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Generaloberst Beck und der Durchbruch zu einer neuen deutschen Wehrtheorie | APuZ 8/1962 | bpb.de

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APuZ 8/1962 Generaloberst Beck und der Durchbruch zu einer neuen deutschen Wehrtheorie

Generaloberst Beck und der Durchbruch zu einer neuen deutschen Wehrtheorie

WILHELM RITTER VON SCHRAMM

L Im Anfang war Clausewitz

Abbildung 1

Beck als „rechter" Clausewitz-Schüler Es ist eine vielleicht überspitzte, aber im Kern beweisbare These, daß der Schöpfer der klassischen Kriegsphilosophie, der preußische Generalmajor Carl von Clausewitz, auch als einer der geistigen Mitverursacher der Erhebung gegen Hitler angesehen werden muß. Den Nachweis dafür will ich in der nadifolgenden Studie erbringen. Jedenfalls steht fest, daß die zentrale Persönlichkeit der Opposition, dann des Widerstandes und schließlich auch des Aufstands gegen Hitler der General der Artillerie Ludwig Beck. Chef des Generalstabs des deutschen Heeres, im Oktober 1938 als Generaloberst z. V.

verabschiedet, sich an Clausewitz theoretisch geschult hat; ja durch sein systematisches Clausewitz-Studium ist er offenbar erst in den Stand versetzt worden bereits im Jahre 1938 weit vorausschauend zu erkennen, daß ein Krieg, den Deutschland beginne, eine Weltkoalition von Gegnern heraustordern und mit einer Katastrophe enden werde Zu dieser Prognose kam Beck nicht nur autgrund einer nüchternen und gewissenhaften mlitärischen Lagebeurteilung, sondern vor allem deshalb, weil er sich als Stratege gemäß den Direktiven von Clausewitz einen GesaMt-überblick über alle Verhältnisse verschafft und danach die voraussichtliche Ausgangs-und Endlage der kriegerischen Verwicklungen beurteilt hatte. Die weltpolitisdien Konstellationen waren ihm dabei wichtiger als die möglichen militärischen Anfangserfolge. Dabei erwies sich Beck im Gegensatz zu Lenin, den Mao Tse-tung als den „ ken“ Clausewitz-Schüler deklariert, als der redtte Meisterschüler des Kriegsphilosophen und zwar deshalb, weil er Clausewitz weiterentwickelte, während ihn Lenin bekanntlich auf den Kopf stellte, indem er dem Sinn nach erklärte: Die Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Für Beck aber war und blieb gerade die Politik das vornehmste Mittel, den Frieden zu gewinnen, was ihm als das Wichtigste erschien, wie wir noch sehen werden. Er demonstrierte aber auch die Notwendigkeit, ja Unerläßlichkeit, einer durchdachten Kriegs-und Wehrtheorie auf jener höchsten Ebene, auf der Entschlüsse weltgeschichtlichen Ranges gefaßt werden.

Jedenfalls ist es von aktueller Bedeutung sich nicht nur mit der Persönlichkeit, sondern vor allem auch mit dem Gedankengut dieses bedeutendsten rechten Clausewitz-Schülers zu beschäftigen. Wenn man dies tut. drängt sich immer wieder die Einsicht auf. daß es eben das eindringliche Studium des klassischen Kriegsphilo-sophen war, die ihm die Handhabe bieten sollte, die weltpolitische und weltstrategische Lage schon 1938 zutreffend zu beurteilen und auch die zukünftige Entwicklung richtig vorauszusagen. Er sah dabei aufgrund seines Gesamtüberblicks so klar, daß er sich gar nicht mehr auf eine bloße Intuition zu verlassen brauchte. Aufgrund seiner Voraussicht versuchte bekanntlich Beck dann auch schon . im Sommer 1938 einen „General“ -Streik der Spitzen des deutschen Heeres gegen die Kriegspolitik Hitlers herbeizuführen, leider vergeblich. Er ist also nicht nur bei theoretisch richtigen Einsichten geblieben, sondern hat auch Entschlüsse daraus gezogen. Warum dann sein Erhebungsversuch erst im Jahre 1944 erfolgte und warum er scheiterte, das ist eine Arbeit für sich. Was uns hier aber vor allem angeht, sind Becks „Studien“ und deren eingehende Analyse. Denn nur von ihnen her ist die tatsächliche Leistung des Generalobersten, sein Durchbruch zu einer neuen deutschen Wehrauffassung richtig zu verstehen und zu werten.

Die „Studien" Becks Beck hat kein großes literarisches Werk hinterlassen. Wie Schliessen und Seeckt hatte auch er erst nach seiner Verabschiedung die notwendige Muße und wohl auch den richtigen Abstand zu den Ereignissen, um nun als Autor hervorzutreten. Aber auch nach 1938 hat er keine einzige seiner Arbeiten veröffentlicht, sondern praktisch nur für die Schublade geschrieben: auch hierin Clausewitz vergleichbar. Sechs von den neun großen Aufsätzen, die 1955 von Dr. Hans Speidel unter dem Titel „Studien" herausgegeben wurden, waren Vorträge, die Beck von 1940 bis 1944 in der Berliner Mittwoch-Gesellschaft hielt, in jenem Kreis auserwählter Männer, zu dem u. a. Ferdinand Sauerbruch, Eduard Spranger, Paul Fetscher. Johannes Popitz und Ulrich v. Hassell gehört haben. Sie behandeln scheinbar lauter kriegsgeschichtliche Themen, aber sie Zeugen gleichzeitig von der Wiedergeburt der klassischen Auffassung vom Kriege als einer Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln und damit auch von dem Primat des Politischen, dessen Instrument nicht nur der Krieg ist, sondern das Militärische überhaupt. Seit Wilhelm II. aber war in Deutschland — und wohl auch in anderen europäischen Staaten, dem Zeitgeist entsprechend — das rein Militärische überbewertet worden, sodaß man Krieg um des Krieges willen geführt hat. Diese Überbewertung, die schließlich in der Kriegspolitik Hitlers kulminiert, hatte Bede frühzeitig erkannt; in seinen „Studien“ versuchte er sie mit den Gründen der klassischen Kriegsphilosophie zu widerlegen. Insofern bedeuten diese Studien den entscheidenden Wendepunkt der deutschen Wehrtheorie überhaupt und weisen m. E. auch einer gemeinsamen Wehrauffassung der atlantischen Verteidigungsgemeinschaft die einheitliche Richtung. So wäre es ein unheilvolles Mißverständnis, die „Studien“ nur als kriegsgeschichtliche Arbeiten über den ersten Weltkrieg zu betrachten, weil sie ganz bestimmte Ereignisse oder Fragenkomplexe aus seinem Bereich herausgreifen und analysieren. Sie sind im Gegenteil, wie wir noch sehen werden, als Grundschriften der neuen deutschen Wehrtheorie von zukunft-weisender Bedeutung.

Was Beck politisch von Clausewitz gelernt hat In den Kriegs-und Friedenszeiten seiner militärischen Laufbahn bis 1918 — Bede ist 1898 in Straßburg aktiver Soldat und zwar Artillerist geworden — hatte der spätere Generaloberst offenbar zunächst nur die übliche bruchstückhafte Kenntnis von Clausewitz. In der Nachkriegszeit aber war es wohl der von ihm verehrte Generaloberst v. Seeckt, durch den er direkt und indirekt auch auf die politische Bedeutung des großen Werkes „Vom Kriege“ hingewiesen wurde. Aus den Studien geht hervor, wie sehr Bede mit Seeckts „Gedanken eines Soldaten“ (1929) vertraut ist und wie er sie sich zu eigen gemacht hatte, nicht zuletzt das Kapitel „Schlagworte", in dem sich Bede u. a. besonders mit dem oft gedankenlos zitierten Hauptsatz des Kriegsphilosophen: „Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ kritisch beschäftigte. So ist bereits in der Ausarbeitung der grundlegenden Dienstvorschrift „Truppenführung" HDV 300, die Bede in den Jahren 1931— 1933 zusammen mit dem späteren Oberquartiermeister I im Generalstab des Heeres, Karlheinrich v. Stülpnagel verfaßt hat, die Einwirkung von Clausewitz gedanklich, sachlich wie in den prägnanten Formulierungen zu spüren, nicht " zuletzt in der berühmten Ziffer eins, die bekanntlich lautet: „Die Kriegführung ist eine Kunst, eine freie, schöpferische Tätigkeit auf wissenschaftlicher Grundlage. An die Persönlichkeit stellt sie die höchsten Anforderungen.“

Die politische Seite von Clausewitz hat Beck aber wohl erst richtig erkannt, als er selbst am 1. Oktober 1933 Chef des Truppenamtes im Reichswehrministerium und dann am 1. Juli 1935 Chef des Generalstabs des Heeres wurde. In dieser Eigenschaft sah er sich seit Ende 1937 den Kriegsabsichten Hitlers und dann im kommenden Jahr zunehmenden außenpolitischen Gefahren gegenüber. So war es selbstverständlich, daß er auch die Bilanz der politischen Ausgangslage eines möglichen neuen europäischen Weltkrieges ziehen mußte. Die Lagebeurteilung, nüchtern auf wissenschaftlich erarbeiteten Unterlagen erstellt, war für Deutschland niederschmetternd, auch wenn ein augenblicklicher Rüstungsvorsprung und die Aktionseinheit, die die Diktatur zwangsläufig gewährleistet, mit in Rechnung gestellt wurden. Denn eben nach dem „Gesamtüberblick über alle Verhältnisse", wie sie Clausewitz vom wahren Staatsmann und Feldherrn als ersten Akt ihres Urteils verlangt, mußte sich der Beurteilende sagen, daß ein Krieg, den Hitler vom Zaune brach, nicht allein zu einer sicheren deutschen, sondern auch zu einer europäischen Katastrophe führen werde. Es war Beck klar geworden, daß die Politik, wie sie Hitler vertrat, eine abenteuerliche Kriegs-politik war und an den Krieg wie an das Kriegs-instrument Forderungen stellen werde, die sie auf die Dauer nicht leisten konnten.

