Am 15. Dezember des vergangenen Jahres habe ich, zur gleichen Stunde wie mein österreichischer und mein schwedischer Kollege, die Ehre gehabt, Herrn Bundesminister Erhard in seiner Eigenschaft als damaligem Präsidenten des Minister-rats der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Auftrage meiner Regierung ein Schreiben zu überreichen, mit dem diese ihren Willen zum Ausdrude gebracht hat, mit der Gemeinschaft eine Lösung zu suchen, die es der Schweiz ermöglichen soll, am weiteren Ausbau eines integrierten europäischen Marktes mitzuwirken.
Für unser Land bedeutet dieser Schritt, der in unseren langjährigen Bemühungen um eine engere europäische Zusammenarbeit ein neues Kapitel eröffnet, den ersten in einer Reihe grundsätzlicher Entschlüsse von ganz außerordentlicher Bedeutung. Die Weiterentwicklung auf diesem Gebiet wird nicht nur Auswirkungen materieller Natur auf unsere Wirtschaft haben; das ganze Problem unserer internationalen Be-Ziehungen und unserer Stellung in der Welt, aber auch unsere Unabhängigkeit, unsere Eigenständigkeit, unser demokratisch-föderalistischer Aufbau mit seinen Kompetenzverteilungen werden mehr oder weniger davon tangiert, und so ist es kein Wunder, daß die sog. Assoziierungsfrage unsere Öffentlichkeit seit langem auf das allerlebhafteste beschäftigt.
In der Bundesrepublik ist das Interesse für die Assoziierung der Neutralen im Moment begreiflicherweise durch die eminent wichtigen, mit den Beziehungen zum Osten verbundenen außenpolitischen Probleme und im Integrationsbereich durch die Agrarfrage, die Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien und die politischen Integrationsbestrebungen etwas überschattet. Immerhin treffen wir auch hier fast täglich auf Meinungsäußerungen und Diskussionsbeiträge zu diesem Fragenkomplex, häufig angeregt durch die große Debatte, die vor kurzem darüber im Europäischen Parlament in Straßburg stattgefunden hat.
Verständnis für die besondere Lage der Neutralen
Es freut mich besonders den Behörden, der Presse und der öffentlichen Meinung gerade in der Bundesrepublik und vor allem auch dem Deutschen Rat der Europäischen Bewegung das Zeugnis ausstellen zu dürfen, daß sie in ihrer großen Mehrheit der besonderen Lage der Neutralen viel Verständnis entgegenbringen. Dasselbe gilt für die deutsche Wirtschaft; Projekte, wie sie die Herren Münchmeyer, Berg, Müller-Armack und andere ausgearbeitet haben, beweisen zudem ein ehrliches Bemühen, einen Beitrag zur Beseitigung der in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa leider eingetretenen Spaltung zu leisten, was ja in all diesen Jahren auch eines der wichtigsten Ziele unserer Politik gewesen ist.
Immerhin sind gerade in letzter Zeit auch hierzulande, wenn auch weniger häufig als in den andern Staaten der EWG, Stimmen laut geworden, die im Zusammenhang mit den Integrationsbestrebungen wenig Verständnis für die besonderen Anliegen der Neutralen verraten haben. Auffallenderweise steht dabei vor allem unser Land im Zentrum der Kritik: während wir bisher stets als das neutrale Land par excellence galten und unter diesem Titel manch erfreuliches Kompliment auch aus dem Ausland entgegennehmen durften, machen heute die die Neutralität grundsätzlich ablehnenden Kritiker geltend, Österreich müsse man zugute halten, daß die Neutralität ihm auferlegt worden sei, und die Schweden hätten im Hinblick auf die politischen Verhältnisse im skandinavischen Raum besondere Gründe für ihre Politik. Einzig der Schweiz werden keinerlei mildernde Umstände zugebilligt, und sie sieht sich Vorwürfen des Egoismus und der Unzeitgemäßheit ausgesetzt.
Sie werden verstehen, daß mir unter diesen Umständen, und gerade im heutigen Zeitpunkt, die Einladung Ihres Vorstandes, zu Ihnen über das Thema „Die schweizerische Neutralität und die europäische Einigung“ zu sprechen, ganz besonders gelegen kam, und ich möchte ihm daher für diese mir gebotene Möglichkeit, einem Kreise von prominenten und politisch interessierten Persönlichkeiten unseren schweizerischen Standpunkt darzulegen, sehr herzlich danken.
Wenn ich „Schweizer Standpunkt“ sage, muß ich der Genauigkeit halber beifügen, daß es auch in unserem Land Kreise gibt, die die Politik unserer Regierung kritisieren und die Meinung vertreten, die Schweiz sollte der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft unter Aufgabe ihrer Neutralität als Vollmitglied beitreten. Diese Kreise verfügen zugegebenermaßen über einige gute Köpfe und sind recht aktiv, vertreten aber keineswegs einen größeren Teil unseres Volkes. Meine folgenden Ausführungen dürfen daher ohne weiteres den Anspruch erheben, für die überwiegende Mehrheit unserer öffentlichen Meinung repräsentativ zu sein.
Noch ein letztes Wort zum Thema: Sie werden verstehen, daß ich mich nur mit den grundsätzlichen Aspekten des Assoziierungsproblems befassen kann. Welche Lösungen von schweizerischer Seite in Einzelfragen in Aussicht genommen werden, wird zu einem späteren Zeitpunkt und an einem anderen Ort darzulegen sein.
Als Vortrag gehalten am 28. Februar 1962 im Hotel pönigshof in Bonn auf Einladung des Deutschen Kats der Europäischen Bewegung.
Der Zweck ständiger Neutralität
Wenn ich nun, entsprechend dem mir von Ihrer Seite vorgeschlagenen Titel, meine Ausführungen mit einer Darstellung der schweizerischen Neutralität beginne, darf ich der Tatsache, daß ich in Ihrem Kreis die Kenntnis der Rechtsnatur der Neutralität ohne weiteres voraussetzen kann, Rechnung tragen und mich darauf beschränken, die rechtliche Seite nur summarisch und in Stichworten zu berühren.
Die gewöhnliche Neutralität ist das völkerrechtliche Rechtsverhältnis, das die Beziehungen zwischen Neutralen und Kriegführenden regelt. Sie verpflichtet die Neutralen nicht zu Gunsten einer Partei in den Krieg einzugreifen, vor allem nicht durch militärische, aber auch nicht durch politische oder wirtschaftliche Maßnahmen. Das Recht der gewöhnlichen Neutralität stellt weitgehend Gewohnheitsrecht dar; es hat im V. und XIII. Haager Abkommen vom 18. Oktober 1907 über die Neutralität im Land-und Seekrieg eine teilweise Kodifikation gefunden.
