Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags, Frankfurt a. M„ dem Buche „Die Idee des Nationalismus“ entnommen.
Der moderne Nationalismus hat seinen Ursprung in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Seine erste große Offenbarung war die Französische Revolution, sie gab der neuen Bewegung verstärkte Antriebskräfte. Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts trat dann der Nationalismus in einer ganzen Reihe von weit auseinanderliegenden europäischen Ländern beinahe gleichzeitig in Erscheinung. Seine Zeit in der Entwicklung der Menschheit war gekommen. Aber die Französische Revolution bezeichnet nicht den Zeitpunkt seiner Entstehung, sie war nur einer der mächtigsten Umstände, die zu seiner Verdichtung und Ausbreitung beitrugen. Gleich allen anderen Strömungen in der Geschichte ist auch der Nationalismus tief in der Vergangenheit verwurzelt. Die Voraussetzungen, die sein Erscheinen ermöglichten, waren durch die Jahrhunderte gewachsen und gereift, bevor sie sich zu seiner Gestaltung zusammenfugten. Die Entwicklungszeit dieser politischen, wirtschaftlichen und geistigen Elemente war eine lange, und in den verschiedenen Ländern waren ihre Fortschritte sehr unterschiedlich. Es ist auch nicht möglich, sie etwa nach dem Maße ihrer Bedeutung einzustufen und sie in bestimmte Beziehungen gegenseitiger Abhängigkeit zu setzen. Alle sind sie engstens untereinander verknüpft und beeinflussen sich gegenseitig. Ihre Entwicklung kann man wohl getrennt zurückverfolgen, aber ihre Auswirkungen und Folgen können ausschließlich in der wissenschaftlichen Analyse voneinander gesondert werden; in der Wirklichkeit des Lebens sind sie unlösbar verflochten.
Nationalismus ist undenkbar ohne die Voraussetzung der Idee der Volksouveränität, ohne eine grundsätzliche Überprüfung der Stellung von Herrscher und Beherrschten, von Klassen und Kasten. Mit Hilfe einer neuen Naturwissenschaft und eines neuen Naturrechts, wie Grotius und Locke es vertraten, mußte die herrschende Anschauung über Welt und Gesellschaft verweltlicht werden. Das Auftreten des Dritten Standes lenkte die Aufmerksamkeit von den Fürstenhöfen und deren Zivilisation auf das Leben, die Sprache und das Geistesschaffen des Volkes. Dieser neue Stand fühlte sich durch Tradition waniger gebunden als Adel und Klerus; er verkörperte eine neue Kraft, die nach neuen Zielen strebte; er war bereit, mit der Vergangenheit zu brechen, und er setzte sich in seinen Theorien in weit höherem Maße über die Tradition hinweg als er es in der Praxis tat. Bei seiner Konstituierung nahm er für sich in Anspruch, der Vertreter des gesamten Volkes und nicht nur eines einzelnen Standes und seiner Interessen zu sein. Dort, wo im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts der Dritte Stand zu Kräften gelangte — wie in Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten — drückte sich der Nationalismus vorwiegend, jedoch nicht ausschließlich, in Veränderungen des politischen und wirtschaftlichen Gefüges aus. Dort hingegen, wo sich der Dritte Stand noch zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in einem schwachen Anfangsstadium befand, etwa in Deutschland, Italien und den slawischen Län-dern, fand der Nationalismus seinen stärksten Ausdruck auf kulturellem Gebiet. Bei diesen Völkern richtete sich in seinem Anfangsstadium der Nationalgedanke weniger auf einen Nationalstaat als vielmehr auf den Volksgeist und seine Offenbarungen in Literatur, in Märchen, Sagen und Sprichwörtern, in der Muttersprache und in der Geschichte. Als im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts der Dritte Stand an Bedeutung zunahm und der politische und kulturelle Wille der Massen erwachte, wandelte sich dieser kulturelle Nationalismus sehr bald in das Verlangen nach der Gestaltung eines Nationalstaates.