Die Folgerungen aus dieser Erkenntnis sind bekannt. Der erste Biograph Becks, Professor Wolfgang Foerster, seit 1937 Präsident der kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres, der in diesen Jahren eng mit Beck zusammenarbeitete, hat sie in seinem Buch „Ein General kämpft gegen den Krieg“ eingehend geschildert. (München 1949. 2. erweiterte Auflage München 1953.) Wenn Beck mit seinen drei großen Denkschriften vom 5. Mai, 3. Juni und 16. Juli 1938 ebenso scheiterte wie bei seinen mündlichen Vorträgen, so lag dieser Hemmung das ganze Gewicht von Überlieferungen zugrunde, von dem sich nur durchgebildete kritische Geister vom Range Becks freimachen konnten. Seine Vorträge und Denkschriften gipfelten bekanntlich in dem Vorsch’ag eines gemeinsamen Schritts der höchsten Führer der Wehrmacht bei Hitler, um diesen zur Einstellung seiner Kriegsvorbereitungen zu zwingen. „Falls er auch dann nicht nachgab, sollten alle geschlossen von ihren Ämtern zurücktreten." Die „Vortragsnotiz“ Becks von diesem 16. Juli 1938 enthält dann das klassisch formulierte Bekenntnis, das schon wie ein Trompetensignal eine neue deutsche Wehrauffassung ankündigt: „Es ist ein Mangel an Größe und an Erkenntnis der Aufgabe, wenn ein Soldat in höchster Stellung in solchen Zeiten seine Pflichten und Aufgaben nur in dem begrenzten Rahmen seiner militärischen Aufträge sieht, ohne sich der höchsten Verantwortung vor dem gesamten Volk bewußt zu werden. Außergewöhnliche Zeiten verlangen außergewöhnliche Handlungen.“ (Foerster, 2. Ausl. S. 122.) Der Appell Becks verhallte, vor allem deshalb, weil sich der Ober-befehlshaber des Heeres v. Brauchitsch ihn nicht zu eigen zu machen vermochte. Im übrigen waren die Gründe dafür, daß Beck mit seiner Forderung eines „General“ -Streiks gegen den Krieg nicht durchdrang, menschlich gewiß verständlich: Sie kamen einerseits aus der tatsächlichen Unkenntnis der weltpolitischen Lage infolge einer falsch verstandenen politischen Abstinenz und aus rein militärischem Denken vor allem der Älteren, dann aber auch aus einer tief verwurzelten Loyalität der Obrigkeit gegenüber, das die Kritik an Hitler auf Einzelheiten beschränkte und schließlich auch aus der begreiflichen Scheu vor dessen Gewalttätigkeit, der Willen wohl auch mit Terror durchsetzen I würde. Diese Befürchtung lag um so näher, als eben das Jahr 1938 Hitler mit dem improvisierten Einmarsch in Österreich einen außerordentlichen Prestige-Gewinn als nunmehrigen Führer des „Großdeutschen Reiches" eingebracht hatte. Keiner der führenden Generale, vielleicht mit Ausnahme des Generalobersten Adam, der sich für Beck erklärte, war durch die geistige Schule von Clausewitz gegangen, die zugleich eine außerordentliche Erweiterung des Gesichtskreises ins Politische hin bedeutete. Die Mehrheit auch der führenden Generalität der deutschen Wehrmacht zeigte eben das übliche pragmatische Verhalten der Zeitgenossen. Im übrigen ist daran zu erinnern, was der später in sowjetischer Gefangenschaft zugrundegegangene Feldmarschall V, Kleist in englischem Gewahrsam 1945 zu Liddell Hart gesagt hat: „Clausewitzens Lehren waren von unserer Generation vergessen, und zwar bereits, als ich noch auf der Kriegsakademie und im Generalstab war. Seine Sätze wurden zitiert, aber seine Bücher nicht mehr gründlich studiert. Er galt mehr als Kriegsphilosoph denn als Lehrer der Praxis. Den Schriften Schliessens widmete man größere Aufmerksamkeit. Aber Clausewitzens Gedanken waren von funda-mentaler Gesundheit, zumal sein Ausspruch, daß der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. Das bedeutete, daß die politischen Faktoren wichtiger seien als die militä rischen. Der deutsche Irrtum war, zu glauben, daß ein militärischer Erfolg die politischen Probleme lösen würde.“ (Liddell Hart, The Other Side Of The Hill, London 1948, S. 203. Vom Vers, zurückübersetzt.)

Nur einer der führenden Generäle der deutschen Wehrmacht im Jahre 1938 kannte Clausewitz genau: der Chef des Generalstabs des Heeres udwig Beck. Er hatte nicht nur dessen Bücher studiert, sondern auch die notwendigen Konsequenzen für sein Verhalten daraus gezogen und eingesehen, daß, wie überhaupt, so in der damaligen Lage besonders die weit-und außenpolitischen Faktoren wichtiger waren als die rein militärischen, und er hat dementsprechend gehandelt. Aber sein Schicksal war besiegelt als Brauchitsch Becks Denkschrift Anfang August Hitler zur Kenntnis brachte. Beck war von sich aus entschlossen als Chef des Generalstabs des Heeres zurückzutreten; aber er hatte gehofft, noch als Oberbefehlshaber einer Armee oder einer Heeresgruppe nicht nur vorübergehend verwendet zu werden. Aber das hat der Instinkt Hitlers verhindert, dem alle seine Kenner eine untrügliche Witterung für sachliche Opponenten wie persönliche Widersacher nachsagen. Beck ist dann am 31. Oktober, einen Monat nach dem Münchener Abkommen, das scheinbar den Frieden rettete, aber in Wirklichkeit infolge der Nachgiebigkeit der Westmächte Hitler nur in seinem „unabänderlichen Entschluß" zum Kriege bestärkt, — Beck ist damals nicht förmlich verabschiedet, sondern als Generaloberst „zur Verwendung" gestellt worden. München hatte zunächst allen seinen düsteren Voraussagen Unrecht gegeben — scheinbar. Ein Truppenkommando, das er sich auch aus politischen Gründen wünschte, hat er nie wieder erhalten.