Wesentlich weiter gehen die Rechtswirkungen der oder immerwährenden ständigen Neutralität, sie durch unser Land seit viereinhalb
Jahrhunderten aus eigenem Entschluß zur Anwendung gebracht wird. Der Zweck der ständigen Neutralität liegt in der Wahrung der Unabhängigkeit des betreffenden Landes in seinem Interesse sowohl wie in dem von Drittstaaten. Gleichzeitig setzt sie diese Unabhängigkeit voraus, da eine Neutralitätspolitik nur vollständig frei von Einflüssen eines anderen Staates oder einer Staatengruppe denkbar ist. Die Wahrung dieser Unabhängigkeit und die Verpflichtung, zu verhindern, daß das Territorium des Neutralen durch einen der Kriegführenden zu Operationen gegen seinen Gegner benutzt werden könnte, bedingt unweigerlich, daß die ständige Neutralität eine bewaffnete sein muß. Sie verpflichtet den Neutralen ferner, schon in Friedenszeiten alles zu tun, um nicht in einen Krieg hinein gezogen zu werden. Er muß daher im Prinzip vermeiden, in Konflikten zwischen Drittstaaten Partei zu ergreifen, und er darf keine Verträge schließen, die ihn zum Kriegführen oder zu einer unneutralen Haltung während eines Krieges unter Drittstaaten verpflichten könnten, was nicht nur Militärallianzen ausschließt, sondern bei der heutigen Verflechtung von militärischer und wirtschaftlicher Krieg-führung bereits in Friedenszeiten nicht ohne Einfluß auf handelspolitischem Gebiet bleiben kann. Der ständig Neutrale muß, mit einem Wort, eine Neutralitätspolitik führen, und zwar gegenüber allen Staaten. In vielen Fällen wird er aus politischen Erwägungen, nämlich um das Vertrauen der anderen Mächte in die Aufrechterhaltung seiner Neutralität zu stärken, über die Erfüllung der strikten minimalen Neutralitätspflichten hinaus mehreres tun: dies ist aber eine Sache seines freien Ermessens.
Nur am Rande sei hier auf den grundsätzlichen und großen Unterschied zwischen der ständigen Neutralität unserer Observanz und dem Neutralismus aufmerksam gemacht, wie er in neuerer Zeit von einer größeren Anzahl von Staaten, darunter solchen, die erst vor kurzem ihre Unabhängigkeit errungen haben, praktiziert wird. Länder, die zwar zwischen Ost und West nicht Stellung beziehen wollen, sich aber aktiv am Kampf gegen Kolonialismus und Rassismus beteiligen und es außerdem keineswegs ablehnen, zur Durchsetzung eigener Interessen Macht-mittel gegen ihre Nachbarn einzusetzen, sowie andererseits solche, die innerlich zu wenig gefestigt oder militärisch zu schwach sind, um ihre Unabhängigkeit mit eigenen Mitteln erfolgreich verteidigen zu können, und daher aus Schwäche auf eine opportunistische Haltung angewiesen sind, betreiben eine Politik, die mit derjenigen der immerwährend neutralen Schweiz auch nicht das geringste gemein hat.
Zwei Pole der schweizerischen Außenpolitik
Neutralität und Neutralitätspolitik verpflichten völkerrechtlich nur den Staat, nicht den einzelnen, und da Gesinnungsfreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung zu unseren am sorgfältigsten gehüteten demokratischen Grundrechten gehören, ergibt sich daraus logisch die konsequente und in der Schweiz unbestrittene Ablehnung einer Verpflichtung zur Gesinnungsneutralität.
Neutralität des Staates, Gesinnungsfreiheit des Bürgers: das sind zwei Pole unserer Außenpolitik, beide von der ganz überwiegenden Mehrheit unseres Volkes auf das entschiedenste bejaht, Pole, die wir nicht als Widerspruch empfinden, zwischen denen aber naturgemäß je nach den Geschehnissen in unserer Umwelt oft eine nicht geringe Spannung herrscht — eine Spannung, die sich bis in das Denken und Fühlen des einzelnen Bürgers fortsetzt, dessen Verstand und Instinkt die staatliche Neutralitätspolitik bejahen, dessen Gefühl ihn aber dazu drängt, sich für das von ihm als richtig Erkannte aktiv einzusetzen.
Seitdem die Auseinandersetzungen in der Welt ideologischen Charakter angenommen haben, hat diese Spannung sich wesentlich verschärft. Durch unsere Geschichte zieht sich wie ein roter Faden der Kampf um die Freiheit — nicht nur die staatliche Freiheit, sondern vor allem auch die Freiheit des Individuums, der Kampf um Menschenwürde, für das Humane, für Recht und Rechtsgleichheit; es gibt daher kaum ein Volk, das dem Totalitarismus jeder Färbung so betont ablehnend gegenübersteht wie das unsere. Wir haben dies während des letzten Krieges, selbst in der Zeit, da wir auf allen Seiten von den Heeren totalitärer Mächte umstellt waren, ebenso offen und deutlich zum Ausdrude gebracht wie wir es heute gegenüber dem Totalitarismus des Ostens tun. In der Ungarn-Krise und im Kampf Berlins um seine Freiheit — um nur zwei typische Fälle zu nennen — hat die schweizerische Öffentlichkeit mit unmißverständlicher Deutlichkeit zum Ausdrude gebracht, wie sie Recht und Unrecht verteilt sieht, und sie hat den Worten auch Taten humanitären Charakters folgen lassen. Der Appell an das Maß und das Verantwortungsbewußtsein des Bürgers, nichts zu unternehmen, was Zweifel des Auslandes an der Glaubwürdigkeit der staatlichen Neutralitätspolitik rechtfertigen würde, bildet bei uns die einzige Beschränkung der Meinungs-und Pressefreiheit.
Wir sind uns bewußt und können es verstehen, daß es Ausländern, die unsere Verhältnisse und unsere Geschichte nicht genauer kennen, meist schwerfällt, diesen Dualismus zu begreifen. Immer wieder wird uns die Frage gestellt, warum wir ihn, wenn wir doch so eindeutig die Ideale und Auffassungen der freien Welt bejahen, nicht dadurch aus der Welt schaffen, daß wir die staatliche Neutralität aufgeben. Unsere Vorfahren haben die gleiche Frage mit ähnlichen Motivierungen zur Zeit der Religionskriege und des Wiener Kongresses vernommen; sie ist uns, unter entgegengesetzten Vorzeichen, von beiden Seiten während des letzten Krieges gestellt worden. Heute wird sie im Zusammenhang mit den europäischen Integrationsbestrebungen mit zunehmender Häufigkeit und Dringlichkeit an uns gerichtet. Auffallenderweise ist gerade in den kleinen Ländern der EWG, die früher selbst eine Neutralitätspolitik verfolgt haben, in letzter Zeit von prominenter Seite harte Kritik an unserem Festhalten an der Neutralität geübt worden. Wir haben zwar volles Verständnis dafür, daß diese Länder sich in Anbetracht ihrer geographischen Lage, die sie während Jahrhunderten immer wieder zum Schlachtfeld der europäischen Heere hat werden lassen, und nach den fürchterlichen Opfern der letzten Kriege endgültig von einer Neutralitätspolitik losgesagt und der wirtschaftlichen und politischen Integration verschrieben haben, hoffen aber doch, daß sie den ehrlichen Versuch machen werden, sich ihrerseits in unsere geschichtlichen und politischen Gegebenheiten hineinzudenken, bevor sie ein endgültiges Urteil über unsere Stellungnahme fällen.
