und die nötigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, aber sie kann das Individuum dazu nicht zwingen. Makarenko hingegen argumentierte, daß, wenn man junge Menschen ihren eigenen Neigungen folgen läßt, sie selbst und die Gesellschaft Schaden nehmen würden. Solchen Schaden zu vermeiden, war ja gerade die Aufgabe des Erziehers. Makarenko sprach also einen paradoxen Individualismus das Wort, demzufolge das Indi-viduum gezwungen werden konnte, sich gegen seinen eigenen Willen in gewisser Weise ausbilden zu lassen. Erst nachträglich gab Makarenko zu, daß er ganz und gar nicht sicher sei, richtig gehandelt zu haben. „Welches Recht habe ich, Zwang auszuüben?“ fragte er konnte aber keine klare Antwort auf seine Frage geben. Wohl vertrat er die Ansicht, der Erzieher habe das Recht, den Charakter seines Schülers entscheidend zu formen. Wenn es aber galt, dieses Recht im konkreten Fall auszuüben, so empfand Makarenko eine natürliche Beunruhigung und Scheu. Zum Schluß stellte er die Frage zur Diskussion und entzog sich der Entscheidung durch den Hinweis, daß die Erziehungswissenschaft bald so vervollkommnet werde, daß die Pädagogen entscheidende Eingriffe in den Charakter eines Zöglings fast ohne Risiko würden vornehmen können.

VII. Sozialistischer Humanismus

Mit den um die zwanziger Jahre in Rußland geltenden pädagogischen Vorstellungen stand Makarenko auf Kriegsfuß. Im Zuge der großen Veränderungen, die sich dann um die Mitte der dreißiger Jahre vollzogen und ihren Niederschlag auch im Erziehungswesen fanden, und zwar auf dem Gebiet der Gesetzgebung wie auf wissenschaftlichem und praktischem Gebiet, begann man dann allmählich Makarenkos Theorie zu akzeptieren und besonders in den fünfziger Jahren als vorbildlich hinzustellen.

Der allgemeine Umschwung, der diese Veränderungen bewirkte, ist als „sozialistischer Humanismus“ bezeichnet worden, wobei man allerdings davon ausgehen muß, daß dieser Begriff sich nicht auf das Erziehungswesen beschränkte, sondern sich auf eine Vielzahl sozialer Bereiche und Programme erstreckt. So gesehen, bedeutet es eine Neubewertung der Vergangenheit, insbesondere der russischen Vergangenheit, und eine Neubewertung der Familie. Diese neue Entwicklung erstredet sich auch auf den „sozialistischen Wettbewerb, d. h. auf die Steigerung der Produktivität bei den Industriearbeitern (Stakhanovismus), auf eine verstärkte persönliche Anerkennung und die Eröffnung neuer Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg. Die soziale Gleichstellung aller Menschen wird als kleinbürgerliche Ketzerei gebrandmarkt. „Sozialistischer Humanismus" bedeutet nicht die Rückkehr zu den individualistischen Bestrebungen, die während und kurz nach der Revolution von 1917 hervorbrachen. Der Begriff besagt vielmehr, daß der Fortschritt der sozialistischen Gesellschaft von den moralischen Qualitäten der Menschen abhängt, — von ihrem Willen, Eifer und Opfermut — die di«, rapide Industrialisierung möglich gemacht lätten. Der „Sozialistische Humanismus" wurde mit einem Schlagwort in Verbindung gebracht, das Stalin in einer 1935 gehaltenen Rede prägte: „Die Kader sind alles!“ Der Mensch und nicht mehr die Maschine wurde auf einmal zum Hauptwert der sozialistischen Gesellschaft. „Die Menschen werden vielfach wie die Bauern auf dem Schachbrett herumgeschoben“, beklagte sich Stalin nicht ohne Irenie. „Wir müssen lernen, Menschen und Kader — jeden Arbeiter, der fähig ist, unserer gemeinsamen Sache zu dienen — höher zu bewerten."

Die Auswirkungen des sozialistischen Humanismus auf die sowjetische Erziehungstheorie und -praxis zeigten sich vielleicht am dramatischsten in der Niederlage der Pädologen, die durch eine Verordnung des Zentralkomitees über „pädologische Verirrungen" besiegelt wurde (4. Juli 1963). Die Pädologie war die Wissenschaft der Erforschung des Kindes, die sich der Psychologie, Physiologie, Soziologie und der Medizin bediente und einen ausgeprägt empirischen Akzent hatte. Ihre philosophische Orientierung war die des mechanistischen Materialismus und Determinismus. Man vertraute auf die den Ereignissen innewohnende Gesetzmäßigkeit, woraus sich die Richtlinien für das menschliche Handeln auf allen Gebieten ergeben sollten. Diese Orientierung unterschied sich in ihrem Wesen erheblich vom dialektischen Materialismus, der, wie von Lenin — und noch stärker von Stalin — dargelegt, dem Menschen die Verantwortung für das organisierte Handeln zuschrieb, das wiederum den Lauf der Ereignisse bestimmte. Der dialektische Materialismus war also eher voluntaristisch als deterministisch orientiert. Er stützte sich auf die Autorität von Marx, der in einem seiner frühen Werke „Thesen über Feuerbach" schrieb, daß die Zustände durch den Menschen verändert werden und daß „der Erziehet zunächst einmal selbst erzogen werden muß“. Die Pädologen hingegen betrachteten den Menschen nicht als einen zielbewußten Revolutionär, sondern als einen Anpassungsorganismus, der automatisch das Gleichgewicht zwischen sich und seiner Umgebung herstellt. Ihre Konzeption des menschlichen Verhaltens basierte auf den beiden Faktoren Vererbung und Umweltsbedingungen. Als Anhänger Pavlovs und anderer russischer Psychologen, deren Hauptinteresse der Philosophie galt, hielten sie das Bewußtsein für das unzuverlässigste Objekt wissenschaftlicher Forschung. Infolgedessen vernachlässigten sie das Bewußtsein und die intentionalen Erziehungsmethoden und im besonderen die Charakterbildung Es war daher nicht weiter schwierig, die Pädologie wegen ihrer Vernachlässigung der Schule als Bildungsfaktor für die heranwachsenden sowjetischen Staatsbürger und wegen ihrer „fatalistischen“ Einstellung zu verdammen.

Bereits einige Jahre vor der Veröffentlichung dieser Verordnung war in einer Reihe von Direktiven für die Erziehungspolitik die Vorstellung bekämptf worden, der Sieg des Sozialismus sei durch die immanente Enztwicklung des Menschen, der Geschichte und der Gesellschaft und Wirtschaft bedingt. Diese Verordnungen bereiteten den hier und da noch vorhandenen lässigen Gewohnheiten ein jähes Ende. Von 1931 an bemühte man sich darum, die Klassen-disziplin wiederherzustellen und die Autoritätdes Lehrers zu stärken. Die „Komplex-Methoden (so bezeichnet, weil sie die Wissensgebiete in die drei Komplexe Natur, Arbeit und Gesellschaft einteilten) wie auch die Projekt-Methode wurden durch den traditionellen Lehrplan ersetzt, der das Auswendiglernen und die Vermittlung systematischen Wissens stark in den Vordergrund rückte. Prüfungen vor der Versetzung in die nächste Klasse und beim Übergang zur höheren Schule wurden wieder eingeführt. Es gab wieder lange Hausaufgaben, und die Noten spielten im Schulleben eine große Rolle, denn sie waren angesichts des scharfen Wettbewerbs für die begrenzte Anzahl von Studienplätzen an den Universitäten und Instituten entscheidend. Durch all diese Maßnahmen wurde sowohl der Schule wie auch den Lehrern und Schülern wesentlich mehr Verantwortung auferlegt. Pädagogen wie Shulgin und seine Kollegen, die noch 1930 behaupteten, die Schule sei ein Instrument der bürgerlichen Klassenherrschaft und müsse durch produktive Arbeit in der Fabrik und auf dem Lande abgelöst werden, gerieten bald in Verruf. Im Gegensatz zu der utopischen Erwartung, daß Staat und Schule eines Tages absterben würden, wuchs die Macht beider Institutionen zusehends. Wenn die forcierte Industrialisierung und die Kollektivierung der Landwirtschaft auf weite Sicht Erfolg haben sollten, so mußten Schulen und Hochschulen den rapide wachsenden Bedarf an ausgebildeten Fachkräften und kompetenten Spezialisten befriedigen und gleichzeitig die heranwachsenden Sowjetbürger für ein Leben im Dienste des Staates und der Partei vorbereiten.