Absolutes Fürstentum -Schrittmacher des Nationalismus
Nationalismus verlangt die Zusammenfassung der Masse der Bevölkerung in einer gemeinsamen politischen Form. Deshalb ist das Bestehen einer zentralisierten Regierungsform über ein weites und eindeutig bestimmtes Land-gebiet, sei dieses nun als Tatsache verwirklicht oder erst als Ideal erstrebt, eine unerläßliche Voraussetzung für das Dasein des Nationalismus. Diese Regierungsform wurde durch das absolute Fürstentum, den Schrittmacher des modernen Nationalismus, geschaffen. Die Französische Revolution übernahm die auf Zentralisierung gerichteten Bestrebungen der Fürsten und führte sie fort; gleichzeitig erfüllte sie den zentralistischen Apparat mit einem neuen Geist und verlieh ihm eine bislang unbekannte Kraft des Zusammenschlusses. Nationalismus ist undenkbar vor dem zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Jahrhundert entwickelten modernen Staat; er übernahm seine Form, aber er verwandelte sie, indem er sie mit einem neuartigen Lebensgefühl und mit einer neuartigen beinahe religiösen Inbrunst belebte.
Einige der Elemente, aus denen sich der Nationalismus aufbaut, gehören zu den ältesten und ursprünglichsten Gefühlen des Menschen; Gefühle, die man überall in der Geschichte als wichtige Faktoren bei der Bildung gesellschaftlicher Gruppen feststellen kann. Der Mensch hat die natürliche Veranlagung, seinen Geburtsort oder den Ort, an dem er seine Kindheit zugebracht hat, dessen Umgebung, sein Klima, die Züge seiner Hügel und Täler, Flüsse und Bäume zu lieben. (Wir empfinden sie als „natürlich“, nachdem sie seit unvordenklichen Zeiten durch die Umstände des geselligen Lebens in uns hervorgerufen wurde.) Der ungeheuren Macht der Gewohnheit sind wir alle untertan, und selbst wenn wir in einem fortgeschrittenen Entwicklungsstadium durch das Unbekannte und den Wechsel angezogen werden, so ist die Rückkehr und die innere Ruhe beim Anblick des Vertrauten doch immer wieder beglückend. Der Mensch hat eine leicht erklärbare Vorliebe für seine Muttersprache, da sie meist die einzige ist, die er wirklich versteht und beherrscht. Einheimische Sitten und Speisen zieht er den fremden vor, weil diese ihm unverständlich und unverdaulich erscheinen. Und wenn er verreist, so wird er mit einem Gefühl der Entspannung zum eigenen Tisch und Stuhl zurückkehren; die Tatsache, daß er wieder zu Hause ist, erlöst von den Anstrengungen, die der Aufenthalt in fremden Ländern und der Verkehr mit fremden Völkern mit sich bringen, wird in ihm ein erhebendes Freudengefühl auslösen. Kein Wunder, daß er auf die einheimische Lebensart stolz ist, und daß er gerne von deren Überlegenheit überzeugt ist. Da diese scheinbar die einzige ist, unter der sich zivilisierte Menschen seinesgleichen wohl fühlen, ist sie dann nicht auch die einzige, die für menschliche Wesen überhaupt in Frage kommt? Andererseits erweckt in ihm auch die Berührung mit fremdländischen Menschen und Sitten, die ihm unbekannt und fremd und deshalb auch furchterregend sind, Mißtrauen gegen alles Ausländische. Lind durch dieses Bewußtsein des Andersartigen werden in ihm Überlegenheitsgefühle, ja manchmal sogar offene Feindseligkeit erweckt. Je primitiver die Menschen sind, desto stärker wird ihr eigenes Gruppenzugehörigkeitsgefühl und ihr Mißtrauen gegenüber Fremdlingen sein.