Die Bedeutung historischer Erfahrungen
Wir sind, wie alle Völker, das, was wir durch unsere Geschichte geworden sind. Gerade bei einem ausgesprochen geschichtsbewußten Volk wie dem unseren, das zudem dank seiner demokratischen Struktur intensiven Anteil an allem staatlichen Geschehen nimmt, wirken geschichtliche Ereignisse und Erfahrungen auf die kollektive Willensbildung stark ein und bilden die Wurzel psychologischer Triebkräfte, die für andere nicht immer leicht zu erfassen sind. Um Ihnen das Verständnis für die Rolle zu erleichtern, die die Neutralität im Denken der Schweizer stets gespielt hat und heute noch spielt, darf ich Ihnen daher einen kurzen Überblick über deren Geschichte und die Rolle, die sie in der Geschichte unseres Volkes und für die Wahrung der Unabhängigkeit unseres Staatswesens gespielt hat, vermitteln: Als geistiger Vater der schweizerischen Neutralität hat der später heilig gesprochene Eremit Niklaus von der Flüe zu gelten. Er hat 1481, als die Eidgenossenschaft nach den drei siegreichen Schlachten gegen Karl den Kühnen von Burgund auf dem Höhepunkt ihrer militärischen Macht stand, an inneren Zerwürfnissen aber zu zerbrechen drohte, unter seinen Landsleuten erfolgreich vermittelt und sie gleichzeitig ermahnt, „den Zaun nicht zu weit zu stecken und sich nicht in fremde Händel zu mischen“. Die schwere, dem Fehlen einer einheitlichen politischen und militärischen Leitung zuzuschreibende Niederlage von Marignano 1515 hat die Eidgenossen veranlaßt, sich dieses Rates zu erinnern und ihn in die Tat umzusetzen. Wie der Historiker Karl Meyer, dem unser Volk für seine Studien über den Ursprung der Eidgenossenschaft ebenso wie für seine mutige Haltung während des letzten Krieges großen Dank schuldet, nachgewiesen hat, wäre die Eidgenossenschaft rein militärisch gesehen auch nach 1515 noch durchaus in der Lage gewesen, die bisherige Politik fortzusetzen. Dies hätte jedoch eine nur mit einer Schmälerung der persönlichen Freiheit erreichbare Konzentration, eine Gleichschaltung von Bünden und Bundesmitgliedern erfordert, die schließlich zum allmächtigen Einheitsstaat hätte führen müssen. Um einer solchen, dem Grundgedanken der alten Bünde diametral entgegengesetzten Entwicklung zu entgehen, haben die alten Eidgenossen die Neutralität zur Leitlinie ihrer Politik gemacht. Sie sehen also, daß am Anfang die Neutralität nicht etwa Schwäche, sondern ein sittliches Prinzip — der Verzicht auf Machtpolitik zwecks Wahrung größtmöglicher Freiheit im Innern — gestanden hat.
Schon kurz darauf, im Zeitalter der Reformation, hat die Neutralität ihre erste Bewährungsprobe erfolgreich bestanden: Die auch in unserem Land eingetretene konfessionelle Spaltung hat zwar im Innern zu kriegerischen Auseinandersetzungen geführt, die zu den bittersten Kapiteln unserer Geschichte gehören, die Eidgenossen haben andererseits aber allen Verlockungen von außen widerstanden, sich in Konflikte jenseits ihrer Grenzen verwickeln zu lassen. In der Folge hat die Neutralität die Schweiz aus dem sekulären Konflikt zwischen Frankreich und den Habsburgern, später aus denen zwischen den vier uns benachbarten Großmächten herausgehalten. Die älteren unter uns erinnern sich des tiefen Risses, der während des ersten Weltkrieges, als alle Landesteile mit den ihnen sprachlich verwandten Nachbarn sympathisierten, unser Volk spaltete und das Weiterbestehen unseres Staatswesens ernsthaft in Frage gestellt hätte, wenn der seit vier Jahrhunderten gepflegte Neutralitätsgedanke den Schweizern nicht schon damals in Fleisch und Blut übergegangen gewesen wäre.
Die Neutralität hat unserem in der Mitte Europas gelegenen, konfessionell und sprachlich-kulturell so heterogenen Staat das Überleben in Unabhängigkeit und in innerer Einheit erlaubt. Ist es da nicht zu verstehen, daß sie für die Bürger gewissermaßen selbstverständlich, ja geradezu zur zweiten Natur geworden ist?
Dies bedeutet nun aber trotzdem keineswegs, daß wir einfach blind und stur an dem einmal ererbten und bewährten festhalten wollen: im Gegenteil. Unser Volk ist dank seiner überdurchschnittlichen Sprachkenntnisse, der kulturellen Verbundenheit mit seinen Nachbarn, seinen weltweiten wirtschaftlichen Beziehungen und der großen Zahl seiner im Ausland lebenden Angehörigen ausgesprochen weltverbunden, es beobachtet, wie schon aus unserer Presse hervorgeht, mit Interesse und Aufmerksamkeit die Vorgänge und Entwicklungen in der Umwelt und gibt sich trotz der relativen Kontinuität im Innern und einem gewissen in seiner Natur liegenden Konservatismus in vollem Maße von den in der Welt vor sich gehenden gewaltigen Umwälzungen Rechenschaft. Es ist sich völlig darüber klar, daß es nicht einfach beiseite stehen kann, sondern sich mit diesen Umwälzungen dauernd praktisch und geistig auseinanderzusetzen und sich neuen Gegebenheiten anzupassen hat. In diesem Sinne beschäftigt sich unsere öffentliche Meinung auch immer wieder mit der Neutralität, ihrer Berechtigung, ihrem sittlichen Gehalt, ihrer Zeitgemäßheit; die Diskussion wird durch die Kritik, die ihr gerade in letzter Zeit von außen wieder häufig entgegengebracht wird, lebhaft befruchtet.
Nur auf den eigenen Vorteil bedacht?
Worin besteht diese Kritik? In erster Linie wird geltend gemacht, der neutrale Staat betreibe eine egoistische, auf den eigenen Vorteil bedachte Politik. Ist das ein Vorwurf? Natürlich war die Neutralität ursprünglich —auf die späteren Modifikationen wird nodh zurückzukommen sein — eine egoistische, nämlich auf die Wahrung der staatlichen Unabhängigkeit gerichtete politische Maxime. Aber steht denn nicht in jedem Lehrbuch, daß die erste und wichtigste Aufgabe des Staates die Wahrung seiner Existenz und das Wohl seiner Bürger sei? Und wo sehen Sie in den vergangenen Jahrhunderten den Staat, der nicht mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln das gleiche Ziel verfolgt hätte?
Immerhin sollte nicht vergessen werden, daß die schweizerische ständige Neutralität schon in ihrer frühesten Form eine wesentliche ethische Komponente enthielt: mit der freiwillig übernommenen Verpflichtung, keinen Krieg zu beginnen — worin nach völkerrechtlichen Begriffen ein Verzicht auf ein Souveränitätsrecht liegt — ist notwendigerweise der Gedanke verbunden, allfällige internationale Streitigkeiten friedlich und auf dem Rechtswege auszutragen. Es dürfte kein Zufall sein, daß gerade in der Geschichte der Eidgenossenschaft die Schiedsgerichtsbarkeit — die übrigens schon im ersten noch nachweisbaren Bund der drei Urkantone vom Jahre 1291, also noch vor Beginn der Neutralitätspolitik, in Erscheinung tritt — stets eine große Rolle gespielt hat. Sie wird auch heute von unserer Regierung ganz speziell gefördert.
Wer uns schilt, auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein, übersieht außerdem meistens, daß wir entsprechend unserer Auffassung, wonach ständige Neutralität zur be-waffneten Neutralität verpflichtet, sehr weitgehende militärische Lasten auf uns nehmen. Vergleiche hinken immer: wenn Statistiker uns nachweisen, daß unsere Ausgaben für die Landesverteidigung im Verhältnis zum Sozialprodukt gegenüber denjenigen anderer Länder zurückbleiben, so übersehen sie die beim Milizheer ganz anders gelagerte Kostenstruktur, die Leistungen von Kantonen und Gemeinden sowie die in unserem Land recht weitgehende außerdienstliche Tätigkeit; nach der anderen Seite hinken Vergleiche, die besagen, daß die NATO-Länder, wenn sie im Verhältnis zur Bevölkerungszahl ebenso viele Truppen aufstellen würden wie die Schweiz, über 360 Divisionen verfügen könnten, da hier die Kosten für Seestreitkräfte, Entwicklung von Superwaffen usw. ignoriert werden. Immerhin: mit einem Militärbudget von 1, 2 Milliarden Franken für 1962 — was einem Drittel des Gesamtvoranschlags entspricht, und mit über einer halben Million Kampftruppen bei einer Bevölkerungszahl von etwa 5 Millionen darf sich die Schweiz getrost sehen lassen.