Die Forschungsarbeiten des Kaltgestellten Aber Becks geistige Arbeit hat trotz seiner Kaltstellung keinen Augenblick nachgelassen — im Gegenteil. Jetzt hatte er erst recht die notwendige Muße zum Studium grundsätzlicher Fragen gewonnen. Er verhielt sich also ähnlich wie Clausewitz nach 1817, als man diesen nur formell, d. h. ohne Einfluß auf Lehrplan und Unterricht zum Direktor der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin gemacht hatte. So fuhr Beck nach seiner Verabschiedung fort, auch ohne amtlichen Auftrag, sich intensiv mit der Großen Lage" zu befassen und seine Gedanken darüber niederzulegen und zwar selbstverständlich auf wissenschaftlicher Grundlage. Das erste Ergebnis seines Forschens und Durchdenkens der konkreten Weltsituation von damals war die Denkschrift mit dem Titel „Deutschland in einem kommenden Kriege". Unter Berufung auf Clausewitz beginnt sie mit den folgenden Sätzen: „Jeder große Krieg — jener . besondere Akt des menschlichen Verkehrs', jener . Konflikt großer Interessen, der sich blutig löst', muß aus dem wirklichen Leben seiner Zeit heraus begriffen werden. Ein Kleben an Vergangenem ist ebensowenig angebracht wie ein zu phantasievolles Vorauseilen in die noch im Dunkel liegende Zukunft sein würde. Hier liegen auch die Grenzen, die einer Theorie oder Lehre vom Kriege gezogen ist". Und dann beginnt Beck die weltpolitische Lage Deutschlands wie seine militärischen Möglichkeiten und deren Grenzen gegeneinander nüchtern abzuwägen, wie er es als Soldat gewohnt ist. Wie schöpferisch er dabei den Grundsatz von der Fortsetzung der Politik durch den Krieg weiterzudenken vermag, zeigt seine zeitlos gültige, lapidar formulierte These: „Unter den Voraussetzungen für eine erfolgreiche Kriegführung steht eine tüchtige auswärtige Politik obenan. Sie schafft die Lage, in welcher ein Staat in den Krieg eintritt und ist für sie verantwortlich. War sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen, so wird die Geschichte in dem Kriege nicht mehr eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern ihren Bankrott festzustellen haben“. Der Primat der Politik ist hier also richtig verstanden nicht nur etwa als Vorrang der Rechte, sondern auch als der der Verantwortung und Verpflichtung der Politik der Geschichte, ihrem Gemeinwesen und nicht zuletzt auch ihren Soldaten gegenüber. Überhaupt ist es das Verhältnis von Politik und Kriegführung, mit dem sich Beck nach seiner Verabschiedung besonders eindringlich beschäftigt. Die Denkschrift „Deutschland in einem kommenden Kriege" ist deshalb als Weiterentwicklung der Kriegstheorie von Clausewitz von außerordentlicher Bedeutung. So schreibt Beck, daß der fehlende Ausgleich zwischen den politischen Ansprüchen und Zielen und der militärischen Leistungsfähigkeit eines eines Staates der erste und vielleicht entscheidende Schritt zum Verlust eines Krieges werden könne. „Nicht umsonst weiß die Geschichte von Kriegen zu berichten, die gewonnen oder verloren worden waren, ehe sie begonnen hatten. Die Ursache war fast allemal Verdienst oder Schuld der Politik“. Aufgrund des Gesamtüberblicks, den Clausewitz fordert, kommt Beck dann zu jener niederschmetternden Prognose der Kriegspolitik Hitlers: „Ein Krieg den Deutschland beginnt, wird sofort andere Staaten als den angegriffenen auf den Plan rufen. Bei einem Krieg gegen eine Welt-koalition wird Deutschland unterliegen und dieser schließlich auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sein,,. (A. a. O. S. 63.) So ist es ja dann auch buchstäblich gekommen, nicht zuletzt auch deshalb, weil Hitler das versäumt hat, was Beck folgendermaßen ansprach: „Der politische Zweck des Krieges muß klarliegen und er muß auch den letzten Akt jedes Krieges, die Gewinnung des Friedens in das Kalkül einbeziehen. Nur bei klar umrissenem Zweck ist es möglich, aus ihm und aus den vorhandenen Mitteln das kriegerische Ziel abzuleiten". Das ist die Anwendung der Maxime von Clausewitz auf die konkrete Situation von 193 8, in der dieser sagt: „Man fängt keinen Krieg an oder man sollte vernünftigerweise keinen Anfängen, ohne sich zu sagen, was man mit und in demselben erreichen will. Das erstere ist „der politische Zweck, das andere das militärische Ziel". (Clausewitz, Vom Kriege, 16. Auflage, Bonn 1952, S. 8 50.) Der Vorrang des Politischen wird auch da wieder unterstrichen.

Mit der Denkschrift vom November 193 8 hatte der Generaloberst ein kriegsgeschichtliches Studium begonnen, das reiche Früchte tragen sollte. Aber das war nur deshalb der Fall, weil Beck trotz aller geschichtlichen Forschung immer zuerst Soldat blieb und Geschichte nicht als Historie um ihrer selbst willen trieb, sondern auszuwerten verstand als das, was er „als einziges und unersdiöpflidtes Arsenal des wissenschaftlichen Studiums der Politik“ betrachtete. So studierte er auch von 1939 ab am Modellfall des ersten Weltkrieges die Möglichkeiten des Ablaufs des zweiten und versuchte aus der Quintessenz der geschichtlichen Erfahrung, genau wie Clausewitz, gültige Direktiven für das politische und strategische Verhalten jetzt und hier zu gewinnen. Bede wollte, vulgär gesprochen, aus der Geschichte lernen — und es ist in der Tat erstaunlich, was dieser überlegene Geist, in Weiterführung und -entwicklung der Theorien von Clausewitz, aus der geschichtlichen Analyse gelernt hat. Dabei ist es bezeichnend, daß die sechs Studien, die die Jahre von 1939 bis 44 hervorbringen — 1943 fällt dabei wegen der schweren Krebserkrankung Becks aus —, sich nicht etwa mit strategischen oder operativen Einzelfragen im eigentlich kriegsgeschichtlichen Sinne befassen, sondern mit der Erforschung der Nahtstellen zwischen der politischen und der militärischen Strategie, zwischen Frieden und Krieg bei Kriegseintritt und dann wieder zwischen Krieg und Frieden, mit dem Kriegsplan zuerst und dann mit den Waffenstillstandsverhandlungen von 1918. Dieses Grenzgebiet war von militärischer Seite bisher noch kaum durch-forscht worden, und so bedeutete Becks Studium in der Tat auch eine Weiterentwicklung über Clausewitz hinaus. Es förderte dann auch Erkenntnisse über die Aufgaben und Verfahren der Staatskunst, die bleiben werden.

II. Primat der Staatskunst

Politische und militärische Strategie Am Anfang der Arbeiten, die sich mit dem Primat der Staatskunst befassen, steht ein nicht näher datierter Versuch über Strategie mit dem Untertitel „Einige Beiträge zur Klärung". Er ist charakteristisch dafür, wie methodisch Beck bei seinen Arbeiten vorging, und es ist höchst bezeichnend für diesen „rechten“ Clausewitz-Schüler, daß er die Strategie nicht nur als Kunst der Heer-, sondern auch der Kriegführung verstanden wissen will. So zitiert er denn auch aus dem 1. Kapitel des 1. Buches „Vom Kriege": „Der erste, der großartigste, der entscheidendste Akt des Urteils nun, welchen der Staatsmann und Feldherr ausübt, ist der, daß er den Krieg, welchen er unternimmt, in dieser Beziehung richtig erkenne, ihn nicht für etwas nehme, oder zu etwas machen wolle, was er der Natur der Verhältnisse nach nicht sein kann. Dies ist also die erste, umfassendste aller strategischen Fra-M

gen.

In der Studie macht sich dann Beck vor allem das achte Buch von Clausewitz über den Kriegs-plan zu eigen als das Mittel der Theorie, sich vor dem Krieg Rechenschaft über Zweck, Ziel und Mittel wie die Handhabung des kriegerischen Aktes abzulegen. Erst aus diesem Gesamtkriegsplan, der von der politisdten Lage ausgeht, kann nach ihm der Feldzugsplan hervorgehen, der darüber entscheidet, „wohin zunächst und wohin endgültig der strategische Schwerpunkt zu legen ist", (A. a. O. S. 77) und dann kann erst der eigentliche Operationsentwurf folgen, dessen Hauptteil immer der eigene Aufmarsch und die einzelnen Aufmarschanweisungen sein werden. In diesem Zusammenhang wieder ein Zitat aus Clausewitz: „Einen guten Operationsplan entworfen zu haben, ist noch kein großes Meisterstück. Die große Schwierigkeit besteht aber darin, den Grundsätzen, welche man sich gemacht hat, in der Ausführung treu zu bleiben."

Folgerichtig bringen die „Studien“ nach dem Versuch über Strategie die am 6. März 1939 abgeschlossene Abhandlung „Besaß Deutschland 1914 einen Kriegsplan?“ Nun werden bestimmte Gedankengänge hinsichtlich des Vorrangs der Politik noch deutlicher. Vor allem tritt die politische Zwecksetzung als politische Strategie und die militärische Zielgebung als militärische Strategie in ihrer Unterordnung vor den Leser oder die Hörer der Berliner Mittwochgesellschaft, denen Beck über das Thema am 28. November 1940 vortrug. Er mußte natürlich verneinen, daß Deutschland 1914 einen Kriegsplan besessen, oder deutlicher gesagt, daß die deutsche Reichsregierung sich offenbar jemals Gedanken darüber gemacht, was sie mit einem möglichen europäischen Krieg eigentlich politisch wollte. So gipfelte denn auch die Studie in der kritischen Konstatierung: „Zusammenfassend ist zu der Frage, ob die politischen und militärischen Verhältnisse durch den Chef des Generalstabs ausreichend bedacht waren, festzustellen“: (Die folgenden 5 Punkte sind gekürzt wiedergegeben.) 1. Die alte politische Weisheit, die Gegner zu trennen, um zu herrschen, war seit Bismarck verlassen worden. 2. Auch in den letzten Jahren vor dem Krieg, mit dem mit Bestimmtheit seit 1913 gerechnet wurde, ist es nicht mehr zu der notwendigen Zusammenarbeit zwischen Staatsmann und Strategen gekommen. Gegenüber den erkannten bestimmten Kriegszielen der Gegner fehlten erschöpfend durchdachte eigene. 3. Infolge Gestaltung der Außenpolitik ohne Rücksicht auf die Möglichkeiten der Kriegführung war die militärische Strategie zur Notwehr verurteilt, das Verhältnis Erfolg zum Mißerfolg tief gesunken. 4. Politik und Kriegführung haben es verabsäumt, sich rechtzeitig und ausreichend über die Modalitäten der Kriegseröffnung zu einigen. 5. Das Erkennen des kommenden Krieges nach seinem Wesen, seiner Dauer und seiner Ausdehnung war nicht vorhanden und zwar in der Hauptsache aus folgenden Gründen:

Eine oberste Kriegsleitung oder eine entsprechende Friedensstelle fehlte.