Institutionen und Wertvorstellungen, die der Bolschewismus in dem Bemühen sich von der bürgerlichen Gesellschaft zu unterscheiden in Mißkredit zu bringen versucht hatte, kamen jetzt im Zuge des sozialistischen Humanismus wieder zu Ehren. Hierzu gehört der wiedererstehende Patriotismus, wobei gewisse Zaren wie z. B. Iwan und Peter der Große wieder zu Ehren kamen, wie auch die Neuauflagen russischer und ausländischer Klassiker. Die Familie, die radikalen Kommunisten einmal ein Dorn im Auge gewesen war, wurde nunmehr als ein unerläßlicher Baustein beim Aufbau des Sozialismus bezeichnet. Die Erwachsenen wurden an ihre ehelichen Pflichten erinnert, die jungen Menschen zur Keuschheit ermahnt, und von einer »Enteignung und Verstaatlichung" der Kinder war nicht mehr die Rede. Soziale Gleichmacherei wurde von Stalin öffentlich als Phantasterei »linksorientierter Dickköpfe''verdammt. Innerhalb der Industriearbeiterschaft entstand eine neue Elite von „Stakhonoviten", die durch hohe Akkordlöhne und ein Prämiensystem gefördert wurde — eine Tatsache, die als Beweis für die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg hingestellt wurde Die Unterscheidung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, die man im Rahmen der polytechnischen Erziehung hatte beseitigen wollen, wurde nun akzeptiert. Die Intelligenz wurde als besondere soziale „Schicht“, wenn auch nicht als Klasse, anerkannt, denn nach Stalins Meinung wurde sie aus Arbeitern und Bauern rekrutiert.

Für Makarenko waren die allgemeinen Wertmaßstäbe, di-der sozialistische Humanismus wieder aufzurichten versuchte, von jeher verbindlich gewesen. Seine Kritik an den Pädologen, westlich orientierten Schulreformen und Utopisten ging der offiziellen Ablehnung voraus. Sein Grundprinzip, große moralische Anforderungen an den jungen Menschen zu stellen, seine Überzeugung, daß nur bewußte Pflichterfüllung und nicht blinder Gehorsam erforderlich seien, die Betonung der Willens-und Charakterbildung, die dem Lehrer eine große Verantwortung auferlegt — all dies harmonierte voll und ganz mit der neuen Erziehungskonzeption.

Es vergingen jedoch mehrere Jahre, bevor diese neue Konzeption sich durchzusetzen begann und unter den Pädagogen zum allgemeinverbindlichen Gedankengut wurde. Das erste psychologische Lehrbuch von Rubinstein, in dem die Bedeutung der Pflichterfüllung, der Willenskraft der Ideale und der Selbstdisziplin aufgezeigt wurde, kam erst im Jahre 1940 heraus Und selbst dann erschienen diese Vorstellungen vielen Pädagogen noch wie ein Echo aus der bürgerlichen Vergangenheit; sie waren nach ihrer Ansicht mit der sozialistischen Erziehung unvereinbar. Makarenko hingegen fand seine Erkenntnisse und Schlußfolgerungen durch die neue Erziehungspolitik bestätigt; wahrscheinlich hat diese günstige Wendung seine literarische Tätigkeit in den letzten vier Lebensjahren sehr befruchtet.

Ungeduldig über die seiner Meinung nach übertrieben theoretische Ausrichtung der bolschewistischen Erziehung in den vergangenen Jahren, befaßte sich Makarenko nunmehr mit einer Reihe von praktischen Problemen, die vernachlässigt worden waren. Während der letzten Jahre seiner Tätigkeit in der Dzershinsky-Kommune hatte er einige Jungen in seine Obhut genommen, die zwar nicht heimatlos waren oder eine kriminelle Vergangenheit hatten, aber dennoch als schwer erziehbar bezeichnet werden konnten, so daß ihre Eltern mit ihnen nicht fertig wurden. Diese Fälle zeigten ihm, wie weit-verbreitet die pädagogische Unfähigkeit, Unwissenheit und der Mangel an Verantwortungsgefühl bei den Eltern waren. Wie überhaupt moralische Schwäche und das Fehlen gültiger Wertmaßstäbe bei den Erwachsenen häufig die Ursache der Jugendkriminalität zu sein schien. Aber erst in den letzten Jahren seines Lebens hatte Makarenko die Muße, seine Gedanken zu diesen Problemen in seinen Werken „Ein Buch für Eltern“ und „Vorträge über Kindererziehung“ nl. lerzuschreiben.

Diese Schriften sind allgemein humaner in der Auffassung über Charakterbildung und die Integrierung des Individuums in die Gesellschaft als seine früheren Werke, und sie enthalten viel Vernünftiges, obwohl darunter kaum neue Einsichten anzutreffen sind. Makarenko erkennt die Bedeutung enger menschlicher Beziehungen für das gesunde seelische Wachstum des Kindes an. Er erinnert die Eltern daran, daß ihr eigenes Verhalten den Kindern Respekt einflößen müsse, wenn sie über echte moralische Autorität verfügen wollten. Die Strenge, die für viele von Makarenkos Schriften so kennzeichnend ist, ist hier gemildert, wenn er z. B. schreibt, daß Eltern nicht nur Staatsbürger, sondern auch Privatpersonen sind, und daß sie ihre Kinder zu guten Staatsbürgern, aber gleichzeitig auch zu guten Mensden erziehen sollten Eltern sollten sich mit ihren Kindern beschäftigen, ihre Interessen, Neigungen und Abneigungen kennen. Sie sollten wissen, was ihre Kinder lesen und wie sie sich in der Schule betragen. Die Familie wird als die tragende Institution bezeichnet, als die Grundlage für menschliche Erfüllung und Befriedigung. Und Makarenko scheint sich mit westlichen Psychologen einig zu sein, wenn er die Warnung ausspricht, daß Menschen, die ohne elterliche Liebe aufwachsen, oft charakterlich deformiert sind Sein Einblick in psychische Bedürfnisse wird auch aus seiner Mahnung deutlich, daß die Achtung vor der Arbeit im sozialistischen Staat nicht nur auf dem Nützlichkeitsprinzip basiert, sondern ebenso auf der Achtung vor dem Menschen: Menschen, die etwas schaffen können, sind glückliche Menschen.

Aber selbst in diesen Schriften trennt Makarenko niemals die Selbstverwirklichung des Menschen von den Erfordernissen der sozialistischen Ethik. Er lehnt Familien mit Einzelkindern als ungesund ab, weil sie nach seiner Ansicht kein Kollektiv mehr darstellen, das dem Kinde die zwischenmenschlichen Beziehungen in ihrer Mannigfaltigkeit nahebringt. Die Eltern in solchen Familien, so sagt er, neigen vielfach zur Überängstlichkeit. Makarenko kritisiert die übertriebene Zärtlichkeit und sentimentale Liebe der russischen Eltern. Bei einem solchen Verhältnis, so meint er warnend, gewöhnen es sich die Kinder leicht an, ihre Eltern durch Zärtlichkeitsbeweise auszunutzen und zu täuschen; sie werden dabei zu berechnenden Egoisten. Eltern, die ihre Autorität in dieser Weise vernachlässigen, machen nicht nur ihre Kinder unglücklich, sie belasten auch den Staat mit selbstsüchtigen Parasiten. Sie müssen einsehen lernen, daß sie ihre Autorität von der Gesellschaft herleiten, der sie letztlich verantwortlich sind. Eine Familie darf kein Inseldasein führen — losgelöst von der Gesellschaft. Um eine solche Verkapselung zu vermeiden, sollten die Eltern ihre Teilnahme am öffentlichen Leben, ihrem Beruf wie auch politische Ereignisse in das Familienleben miteinbeziehen. Die Aufgeschlossenheit für öffentliche Belange ist für eine sozialistische Erziehungstheorie selbstverständliche Voraussetzung; überraschend ist jedoch, welch breiten Raum Makarenko personalen Bedürfnissen wie Liebe, Vertrauen und Fürsorge gibt. Einem sowjetischen Schriftsteller, der „Ein Buch für Eltern“ in einer maßgebenden pädagogischen Zeitschrift besprach, erschien die Beschäftigung Makarenkos mit der Intimsphäre suspekt, und er beschuldigte ihn daher des „pädagogischen Nihilismus“, das bedeutet, daß Makarenko die Erziehung in Familie und Schule als getrennte Bereiche ansah Dies entsprach keineswegs den Absichten Makarenkos. In einigen seiner Schriften verwahrte er sich ausdrücklich dagegen. Nichtsdestoweniger vertrat er die Auffassung, daß Kinder, die, von elterlicher Liebe umsorgt aufwachsen, Zeit ihres Lebens ein positives Eltern-Leitbild behalten, was wiederum der Entwicklung von starken Persönlichkeiten förderlich ist. Das Hauptziel der Charakterbildung blieb jedoch nach Makarenkos Ansicht, dem jungen Menschen seine Abhängigkeit von der öffentlichen Meinung immer aufs Neue bewußt zu machen. Anders ausgedrückt, das soziale Gewissen soll ständig in ihm und über ihn wachen. Es entsteht die Frage, ob solche ständige Zensur nicht zu unheilvollen inneren Konflikten führt, indem sie die Entwicklung und der Verwirklichung der Person hemmt und mit Angst und Schuldgefühlen belastet.