Linser Haupteinwand gegen den Vorwurf, Neutralität sei purer Egoismus und zudem durch die in Europa eingetretenen Entwicklungen überholt, liegt aber in der Überzeugung, daß sie auch unserer Umwelt schon große Dienste geleistet hat und noch weiter zu leisten berufen ist. Ich habe bereits eingeräumt, daß die schweizerische Neutralität in ihren Anfängen die Hauptaufgabe hatte, die Unabhängigkeit und die innere Einheit des Landes zu bewahren. Es ist natürlich auch zuzugeben, daß sie ursprünglich praktisch nur auf europäische Verhältnisse — die Konflikte zwischen den uns benachbarten Staaten — Bezug hatte und haben konnte. Immerhin geht sie ja aber von einer grundsätzlichen geistigen Haltung aus, deren Wirkungsbereich sich automatisch erweitern mußte, sobald die unseren Kontinent berührenden internationalen Konflikte den bisherigen europäischen Rahmen sprengten. Zudem beziehen sich auch die heutigen Auffassungen von internationaler Zusammenarbeit und Solidarität nicht mehr ausschließlich auf unseren Kontinent. Zu dieser räumlichen Erweiterung tritt hinzu, daß die im fortschrittsgläubigen neunzehnten Jahrhundert einsetzende Höherbewertung der rechtlichen Imperative und die zunehmende Bedeutung humanitären Denkens eine ideelle Weiterentwicklung des Neutralitätsgedankens gebracht haben, durch die diesem ein ganz neuer geistig-sittlicher Inhalt verliehen worden ist. Mit „Neutralität und Solidarität'hat unser früherer Außenminister Petitpierre die heutige politische Devise unseres Landes umschrieben; das bisherige rein passive Beiseitestehen ist durch eine Haltung abgelöst worden, die in der Neutralität eine Aufgabe, ich möchte fast sagen eine Mission sieht. Die Schutzmacht-und Vermittlerrolle Es gibt in einer Welt, die so zerrissen ist wie die heutige, zahlreiche wichtige Funktionen, die nur der Neutrale erfüllen kann, und solange diese Zerrissenheit andauert, solange hat die Welt ein dringendes Interesse am Weiterbestehen neutraler Staaten. Ich darf Sie an die völkerrechtliche Institution der Schutzmacht erinnern — die Schweiz vertritt im Moment die Interessen von 11 Ländern —, an die Notwendigkeit, daß Gegner in Kriegszeiten oder Perioden großer politischer Spannung auf neutralem Boden in Kontakt treten können — die Rolle Genfs als Konferenzort, die kürzlichen französisch-algerischen Verhandlungen, zu deren Zustandekommen unsere Behörden beigetragen haben, sind dafür Beispiele — und an die Wiederanknüpfung von Beziehungen unter ehemaligen Gegnern bei Ende eines Krieges. Andere Aufgaben hängen mit dem internationalen Vertrauen in die Objektivität und Unparteilichkeit der Neutralen zusammen, was beispielsweise durch die Tätigkeit Schwedens und der Schweiz in den Korea-Kommissionen sowie die überdurchschnittlich häufige Berufung von Schweizern in internationale Schlichtungs-und Schiedsgerichtskommissionen illustriert wird. Auch in den Beziehungen zwischen den ehemaligenKolonialmächten und den Entwicklungsländern vermag die Schweiz, wie die Erfahrungen bereits gezeigt haben, eine nützliche Rolle zu spielen. Von ganz überragender Bedeutung ist die Existenz neutraler Staaten endlich auf humanitärem Gebiet: es ist sicher kein reiner Zufall, daß das Rote Kreuz, dessen hundertjähriges Bestehen wir nächstes Jahr feiern und dessen weltweites segensreiches Wirken Sie alle kennen, auf Schweizer Boden und durch Schweizer gegründet worden ist; beson-ders die Tätigkeit des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, das sich ausschließlich aus Schweizer Bürgern zusammensetzt und das vor allem in eigentlichen Konfliktsituationen aktiv wird, ist ohne seine personelle und territoriale neutrale Basis einfach nicht vorstellbar.
Im Zusammenhang mit der Neutralität, die ich nun wohl eingehend genug behandelt habe, ist mehrfach von der Unabhängigkeit — als Endzweck wie als Voraussetzung — die Rede gewesen. Hinter diesem Begriff steht, was zuweilen in der Diskussion über die Neutralität nicht deutlich genug zum Ausdruck kommt, unser fester Wille zur Bewahrung unserer Eigenstaatlichkeit. Um Ihnen verständlich zu machen, welche Bedeutung diese für uns hat, muß ich nochmals eine kurze Rückblende in die Geschichte einschalten. Im Gegensatz zu unseren Nachbarländern, deren Entwicklung, von dynastischen und militärischen Kräften gespeist, von einer Zentralgewalt ausgegangen ist, die sich mit der Zeit mehr und mehr ausgedehnt hat, ist unser Land aus kleinen freien und unabhängigen Gemeinden und ihren zu rein defensiven Zwecken abgeschlossenen Bünden hervorgegangen, denen sich mit der Zeit weitere relativ kleine Einheiten angeschlossen haben. Im vorläufigen Abschluß dieser Entwicklung finden wir jenseits unserer Grenzen Nationen im Sinne sprachlich-kultureller Einheiten, während wir eine äußerst heterogene Willensnation sind, deren Zusammengehörigkeitsgefühl nicht durch rassische Einheitlichkeit, sondern durch gemeinsame Geschichte, gemeinsame Anschauungen und Ideale, gemeinsame Ziele und gemeinsame Auffassungen über unsere Aufgabe in der Welt geprägt ist.
Besondere Aufgaben des Kleinstaates Unser Land liegt — wenn wir in diesem Zusammenhang einmal von unserem österreichischen Nachbarn absehen — als Kleinstaat mitten zwischen den drei großen Mitgliedern der EWG. Im Gegensatz zu den einem Großraum-Denken verhafteten Kritikern, die den Kleinstaat als einen Anachronismus betrachten, sind wir — ganz abgesehen von den im Zusammenhang mit der Neutralität erörterten Problemen — überzeugt, daß auch heute noch der Kleinstaat nicht nur seine Existenzberechtigung, sondern auch seine spezifischen Aufgaben hat. Montesquieu hat in seinem „Esprit de lois“ interessante Betrachtungen über den Zusammenhang zwischen kleinen Territorien und der republikanischen Staatsform angestellt und dann als Grundkraft der Republik und des Kleinstaates die „Vertu“ bezeichnet, worunter er Liebe zum Vaterland und Liebe zur sozialen und politischen Gleichheit, Vermeidung der Differenzierung sozialer Extreme in Armut und Reichtum, Einfachheit der Lebenshaltung verstand; in seinen „Considerations sur la cause de la grandeur des Romains et de leur decadence" hat er gerade die territoriale Vergrößerung Roms als Ursache für den Zerfall des alten Bürgersinnes und als schließliche Ursache für den Zerfall des Gesamtreiches dargestellt.