Praktische Kriegslehren und solche der Kriegs-theorie wurden nicht beachtet. Sie standen zur Verfügung.

Der Plan für den Zweifrontenkrieg war nur militärisch-ressortmäßig entworfen und erfaßte den Krieg nicht als Ganzes.

Die Gegner wurden unrichtig eingeschätzt und zwar jeder für sich, wie ihr gemeinsamer Wille, Deutschland zu schlagen.

Der Bündniskrieg mit Österreich-Ungarn war ungenügend vorbereitet.

Es fehlten die Vorbereitungen für einen Wirtschaftskrieg, trotz der bekannten Schwächen der eigenen wehrwirtschaftlichen Lage.

Das Volk war auf einen langen Krieg nicht innerlich vorbereitet.

Die entscheidenden Kriterien audt gegenüber Hitler und seinem Krieg, den dieser am 1. September 1939 vom Zaune gebrochen hatte und der schon bald darauf zum zweiten Weltkrieg werden sollte, waren damit gewonnen. Auf dieser Grundlage sind dann auch Becks „Betrachtungen über den Krieg“ entstanden, die von ihm am 24. April 1940 den Mitgliedern der Berliner Mittwochgesellschaft vorgetragen wurden. Der Norwegen-Feldzug hatte fünfzehn Tage vorher begonnen. Betrachtungen über den Krieg Bede sagte gleich zu Beginn seines Vortrags: „Voran stelle ich meinen Ausführungen den von Clausewitz, dem größten modernen Kriegs-theoretiker — den ich daher auch noch oft zitieren werde — einmal in seinem Werk „Vom Kriege“ ausgesprochenen Gedanken: „Es ist überhaupt nichts so wichtig im Leben als genau den Standpunkt zu ermitteln, aus welchem die Dinge aufgefaßt und beurteilt werden müssen, und dann an diesem festzuhalten, denn nur von einem Standpunkte aus können wir die Maße der Erscheinungen in ihrer Einheit auffassen, und nur die Einheit des Standpunktes kann uns vor Widersprüchen sichern“. Die Studie enthält als Kernstück eine Gegenüberstellung der gegensätzlichen Auffassung über das Verhältnis von Politik und Kriegführung von Seiten Bismarcks und Moltkes, die bekanntlich 1866 und vor allem dann 1870 zu ernsten Differenzen zwischen diesen beiden Großen unserer national-staatlichen Einigungskriege geführt haben. Aber niemand wird darüber erstaunt sein, daß Beck als dezidierter Clausewitz-Schüler für den Primat der Staatskunst auch während des Krieges eintritt. Er trifft aber auch die Feststellung:

„Mit einer solchen Entwicklung (zum totalen Krieg, Anm. d. Vers.) ist aber nicht nur die Verantwortung des Staatsmannes für den Entschluß zum Kriege ungeheuer gewachsen, sondern auch die des verantwortlichen Soldaten, der über das kriegerische Instrument verfügt, und als erster wissen muß und auch verantwortlich ist, was er leisten kann und was er nicht leistet“. Er habe nach Clausewitz die Pflicht, mit allen Mitteln sich dem zu widersetzen, daß die Politik an den Krieg Forderungen macht, die er nicht leisten kann. Wer hören wollte, konnte verstehen, was Bede im April 1940 damit meinte. Er hat auch im Sinne von Clausewitz vor einer Überschätzung rein militärischer Erfolge gewarnt und gesagt: „Der Krieg 1914/18 hat uns in vieler Beziehung erstmalig gewissermaßen praktischen Anschauungsunterricht erteilt. Durch seine baldige Erweiterung zu einem sogenannten Weltkrieg hat er ferner der bis dahin, jedenfalls in Deutschland fast ausschließlich vertretenen Auffassung, daß es im Kriege allein auf die militärische Entscheidung — also die gewonnene Schlacht oder die Summe der gewonnenen Schlachten — ankomme, einen Stoß versetzt... Sicher war...der 1914 ausbrechende Krieg in seinem möglichen Verlauf vorher nicht genügend erkannt worden . . . Somit muß das rückblickende geschichtliche Urteil feststellen, daß die erste und umfassendste aller strategischen Fragen im Clausewitzschen Sinne vorher nicht erschöpfend beantwortet worden war. — Die Hauptschuld für diese Unterlassung ist beim Staatsmann zu suchen; aber auch der Chef des Generalstabs der Armee kann von einer großen Schuld nicht freigesprochen werden. Gemeinsam ist die Schuld beider Stellen, daß es an der erforderlichen Zusammenarbeit zwischen Staatsmann und Feldherrn vor dem Kriege gefehlt hat, soweit man diese Schuld nicht der Person des Kaisers zuschieben will“. (A. a. O., S. 125.) Unüberhörbar ist schließlich immer wieder der Hinweis Becks auf die Warnung von Clausewitz, „daß alle Instanzen wohl überlegt sein müssen, um nicht in der letzten den Prozeß zu verlieren, den man in früheren gewonnen hat, und dann in die ganzen Kosten verurteilt zu werden.“

Die Ergebnisse der ersten „Studien"

Was hat Beck mit seinen Studien bis zur „Westoder Ostoffensive 1914“ gewollt, mit der der mittlere Teil seines Buches abschließt? Er wollte sich ohne Zweifel selbst einmal durch diese Arbeiten theoretisch Klarheit verschaffen über Probleme, die ihm von überragender Bedeutung erschienen, nämlich über die Bedingtheit des Krieges und der Kriegführung durch die politischen Zeitverhältnisse und über die Zusammenhänge zwischen einer planvollen und durchdachten Politik und der militärischen Führung, wie er dies von Clausewitz gelernt hat. Seine Stellungnahme für den Primat der Staatskunst als Kunst des Möglichen ist ebenso überzeugend wie die an der klassischen Theorie geschulte Kritik der politischen und militärischen Führung des ersten Weltkriegs. Aber diese Kritik wird eben nicht um ihrer selbst willen geübt, sondern soll besseren und tieferen Einsichten dienen und damit auch einer sachgerechten und -verständigen Analyse der jeweiligen Lage im zweiten Weltkrieg, der „konkreten Situation“, wie der andere Clausewitz-Schüler Lenin das genannt hat. In diesem Sinne bedeuten die meisten der Studien nichts anderes als verschlüsselte geistige Kriegserklärungen an Hitler und dessen abenteuerliche und verantwortungslose Kriegs-und Eroberungspolitik — und wurden so auch wohl von den Mitgliedern der Berliner Mittwochgesellschaft verstanden.

Jedenfalls ist es unzulässig, die Studien Becks nur vom kriegsgeschichtlichen Standpunkt aus zu betrachten und sie allein mit den Augen des Historikers zu werten: Gewiß, die meisten von ihnen haben bestimmte Grundfragen des ersten Weltkriegs zum Thema, aber sie werden zu der klassischen Theorie in Beziehung gebracht und der „rechte“ Clausewitz-Schüler will am Modellfall das Urteilsvermögen darüber schärfen, was in einer bestimmten weltgeschichtlichen Lage politisch richtig und militärisch möglich — und was dagegen letzthin unerreichbar mit den vorhandenen Mitteln und Kräften und daher falsch und verderbenbringend ist. Die Schärfung dieses politisch-militärischen Unterscheidungsvermögens gewinnt um so mehr an zeitgeschichtlicher Bedeutung, als der Krieg immer seltener um beschränkter politischer Ziele willen geführt wird. Seitdem er sich vollends in diesem Jahrhundert seiner „absoluten Gestalt“ (Clausewitz) nähert, rückt damit auch die Gefahr der politischen, gesellschaftlichen und physischen Vernichtung ganzer Staaten, Volksgruppen und Nationen näher.

Im übrigen ist bei Clausewitz über diese „absoluten“ Kriege zu lesen: „Bei der absoluten Gestalt des Krieges gibt es nur einen Erfolg, den Enderfolg. Bis dahin ist nichts entschieden:

nichts gewonnen, nichts verloren. Hier muß man sich beständig sagen: Das Ende krönt das Werk.“

III. Wie beendet man einen großen Krieg?

Was hat den Ersten Weltkrieg entschieden?