Auf eine derartige Kritik würde Makarenko wahrscheinlich erwidert haben, daß der westliche Beolrchter sowenig imstande sei, die Psychologie und Ethik sozialistischer Erziehung zu verstehen, wie er über seinen eigenen Schatten zu springen vermöge.

Wo er nämlich Konflikte zu erkennen glaubt, vollzieht sich in Wirklichkeit eine gleichmäßige und ungebrochene Entwicklung. Die Selbstverwirklichung und der Prozeß der Integrierung des Ichs in seine Umwelt sind untrennbar miteinander verbunden. Die Identität dieser beiden Faktoren führt Makarenko in einer Theorie, die er „Das System der Perspektiven“ genannt hat, weiter aus. Dort definiert er die Erziehung als die Kunst, die persönlichen Ziele und Wünsche zu sublimieren. Das Individuum durchläuft verschiedene Stadien sich ständig erweiternder Perspektiven, von der Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse bis zur Erfüllung der höchsten und schwersten Pflichten im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung. Kinder haben nur greifbare Ziele und Wünsche, ihre Betätigung beschränkt s.'h auf Dinge, die ihnen Vergnügen bereiten. „Es wäre jedoch vollkommen falsch, wenn man selbst auf ein greifbares Ziel gerichteten Wünsche, die auf dem Vergnügungsprinzip basieren, einfach als gegeben hinnehmen würde, wenngleich das Vergnügen durchaus nützliche Elemente enthalten mag. Wir würden so die Kinder zu unerträglichen Epikureern erziehen." Dieser Absatz wurde auf Makarenkos Veranlassung ursprünglich kursiv gedruckt. Immer wieder betont er in seinem Essay, wie wichtig es sei, junge Menschen daran zu gewöhnen, daß sie sich der Befriedigung „primitiver" persönlicher Wünsche und Triebe enthalten und lernen, in der Erwartung kollektiver und ferner „Freuden“ zu leben. Das Wort „Freude", das in der sowjetischen Ethik eine wichtige Rolle spielt, wird von Makarenko als psychische Belohnung für die Mitwirkung an kollektiven Aufgaben definiert; damit ist die Mitarbeit an öffentlichen Aufgaben gemeint, die nur unter Aufbietung äußerster Anstrengungen zu meistern sind. Wenn junge Menschen, nachdem sie das Stadium der Erfüllung greifbarer Wünsche und Bedürfnisse hinter sich gelassen haben, bereit sind, sich mit dem großen sozialistischen Aufbau zu identifizieren, dann haben sie die geistige Reife, sich mit der Aussicht auf den Erfolg dieses Unternehmens zu begnügen, und es wird als Beweis für die Stärke ihrer Persönlichkeit gewertet werden, daß sie es ertragen, immer nur in der Hoffnung und Erwartung, diese ferne Ziele zu erreichen, zu leben und zu arbeiten. Makarenkos Konzeption der „Perspektiven", an sich nichts Neues, ist aber bemerkenswert insofern, als es die sowjetische Ethik, die ständige Entbehrungen und den Verzicht auf Konsum und Lebensfreude fordert, in praktische Erziehungsmethoden umsetzt. Selbst-entsagung wird somit zu sozialer Dynamik und mit höchsten moralischen Werten erfüllt. Der sozialistische Humanismus Makarenkos ist mit einer solchen Überzeugung vorgetragen, daß man meint, er habe die goldene Mitte in der Pädagogik entdeckt — einen Menschen, der der automatischen Abrichtung ebenso fernsteht wie dem anarchistischen Individualismus. Die Individualität, so sagt er, kann nur im Rahmen einer sinnvollen sozialen Ordnung gedeihen. „In der Sowjetunion kann ein Mensch außerhalb des Kollektivs gar nicht leben, und deshalb gibt es keine isolierten Einzelschicksale, kein Privatleben und kein persönliches Glück, das mit dem Schicksal und Wohlergehen des Kollektivs nicht im Einklang steht." Diese Auffassung einer Harmonie zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft findet man in der westlichen Anthropologie wie auch in der Soziologie vielfach bestätigt. „Kein Individuum", um hier einen bekannten amerikanischen Text zu zitieren, „kann seine potentiellen Kräfte auch nur annähernd entfalten, ohne an der Kultur teilzuhaben, in die es hineingestellt ist." Die Rolle des Individuums in der Gesellschaft wird aber von prominenten Exponenten der Verhaltenswissen-schäften als überwiegend passiv bezeichnet. So schreibt z. B. Ralph Linton: „Je perfekter die Konditionierung und Integrierung in der Gesellschaftsstruktur ist, desto wirksamer der Beitrag des Individuums zum reibungslosen Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Kräfte — und desto sicherer auch sein Erfolg.“

Dies unterscheidet sich kaum von den im letzten Absatz zitierten Ansichten Makarenkos. Nach Lintons Analyse ist Individualität nur eine Art „Überbleibsel“: Sie ist nicht das Ziel, sondern nur das Nebenprodukt einer Gesellschaft, die nicht ganz reibungslos funktioniert. Obgleich sie alles daran setzt, um das Individuum zu einem gut funktionierenden Rädchen im großen Getriebe des Ganzen zu machen, mißlingt ihr dies, weil der Prozeß der sozialen Konditionierung durch unkontrollierbare Ereignisse immer wieder unterbrochen wird.

Es ist nur das Fehlen einer zentralen Kontrollgewalt, die den westlichen Unterschied zwischen dem sozialen Determinismus westlicher Soziologen und dem von Makarenko exemplifizierten ausmacht. Ersterer ist automatisch und zufällig, letzterer ist pragmatisch, im voraus geplant und daher, zumindest im Idealfall, höchst wirkungsvoll. Eine sozialistische Gesellschaft, die ganz bewußt große Veränderungen einführt, wird naturgemäß auch die Veränderung der menschlichen Persönlichkeit mit einplanen, damit die Bürger diese Veränderungen unterstützen und in ihre Lebensweise einbeziehen. Unkontrollierbare Veränderungen in der sozialen Umwelt werden nach Möglichkeit verhindert und können daher die Integrierung des Individuums in die Gesellschaft nicht stören.

Beide jedoch, der geplante wie auch der automatische Determinismus, sehen im Individuum lediglich Akteure, die ihnen von der Gesellschaft zugewiesene Rollen spielen. Diese Auffassung kann der Minderheit der Pädagogen, die noch immer versuchen, die humanistische Tradition westlicher Erziehungsideale zu bewahren, kaum zum Trost gereichen. Wenn der Mensch sich seine eigene Welt bauen und ein gewisses Maß an Autonomie erreichen soll, so muß er imstande sein, sich der sozialen Anpassung z. T zu widersetzen oder zu entziehen

Die Unsicherheit, die angesichts dieses Problems besonders viele Pädagogen Amerikas befällt, bildet einen Aspekt der sogenannten geistigen Krise des Westens, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Klar jedoch ist, daß der soziale Determinismus und Funktionalismus, wie er von manchen westlichen Sozialwissenschaftlern vertreten wird, keinen Standpunkt bereitstellt, von dem aus eine westliche Kritik von Makarenkos Sozialpädagogik möglich wäre.

VIII. Makarenkos Theorie und die sowjetische Wirklichkeit

Der Mangel an Konsequenz und Übereinstimmung zwischen der von Makarenko geforderten Moralität und dem tatsächlichen Verhalten der Sowjetmenschen liefert die Grundlage zu einer objektiven Kritik, die sich nicht auf westliche Wertauffassungen stützt. Beweise für solche Diskrepanzen im sowjetischen Leben sind auf Grund sowjetischer Quellen wie auch sorgfältiger westlicher Analysen über die sowjetische Gesellschaft vorhanden. Einige relevante Beispiele aus dem Bereich der Literatur, Psychologie, Soziologie und Volkserziehung bieten Hinweise dafür, daß Makarenko die Ziele zu hoch gesteckt hat. Die Identifizierung des Individuums mit sozialen Zielsetzungen bleibt eine Idealvorstellung. Der organisierte Terror, der lange Jahre als eine Art von Damoklesschwert eine ständige Bedrohung darstellte, und das Prinzip des gegenseitigen Mißtrauens in den menschlichen Beziehungen entwerten die innere Disziplin, in der Makarenko den Schlüssel zur Charakterbildung sah. Seine Überzeugung, daß es außerhalb des Kollektivs kein persönliches Glück geben könne, entspricht nicht den Gefühlen der heutigen Sowjetmenschen, sofern die Literatur und Persönlichkeitsstudien als Beweise gelten können. Der Optimismus, den er zu verbreiten suchte, hat die Zweifel und Depressionen, von denen viele Sowjetmenschen offensichtlich immer noch heimgesucht werden, nicht beseitigen können, wenngleich man sie zu unterdrücken versucht.