Jakob Burckhardt, der Anfang der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts seiner Liebe für das damals kleinstaatliche Deutschland in geradezu überschwenglichen Worten Ausdruck gegeben hat, für den das Italien seiner Jugend das klassische Land der städtischen Republiken war, hat sich sehr eingehend mit dem Gegensatz Kleinstaat — großer Nationalstaat beschäftigt und der Überzeugung Ausdruck gegeben, daß der Kleinstaat das, was er an Machtmitteln seiner großen zentralisierten Rivalen gegenüber entbehre, hundertfach wieder gewinne auf dem Felde der Menschlichkeit, kultureller und echt politischer Werte. Kleinstaatliche und städtische Eigenart berühren sich mit seinem Kulturbegriff: Mutter aller Kultur ist für Burckhardt Freiheit und Spontaneität, Vielartigkeit und Buntheit ist ihr Kennzeichen, Organisation ihr Feind. Freilich hat er auch dem Großstaat durchaus den ihm zukommenden Platz in der Geschichte angewiesen; sein Credo liegt aber in dem berühmt gewordenen Satz in den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ umschrieben, der jedem Schweizer aus dem Herzen gesprochen ist: „Der Kleinstaat ist vorhanden, damit ein Fleck auf der Welt sei, wo die größtmögliche Quote der Staatsangehörigen Bürger im vollen Sinn sind“.
Wie Sie wissen, beziehen wir seine Gedankengänge nicht nur auf den eidgenössischen Bereich, sondern auch auf den Kanton und die Getneinde.
Die weitgehende Gemeindeautonomie und die verfassungsrechtlich starke Stellung der Kantone — der Kanton ist souverän und in allen Fragen kompetent, die die Verfassung nicht ausdrücklich der Kompetenz des Bundes zuweist — dienen dem Zweck, auch den kleinen und kleinsten Einheiten eine eigenständige Entwicklung zu erlauben. Das föderalistisdie Prinzip wirkt jeder unnötigen Gleichschaltung entgegen; die sich daraus ergebende Vielfalt halten wir für eine ausgesprochene Bereicherung. Das im Bunde herrschende Zweikammer-System führt einen billigen Ausgleich zwischen dem politischen Gewicht der großen und der kleinen Kantone herbei. Von diesen Prinzipien und Erfahrungen ausgehend bilden Wahrung der Eigenständigkeit und europäische Zusammenarbeit für uns keineswegs Gegensätze; im Gegenteil, sie ergänzen sich. Wir sind uns durchaus bewußt, daß die Schweiz nur in einem starken, blühenden Europa gedeihen kann; andererseits sind wir überzeugt, daß wie für die Schweiz selbst auch für den Kontinent gilt, daß der größte Reichtum in seiner Vielfalt liegt und daß Europa zu seinen größten Leistungen nur dann befähigt wird, wenn diese Vielfalt — und damit die Individualität aller Partner — erhalten bleibt. In einem den ganzen Erdteil oder wenigstens den größeren Teil desselben umfassenden, zentral gelenkten und verwalteten Einheitsstaat würden unserer Überzeugung nach selbst die bisherigen großen, sprachlich-kulturell homogenen Nationen — aus denen sich ja in letzter Zeit ähnliche Auffassungen vernehmen lassen — viel von ihrem Eigenleben einbüßen; immerhin würden sie auch weiterhin noch bis zu einem gewissen Grad als Individualitäten weiterleben und ihren Einfluß geltend machen können, während der zentralistische Einheitsstaat für einen heterogen zusammengesetzten Kleinstaat wie den unseren einfach ein Abdanken, um nicht zu sagen das Ende bedeuten würde.
Ablehnung gleichmacherischer Integration Die Schweiz steht grundsätzlich allen europäischen Einigungsbewegungen durchaus positiv gegenüber und darf für sich in Anspruch nehmen, dies stets auch durch die Tat bewiesen zu haben. Aus Gründen, die mit unserer speziellen Lage Zusammenhängen und die ich Ihnen soeben zu erklären versucht habe, lehnen wir aber, zum mindesten was uns selbst betrifft, eine zu weitgehende, gleichmacherische Integration ab und sind überzeugt, daß auf dem Wege einer echten, von wahrem europäischen Geist getragenen Zusammenarbeit alle angestrebten Ziele ebenso gut erreicht werden können wie durch eine totale Integration, aber ohne die einer solchen anhaftenden schwerwiegenden Nachteile. Ich draf dies am Beispiel der OEEC illustrieren: Die Schweiz hat, obschon sie in der glücklichen Lage war, keine wirtschaftliche Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, von Anfang an voll und aktiv an den Arbeiten im Rahmen dieser Organisation teilgenommen, wobei sie ihre Mitarbeit nur an folgende Voraussetzungen geknüpft hat: sie werde keine Verpflichtungen eingehen, die mit ihrer überlieferten Neutralität unvereinbar wären; Beschlüsse der OEEC, die die schweizerische Wirtschaft beträfen, sollten für sie nur dann verbindlich sein, wenn sie selbst zustimme; endlich behielt sie sich vor, auch mit Staaten, die nicht der OEEC angehören, bestehende Handelsverträge aufrecht zu erhalten und neue Verträge abzuschließen. Im Sinne dieser letzteren Bestimmung hat sie — wenn ich nicht irre als einziges Mitglied der OEEC — entsprechend ihren liberalen Traditionen und in Anwendung des bis zum Beitritt der EFTA immer aufrecht erhaltenen Grundsatzes der Anwendung der Meistbegünstigung auf alle ihre Handelspartner die innerhalb der Organisation übernommenen Liberalisierungs-Verpflichtungen stets auch den übrigen Ländern in der ganzen Welt zugute kommen lassen.
Von allen Seiten ist immer wieder uneingeschränkt anerkannt worden, daß die so erfolgreiche und von hochentwickeltem Solidaritäts-Bewußtsein getragene Aktivität der OEEC, die sich in der nach unseren Anschauungen idealen Form internationaler Zusammenarbeit vollzogen hat, durch die schweizerische Vorbehalte nie auch nur im geringsten beeinträchtigt worden ist. Im Gegenteil hat die aktive Teilnahme der Schweiz an den Arbeiten stets Anerkennung gefunden; die Energie, mit der sich unser Land anläßlich der Ablösung der OEEC durch die OECD — der es unter den gleichen Vorbehalten beigetreten ist — für die Beibehaltung der bereits erarbeiteten liberalen Errungenschaften eingesetzt hat, dürfte wohl noch in Erinnerung sein.
Wenn wir nun, um auf das Zentralproblew zu sprechen zu kommen, die besonders gelagerte Situation der Schweiz und unsere weltanschaulich bestimmte Einstellung, die ich Ihnen geschildert habe, den Auffassungen und Tendenzen gegenüberstelle, die in den Ländern der EWG vorzuherrschen scheinen und in Verlautbarungen der Kommission in Brüssel zum Ausdruck kommen — und die ich als bekannt voraussetzen darf, -so müssen wir uns eingestehen, daß schon rein vom Grundsätzlichen her ziemliche Schwierigkeiten aus dem Wege zu schaffen sein werden, wenn wir zu der doch sicher von allen gewünschten und im Interesse aller liegenden Einigung gelangen wollen. Damit wir zu gegebener Zeit aber mit größtmöglicher Aussicht auf Erfolg an die Probleme herantreten können, scheint es mir unbedingt erforderlich, auf den Abbau gewisser Vorurteile und Mißverständnisse hinzuarbeiten, die sich in den letzten Jahren angehäuft haben, der Atmosphäre abträglich sind und die ohnehin komplizierten Probleme unnötigerweise noch von der psychologischen Seite her zusätzlich zu erschweren drohen.