In der großen Studie „West-oder Ostoffensive 19147, einer nachträglichen strategischen Betrachtung", die das Mittelstück seiner Studien bildet, ist Bede noch weiter auf diesem Wege fortgeschritten. Der militärische Denker, der von der Strategie sagt, daß sie „keine Erstarrung in Dogmen verträgt, sondern daß sie ein flüssiges Gebiet und eine lebendige Kunst ist", (a. a. O„ S. 148) weiß genau zwischen dem politischen Zweck des Krieges, dann dem militärischen Ziel und schließlich auch den an die vorhandenen Mittel gebundenen Möglichkeiten zu unterscheiden. Er stellt dabei wie immer die politischen Gesichtspunkte obenan und konstatiert den verhängnisvollen Mangel an einem durchführbaren, auf ein Ziel hin ausgerichteten gemeinsamen Plan der beiden Bundesgenossen Deutschland und Österreich-Ungarn 1914. Die Donaumonarchie war damals ohne Zweifel politisch am meisten gefährdet, so daß Bede offenbar der offensiven Verteidigung im Osten in einheitlichen großen Operationen von Anfang an den Vorzug gegeben hätte. Die politische Auflösung der Donaumonarchie, die sich strategisch isoliert, von den schweren Niederlagen in Galizien zu Anfang des Krieges 1914 nie mehr richtig erholt hat, hat ja dann schließlich den Rüchen der Mittelmächte aufgerissen und damit den ersten Weltkrieg gegen sie entschieden.

Von solchen Erkenntnissen her beginnt sich der Generaloberst schon vom Beginn des Rußlandfeldzugs 1941 an mit dem Problem der Beendigung des zweiten Weltkriegs zu befassen. Im Generalstab des Heeres, dessen führende Köpfe von Bede geschult wurden, hält man dabei um so enger Verbindung mit ihm, je weniger man dort aufgrund der Lageentwicklung noch an den „Endsieg“ glauben kann. Jedenfalls sieht der Generaloberst um diese Zeit begründeten Anlaß, die Umstände genau und kritisch zu prüfen, die auf das Ende des ersten Weltkriegs und die deutsche Niederlage entscheidend einwirkten: Er untersucht mit der ihm eigenen Gründlichkeit und Konzentration auf das Wesentliche die Modalitäten, die zum Waffenstillstand von 1918 und dessen bekannte Folgen geführt haben. Beck selbst ist ja unmittelbar vor ähnliche Probleme gestellt, seitdem er als das künftige Staatsoberhaupt einer neuen deutschen Regierung in Aussicht genommen ist. So muß er sich fragen, zunächst ganz theoretisch: Wie macht man einem militärisch nicht mehr zu gewinnenden Krieg politisch ein erträgliches Ende? Welche Voraussetzungen müssen dazu erfüllt sein, welche Fehler sind unter allen Umständen zu vermeiden?

Diesen Problemen gilt nun Becks eindringliches Studium. Um sich theoretisch mit dem Gesamtkomplex und dessen möglichem Ablauf vertraut zu machen, aber stets mit dem Hinblick auf die Verwertbarkeit in der Praxis: Allein zu diesem Ende hat er die Studie „Der 29. September 1918“ geschrieben und sie dann auch der Mittwochgesellschaft vorgetragen.

Es gibt keine Arbeit Becks, die mehr Indizien für seine Pläne und Absichten im Jahre 1944 enthält als diese, und deshalb bleiben auch alle Darstellungen der Erhebung notwendig lückenhaft, die sich nicht auf sie stützen. Denn hier sind die Fingerzeige dafür gegeben, wie er sich seine Aufgabe vorstellte und wie er sich bei dem Problem verhalten hätte, den Krieg zu beenden und zu politischen Verhandlungen überzuleiten. Dabei muß man heute zu dem Ergebnis kommen, das neuerdings auch zuverlässige Zeugen bestätigten: Der politische Stratege Beck — denn das war er inzwischen geworden — dachte keineswegs daran, etwa nach der Beseitigung Hitlers auf der Stelle zu kapitulieren; er war vielmehr vor allem darauf bedacht, zunächst die militärische Lage wiederherzustellen, bevor er Verhandlungsangebote machte. Er wollte so handeln, wie er in seiner Studie feststellt: „Statt des rücksichtslosen Einsatzes des Kriegsinstrumentes hatte vordan im Vordergrund zu stehen, dieses für alle Fälle so lange wie möglich gebrauchsfähig zu erhalten . . .“ Die politische wie die militärische Strategie erforderte also eine weise Ökonomie der Kräfte, um den Gegner verhandlungsbereit zu machen. Außerdem mußte versucht werden, die Feinde zu teilen. Der Entschluß der Obersten Heeresleitung am 29. September 1918 aus militärischen Gründen von der Politik einen sofortigen Waffenstillstand zu fordern, war also unbedingt zu verwerfen. Es hätte vielmehr gegolten, eine politisch-strategische Lage zu schaffen, die auch für den Gegner Verhandlungen ratsam erscheinen ließen. Demgemäß sind die Pläne der „Westgruppe“, die im Mai 1944 zustandekamen, im Licht dieser Studie von sehr viel größerer Bedeutung als ihnen die meisten Historiker bisher einräumen. Die entsprechenden Lehren hatte der Generaloberst aus seiner Studie „Der 29. September 1918" gezogen. Wir werden auf sie bei einer gesonderten Analyse seines Verhaltens während der Erhebung 1944 noch zu sprechen kommen. In der genannten Studie war jedenfalls deutlich zu lesen: „Aufgabe der Politik wurde es nunmehr, das Kriegsende mit allen diplomatischen Mitteln bald herbeizuführen, ehe etwa die militärische Entwicklung die Grundlage für solche Schritte nochmals verengte.“ In diesem Zusammenhang hatte Beck das verlustreiche Festhalten am Geländebesitz 1918 bereits ebenso als Ursache der schließlichen Niederlage erkannt wie das starre Festkrallen im Boden, als letzte „strategische“ Weisheit Hitlers, das schließlich zur militärischen Katastrophe von 1945 geführt hat. Der psychologische Scharfsinn Becks zeigte sich aber vor allem darin, daß er in dieser Studie feststellt: Die abrupte Waffenstillstandsforderungen der Obersten Heeresleitung haben Heer und Heimat offenbar gemacht, daß der Krieg verloren sei und den westlichen Alliierten auch die endgültige Gewißheit des Sieges gegeben.

Gegen die Dolchstoßlegende In seiner Studie „Der 29. September 1918“, die wir zu Becks wichtigsten Arbeiten rechnen müssen, hatte der Generaloberst in scharfsinniger Analyse die Vergangenheit und zugleich die Zukunft bewältigt. Von der Zukunft, d. h„ von seiner Absicht für die Beendigung des zweiten Weltkriegs, über die er sich dabei theoretische Klarheit verschaffte, ist oben die Rede gewesen; aber auch über die Bewältigung der Vergangenheit, d. h. ihrer Irrtümer, die im zweiten Weltkrieg noch weiterwirkten, muß gesprochen werden. Die Abkehr Becks von der sogenannten „Do’chstoßlegende" hat sich dabei vollzogen, auch wenn dies aus taktischen Gründen nicht direkt beim Namen genannt wird.

Beck hatte die verhängnisvolle Bedeutung des Vorrangs des rein Militärischen vor dem Politischen erkannt, der im Ersten Weltkrieg unter der Obersten Heeresleitung Hindenburg-Ludendorff ihren Höhe-, aber auch ihren Kulminationspunkt erreicht hat. So schreibt er über diese OHL: „Ihre unumschränkte Autorität hatte schon immer eine bedenkliche Kehrseite gehabt. Am 29. September und in den folgenden Tagen, die nur drastische Beispiele für die souveräne Stellung der Obersten Heeresleitung liefern, wurde jene Autorität geradezu zum Verhängnis." Vor allem habe bei Ludendorff „dessen überreichen militärischen Gaben doch wohl gerade in diesen Tagen ein Mangel an Ver-ständnis für politische und psychologische Zusammenhänge“ gegenüberstanden. So macht sich denn auch Bede einen Brief des Generals Groener an den ehemaligen Staatssekretär Hintze zu eigen, in dem dieser schrieb: „Als Ludendorff Ende September den Rücken vor der göttlichen Fügung zu beugen sich entschloß, war es militärisch der falsche Augenblick — erst mußte das Heer in eine stark gesicherte Stellung zurückgeführt sein, das heißt in die Antwerpen-Maas-Stellung. Hätte man diesen Entschluß damals sofort und schnell ausgeführt, allerdings mit größerem Verlust an Material und auch an Verwundeten, die nicht abtransportiert waren, so brauchte nicht eine politische Katastrophe daraus zu werden, wie sie sich alsdann im Oktober in der Tat entwickelt hat".