Die natürlichen Grundelement
In dem Gedicht „Der Fremdling“ hat Rudyard Kipling diesem allgemein verbreiteten Gefühl stärksten Ausdruck verliehen:
The Stranger within my gate.
He may be true or kind, But he does not talk my talk — 1 cannot feel his mind.
I see the face and the eyes and the mouth, But not the soul behind.
The men of my own stock They may do ill or well, But they teil the lies I am wonted to, They are used to the lies 1 teil; And we do not need interpreters When we go to buy and seil.
The Stranger within my gates, He may be evil or good, But I cannot teil what powers control — What reasons sway his mood;
Nor when the Gods of his far-off land May repossess his blood.
Dieser Gefühle haben von jeher bestanden. Sie bilden die natürlichen Grundelemente des Nationalismus; der Nationalismus selbst aber ist keine „natürliche" Erscheinung, er ist nicht das Ergebnis „ewiger“ oder „natürlicher“ Gesetze; er ist das Ergebnis des Entwicklungszustandes gesellschaftlicher und geistiger Elemente zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte. Bis zu einem gewissen Grade war Nationalgefühl bereits vor der Entstehung des modernen Nationalismus vorhanden — ein Gefühl, dessen Häufigkeit und Stärke mit den Zeiten wechselte: in einigen Epochen war es fast gänzlich erloschen, in anderen wieder mehr oder weniger deutlich wahrnehmbar. Aber größtenteils war es unbewußt und unbetont. Es übte keinen tiefen und ailesdurchdringenden Einfluß auf die Gedanken und Handlungen der Menschen aus. Deutlich in Erscheinung trat es nur gelegentlich in Einzelpersonen, bei Gruppen nur in Zeiten der Not und Herausforderung. Auf die Dauer vermochte es ihre Absichten und Handlungen nicht zu beeinflussen. Es war kein zweckbewußter Wille, der die einzelnen Menschen zu einer Einheit der Gefühle, Gedanken und der Handlungsweise zusammenschweißte.
Vor dem Zeitalter des Nationalismus waren sich die breiten Schichten der Bevölkerung selten der Tatsache bewußt, daß die gleiche Sprache über große Landgebiete hinweg gesprochen wurde. Und es war auch tatsächlich nicht die gleiche Sprache; mehrere Dialekte bestanden nebeneinander, in manchen Fällen so verschieden, daß der Bewohner der einen Provinz den der benachbarten schon nicht mehr verstand. Die Umgangssprache wurde als eine von der Natur gegebene Tatsache hingenommen. Sie wurde in keiner Weise als ein politischer oder kultureller Faktor aufgefaßt und noch viel weniger zum Gegenstand politischen oder kulturellen Streites gemacht. Im Mittelalter folgerten die Menschen aus der Bibel, daß die Verschiedenheit der Sprachen das Ergebnis der Sündhaftigkeit des Menschen und Gottes Strafe für den Turmbau zu Babylon sei. Ein Sprachbewußtsein wurde nur auf Kriegszügen und beiReisen oder in den Grenzgebieten erweckt. Hierbei wurde der andersartige Charakter der fremdsprachigen Gruppen empfunden, und viele nationale Gruppen wurden erst von Anderssprechenden in ihrer Eigenart erkannt und benannt. Das griechische Wort barbaros, welches „ungewöhnlich“ oder „fremd" und folglich „ungesittet" und „unwissend" bedeutete, rührte wahrscheinlich von der Vorstellung des Stammelns oder der Unfähigkeit, sich verständlich zu machen, her, — es ist verwandt mit dem barbara des Sanskrit, welches „stammeln" oder „nichtarisch“ bedeutete. Die Slawen nannten die Germanen, mit denen sie in Berührung kamen, niewci, die „stummen" Menschen, die sich nicht verständlich machen können. Wer eine unverständliche Sprache redete, schien außerhalb des Zivilisationsbereiches zu stehen. Die Slawen, wie auch andere Völker, faßten die Sprache als eine von Natur gegebene Tatsache und nicht als kulturelles Erbe auf. Die Sprache, in der die Schätze der Kultur bewahrt und überliefert wurden, war — im mittelalterlichen Europa wie im Islam, in Indien und in China — gewöhnlich nicht die Umgangssprache des Volkes: es war eine Gelehrtensprache, zu der nur die gebildeten Stände Zugang hatten. Und selbst wenn diese Sprache nicht anderer Herkunft war, so war sie doch derart altertümlich und durchsetzt mit klassisch-literarischen Ideenverbindungen, daß sie lediglich einer kleinen Minderheit verständlich war.