Nach Stalins Tod, als die Fesseln gelockert wurden, war in einer Reihe von russischen Romanen und Theaterstücken von dem aufgezwungenen Optimismus nichts mehr zu spüren; im Gegenteil: Gefühle der Enttäuschung und der Unzufriedenheit brachen sich Bahn. Ein Beispiel für diese Art von Literatur ist der bekannte Roman „Nicht vom Brot allein“ in dem ein Erfinder gegen das Cliquentum von Verwaltungsfunktionären und Akademikern ankämpft. Ein anderer Roman beschreibt, wie ein Mann seine persönliche Erfüllung in der Hingabe an die Kunst und in der Liebe zu seiner Frau findet, obwohl er Zeit seines Lebens seine Arbeiten nicht ausstellen darf und daher zurückgezogen und in großer Armut lebte. Erfolgreiche Kollegen, die ihre Integrität geopfert haben und Realismus malen und schreiben, beneiden ihn, weil er seinen Gefühlen und Wertmaßstäben, die vom Kollektiv nicht geteilt werden, treu geblieben ist. Eine andere Gestalt des Romans zieht die Schlußfolgerung: „Wir haben uns mit der einen Hälfte des Menschen viel Mühe gegeben, aber die andere haben wir vernachläßigt. So kommt es, daß eine Hälfte des Hauses in Verfall geraten ist. Ich entsinne mich an einen Artikel von Gorki, den ich vor langer Zeit, als ich noch Schüler war, gelesen habe. Er sagte, wir brauchten unseren eigenen sowjetischen Humanismus. Das Wort ist in Vergessenheit geraten; die Aufgabe liegt noch vor uns."

Ein Beispiel für die trotzige Ablehnung der Beteiligung an einer kollektiven wissenschaftlichen Arbeit finden wir in einer maßgebenden philosophischen Fachzeitschrift. Im Jahre 1947 wurde ein Lehrbuch über die Geschichte der Philosophie von G. F. Alexandrov zurückgezogen, nachdem Zhdanov daran Kritik geübt hatte. Zhdanov lenkte und überwachte zu dieser Zeit das gesamte intellektuelle Leben der Sowjetunion. Das Zentralkomitee der Partei ernannte einen Ausschuß, dessen Aufgabe darin bestehen sollte, ein neues Lehrbuch auszuarbeiten. Dieser kam mit seiner Arbeit jedoch nicht recht voran. Man beschränkte sich darauf, eine Disposition für die vorgeschlagene Überarbeitung zu entwerfen. Einige Monate gingen darüber ins Land, weil die Gliederung und Interpretation die Wissenschaftler vor schwierige Probleme stellte. In seinem Bericht über die bisherige Arbeit des Ausschusses klagte der Vorsitzende über die Haltung einiger Ausschußmitglieder. „Die Arbeit wurde auch dadurch erschwert“, so schrieb er, „daß eine Reihe von Kollegen, die sich an der Ausarbeitung des Buches beteiligen sollten, Diskussionen aus dem Wege gingen, ohne daß sie dafür gültige Gründe und Erklärungen hätten abgeben können.“

Sehr viel häufiger mag man jedoch unter den Intellektuellen eine Mischung von äußerer Kooperation und innerer Reserve antreffen. Sofern die Beobachtungen von Czeslaw Milosz einem polnischen Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, der die „Gleichschaltung" des polnischen intellektuellen Lebens auf Moskauer Kurs vor Oktober 1956 miterlebte, auch auf die Sowjets Anwendung finden können, fügen sich Schriftsteller und Maler zwar der Parteilinie, können sich jedoch in ihrem Bewußtsein nicht von den viel älteren ethischen und ästhetischen Wertmaßstäben trennen. Milosz fürchtet jedoch, daß künftige Generationen unter diesem inneren Konflikt nicht mehr zu leiden haben werden. Er glaubt vielmehr, daß nach etwa 50 Jahren die neue Ethik im Erziehungswesen ihre Früchte tragen und daß ein neuer Mensch „aus der Retorte" entwickelt werden wird. Seine pessimistische Prognose geht dahin, daß der Konditionierungsprozeß längere Zeit in Anspruch nehmen wird als Makarenko glaubte. Auf jeden Fall finden sich hier die Hoffnungen Makarenkos durch die Befürchtungen von Milosz bestätigt.

Gemessen an dem Verhalten der sowjetischen Bevölkerung scheint jedoch der Erfolg des kulturellen Anpassungsprozesses zumindest fraglich. Die bei den Sowjetmenschen immer wieder auftauchenden Angstkomplexe geben zu der Vermutung Anlaß, daß sich hier ein Menschen-typ entwickelt hat, der sehr anders aussieht, als Makarenkos Erziehungstheorien dies vorausgesagt hatten. In einer analytischen Studie — wohl die beste ihrer Art — stellte Henry Dicks fest, daß die sowjetische Ethik — wenngleich ein wesentlicher Faktor im Verhalten der sowjetischen Bevölkerung — immer von neuem durch das Fortbestehen älterer Wertmaßstäbe und Wesenszüge auf bedingte Widerstände stößt. Infolgedessen gibt es zwischen Individuum und Kollektiv weiterhin Konflikte und Spannungen. Die neue sowjetische Führerschaft, die Leistungsfähigkeit, Selbstaufopferung und Arbeitsleistung auf ihr Banner geschrieben hat und Gefühlszartheit, Zweifel und Depressionen als verwerflich betrachtet, ist natürlich eine Macht, mit der die Menschen rechnen müssen. Sie unterwerfen sich ihr äußerlich, leisten ihr aber innerlich Widerstand. Dieser Widerstand wiederum erzeugt Schuldkomplexe, Depressionen und Apathie. Man versucht diese unerwünschten Reaktionen durch ideologischen Druck und, wie Dicks das ausdrückt, eine „Allmachts-Propaganda" sowie durch einen scharfen Rationalismus in der Erziehung zu unterdrücken. Auf diese Weise wird die menschliche Leistungsfähigkeit bis aufs äußerste angespannt und die Willenskraft zur Unterdrückung des impulsiven Lebens überfordert.

Makarenkos Betonung der Strenge in den menschlichen Beziehungen, seine Forderung, daß man hart sein müsse mit den jungen Menschen, entsprach genau den Forderungen, die die bolschewistische Führerschaft zur Realisierung ihrer Ziele aufstellte. Wir haben keinen Grund, die Aufrichtigkeit seines sozialistischen Humanismus zu bezweifeln. Betrachten wir aber die psychischen Realitäten, so scheint es zweifelhaft, ob man damit selbstbewußte und freie Menschen heranbilden kann. Psychologische Studien, deren volle Gültigkeit heute jedoch durch veränderte sowjetische Lebensbedingungen in Frage gestellt ist, lassen vermuten, daß die Sowjetmenschen unter Schuld-und Schamkomplexe zu leiden haben. Sie fühlen sich schuldig, weil sie Angst haben entdeckt und für begangene oder mögliche Vergehen bestraft zu werden (die Vernehmungen der Geheimen Staatspolizei gehen von der Voraussetzung aus, daß die vernommene Person schuldig ist). Sie empfinden Scham, weil sie in ständiger Angst leben verachtet und angeprangert zu werden, da sie die an sie gestellten Erwartungen nicht erfüllt haben Dazu kommt noch die Furcht. Einschüchterung ist noch immer ein gängiges Mittel, um die Menschen gefügig zu machen. Auch Makarenko benutzte die Schuld-, Scham-und Furchtgefühle seiner Schützlinge, um moralisch labile Jugendliche an das Kollektiv zu binden. Eine solche Motivation ist jedoch psychologisch viel komplizierter und gefährlicher, als seine rationalistisch-pragmatische Pädagogik es wahrhaben möchte. Er wollte vornehmlich demonstrieren, wie Kollektiv-Disziplin geschaffen und aufrechterhalten werden kann. In dieser Hinsicht deckte sich seine Theorie vollkommen mit dem ideologischen Drude, den die Patreiführung auf ihre Funktionäre und Regierungsbeamten ausübt. Mit einem rücksichtslosen Pragmatismus setzt man sich über die psychischen Dimensionen des Lebens hinweg. Man behauptet, daß die Leistung allein von der Willenskraft abhängt und bewertet die menschliche Produktivität in „objektiven“ Begriffen, die die psychischen Belastungen des Individuums außer acht lassen.