Nach dieser Studie Becks kann niemand mehr die sogenannte Dolchstoßlegende aufrechterhalten, wie das ja auch kein ernst zu nehmender Historiker nach 1945 noch einmal versucht hat. Die Studie enthält aber auch zwischen den Zeilen eine vernichtende Kritik der Führungsverfahren Hitlers in der zweiten Hälfte des Krieges, wenn der Generaloberst schreibt: „Hoffnungslos konnte die Lage . .. nur dann werden, wenn die Oberste Heeresleitung wie bisher um Geländebesitz kämpfte und damit selbst die Gefahr eines großen Durchbruchs heraufbeschwor, wenn sie also die strategische AushilfedesZurücknehmens der Fronten überall, wo es der Raum zuließ, auch weiterhin verschmähte. Noch immer hatte es also die Oberste Heeresleitung in der Hand, einer hoffnungslos werdenden Lage, vorzubeugen.“ „Der für das kämpfende Ausweichen zur Verfügung stehende Raum war im allgemeinen immerhin so tief und bot so starke natürliche Abschnitte, daß er erhoffen ließ, dieses Verfahren eine sehr geraume Zeit erfolgreich durchführen zu können. Die auf diese Weise gewonnene Zeit hatte die Politik zu nutzen“. Die Oberste Heeresleitung trägt also die Schuld am Zusammenbruch von 1918, weil sie den ersten Schritt in die verhängnisvolle Richtung der großen Vertrauenskrise tat. Sie „beging gleichzeitig einen militärischen, psychologischen und politischen Fehler“, und diese Summe von Fehlleistungen ist dann die Ursache der Niederlage von 1918 geworden. Die „Politik“ der Obersten Heeresleitung hatte bankrott gemacht, die sich auf einen rein militärischen „Sieg" -und damit auch auf einen Diktat-Frieden von deutscher Seite versteifte.

IV. Die Vermeidbarkeit des Krieges

Gegen den „totalen Krieg" Ludendorffs Am tiefsten und wohl auch am bedeutungsvollsten für die Zukunft der deutschen Wehrauffassung ist die Auseinandersetzung Becks mit dem totalen Krieg in der letzten der Studien vor seiner schweren Krebserkrankung Ende 1942. In dieser Studie setzt er sich mit all der sachlichen Leidenschaftlichkeit, deren er fähig ist, in der Hauptsache mit Ludendorff und dessen Schrift „Der totale Krieg“ auseinander, die bekanntlich in der These gipfelt, der Krieg sei der höchste Ausdruck des völkischen Lebenswillens. Aus dieser These hat dann Ludendorff auch die Forderung abgeleitet, die Politik habe dem Kriege, der Staatsmann dem Feldherrn zu dienen. Das war die vollständige Umkehrung der klassischen Kriegstheorie, weil sich damit das Instrument zum Beherrscher der Intelligenz des Staates und der Staatskunst aufwarf, während Clausewitz kategorisch erklärt hatte, es sei vollkommen gewiß und klar, daß der oberste Standpunkt für die Leitung des Krieges, von dem die Haupt-linien ausgehen, kein anderer als der der Politik sein könne.

Gegen diese Verkehrung der klassischen Kriegs-theorie durch Ludendorff, den eigentlichen Feldherrn des ersten Weltkriegs auf deutscher Seite, wandte sich Beck in seinem Vortrag im Juni 42 vor der Berliner Mittwochgesellschaft. Aber sein Angriff, der übrigens die rein militärische Leistung und Größe Ludendorffs niemals in Zweifel zog, richtete sich natürlich auch gegen die völkische Kriegsideologie Hitlers, dem Ludendorff tn militärischen und soldatischen Kreisen, auf die er ja großen Einfluß besaß, die Wege bereitet hatte. Für den Clausewitz-Schüler Beck wie für seine Schüler im Generalstab aber bedeutet Krieg auch im 20. Jahrhundert die ultima ratio, den letzten noch zu verantwortenden Ausweg, wenn alle anderen politischen und diplomatischen Mittel versagten oder ein Staat überfallen wurde. Die mythische Glorifikation des Krieges aber war ganz und gar gegen den klassisch nüchternen Geist des rheinischen Humanisten Beck und seiner Anhänger. Ja, für den staatsmännisch durchgebildeten und sich verantwortlich fühlenden Strategen mit dem Gewissen des Christen ist ein solcher Krieg um des Krieges willen einfach das Übel im Sinne der siebten Bitte des Vaterunsers. Dieses Übel muß nach Beck an der Wurzel gefaßt werden, um den Krieg überhaupt wieder auf den Platz zu verweisen, der ihm allein zukommt als dem allerletzten Mittel der Politik, wenn ein Staat z. B. überfallen wird. In diesem Zusammenhang erklärt dann der Generaloberst wörtlich: „Wehe aber, wenn die Politik nicht nur im Fahrwasser des totalen Krieges bleibt, sondern sogar zu ihrem aktiven Wegbereiter wird." Damit gibt Bede zu erkennen, daß der Soldat durchaus nicht verpflichtet ist, jeder Art Politik blindlings zu gehorchen, vor allem dann nicht, wenn sie offensichtlich ihrer politischen und humanen Verantwortung nicht mehr bewußt ist.

Um diese humane Verantwortung hat sich der Generaloberst überhaupt immer sorgenvolle Gedanken gemacht, je mehr er an der Spitze seines „Schattenkabinetts“ als vorgesehener „Reichsverweser“ in staatsmännische Verantwortung hineinwächst. So kommt es in den letzten Jahren seines Lebens in diesem Zusammenhang auch in seiner Auseinandersetzung mit dem Urphänomen des Krieges überhaupt, über das Beck schließlich zu der Einsicht gelangt: „Den Krieg können wir nicht abschaffen. Jedes Nachdenken über die von Gott gewollte Unvollkommenheit des Menschen muß immer wieder zu diesem Resultat führen. — Anders erscheint es mir mit der Überwindung der Lehre vom totalen Krieg. Sie ist nicht aussichtslos, solange und so weit es die Politik vermag, sich von der Abhängigkeit von der Lehre vom totalen Krieg freizumachen“.

So wendet sich der Generaloberst nicht nur gegen die These Ludendorffs, daß der totale Krieg die künftige alleinige Kriegsart bilden werde; noch entscheidender will seine Polemik die Praxis Hitlers treffen, der unterdessen bereits der Welt den totalen Krieg erklärt hat, während er auf dem europäischen Kontinent durchaus Frieden z. B. mit Frankreich oder auf dem Balkan hätte schließen können. Bede verweist demgegenüber auf die deutschen Einigungskriege, in denen das militärische Kriegsziel wie der politische Zweck des Krieges vorbildlich rasch und ohne das Eingreifen Dritter erreicht wurde. Es liegt auf der Hand, daß Beck nur diese staatsmännisch eingeleiteten und verantwortenden Kriege überhaupt gelten läßt, während er mit Recht darauf verweist, daß Begriffe wie Vernichtungskrieg, Existenzkrieg, Volkskrieg einen ideologischen Beigeschmack von Strafe, Ausrottung und Unterjochung usw. erhalten, die mit der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln nichts mehr zu tun haben.

Alles in allem gesehen ist Becks Auseinandersetzung mit der Lehre vom totalen Krieg sein eigentliches wehrpolitisches Testament. Sie bedeutet zugleich die Wende von der klassischen Kriegstheorie zu der offenbaren Tendenz, den Krieg nach Möglichkeit zu vermeiden oder ihn soweit wie möglich einzuschränken. Dieser Tendenz hat der Soldat Bede in staatsmännischer Verantwortung Raum gegeben und ihre Voraus-Atzungen folgendermaßen begründet: „Die Auseinandersetzung kann sich nicht nur auf militärisches Gebiet beschränken, sondern sie muß auch Fragen einbeziehen, die aufzuwerfen und u beantworten dem Militär vielleicht schwerer vird als anderen Menschen, da sie ihn — mindestens scheinbar — gelegentlich in Konflikt bringen mit überkommenen soldatischen Auffassungen. Aber wer die Problematik des Krieges erforschen will, muß sich über den Krieg als Handwerk erheben. Er muß bis zu ihren geistigen Fundamenten vorstoßen, den geschichtlichen ebensowohl wie den kulturellen und moralischen. So muß er vor allem eine klare Stellung zu finden suchen zu Fragen wie: Inhalt und Aufgabe der Politik, die Rolle der Politik im staatlichen Leben, die Handhabung der Politik durch die Staatsführung, das Verhältnis zwischen Politik, Moral und Recht, kurz zu dem Zusammenleben der Völker in einer von Gott gelenkten sittlichen Welt. Nur wenn das Problem des totalen Krieges in seiner ganzen Tiefe bloßgelegt wird, scheint mir die Aussicht zu bestehen, einen zutreffenden Standpunkt des Urteils ihm gegenüber und damit zur Frage des KriegesinderZukunftüberhaupt zu gewinne n.“ (Vom Vers, gesperrt.)