Vor der Entstehung des Nationalismus wurde die Sprache nur in ganz seltenen Fällen als ein Umstand hervorgehoben, auf dem das Ansehen und der Machtbereich einer Gruppe beruhen.
Bis in die jüngste Zeit hinein blieben Fremdsprachen als Amtssprachen, als Wissenschaftliche Sprachen und als Verkehrssprache der oberen Stände im Gebrauch. Um nur ein Beispiel für viele zu nennen, sei erwähnt, daß die bretonischen Stände, die eifersüchtig über ihre Unabhängigkeit wachten, dennoch französisch sprachen, und in der Union zur Verteidigung der Freiheiten der Bretagne von 1719 führte der bretonische Wortführer keine Beschwerde in Hinblick auf den Sprachgebrauch. In den protestantischen Ländern wurde die Bibel nicht aus nationalen Motiven übersetzt, sondern rein zur Verbreitung des wahren Glaubens. Die Königin Elisabeth von England ließ Bibel und Liturgie ins Walisische übersetzen und den Gottesdienst in walisischer Sprache zelebrieren, um die Waliser aus der „Beschränktheit des Pfaffentums" zu erlösen. Während der Entwicklung des Nationalismus in den folgenden Jahrhunderten, noch überragt durch die Religion, aber die Keime der neuen Frucht bereits in sich tragend, haben die Bibelübersetzungen sicherlich zur Erweckung von Nationalgefühlen beigetragen, indem der Nationalsprache eine neue Bedeutung zukam. Durch die Ausbreitung der Volksbildung und den erweiterten Gebrauch der Drukkerpresse nahm ihre Bedeutung als kultureller Faktor in fortschreitendem Maße zu. Die Sprache wurde einheitlich, die Lokaldialekte wurden ausgelöscht oder zurückgedrängt, und sie errang unbestrittene Gültigkeit in größeren Landgebieten.
Heimatliebe - die Seele des Patriotismus
Als Ergebnis eines langwierigen und schwierigen Werdeganges wurde dieses Landgebiet zum Gegenstand der Liebe seiner Bewohner. Diese Liebe zum Heimatland, die als die Seele des Patriotismus gilt, ist keineswegs eine natürliche Erscheinung; sie ist durchaus das künstliche Erzeugnis einer geschichtlichen und geistigen Entwicklung. Die Heimat, die man von Natur aus liebt, ist das Dorf, das Tal oder die Stadt, wo man geboren wurde; ein eng begrenztes Gebiet, das man in allen seinen Einzelheiten kennt, reich an persönlichen Erinnerungen, ein Bereich, in dem man im allgemeinen sein ganzes Leben zubringt. Das gesamte Landgebiet, das, wie wir heute sagen würden, von einer Nation bewohnt wird — ein Gebiet, das sich oft durch große landschaftliche und klimatische Unterschiede auszeichnet —, war dem Durchschnittsmenschen tatsächlich unbekannt; man konnte es auch nur durch Unterrichtung oder Reisen kennen lernen. Beides war vor dem Zeitalter des Nationalismus nur einer kleinen Minderheit zugängig. Voltaire, der vor diesem Zeitalter lebte, wies darauf hin, daß „plus cette patrie devient grande, moins on l’aime, car l’amour partage s’affaiblit. II est impossible d’aimer tendrement une famille trop nombreuse qu'on connait ä peine.“