Die hier gegebene Analyse des Charakters und Gefühlslebens des Sowjetmenschen — sie ist zugegebenermaßen etwas spekulativ — wird durch soziologische Studien untermauert. Hier kommt man zu der Feststellung, daß die Quelle der Unsicherheit und des Mißtrauens in den Methoden zu suchen ist, mit denen die Macht ausgeübt wird. Die angebliche Einkreisung durch die Kapitalisten schuf einen permanenten nationalen Notstand, den man als Rechtfertigung nimmt, um ein Maximum an Arbeitsleistung, ideologischer Wachsamkeit und Loyalität aus dem Sowjetmenschen in verantwortlichen Positionen herauszupressen. Um die Leistungen der Partei-und Regierungsfunktionäre kontrollieren zu können, bedient man sich eines Systems der doppelten Autorität und Direktiven. Dieses System wird in einer Weise manipuliert, daß das einzelne Individuum ständig einem Kreuz-feuer von Instruktionen ausgesetzt ist, die schwer und manchmal überhaupt nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Dies Kontrollsystem ist in verschiedenen Studien über die sowjetische Gesellschaft behandelt worden Die gründlichste Analyse dieses Systems in bezug auf die Verhältnisse in den ostzonalen Betrieben, wo das soziale Leben und die Erziehung seit etwa 1950 vollständig sowjetisiert worden sind, stammt von Reinhard Bendix

In den bisherigen Ausführungen sind Makarenkos Erziehungstheorie und die Praxis des sowjetischen Lebens hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Untereinbarkeit seines hohen Idealismus mit den tatsächlichen Gefühlen und Verhaltensweisen der Sowjetmenschen untersucht worden.

Zum Teil ist jedoch die Widersprüchlichkeit entgegengesetzter Forderungen schon in seinen pädagogischen Imperativen selbst enthalten. In dieser Hinsicht möchte man ironischerweise glauben, daß seine Theorie sehr wohl geeignet war, junge Menschen auf die konfliktreiche Dynamik des sowjetischen Lebens vorzubereiten. Sie sollten z. B. absolute Loyalität mit schöpferischer Initiative und Gehorsam mit Verantwortungsfreude vereinbaren lernen. Besonders seine späten theoretischen Schriften hinterlassen aber den Eindruck, daß diese Imperative nur nebeneinander hingestellt werden, ohne daß er sich mit der Möglichkeit ihrer praktischen Vereinbarung und Ausführung ernsthaft beschäftigte. Er ließ keinen Zweifel darüber, daß am Ende die Entfaltung der Persönlichkeit weniger wichtig war, als dem Kollektiv zuverlässige Verfechter seiner Ziele bereitzustellen. „Unsere Schulen sollen junge Menschen entlassen, die zu energischen und fest geschulten Gliedern unseres sozialistischen Staates werden, die sich in jeder Lebenslage ohne zu schwanken richtig verhalten und das Gleiche auch von anderen verlangen." Dennoch wollte er, daß der einzelne aus innerer Disziplin und mit Verstand handle und immer „bereit sei, seine Pflicht zu tun, ohne auf Instruktionen und Befehle zu warten. Man verlangt von ihm Initiative und schöpferischen Willen." Wer mit der sowjetischen Wirklichkeit einigermaßen vertraut ist, weiß, daß auch heute noch ständig Klage geführt wird über Unselbständigkeit und Vermeidung persönlicher Initiative. Die offizielle Lehrerzeitung sandte vor kurzem einen Berichterstatter in eine Moskauer Schule, um zu er’hren, was man denn täte, um den Schülern die Bedeutung des XXII. Parteikongresses klarzumachen. Dem Direktor schien das eine müßige Frage. Das Ministerium habe darüber ein Rundschreiben erlassen, antwortete er. „Es geht hier alles per Instruktionen."

IX. Die gescheiterte Erneuerung des Sowjetmenschen

Trotz seiner wiederholten Behauptungen, daß sich das Erziehungssystem in der Sowjetunion grundlegend geändert und erneuert habe, kann man bei Makarenko am Ende seiner Schaffensperiode einen gewissen Zug der Unsicherheit feststellen. Nach zwei Jahrzehnten aufopferungsvoller pädagogischer Arbeit mußte er zugeben, daß die Erneuerung der menschlichen Natur noch immer ein Fernziel war. Obgleich er bei seiner Behauptung blieb, daß es bald keine Unverbesserlichen mehr geben werde, konnte sein Optimismus doch die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß die kommunistische Erziehung nach wie vor mit großen Hindernissen zu kämpfen hat.

Der größte Widerstand kam seinen Berichten zufolge von den überlieferten Idealen, Wertvorstellungen und Gewohnheiten, die ihre Wurzeln im Christentum und einer individualistisch-ethischen Tradition hatten. Diese Werte auszumerzen war schwer, weil sie so subtil waren und sich selten in greifbaren Formen manifestierten. Makarenko machte sich vor allem über das Gefühlsleben der Sowjetmenschen Gedanken. „Sentimentalität, zarte Gefühle, das Bedürfnis, bei guten Taten Freude zu empfinden oder Tränen der Rührung zu vergießen, ohne daß wir uns klarmachen, wohin solche Sentimentalität führen kann, — all dies ist im Grunde Zynismus. Es handelt sich hier um Überreste einer vergangenen Epoche. Wir sagen: dieser Mensch ist freundlich, jener vergibt alles; dieser ist zu gesellig, jener zu sensibel. Der wahre Sowjetmensch weiß, daß alle diese Äußerungen einer weichherzigen Ethik des . Guten’ entstammen und unserer revolutionären Arbeit abträglich sind... Wir dürfen nicht von Idealen sprechen, von , dem Guten’, von dem vollkommenen Men-* schen oder von der großartigen Tat. Wir müssen vielmehr in prosaischen Begriffen denken, die den praktischen Bedürfnissen des Heute und Morgen entsprechen . . . Unsere Ethik muß prosaisch, ja fast geschäftsmäßig sein und dem Verhalten im Alltag entsprechen.“

Makarenko verurteilte Ehebruch und Trunksucht ebenso wie impulsives Verhalten und „poetische Unordnung". Er machte sich Sorgen über das viele Fluchen, „ein Zeichen von Niedrigkeit und Gemeinheit, allein der Barbaren würdig“ Alle diese Dinge standen dem Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung im Wege, wo Nüchternheit, Pünktlichkeit, Genauigkeit am Platze waren und eine „eiserne Konsequenz eine Schönheit eigener Art entfalten sollte.

Die Beseitigung dieser tiefverwurzelten und subtilen „Überbleibsel“ der Vergangenheit in der menschlichen Motivation wurde noch dadurch erschwert, daß die Schuldigen „im allgemeinen aufrichtige Sowjetmenschen sind, die den Feind, den sie in sich tragen, nicht einmal kennen." Sprache und Verhalten der Menschen gaben keinen zuverlässigen Aufschluß darüber, ob ein Mensch tatsächlich die neuen Werte akzeptiert habe. Die großen Säuberungsaktionen hätten gezeigt, so meinte Makarenko, daß viele ein großes Geschick in der Kunst der Verschleierung und Tarnung besäßen. Man sieht also, daß auch Makarenko von dem grenzenlosen Mißtrauen angesteckt war, dem mit rationalen Mitteln nicht beizukommen ist.

Es ist schwer einzusehen, warum Makarenko die „Sündhaftigkeit“ des sowjetischen Volkes in so düsteren Farben malte. Vielleicht wollte er damit die sowjetischen Pädagogen zu neuen und noch größeren Anstrengungen anspornen. Aber welche Methoden sollte man bei der Liquidierung der Überreste einer unmoralischen Vergangenheit anwenden? Sollte man sie ignorieren und warten, bis sie von selbst ausstürben? Sollten sie unterdrückt werden? Sollten die Betreffenden überzeugt werden, ihre Denkweise zu ändern? Er wußte es selber nicht.

Es ist fast Mitleid erregend mit anzusehen, wie ein Mann, der die Ziele und Methoden der sozialistischen Erziehung anfangs so klar und einleuchtend definiert und propagiert hatte, hilflos vor diesem Problem stand. Er beschränkte sich darauf, noch einmal seine Empfehlungen aus vergangenen Jahren zu wiederholen: Es müsse eine Technologie der Erziehung entwickelt werden, mittels derer der Widerstand des Individuums gegenüber Erziehungsmaßnahmen untersucht und überwunden werden konnte.

Wäre die Vervollkommnung einer solchen Erziehungstechnik möglich, dann müßten sich die Ergebnisse pädagogischer Maßnahmen psychologischen Reflexen ähnlich voraussagen lassen. Das würde dem Verantwortungsbewußtsein, der Selbstdisziplin an der freien Entschlußkraft, die von Makarenko sonst hoch bewertet wurden, alle Bedeutung rauben, und ganz allgemein wäre dann die Pädagogik kein moralisches Problem mehr. Und doch schien er am Ende diesem Ziel zuzustreben. Es war ihm während seiner Beschäftigung mit der Geschichte der Pädagogik aufgefallen, daß alle bisherigen Erziehungsmethoden unvollkommen und fehlerhaft geblieben waren, und zwar deshalb, weil sie es unterlassen hatten, sämtliche anschlägigen und mitwirkenden Bedingungen zu übersehen und zu beherrschen. Er erwähnte in diesem Zusammenhänge die Priesterseminare der russisch-orthodoxen Kirche vor 1917, aus denen selbst Atheisten und Revolutionäre hervorgegangen seien. Was alle anderen Erziehungssysteme verfehlt hatten, das sollte nun, dazu war er fanatisch entschlossen, dem Sozialismus gelingen: Er sollte absolut zuverlässige Erziehungsprodukte hervorbringen.