Zu diesen Vorurteilen rechne ich vor allem die in den Mitgliedstaaten der EWG weit verbreitete Überzeugung, die ihr nicht angehörenden OECD-Staaten, und insbesondere die EFTA-Länder,ständen ihrer Organisation grundsätzlich ablehnend gegenüber. Dies ist, ganz besonders was die Schweiz anbelangt, nur in sehr beschränktem Maße richtig. Wir haben nie übersehen, daß der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der Gedanke zu Grunde liegt, den bisherigen übertriebenen, engstirnigen Nationalismus in ihren Ländern durch ein Kollektiv-Bewußtsein auf höherer Ebene abzulösen und die Gegensätze zwischen den kontinentalen Mächten — vor allem den deutsch-französischen Gegensatz, der so viel Unglück über Europa gebracht hat — ein für allemal zu überwinden. Brauche ich Ihnen nicht zu sagen, daß es außer den direkt Beteiligten kein Land gibt, das ein größeres Interesse an der Erreichung dieses Zieles haben kann als die Schweiz? Ich möchte es einmal ganz deutlich aussprechen, daß wir grundsätzlich auch die politisdten Einigungsbestrebungen in Europa durchaus begrüßen, wie wir ja überhaupt allen internationalen Vertragswerken, die der Stellung Europas und der freien Welt dienen — unabhängig davon, ob wir im Einzelfall daran beteiligt sein können oder nicht — unbedingt positiv gegenüberstehen.
Was wir hingegen bedauern, ist, daß diesem an sich so begrüßenswerten Ziele — unserer Meinung nach unnötigerweise —, das andere Ziel eines gemeinsamen Wirtschaftsgebietes in einem bedeutend größeren geographischen Rahmen, wofür in der OEEC seinerzeit die vielversprechendsten Ansätze vorhanden waren, geopfert worden ist. Es würde zu weit führen, hier die ganze, etwas traurige Geschichte der Integrationsbemühungen der letzten Jahre im einzelnen zu rekapitulieren. Ich glaube aber doch in Erinnerung rufen zu dürfen, daß anfänglich die infolge der Gründung der EWG drohende wirtschaftliche Spaltung auch von deren Seite als sehr bedauerliche Entwicklung angesehen worden und viel guter Wille zum Ausdruck gebracht worden ist, sie zu vermeiden. Schon die Beschlüsse von Messina sprachen von der Wünschbarkeit einer Assoziation der übrigen OEEC-Länder, und die Resolution dieser Organisation vom 19. Juli 1956 bejahte ausdrücklich den Grundsatz eines multilateralen Anschlusses in Form einer Freihandelszone. Am 13. Februar 1957 beschlossen die 17 OEEC-Staaten, — unter Einschluß der Sechs — Verhandlungen einzulei-ten, „um in Europa'— ich zitiere — „eine Freihandelszone zu errichten, welche auf multilateraler Basis den Gemeinsamen Markt der Sechs und die übrigen Mitglieder-Staaten verbindet“.
Am französischen, mit den französisch-englischen Beziehungen zusammenhängenden Meinungswechsel sind schließlich die Verhandlungen über eine große Freihandelszone gescheitert Wenn Sie an diese Vorgeschichte zurückdenken und sich andererseits vergegenwärtigen, daß zur Zeit Aussicht und Hoffnung besteht, daß der Beitritt Großbritanniens den ersten Schritt zur Überwindung der eingetretenen Spaltung bilden und den Hauptgrund eliminieren wird, weswegen seinerzeit die große Freihandelszone nicht zustande kam, werden Sie verstehen, daß der geringe Enthusiasmus, der den Assoziationswünschen der Neutralen in den Verlautbarungen der letzten Zeit aus Brüssel und in den kürzlichen Debatten in Straßburg entgegengebracht worden ist, für uns eine Überraschung — und offen gesagt auch eine gewisse Enttäuschung bedeutet hat.
Daß bei uns auch in Zusammenhängen, die nichts mit den Gründen zu tun haben, die unseren vollen Beitritt unmöglich machen, an der EWG oft scharfe Kritik geübt wird, sei keineswegs bestritten. Sie geht meistenteils auf nun einmal bestehende weltanschauliche Unterschiede oder auf solche der politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten zurück. So ist uns als Kleinstaat die Regelung des Stimmrechts nicht ganz sympathisch; der in der Hauptsache durch schematische arithmetische Operationen zustande gekommene gemeinsame Außentarif trägt uns zu sehr die Spuren der ausgesprochen protektionistischen nationalen Tarife Frankreichs und Italiens — wofür man in der Bundesrepublik Verständnis haben dürfte —, die Organisation zu sehr diejenigen der der EWG angehörigen Beamten-Staaten. Dem Perfektionismus, der alles im voraus regeln will, ziehen wir die pragmatische Methode der EFTA vor, die sich mit den Schwierigkeiten dann befaßt, wenn sie auftreten; die meistens mit der Begründung, Wettbewerbs-Verzerrungen beheben zu müssen, motivierte Gleichschaltung geht uns zu weit. Eine Diskussion dieser und anderer Detailfragen würde hier aber zu weit führen; im übrigen kann man darüber wirklich meistens in guten Treuen zweierlei Meinung sein.
EFTA kein Konkurrenzunternehmen zur EWG
Wenn wir Vorurteile ausräumen wollen, müssen wir auch die Beurteilung der EFTA durch die EWG-Länder einer Prüfung unterziehen. Sie erscheint uns häufig etwas voreingenommen und auf jeden Fall nicht immer objektiv. Es ist zum Beispiel einfach nicht richtig, daß sie als Konkurrenz-Unternehmen, oder gar zur Bekämpfung der EWG geplant worden sei. Vielmehr haben ihr vier Hauptziele zu Gevatter gestanden: 1. sie sollte, wie es ausdrücklich in der Präambel niedergelegt ist, die im Rahmen der OEEC begründete Zusammenarbeit aufrechterhalten und weiterentwickeln, die baldige Schaffung einer multilateralen Assoziierung zur Beseitigung der Handelsschranken und zur Förderung einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern der OEEC, einschließlich der Mitglieder der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, erleichtern und die Verwirklichung der Ziele des GATT fördern; 2. sie sollte den Beweis erbringen, daß eine Freihandelszone technisch funktionsfähig ist; 3. sie sollte ihren Mitgliedern für die durch die Diskriminierung seitens der Sechs zu erwartenden Nachteile einen gewissen Ausgleich bieten und 4. sie sollte die Position ihrer Mitglieder bei zukünftigen Verhandlungen mit der EWG stärken. Seit den letztes Jahr eingegangenen Beitrittgesuchen zur EWG sowie dem großen Fortschritt, der in den Verhandlungen in Brüssel um den Jahreswechsel erzielt worden ist, vernehmen wir in zunehmendem Maße Stimmen und lesen Artikel, in denen die großen Erfolge der EWG einem angeblichen Scheitern der EFTA-Politik gegenübergestellt werden. Wir anerkennen neidlos die überaus erfreuliche Entwicklung der EWG und gratulieren Ihnen dazu aufrichtig; es entspricht aber andererseits keineswegs den Tatsachen, daß die Politik der Sieben Schiffbruch erlitten habe. Der Handel zwischen den Mitgliedstaaten der EFTA hat sich sehr erfreulich entwickelt, das Ursprungszeugnis hat seine Funktionsfähigkeit bewiesen, die Assoziierung Finnlands — die meines Erachtens vom gesamteuropäischen Standpunkt aus als ein großes Verdienst anerkannt zu werden verdient — ist rasch und relativ leicht gelungen, die Zusammenarbeit unter den Partnern klappt vorzüglich. Das Sekretariat in Genf erfüllt seine Aufgaben, das Informationsbüro in Washington eingerechnet, erfreulicherweise mit einem Stab von nur 56 Mitarbeitern.
Allerdings, das Ziel einer multilateralen Verständigung mit den Sechs ist bisher nicht erreicht worden und dem Vorschlag der EFTA, die beiden Gruppen sollten gegenseitig ihre Zoll-tarife wenigstens teilweise abbauen, war ebenfalls kein Erfolg beschieden. Warum dem so ist, sei hier nicht weiter untersucht; wem die Interessen Europas am Herzen liegen, der kann darüber jedenfalls kaum Freude empfinden.