Die neue Einstellung des Soldaten zur Politik Aus dem Katalog der oben benannten Fragen kann man ablesen, wie ernst Bede seine künftige Aufgabe als „Reichsverweser“ genommen und welche Verpflichtungen für sich selbst er daraus abgeleitet hat. Mit der letzten seiner großen Studien hat er damit den Durchbruch zum politisch denkenden Soldaten und zur staatsmännischen Verantwortung vollzogen. Er hat aber auch als Kriegs-und Wehrtheoretiker für die Zukunft eine Neuorientierung eingeleitet, die heute vollendet werden muß. Denn Becks Thesen bedeuten eben nicht nur die Rückkehr zur klassischen Kriegsphilosophie, deren Kompaß die Vernunft ist, sondern auch deren schöpferische Weiterentwicklung in Hinblick darauf, daß sich der Krieg immer mehr seiner „absoluten Gestalt“ nähert, also immer weniger als politisches Instrument noch in Frage kommen kann, wie schon Clausewitz erkannt hat. Bei seinen kritischen Analysen dient Beck die Kriegsgeschichte nicht etwa als Tätigkeitsfeld des „nach rückwärts gewandten Propheten“, sondern als Lehrmaterial und Modellfall für die Zukunft. Nur unter diesem Gesichtspunkt sind auch seine Studien über den Ersten Weltkrieg richtig zu werten.

Demgemäß geht es Beck jetzt nicht mehr um den Krieg an sich, sondern um die höchste Leistung der Politik, um die Erhaltung der Gewinnung des politischen Friedens. Mit der Kriegsphilosophie wie mit Carl Schmitt übereinstimmend, dessen „Begriff des Politischen“ zitiert wird, weist der Generaloberst darauf hin, daß gerade das politisch Riditige in der Vermeidung des Krieges liegen könne. So sagt ja auch Clausewitz: „Gibt es Unternehmungen, die vorzugsweise geeignet sind. Bündnisse unseres Gegners zu trennen oder unwirksam zu machen, uns neue Bundesgenossen zu erwerben, politische Funktionen zu unserem Besten anzuregen usw., so ist leicht begreiflich, wie dies die Wahrscheinlichkeit des Erfolges sehr steigern und ein viel kürzerer Weg zum Ziele werden kann als das Niederwerfen der feindlichen Streitkräfte.“ (A. a. O. S. 116 f.)

An diesen Einsatz der politischen Mittel hat Beck gedacht, wenn er sich gegen den totalen Krieg wendet und ihm den Begriff der totalen Politik gegenüberstellt — nicht zu verwechseln mit der totalitären —, die er folgendermaßen erläutert: „Wenn ich meinerseits dem Begriff der totalen Politik . . . einen Inhalt zu geben suche, so verstehe ich unter ihr das Meistern der Totalität des menschlichen Ringens im eigenen Volk und von diesem mit den anderen Völkern und zwar durch eine Staatsführung, welche die jeweiligen Ziele unter der richtigen Einschätzung aller Kräfte ... zu finden und bestimmen versucht und die sich ergebenden Aufgaben sinnvoll aneinanderreiht . . . Denn die Politik hat alle Faktoren in Rechnung zu stellen, die das Leben eines Staates intra et extra muros ausmachen. Sie hat heute noch besonders die mit dem totalen Krieg verbundene, immer klarer zutage tretende Erfahrung abzuwägen, daß selbst bei militärischem Erfolg die Lage von Volk und Staat nach Kriegsende unbefriedigend bleiben, ja schlechter sein kann als vorher.“ (A. a. O. S. 243)

Bei dieser Entwicklung ist es naheliegend, daß Beck den ehrenvollen und nützlichen Aus-gleidi der grundsätzlichen Gewaltanwendung vorzieht. Des weiteren gibt er zu bedenken, daß man einen Krieg zwar rein militärisch total gewinnen kann, aber noch lange nicht den Frieden. Er weist ferner auf die Gefahr hin, daß sich im technischen Zeitalter die Kriegsvorbereitung zu einem unersättlichen Moloch auswachse und warnt vor der zunehmenden Skrupellosigkeit in der Anwendung der Mittel. „Schwer zu glauben“, schreibt der soldatische Vorkämpfer der Politik als der Kunst des Möglichen und Vernünftigen, „daß auf der Grundlage des totalen Krieges ein guter Frieden entstehen kann, dessen Kennzeichen es ist, wie Bismarck es einmal ausgedrückt hat, daß noch nach fünfzig Jahren die beteiligten Staaten ihn als solchen anerkennen . . . Denn ohne Maß, wie es der totale Krieg seiner Natur nach ist, kann es ihm kaum gelingen, ein polirisch maßvolles Ende herbeizuführen.“ Das haben dann ja auch die Völker am Ende des zweiten Weltkrieges erlebt.

Aber Beck ist nicht nur ein scharfsinniger Analytiker und eindringlicher Warner; er zeigt auch konstruktive Mittel und Wege. So schreibt er weiter: „Von der Seite der Gewalt her ist das Problem des totalen Krieges ebensowenig zu lösen, wie das Problem des Krieges überhaupt. Es bleibt nur der Weg der Politik, einer Politik, die neben allem berechtigten Egoismus der Moral und dem Recht ihre durch lange und bittere Erfahrung erhärtete Bedeutung wahrt, der Vernunft den Vorrang vor der Leidenschaft läßt und sie dadurch vor Maßlosigkeit schützt und welche die Politik wieder zu dem macht, was Bismarck die Kunst des Möglichen genannt hat.“ Voraussetzung für die Führung einer solchen Politik ist allerdings nach Beck, daß ihr die rechtmäßige Stellung über dem Kriege, also der Gesamtfunktion über einer Teilfunktion eingeräumt wird. Aber nicht nur auf das als theoretisch richtig Erkannte komme es an, sondern mehr noch auf die Männer, die berufen sind, politisch zu führen. Von ihnen, darauf läuft Becks Gedankengang hinaus, und zwar nicht nur von ihrer Tatkraft und ihren Talenten, sondern vor allem auch von ihrem Charakter und dessen Integrität im Umgang mit der Macht, hängen nicht nur Gedeih und Verderb ab der Staaten und Gemeinwesen, sondern die gedeihliche Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft überhaupt. Deshalb die überragende Bedeutung der Politik in einem Zeitalter, dem zum Austragen seiner Konflikte nicht mehr der Waffengang wie in früheren Zeiten zur Verfügung steht. Über diese „totale Politik", d. h. die Politik totaler Verantwortung, hat sich Beck Gedanken gemacht, die er folgendermaßen formuliert: „Die Regelung des Lebens der Völker untereinander ist die tägliche Aufgabe der praktischen Politik.

Sie ist wie die Strategie ein flüssiges Element, das sich den Personen und Verhältnissen anpas-sen muß und nur das Mögliche erreichen kann. Sie verlangt Kenntnis der eigenen Geschichte und der Geschichte anderer Völker, Blick für die in der Welt wirkenden Kräfte und die jeweilige Lage. Sie verlangt ferner aber auch Rücksicht auf die vielen Imponderabilien, die sich schon aus der einen Tatsache ergeben, daß kein Volk auf dieser Welt allein lebt, daß Gott vielmehr auch noch andere Völker geschaffen hat und sich entwickeln ließ, ohne unter ihnen eine Rangordnung festzusetzen, und daß kein Kultur-volk auf sich allein gestellt bleiben kann."

Prognosen für die Zukunft Aufgrund dieser Voraussetzungen stellt Beck dann eine Reihe von Prognosen, die heute noch so aktuell und interessant sind wie im Jahre 1941, als sie niedergeschrieben bzw. ausgesprochen wurden. Wir fassen sie hier in gedrängter Kürze zusammen: 1. Die technische Entwicklung, die die Welt immer mehr verkleinert, wird notwendig zur Bildung immer größerer Wirtschaftsräume führen, die zunächst unseren Kontinent zu umfassen haben werden. 2. Die geographische Lage eines Staates ist eine gegebene Größe. Deutschland als ein Land mitten in Europa muß eine behutsamere Politik treiben, als es für manche seiner Nachbarn nötig ist. 3. Konkurrenz-und Machtkämpfe sind im Leben der Völker untereinander nicht auszuschalten. Für die Schlichtung von Fragen, die sonst nicht zu lösen sind, können als übergeordnet anerkannte Gremien eine Aushilfe schaffen. 4. Vertrauen in die Ehrlichkeit des Partners ist für die gegenseitigen politischen Beziehungen ebenso wichtig wie im Geschäftsleben. 5. Das letzte Mittel im politischen Verkehr der Staaten untereinander wird auch in Zukunft deren bewaffnete Macht bleiben. „Das scharfe Schwert in der Scheide"