Die radikale Konsequenz, mit der er die Lösung sozialistischer Erziehungsprobleme anstrebte, fand in der Stalin-Ära nicht ihresgleichen; und obschon seine Schriften offiziell anerkannt und gelobt wurden, so tat die Partei darüber hinaus doch nichts, ihnen praktische Wirksamkeit zu verschaffen. Sie betonte zwar häufig, wie wichtig es sei, einen neuen Menschentyp heranzubilden, unternahm doch keine tiefgreifenden pädagogischen Maßnahmen, die diesem Ziele nähergeführt hätten. Im Gegensatz zu Makarenko, der totale Charakterbildung in enggefügten Kollektiven forderte, begnügte sich die Partei mit ideologischer Schulung. Wenn deren Ergebnisse unbefriedigend ausfielen, worüber dauernde Klagen keinen Zweifel lassen, warf man Lehrern und Schulungsleitern vor, sie hätten es am rechten Eifer fehlen lassen. Es scheint, daß es der Parteiführung seit Stalins Machtergreifung weniger um die Erneuerung des Menschen als um die politische Beherrschung der Massen zu tun war. Man braucht nur die sowjetische Bildungspolitik seit Anfang der dreißiger Jahre zu verfolgen, um der pädagogischen Armut und Konventionalität gewahr zu werden, die seither in den Partei-und Regierungsspitzen herrschte. Erst mit den seit 1956 bestehenden Internatsschulen kamen sozialpädagogische Gesichtspunkte wieder zur Geltung, und es überrascht nicht, daß gerade in diesen Anstalten Makarenkos Gedanken Anklang fanden. Im übrigen galt, was Stalin in seinem letzten Werke empfohlen hatte: „Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, daß wir, die Führungsschicht, jedes Jahr Tausende von jungen Anhängern gewinnen, die von dem Wunsch beseelt sind, uns zu helfen und ihren Wert unter Beweis zu stellen, die aber noch keine wirklich marxistische Erziehung genossen haben . . . Was sollen wir mit diesen Kameraden tun? Wie sollen wir sie zum Marxismus-Leninismus erziehen? Ich glaube, daß systematische Wiederholung und geduldige Darstellung der sogenannten . allgemein bekannten'Wahrheiten die beste Methode ist, diese Kameraden zum Marxismus zu erziehen."

Die Unzulänglichkeit systematischer Wiederholung der „allgemein bekannten Wahrheiten“ ist seit Stalins Tod offenbar geworden. Professoren, die Vorlesungen über den Marxismus-Leninismus halten, haben in letzter Zeit die größten Schwierigkeiten gehabt, politische Ereignisse, wie z. B.den ungarischen Volksaufstand, mit den gewohnten Begriffen und orthodoxen Formulierungen zu erklären. Bei dieser Gelegenheit stellten die sowjetischen Studenten sehr unangenehme Fragen, die die Parteiführung nicht hätte beantworten können, ohne sich dabei auf gefährliches Glatteis zu begeben Ob die von Makarenko vorgeschlagenen langfristigen und radikalen Lösungen des pädagogischen Problems die gewünschten Erfolge gezeitigt hätten, ist nicht zu beantworten, da sie nie angewandt wurden. Der Versuch einer totalen kulturellen Konditionierung ist in der Sowjetunion nie ernsthaft gemacht worden. Russische und ausländische Klassiker werden nach wie vor neu aufgelegt und in den Schulen als Lektüre verwendet. Reichbebilderte Ausgaben russischer Märchen erscheinen laufend. Der russisch-orthodoxen Kirche wird es gestattet, ihre Gottesdienste abzuhalten und ihre Jahrhunderte alten Traditionen weiterzuführen. Russische Studenten hören ausländische Radiosendungen, besonders die des BBC. Westliche Musiker, Theater-gruppen und Kunstausstellungen haben in letzter Zeit russische Städte besucht. Alle diese Faktoren tragen dazu bei, das Bewußtsein kultureller Werte und Leistungen wachzuhalten, die sich mit den offiziellen sozialistischen Wertvorstellungen nicht decken; sie bieten darüber hinaus gewisse Maßstäbe zum Vergleich und zur Kritik.

Obwohl Makarenko die Vergangenheit für die meisten Mängel der sowjetischen Gesellschaft verantwortlich machte, gab er doch gelegentlich Perversität selbst des zeitgenössischen Menschen zu. Während er sich bei seiner früheren Arbeit auf Jugendliche konzentriert hatte, die sich der Leitung des Kollektivs offen widersetzten, beschäftigte er sich später stärker mit der Teilnahmslosigkeit der „inneren Emigration“, die er für weit gefährlicher hielt. Denn es war schwieriger, sie aufzuspüren und damit fertig zu werden, als junge Rebellen zur Ordnung zu rufen. Wie oft war es ihm gelungen, solche rebellierende Kräfte auf konstruktive Ziele hinzu-lenken. Jene aber, die im Hintergrund blieben und sich äußerlich dem kollektiven Leben gut anpaßten, konnten sich dem Erziehungsprozeß entziehen, ohne ihrem Lehrer auch nur den geringsten Widerstand entgegenzusetzen. Jene „Grauen Wesen“, wie er sie nannte, waren wie eine innere Fäulnis, gegen die sich die sowjetische Erziehung und Gesellschaft zur Wehr setzen mußte. Denn in ihrem späteren Leben kehrten diese Menschen oft zu einer kleinbürgerlichen Lebensweise zurück, verschafften sich Pöstchen durch Beziehungen, kümmerten sich nur noch um ihre privaten Angelegenheiten, lösten ihr Mitgliedsverhältnis bei politischen Organisationen, besuchten keine Versammlungen mehr, gaben selbst das Zeitungslesen auf, und einige von ihnen entwickelten sich sogar zu Spekulanten Makarenkos Befürchtungen in dieser Hinsicht waren durchaus begründet. Die von ihm angeprangerten Verhaltensweisen sind keineswegs aus dem sowjetischen Leben verschwunden. Noch heute werden in der sowjetischen Presse ständig krasse Abweichungen von der sozialistischen Moral festgestellt.

Man bekämpft diese moralische und ideologische Schwäche mit der Waffe „sozialistischer Kritik und Selbstkritik“, deren Gebrauch besonders von Zhdanov in der Nachkriegszeit mit erneuter Heftigkeit gefordert wurde. Sozialistische Kritik und Selbstkritik, so heißt die These, dient der Höherentwicklung der sowjetischen Gesellschaft und der Herbeiführung echter kommunistischer Moral Sie findet in allen Lebensbereichen ihre Anwendung und sorgt dafür, daß Menschen sich selbst sowie anderen gegenüber kritisch verhalten und immer größere Anforderungen stellen. In der Wirtschaft z. B. soll eine solche Einstellung die Bildung von „Bekanntschaften und Beziehungen", die aus Engpässen und Unregelmäßigkeiten her-aushelfen, verhindern. Unter Beamten und Funktionären soll sie die Neigung, „im Frieden leben zu wollen“, bekämpfen. Im allgemeinen wurde Kritik und Selbstkritik zum Prüfstein des sozialistischen Bewußtseins, demgemäß jeder Bürger das öffentliche Interesse über die eigenen Wünsche zu stellen hat. Die praktische Befolgung dieser These in Betrieben und in der Verwaltung, die die Form der Selbstbeschuldigung und Beschuldigung des anderen annahm, scheint jedoch in den letzten Jahren nachgelassen zu haben.

Offenbar standen Makarenkos Erziehungsmethoden im Prinzip mit der Auffassung und Handhabung der sozialistischen Kritik in Einklang, wenngleich er sich nicht der offiziellen Redewendungen bediente, sondern seine eigene Sprache sprach. Man erinnere sich z. B. daran, daß Strenge gegen sich selbst und andere die höchste Form der Menschenliebe sei, so in der Verdammung des Lehrers, der aus persönlichem Taktgefühl seinem Schüler die öffentliche Bloßstellung ersparen wollte. Man erinnere sich weiter an sein System des Wettbewerbs zwischen den Arbeitsbrigaden seiner Kolonien, mit Hilfe dessen die Säumigen unter Drude gesetzt wurden. Sämtliche Mitglieder wachten auf diese Weise gegenseitig darüber, daß ihr Verhalten untadelig blieb. Sein „System der Perspektiven“ erschloß dem Individuum wohl unbegrenzte Möglichkeiten im Dienste der Gemeinschaft, versagte ihm aber auf unbestimmte Zeit das Recht auf Lebensgenuß und Vergnügen. Makarenko zog ferner einen klaren Trennungsstrich zwischen einem Kollektiv und einem Klub oder 65 einer „Gesellschaft von Freunden“, die gemeinsame Interessen pflegen und auf eine gewisse Exklusivität Wert legen. Er behauptete, er wisse genau — wobei sein Wissen vielleicht mehr intuitiv als empirisch beweisbar war —. daß ein Jugendkollektiv, das mit einem Kern von weniger als sieben Mitgliedern beginne, zu einer „isolierten Gruppe von Freunden und Busenfreunden" ausarten würde.