Das Gesuch Englands — dem noch andere gefolgt sind — als Vollmitglied in die EWG ausgenommen zu werden, darf keineswegs als Zerfallserscheinung der EFTA oder als Zeichen mangelnder Solidarität unter den Sieben bzw. Acht interpretiert werden. Nachdem sich eine multilaterale Verständigung als vorläufig unerreichbar erwiesen hat, haben alle EFTA-Mitglieder den Versuch gutgeheißen, auf diesem Wege dem stets im Auge behaltenen Endziel eines großen gemeinsamen Wirtschaftsgebietes näher zu kommen. Sie haben sich dabei dahin verständigt, „daß die Europäische Freihandelsassoziation, die durch das Übereinkommen geschaffenen gegenseitigen Verpflichtungen und die Integrationsbewegung innerhalb der Sieben mindestens so lange aufrechterhalten werden, bis befriedigende Lösungen zur Wahrung der legitimen Interessen aller Mitgliedstaaten der EFTA in Verhandlungen ausgearbeitet worden sind, die es allen ermöglichen, sich vom gleichen Zeitpunkt an am integrierten Europamarkt zu beteiligen".
Die EWG wird, falls sie den Beitritt Großbritanniens wirklich wünscht, gut daran tun, bei der Behandlung der Assoziierungsgesuche der Neutralen diese Tatsache zu gegebener Zeit nicht zu übersehen.
Was sind nun eigentlich die grundsätzlichen Bedenken, die in EWG-Kreisen gegen die Assoziierung mit den Neutralen geltend gemacht wird?
Schwächung durch Assoziierung mit den Neutralen?
Ein häufig gehörtes, und, wenn es richtig wäre, verständliches Argument lautet dahin, die EWG erleide durch die Assoziierung mit den Neutralen eine Sdtwädtung. Daß uns eine solche Absicht durchaus fern liegt, habe ich schon angedeutet und geht außerdem auch aus dem schweizerischen Brief vom 15. Dezember an den Ministerrat hervor, in dem ausdrücklich von einer Form der Beteiligung die Rede ist, die die Integrität der Gemeinschaft wahrt. Warum Europa nicht aus einem inneren festen, auch politisch integrierten Kem und einem äußeren, lockereren Ring von assoziierten Neutralen — ähnlich der Institution der zugewandten Orte in der alten Eidgenossenschaft — soll bestehen können, und weswegen ein solcher äußerer Ring die Substanz oder die Dynamik der Gemeinschaft beeinträchtigen soll, ist schlechterdings nicht einzusehen. Ich hätte für diese Bedenken ein viel größeres Verständnis, wenn es sich um den vollen Beitritt zur EWG von Staaten handeln würde, die von vorneherein nur mit halbem Herzen dabei wären, die Ziele der Gemeinschaft nur teilweise bejahen und daher im Schoße der Gemeinschaft selbst eine Bremswirkung ausüben würden.
Ein weiteres häufig zu hörendes Argument, das kürzlich auch in den Debatten des europäischen Parlaments eine ziemliche Rolle gespielt hat, besagt, die Neutralen suchten sich die Vorteile des integrierten europäischen Marktes zu sichern, ohne die Nachteile einer vollen Mitgliedschaft auf sich nehmen zu wollen. In Straßburg ist dafür das schöne Bild vom Manne, der die Rosinen aus dem Kuchen pickt, herbeigezogen worden. Lassen Sie mich dieses Bild durch ein anderes ersetzen, das meines Erachtens die Situation richtiger widerspiegelt: wir befinden uns in der Rolle eines jungen Mannes, der gerne in die Ruder-Sektion eines Fußballklubs eintreten möchte, der aber, obschon er ein flotter Kerl und guter Ruderer ist — unsere demokratishe und wirtschaftliche Qualifikation ist uns ja auch in Straßburg attestiert worden — nicht ausgenommen wird, weil er nicht auch Fußball spielen kann und eben das Kicken der Güter höchstes sei!
Ihr Bundesvizekanzler und Wirtschaftsminister, Herr Professor Erhard, dem wir für sein großes Verständnis für unsere Lage zu ganz besonderem Dank verpflichtet sind, hat in seiner kürzlich in St. Gallen gehaltenen bedeutenden Rede gesagt: „Mir erscheint das . Werden'Europas viel zu wichtig zu sein, als daß wir in den materialistischen Kategorien von Vorteilen und Nachteilen denken dürften.“ Ich kann diesem hohen Gedanken nur aus ganzem Herzen zustimmen, möchte aber noch darüber hinausgehen und Ihnen verständlich machen, weswegen das Gleichnis mit den Rosinen überhaupt gar nicht stimmt. Ganz abgesehen davon, daß wir es immer klar gemacht haben, daß wir zu intensiver wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit der EWG auf allen Gebieten, sowie zur Übernahme von Verpflichtungen auch auf andern als dem Zoll-gebiet bereit sind, müssen, wenn das Prinzip stimmt, das ja den Grundgedanken der EWG bildet und wonach wirtschaftliche Großräume für alle Partner vorteilhaft sind, bei einer Assoziierung doch schon auf dem Zollgebiet alleine beide Seiten ihren Vorteil finden können. Natürlich öffnet sich für uns ein größerer Markt als die EWG-Länder ihn bei uns finden — obschon der schweizerische Markt auch nicht unterschätzt werden sollte, nachdem die sechs EWG-Staaten 1961 gegenüber unserem Land einen Handelsbilanz-Überschuß von nicht weniger als 3, 6 Milliarden Franken erzielt haben, — und wir sind, das sei offen zugegeben, bei unserer stark auf den Export ausgerichteten Wirtschaft auch mehr auf das Zustandekommen der Verständigung angewiesen. Andererseits ziehen wir uns aber doch im Inland auch eine ganz bedeutend größere Konkurrenz zu, als dies für die EWG-Wirtschaft der Fall ist — ganz abgesehen von der Tatsache, daß die mehr auf Qualitätsarbeit und Einzelanfertigung als auf Massenproduktion eingestellte Industrie unseres kleinen Landes aus strukturellen Gründen wahrscheinlich weniger von Großräumen profitieren wird als diejenige der größeren Länder. Mathematisch ausgedrückt ist es doch im Prinzip so, daß bei einer Assoziierung der große Partner die kleineren Vor-und Nahteile, der kleine Partner die größeren Vor-und Nahteile hat; von einer einseitigen Begünstigung des kleineren Partners kann daher also gar keine Rede sein.
Eines ist allerdings zuzugeben: die EWG wird eine höhere Zollmauer abzutragen haben als die Shweiz. Es wäre aber doh siher unbillig, unserem Land für seine bisherige größere Liberalität gewissermaßen nahträglih eine Rechnung präsentieren zu wollen.
Ob ein ganz genaues Gleihgewiht eintritt, kann, solange auf beiden Seiten die Vorteile im Vergleih zu den Nahteilen überwiegen, im übrigen doh wahrhaftig niht ausshlaggebend sein; bei der Größe der Probleme, die uns beshäftigen, dürfen wir uns, wie es kürzlih eine deutshe Zeitung sehr zutreffend formuliert hat, eine Pfennigfuhserei einfah niht leisten.
Das Rosinenargument — erlauben Sie mir hier ein sehr offenes Wort — ist niht nur falsch, es ist auh gefährlih. Es riskiert den Eindruck zu erwecken, es werde versuht, uns unter Anwendung wirtschaftlichen Druckes zu einer Politischen Entsheidung, die wir niht wollen, zu zwingen. Die shweizerishe öffentlihe Meinung reagiert auf solhe Eindrücke sehr empfindlich. Immer im Interesse einer freundshaftlihen Atmosphäre wäre es daher gut, wenn die Rosinen möglihst rash aus der Diskussion vershwänden.