Wie und warum aber bleibt nach Beck die bewaffnete Macht trotzdem das letzte Mittel im Verkehr der Staaten untereinander? Was sind die Aufgaben der Armee in einem Zeitalter, das ganz von der Politik beherrscht wird? Ist da mit dem Krieg nicht auch das Kriegsinstrument mehr oder minder überflüssig geworden? Die Antwort geht aus der Beckschen Wehrtheorie hervor: Man kann ebensowenig rein politisch, d. h. ohne Macht-und Schutzmittel, also ohne Schwert Politik machen, wie es auf der anderen Seite falsch war, gestern die politischen Probleme mit rein militärischen Mitteln lösen zu wollen. Die geschichtliche Erfahrung hat jedenfalls immer von neuem die Untrennbarkeit wirklicher Staatskunst von der bewaffneten Macht erhärtet. Aber es kommt eben darauf an, daß die Politik auch wirkliche Staatskunst ist und von ihrem Machtinstrument einen klugen und einfallsreichen Gebrauch macht, während der Krieg heute in jedem Fall der Bankrott der Politik ist, wie schon Seeckt gesagt hat. So fährt denn Beck fort, nachdem er die Unentbehrlichkeit der Armee für das politische Leben nachdrücklich konstatiert hat: „Das Schwert ..., das jeder Staat grundsätzlich berechtigt ist bereitzuhalten, braucht nicht nur zum Zweck seines sofortigen Gebrauchs scharf gehalten zu werden, sondern sein Vorhandensein wird oft genügen und sein Ziehen entbehrlich machen.“ Also die , Army in being’ als politische Forderung, wie die englische Flotte einmal als Fleet in being die allgegenwärtige Macht Großbritanniens darstellte, auf der ganzen Welt Gewalttätigkeit und Anarchie niederzuhalten und vor allem im gesamten britischen Empire die Pax Britannica zu garantieren, weil es eben keinen Frieden gibt, den nicht auch ein Machtinstrument gegenüber dem Allzu-Menschlichen gewährleistet. An anderer Stelle, nämlich in der Studie „Der 29. September 1918“ (S. 215) hat das Bede folgendermaßen ausgedrückt: „Für den Staatsmann kann das scharfe Schwert in der Scheide ein wirksameres Mittel der Politik sein als das unter Umständen vergeblich gezogene.“

Es geht also dem Generalobersten darum, mit dem Rückhalt an einer schlagkräftigen bewaffneten Macht eine kluge, maßvolle, aber auch zielbewußte Staats-und Realpolitik zu treiben. Wenn sie auf höchster Ebene, genau wie die militärische Strategie, ein „System von Aushilfen“ darstellt, dann setzt sie aber auch wie diese weit vorausschauende Planung, schöpferische Leistung und eine Wendigkeit der Verfahren voraus, wie sie der bloß statischen oder restaurativen Politik in der Regel fremd ist. Denn diese wird nur den Status quo zu erhalten suchen und deshalb immer nur von Fall zu Fall handeln und lavieren. Sie läuft deshalb immer Gefahr, von einer Politik mit entschiedener Strategie der politischen Zielsetzung überspielt zu werden. Das steht allerdings noch nicht bei Bede. Seine Studie gegen den totalen Krieg endet vielmehr mit einem Appell an den sittlichen Idealismus, der wert ist, zur allgemeinen Kenntnis gebracht zu werden: „Die Überwindung der Lehre vom totalen Krieg als einem unentrinnbaren Faktum setzt also letztlich einen neuen sittlichen Idealismus voraus. Nur Idealismus vermag auch den Glauben an eine Idee als Aufgabe zu wecken und stark zu erhalten, und, sollte das Ziel auch nie vollständig erreicht werden, wie dies vom ewigen Frieden angenommen werden muß, es doch zu ermöglichen, ihm in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung immer näher zu kommen.“

V. Uber Beck hinaus

Auch Ideen als „Zweige am Baum der Erkenntnis" haben die Eigenheit, daß sie blühen, wachsen und Früchte bringen. So hat sich auch die Kriegsphilosophie von Clausewitz nach ihrer Wiedergeburt im Haupt des Generalstabs des deutschen Heeres vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges nach 1939 zu einer humanistischen Wehrtheorie gewandelt, mit deren Hilfe der vorgesehene „Reichverweser“ Beck der antipolitischen Totalität des zweiten Weltkrieges ein Ende machen wollte. Die von ihm inaugurierte Erhebung des Jahres 1944 ist unter tragischen Umständen gescheitert, Beck selbst am Abend des 20. Juli aus dem Leben geschieden. Aber seine geistige Leistung bleibt: In seinen Studien hat er zwar keine systematische und methodische, aber so viele Ansätze zu einer zeitgerechten, neuen Wehrtheorie hinterlassen, daß er in der Tat als anderer Clausewitz gelten kann, und zwar nicht nur für die Deutschen, sondern für die gesamte atlantische Gemeinschaft. Er muß nur richtig ausgedeutet und schöpferisch weiterentwickelt werden, so wie er es selbst mit dem Alt-und Großmeister der Kriegstheorie getan hat.

Wir befinden uns heute einer anderen Situation als Beck gegenüber, d. h. bestimmten Folgeerscheinungen des totalen Krieges, die er bereits voraussah, auf die wir uns aber ganz einstellen müssen. Eine Synthese zwischen dem Realismus von Clausewitz und dem gebändigten, aber doch bis zuletzt wirksamen Idealismus von Beck ist dazu notwendig. In der gegenwärtigen Weltlage, d. h. bei der Fortdauer des kalten und psychologischen Krieges wird es sich z. B. als unzuträglich erweisen, eine Politik des Ausgleichs verfolgen zu wollen, weil diese nur auf immer neue Zugeständnisse hinausliefe. Man sollte aber daran erinnern, welche Fingerzeige Clausewitz dazu gibt, wenn er sagt: „Läßt man den Einfluß des politischen Zwecks auf den Krieg einmal zu, wie man ihn denn zulassen muß, so gibt es keine Grenze mehr und man muß sich gefallen lassen, auch zu solchen Kriegen herunterzusteigen, die in bloßer Bedrohung des Gegners und in einem Subsidium des Unterhandelns bestehen ... Die ganze Kriegskunst verwandelt sich dann in bloße Vorsicht und diese wird hauptsächlich darauf gerichtet sein, daß das schwankende Gleichgewicht nicht plötzlich zu unserem Nachteil umschlage und der halbe Krieg sich in einen ganzen verwandle.“ (A. a. O. S. 887)

Im übrigen hat die Theorie auch schon bei Clausewitz in ihrem klassischen Rationalismus, der die Vernunft obenanstellt, eine ausgesprochen humanistische Tendenz. Am großartigsten kommt das in dem Abschnitt B des berühmten sechsten Kapitels des achten Buches mit dem Titel „Der Krieg ist ein Instrument der Politik" zum Ausdruck, in dem die Politik folgendermaßen definiert wird: „Daß die Politik alle Interessen der inneren Verwaltung, auch die der Menschlichkeit und was sonst der philosophische Verstand zur Sprache bringen könnte, in sich vereinigt und attsgleicht, wird vorausgesetzt; denn die Politik ist ja nichts an sich, sondern ein bloßer Sachverwalter aller dieser Interessen gegen andere Staaten. Daß sie eine falsche Richtung haben, dem Ehrgeiz, dem Privatinteresse, der Eitelkeit der Regierenden vorzugsweise dienen kann, gehört nicht hierher; denn in keinem Fall ist es die Kriegskunst, welche als ihr Präzeptor betrachtet werden kann, und wir können hier die Politik nur als Repräsentanten aller Interessen der ganzen Gesellschaft betrachten“. (A. a. O. S. 891.)

In diesem Sinn wie in dem der Formulierungen Becks, wie er sie für die Ziffer 1, der im Jahre 193 5 erschienenen „Truppenführung" gebraucht hat, wäre heute die Politik als Staatsführung m. E. folgendermaßen zu definieren: „Die Staats-führung ist eine Kunst. Sie ist eine freie schöpferische Tätigkeit auf philosophischer, moralischer und wissenschaftlicher Grundlage. An die Persönlichkeit stellt sie die höchsten Anforderungen.“ POLITIK UND ZEITGESCHICHTE AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Joseph M. Bochenski: „Sowjetologie"

R. Boqatsch: „Hitler und die Kriegführung im Mittelmeerraum"

Karl Dietrich Bracher: „Plebiszit und Machtergreifung"

R. Taylor Cole: „Die Verfassung des Bundesstaates Nigeria"

Ludwig Dehio: „Deutschland und das Epochenjahr 1945"

Romano Guardini:

„Der Glaube in unserer Zeit"

Helmut Krausnick: „Unser Weg in die Katastrophe von 1945"

Frederic Lilge: „Makarenko"

Philip E. Mosely: „Chruschtschows Parteikongreß"

Fortsetzung auf der nächsten Seite Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Georg Paloczi-Horvath: „Mao Tse-tung Eine politische Biographie"

Werner Richter: „Bismarck"

Carl Günther Schweitzer: „Hat die Weltgeschichte einen Sinn?"

Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"

Alfred Wolfmann: „Diskussion mit einem Kommunisten"

Egmont Zechlin: „Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche (IV. Teil) * * * „Die Rolle des Parlaments bei einer kommunistischen Machtergreifung"

Fussnoten

Fußnoten

  1. K. F. Köhler-Verlag, Stuttgart.

Weitere Inhalte

Wilhelm Ritter von Schramm, Dr. phil., Schriftsteller, geb. am 20. 4. 1898 in Hersbruck/Mfr. Veröffentlichungen u. a.: Gefallene, 1919; Radikale Politik. Die Welt diesseits und jenseits des Bolschewismus, 1932; Rommel, Schicksal eines Deutschen, 1949; Der 20. Juli in Paris, 1953.