Seit der Entstalinisierung, der der XXII. Parteikongreß vom letzten Jahr verschärften Ausdruck verlieh, deutet die innenpolitische und soziale Lage der Sowjetunion darauf hin, daß die Strenge und Härte der vergangenen Jahrzehnte unwiederbringlich dahin ist. Damit erscheint auch die Pädagogik Makarenkos zum großen Teil überholt. Man mag seinen Namen auch weiterhin in Ehren halten; die Rigorosität seiner Lehre entspricht nicht mehr den Bedingungen der Gegenwart. Tatsächlich finden seine Gedanken in der laufenden sowjetischen Schulreform — von den Internaten, Kinderheimen und vor allem den Kolonien für asoziale und sträfliche Elemente abgesehen — kaum Beachtung. Die vordringlichen Aufgaben des heutigen sowjetischen Bildungswesens sind ganz andere geworden, und sie sind mehr von wirtschaftlichen und technischen Erfordernissen als von pädagogischen Prinzipien bestimmt.

Aber das Erziehungswesen der Gegenwart und der nächsten Zukunft muß nicht allein dem ansteigenden Lebensniveau gerecht werden, indem es den Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften deckt. Es wird sich auch dem wachsenden Bildungsbedürfnis und Forschungsinteresse sowie einer geistig unabhängigeren und anspruchsvolleren Jugend nicht verschließen können. Durch die innere Auflockerung, die durch einen intensiveren kulturellen Austausch mit dem Westen nur beschleunigt wird, sind Kräfte in Bewegung gesetzt worden, die den totalen Staat in Unruhe bringen. Dabei ist für den westlichen Beobachter besonders bemerkenswert eine Distanzierung und realistisch-kritische Einstellung zur Partei-Ideologie und Staatsbürokratie. Diese Haltung, die mit „sozialistischer Kritik und Selbstkritik“ nichts mehr gemein hat, steigert sich zu völliger Ablehnung in Werken, die nur im Ausland veröffentlicht werden können, so z. B. in Pasternaks Roman und in den Novellen und kritischen Schriften von Abram Tertz (ein Pseudonym), der den Bankrott der Literatur des sogenannten sozialistischen Realismus erklärt hat. Sie tritt jedoch auch, in viel milderer Form, in dem in Moskau erschienenen Roman von Viktor Nekrasov „Kira Georgievna“ zu Tage.

Die kritische Haltung der Studenten ist bereits erwähnt worden. Unter der sowjetischen Jugend kann man ganz allgemein Symptome der Langeweile und Gleichgültigkeit gegenüber der sozialistischen Moral beobachten. In den Großstädten 66 frönen kleine Gruppen von stilyagi, d. h. Kinder der Oberschicht des neuen Staatsbürgertums, ihren exzentrischen Neigungen: Sie sammeln amerikanische Jazzplatten und imitieren amerikanischen Slang. Noch weiter verbreitet sind Trunkenheit, aufsässiges Verhalten und gelegentliche Gewalttaten, obgleich diese Erscheinungen seit 1953 durch staatliche Maßnahmen bekämpft werden -Das Komsomol scheint dieser Zerrüttung der Moral unter den Jugendlichen machtlos gegenüberzustehen — ja in vielen Fällen sind sogar Mitglieder des Komsomol unter den Missetätern. Der Grund dafür liegt z. T. darin, daß sich die Rolle dieser Jugendorganisation — einst ein Bollwerk revolutionärer Ideen und Taten — aufgrund der steigenden Mitgliederzahlen sehr verändert hat. Die mehr als 20 Millionen junger Russen, die dem Komsomol heute angehören, sind mehr oder weniger aus gesellschaftlichen Rücksichten Mitglieder geworden. In der je länger je mehr hierarchisch gegliederten sowjetischen Gesellschaft sind Wertmaßstäbe wieder eingeführt worden, die stark an die Überlieferungen der Vergangenheit anknüpfen, die Makarenko liquidieren wollte. Ein ausgeklügeltes System der sozialen Schichtung hat sich in der Sowjetunion durchgesetzt; so unterscheidet man heute nicht weniger als zehn verschiedene Klassen nach Einkommen, gesellschaftlichem Status, Autorität und Bildungsniveau Die oberen Klassen setzen sich nach diesem System aus den verschiedenen Sparten der Intelligenz zusammen — ein weiter Begriff, der Parteifunktionäre, Offiziere sowie die Elite der Verwaltungsbeamten, Manager, Wissenschaftler, Künstler und anderer Berufe umfaßt Begünstigt durch eine geringere Erbschaftssteuer, die 10 Prozent nicht übersteigt, und eine auf alle Einkommen über 1 000 Rubel im Monat gleichmäßig erhobene Einkommenssteuer von 13 Prozent, scheint ein neues vom Staat legitimiertes Bürgertum im Entstehen begriffen zu sein.

Zugang zu dieser Elite findet man durch die Ausbildung an Hochschulen, die mehr Bewerber als freie Plätze haben. An den führenden Hochschulen, die für die vielbegehrten technischen und naturwissenschaftlichen Berufe vorbereiten, ist es durchaus keine Seltenheit, daß sich 12 oder mehr Bewerber um einen freien Platz bemühen 69). Die Zulassung zu den Hochschulen erfolgt auf dem Wege von Eintrittsprüfungen. Dieses selektive Erziehungsprinzip ist und bleibt ein wesentlicher Faktor für die Mobilität und den Drang zum gesellschaftlichen Aufstieg in der Sowjetunion. Aber die Chancen für eine gute Ausbildung sind ungleich. Sie sind wesentlich besser für die Kinder der Intelligenz und der höheren Funktionäre, die in den Großstädten leben und leichteren Zugang zu den besonders guten Hochschulen haben, als die Massen der Arbeiter und Bauern. Schätzungen zufolge sind in der Nachkriegszeit weniger als 10 Prozent der Kinder von Kolchosniks über die siebente Klasse hinausgekommen.

Die pädagogische Bedeutung dieser Verhältnisse liegt auf der Hand. Das Leben der unteren Schichten ist hart und freudlos; sie streben daher danach in eine Klasse aufzusteigen, die ihnen eine bessere Bezahlung soziales Ansehen und gewisse Privilegien und Annehmlichkeiten bietet. Da der Aufstieg ohne das Absolvieren der Elfklassen-Schule nicht möglich ist, gewinnen gute Noten und Zeugnisse Vorrang gegenüber der politischen Schulung und Charakterbildung. Makarenko warf den sowjetischen Schulen ihr Versagen in dieser Hinsicht vor und klagte, daß man sich nicht darum bemühe, dort ein starkes Kollektivbewußtsein herauszubilden. Es entging ihm, daß die eigentliche Ursache in einem sozialen Trend begründet war, der der Kontrolle von Lehrern und Schulleitern längst entglitten war. So lange sich dieser Trend fortsetzt, werden sich das sowjetische Erziehungssystem und seine Methoden vermutlich immer weiter von dem von Makarenko angestrebten Ziel entfernen. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:

R. Bogatsch: „Hitler und die Kriegführung • im Mittelmeerraum"

Karl Dietrich Bracher: „Plebiszit und Machtergreifung'

Ludwig Dehio: „Deutschland und das Epochenjahr 1945"

Romano Guardini: „Der Glaube in unserer Zeit"

Helmut Krausnick: „Unser Weg in die Katastrophe von 1945"

Georg Paloczi-Horvath: „Mao Tse-tung Eine politische Biographie"

Werner Richter: „Bismarck"

Carl Günther Schweitzer: „Hat die Weltgeschichte einen Sinn?"

Karl C. Thalheim: „Diskussion mit einem Kommunisten"

Egmont Zechlin: „Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche (IV. Teil)

* * * „Die Rolle des Parlaments bei einer kommunistischen Machtergreifung"

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ein einfacher Bericht über Makarenkos Werke wird in dem Buch von W. L. Goodman, . A. S. Makarenko, Russian Teacher'(London: Routledge and Kegan Paul, 1949) gegeben. Es handelt sich hier nicht um eine systematische Untersuchung. Das Buch enthält kaum Quellennachweise und stützt sich im wesentlichen auf Zitate aus „The Road to Life".

  2. DER WEG ZUM LEBEN (Pedagogicheskaya Poema), Übersetzung von Ivy und Tatiana Litvinov (Moskau 1951), III, 384— 386.

  3. Izvestiya Nr. 41 (24. Febr. 1921) Seite 2.

  4. „Prekrasnyi Pamyatnik”, O Kommunisticheskom Vospitanii (künftig abgekürzt OKV) (Moskau: Gosudarstvennoe Uchebno-pedagogicheskoe Izdatelstvo, 1952), Seite 13— 16.