Zusammenarbeit im Rahmen eines Präferenz-Systems
Wie ist nun, mit unseren Augen gesehen, nach all dem die Bilanz? 1. Eine möglichst enge wirtschaftliche Zusammenarbeit der europäischen Länder liegt im Interesse der Stärkung unseres Kontinents und der freien Welt sowohl wie im Interesse der einzelnen Länder selbst und ist daher unbedingt wünschbar. Darüber besteht zwischen der Wirtschaftsgemeinschaft und uns vollstes Einvernehmen. 2. Neutralität und Beitritt zur EWG als Voll-mitglied sind unvereinbar. Darüber herrscht bei uns nur eine Meinung; in den EWG-Staaten wird sie, von ganz vereinzelten Ausnahmen abgesehen, durchaus geteilt. 3. Die Schweiz wird die Neutralität nicht aufgeben. Ein Verzicht würde für uns der Aufgabe unserer Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gleichkommen und liegt nach unserer festen Überzeugung auch nicht im wohlverstandenen Interesse Europas und der Welt. Verfassungsänderungen bedürfen bei uns der Zustimmung des Volkes. Eine Aufgabe der Neutralität müßte daher der Volksabstimmung unterbreitet werden und würde, selbst wenn dagegen größte wirtschaftliche und materielle Vorteile eingetauscht werden könnten, ganz ohne Zweifel mit wuchtigem Mehr verworfen werden. Dies muß als feststehende Tatsache in Rechnung gestellt werden und hat zur Folge, daß ein Beitritt zur EWG als Vollmitglied für die Schweiz nicht in Frage kommen kann.
Es bleibt also nur die Möglichkeit vertraglicher Lösungen. Dabei kommen theoretisch zwei Wege in Betracht. a) Ein Handels-oder Wirtschaftsvertrag im herkömmlichen Stil, oder b) eine Lösung im Rahmen eines Präferenz-Systems. Der erstere Weg würde unseres Erachtens zu keinen befriedigenden Ergebnissen führen können. Er würde zweifellos eine bedeutend geringere Zusammenarbeit zur Folge haben; auf dem zollpolitischen Gebiet wären gegenseitige weitgehende Konzessionen und eine wirklich befriedigende Regelung schon wegen dem Spiel der GATT-Vorschriften kaum möglich. Falls die neue, auf gegenseitige Zollherabsetzung gerichtete Initiative des Präsidenten Kennedy, die wir aufs lebhafteste begrüßen, deren Ergebnis aber noch nicht als feststehend in Rechnung gestellt werden kann, von Erfolg gekrönt wird, würde sich die Situation zwar bessern, sie bliebe aber trotzdem unbefriedigend. Auch von der EWG-Seite aus gesehen hat ein Vertrag klassischen Stils gegenüber einem Präferenz-System keinen ersichtlichen Vorteil.
Als einzig richtige Lösung verbleibt demnach die Zusammenarbeit im Rahmen eines Präferenz-Systems. Da eine große Freihandelszone, die unseren Anschauungen und Bedürfnissen am ehesten entsprechen würde, seitens der Wirtschaftsgemeinschaft aus Gründen, die wir offen gestanden nie ganz begriffen haben, abgelehnt worden ist, und die EWG an dieser Ablehnung festhalten zu wollen scheint, bleibt als einzige Alternative ein Assoziierungsvertrag.
Wir können gegen einen solchen kein wirklich ins Gewicht fallendes Gegenargument sehen. Es ist unsere Überzeugung, daß eine Lösung auf dieser Basis ohne Schwächung, ohne Aufweichung der EWG und ohne Verminderung ihrer Dynamik gefunden werden kann.
Schon im Schlußkommunique der Ministerkonferenz der EFTA in London vom 28. Juni 1961 ist zum Ausdrude gekommen, „daß alle Mitgliedstaaten der EFTA bereit sind, zur Verwirklichung eines integrierten europäischen Marktes Verpflichtungen zu übernehmen, die über diejenigen hinausgehen, welche sie unter sich im Stockholmer Übereinkommen eingegangen sind“. Desgleichen haben schweizerische Regierungsvertreter mehrfach zum Ausdruck gebracht, daß unser Land nicht nur den gegenseitigen Abbau von Zöllen anstrebt, sondern durchaus bereit ist, auch auf anderen Gebieten der Wirtschaftspolitik Leistungen zu erbringen, die im Interesse eines integrierten europäischen Marktes liegen. Die Schweiz ist gewillt, auf allen Sektoren (bis zur Grenze des neutralitätspolitisch Tragbaren) mitzuarbeiten, um zu einer Verstärkung der Wirtschaftskohäsion Westeuropas und der Verhinderung einer wirtschaftlichen Spaltung beizutragen. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit ist auf schweizerischer Seite groß; wir hoffen, daß eine unvoreingenommene Prüfung der Probleme durch die Gegenseite ebenfalls zu einer positiven Einstellung gegenüber der grundsätzlichen Frage der Assoziierung führen wird.
Einigung nur mit gutem Willen möglich
Auch wenn alle Bedenken grundsätzlicher Natur aus der Welt geschafft sein werden, werden die noch verbleibenden praktischen Probleme, darüber sind wir uns alle klar, recht kompliziert und nicht leicht zu lösen sein. Sie haben aber soeben in Brüssel den Beweis erbracht, daß auch schwierigste Fragen gemeistert werden können, wenn von allen Seiten mit wirklich gutem Willen an sie herangegangen wird.
Machen wir es uns doch vor allem klar, daß wir in die kommenden Verhandlungen nicht als Gegner eintreten, von denen jeder für sich den maximalen Vorteil herausholen will, sondern als Mitglieder einer naturgegebenen und seit Jahrhunderten existierenden Partnerschaft, die, wenn auch auf der Basis unterschiedlicher Grundauffassungen, auf verschiedenen Wegen und mit verschiedenen Methoden das gleiche Ziel, die Stärkung Europas und der freien Welt, anstreben. Wenn wir dieses Ziel fest im Auge behalten, ist die Marschrichtung gegeben. Jeder Partner wird Opfer zu bringen haben, und unsere öffentliche Meinung, die den Grundsatz „Gesamtnutz geht vor Eigennutz“ uneingeschränkt bejaht, ist, wie es Mitglieder unserer Regierung mehrfach versichert haben, durchaus zu Opfern im Gesamtinteresse bereit. Gleichzeitig muß aber der Grundsatz zur Anwendung gelangen, daß kein Partner dem anderen größere Opfer zumutet, als sie im Interesse des Ganzen Verhandlungen unter Freunden, unter Partnern, setzen auf beiden Seiten ein hohes Maß moralisch-ethischen Denkens voraus. Je größer der Stärkeunterschied, desto mehr wird es sich vor allem der Stärkere zur Pflicht machen müssen, in dieser Hinsicht einen strengen Maßstab an sich anzulegen. wirklich notwendig sind. Wir denken nicht daran — ich wiederhole es nochmals —der EWG irgendeine Schwächung ihres Zusammenhalts oder einen Verzicht auf ihre politischen Ziele nahe-zulegen; unsererseits erwarten wir, daß uns keine unsere Existenz und unsere Überzeugung tangierende Opfer abgefordert werden und daß uns nicht aus rein formalistischem und zentralistischem Denken und aus einem Hang zum Perfektionismus Konzessionen an wirklichen materiellen oder ideellen Werten zugemutet werden, denen kein mindestens äquivalentes reelles Interesse der Gesamtheit gegenübersteht Eine Lösung ist möglich; es kommt auf den Geist an, mit dem wir an die Aufgabe herangehen. Und an dem Geist, der von der einen oder der anderen Seite bewiesen wird, wird einst das wahre Europäertum der Verantwortlichen unserer Zeit gemessen werden.