  5. Gregoire Alexinsky, La Vie amere de Maxime Gorki (Paris: B. Arthaud, 1950), Seite 219.

  6. Frederick C. Barghoorn, Soviet Russian Nationalism (New York, Oxford, 1956), Seite 37.

  7. Siehe auch die Artikel „Unser Banner" und „Glück", Ausgewählte pädagogische Schriften (künftige Abkürzung APS), Übersetzung von Friedrich Redlich (Berlin, Volk und Wissen, 1953) Seite 170— 176.

  8. J. N. Medynsky, Anton Semjonowitsch Makarenko, Übersetzung von Ruth Fuhrmann und Ernest Stöckl (Berlin, Volk und Wissen, 1954) Seite 16.

  9. Bol’shaya Sovietskaya Entsiklopediya (2. Auflage 1954), XXVI, 91.

  10. Alexinsky, op. cit., Seite 88.

  11. Medynsky, op. cit., Seite 41.

  12. „Maxim Gorki Moei Zhizni", OKV, Seite 24.

  13. N. K. Krupskaya, Vospitanie Molodezhi v Leninskom Dukhe (Moskau, Molodaya Gvardiya, 1925), Seite 260.

  14. Luigi Volpicelli, L'Evolution de la Pedagogique sovietique, Übersetzung vom Italienischen von Pierre Bovel (Neuchatel, Schweiz, Delachaux et Niestle, 1954) Seite 62.

  15. E Koutaizoff, „Soviet Education and the New Man" Soviet Studies, V: 2 (Okt. 1953) 110.

  16. Eine ausführliche Behandlung dieser verschiedenen Meinungen findet sich in der Veröffentlichung „Deserted" von Vladimir Zenzinov (London, H. Joseph, 1931). Siehe auch A. B. Zalkind, „Besprizorniye" Bol'shaya Sovietskaya Entsiklopediya (1927, V, 783— 790).

  17. Ugolovny Kodeks RSFSR (Moskau, Gosudarstvennoe Izdatel'stvo Iuridicheskoi Literatury, 1950) Artikel 12, Seite 7.

  18. "Der Weg ins Leben" I , 4-5

  19. Fritz Bohnsack, Sinn und Problematik der Aufgabe in der Erziehung, dargestellt am Beispiel von A. S. Makarenkos Kollektiv. Festschrift, Universität Hamburg, 1960. Verlag Julius Beltz.

  20. »Der Weg ins Leben" III, 266.

  21. ebd. III, 268.

  22. M. G. Lange, Totalitäre Erziehung: Das Erziehungssystem der Sowjetzone Deutschlands (Frankfurt am Main, Verlag der Frankfurter Hefte, 1954), Seite 257— 262.

  23. "Die Pädagogen zucken die Achseln", APS, Sete 141

  24. „Probleme der sowjetischen Erziehung in der Schule", APS, Seite 28.

  25. I. T. Ogorochukow u. P. N. Schimbirew, Lehrbuch der Pädagogik. (Berlin, Volk und Wissen 1953) S. 245.

  26. Der Weg ins Leben, I, 390.

  27. »Probleme der sowjetischen Erziehung in der Schule“, APS, Seite 33.

  28. „Das Erziehungsziel“, APS, Seite 166— 167.

  29. „A Book for Parents“, geschrieben in Zusammenarbeit mit Galina S. Makarenko, übersetzt von Robert Daglish (Moskau, Foreign Languages Publishing House, 1954), Seite 18.

  30. "Die Pädagogen zucken die Achseln", APS, Seite 143

  31. „Einige Schlußfolgerungen aus meiner pädagogischen Erfahrung“, übersetzt von Friedrich Redlich (Berlin, Volk und Wissen, 1954), Seite 65.

  32. „Probleme der sowjetischen Erziehung in der Schule", APS,'Seite 10— 16.

  33. ebd., Seite 15— 16.

  34. ebd., Seite 16.

  35. J. Stalin, Problems of Leninism (Moskau, Foreign Languages Publishing House, 1945) Seite 524.

  36. Raymond A. Bauer „The New Man in Soviel Psychology" (Cambridge, Harvard University Press, 1953) Kap. VIII.

  37. Barrington Moore, Jr., Soviet Politics — The Dilemma of Power (Cambridge, Harvard University Press, 1951), Kap. X.

  38. Bauer, ebd., Kap. IX.

  39. Vorträge über Kindererziehung, übersetzt von Alexander Böltz (Berlin, Volk und Wissen, 1953), Seite 25.

  40. Ein Buch für Eltern, Seite 37.

  41. Sovietskaya Pedagogika, 11: 3 (1938), 124— 128.

  42. „Perspektiva“, OKV, Seite 216— 224.

  43. ebd., Seite 219.

  44. . Das Erziehungsziel", APS Seite 168.

  45. Ruth Benedict, Patterns of Culture (New York, Penguin Books, 1946), Seite 234.

  46. Ralph Linton, The Cultural Background of Personality (New York: Appleton-Century-Crofts, 1945), Seite 22.

  47. Lionel Trilling bespricht dies Problem in seinem Büchlein, Freud and the Crisis of Our Culture. (Boston, Beacon Press, 1955, Seite 40).

  48. Vladimir Dudintzev, Not by Bread Alone (New York, Dutton 1957). Eine kurzgefaßte Übersicht über weitere relevante Literatur enthält Jeri Laber s . The Writer’s Search for New Values', Problems of Communism, V: 1 (Jan. -Feb., 1956), 14— 20.

  49. Ilya Ehrenburg, „The Thaw“, übersetzt von Manya Harari (Chicago, Regnery, 1955), Seite 153.

  50. „Materialy k Obsuzhdeniu, Prospekt Knigi. Projekt“, Voprosy Filosofii, 1: 2 1947, 345.

  51. Czeslaw Milosz, The Captive Mind, übersetzt von Jane Zielonko (New York, Knopf, 1955), Kap. III.

  52. Henry V. Dicks, „Observations on Contemporary Russian Behaviour“, 2, Human Relations, V: 2 (1952), 111— 175 Siehe auch R. A. Bauer A. Inkeies und C. Cluckhohn“, „How the Soviet System Works“ (Cambridge, Harvard University Press,

  53. Idi folge hier Gerhart Piers und Milton B. Singer, „Shame and Guilt: A Psychoanalytic and a Cultural Study'(Springfield, III.: Thomas, 1953).

  54. Siehe Merle Fainsod, „How Russia Is Ruled" (Cambridge, Harvard University Press, 1956), Kap. XII, XV, und W. W. Rostow, «The Dynamics of Soviet Society'(New York, New American Library of World Literature, 1954) Teil 2, Kap. X—XII.

  55. Reinhard Bendix, „Work and Authority in Industry: Ideologies of Management in the Course of Industrialization" (New York: Wiley, 1956) Teil 3 Kap. VI.

  56. „Das Erziehungsziel”, APS, Seite 169.

  57. „Vorträge über Kindererziehung", Seite 26.

  58. Utichel’skaya Gazetta, No. 155, 30. Dezember 1961.

  59. „Kommunisticheskoe Vospitanie i Povedenie > OKV, Seite 104.

  60. „Talks to Parents“, Seite 305.

  61. " O Kummunistischeskol Etike", OKV, Seite 61

  62. J. Stalin, Economic Problems of Socialism in the USSR. Moscow 1952. Seite 12— 13.

  63. Zugeständnisse hinsichtlich der Mängel in der ideologischen Schulung und Charakterbildung in der sowjetischen Presse sind enthalten in „The Current Digest of the Soviet Press (New York) 23 Jan., 30. Jan., 6 Febr., 20. Febr., 6 März 1957. Seitdem viele ähnliche Berichte in der sowjetischen Presse, besonders in Komsomolskaya Pravda und Utschitel’skaya Gazeta.

  64. „Probleme der sowjetischen Erziehung in der Schule", APS, Seite 53.

  65. Siehe M. A. Leonov, . Kritik und Selbstkritik", übersetzt von W. Fickenscher (Berlin, Verlag Kultur und Fortschritt. 1947). Wolfgang Leonhard berichtet aus erster Hand über die Praxis von Kritik und Selbstkritik* in „Child of the Revolution*. (Chicago, Regnery 1958).

  66. . Einige Schlußfolgerungen ... *, Seite 30.

  67. Edward Crankshaw „Russia without Stalin (New York, Viking, 1956). Der Anhang enthält Über-setzungen sowjetischer Presseveröffentlichungen über aufsässige Jugendliche.

  68. Alex Inkeies . Social Stratification und Mobility in the Soviel Union: 1940— 1950* American Sociological Review, XV (Aug. 1950) 465— 479. 69) Nicholas DeWitt, „Soviet Professional Man-power: Its Education, Training and Supply* (We shington, DC: National Science Foundation 1955) Seite 103.

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Anmerkung: Fredeiic Lilge, geb. 1911 in Görlitz/Schlesien. 1934 in die USA emigriert. Promotion in Havard; heute ordentlicher Professor für Internationale vergleichende Erziehungswissenschaften an der Universität Berkeley/Cal.