Nationalismus ist nicht, wie, einige Gelehrte, beeinflußt durch Aristoteles, behaupten, ein harmonisch angelegtes, natürliches Gewächs, qualitativ identisch mit der Liebe zu Familie und Heimat. Es wird oft angenommen, daß sich die menschliche Liebe stufenweise auf zunehmende Größenordnungen erstreckt: Familie, Dorf, Stamm oder Sippschaft, Nation — und schließlich auf die gesamte Menschheit und das höchste göttliche Wesen. Aber Heimat-und Familienliebe ist ein konkretes Gefühl, das jedermann im täglichen Leben empfinden kann, während Nationalismus und noch viel mehr Kosmopolitismus höchst kompliziert zusammengesetzte Gefüge und ursprünglich abstrakte Gefühle sind. Die Wärme der auf etwas Gegenständliches gerichteten Liebe gewinnen sie erst durch die Ergebnisse einer historischen Entwicklung, welche durch Erziehung, durch gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit und durch entsprechende politische und gesellschaftliche Einrichtungen die Zusammenfassung der Massen herbeiführt und sie mit einer Gesellschaftsgruppe identifiziert, die wegen ihrer übermäßigen Größe unmöglich noch gegenständlich erlebt werden kann. Nationalismus — das heißt unser Einssein mit dem Leben und Streben von ungezählten Millionen, die wir niemals kennen lernen werden, mit einem Landgebiet, das wir niemals in seiner Gesamtheit bereisen werden — ist qualitativ von der Liebe zur Familie oder zur engeren Heimat verschieden. In seinen Eigenschaften ist er der Liebe zur Menschheit oder der Liebe zur gesamten Welt verwandt. Beides gehört in die Kategorie von Nietzsches Fernstenliebe Also sprach Zarathustra, die er der Nächstenliebe gegenüberstellte.
Wandlungen des Nationalcharakters
Das gemeinschaftliche Leben innerhalb eines Landgebietes, das den gleichen Einwirkungen von Natur und, in einem erheblichen, wenn auch etwas geringerem Maße, von Geschichte und Rechtsformen unterworfen ist, prägt eine gewisse gemeinsame Haltung und gemeinschaftliche Merkmale aus. Diese werden oft als Nationalcharakter bezeichnet. Durch die ganze Geschichte hindurch finden wir in der Literatur sämtlicher Völker häufig Charakterbeschreibungen nationaler Gruppen, wie der Gallier oder der Griechen, der Deutschen oder der Engländer. Einige dieser Merkmale scheinen sich durch lange Zeiten zu erhalten; sie werden von Beobachtern aus verschiedenen Jahrhunderten berichtet. Andere Merkmale scheinen sich im Zuge der geschichtlichen Entwicklung zu wandeln. Es sind Fälle bekannt, in denen Merkmale, die man zu bestimmten Zeiten für die hervorstechendste Eigenschaft einer Nation hielt, einer Wandlung innerhalb eines Zeitraumes weniger Jahrzehnte unterlagen. Voltaire schrieb zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts, als man die Engländer für eine Nation mit starker Neigung zu Umstürzen und Veränderungen hielt, während man den Franzosen einen beständigen und schwerfälligen Charakter zuschrieb: „Die Franzosen sind der Ansicht, daß das Regiment auf dieser Insel stürmischer ist als das Meer, das sie umgibt, was auch durchaus den Tatsachen entspricht." Hundert Jahre später herrschte allgemein die genau gegenteilige Ansicht über Engländer und Franzosen. Die Engländer wurden damals und werden auch heute noch in eigener und fremder Beurteilung für eine schwer-fällige Nation gehalten, die stolz ist auf ihre Abneigung gegen gewaltsamen Umsturz; die Franzosen hingegen beschrieb man als ein Volk, das sich dem gewaltsamen Aufruhr leicht und mit Vergnügen hingab.
In ähnlicher Weise wandelte sich die Ansicht über die Deutschen. Vor hundert Jahren noch hielt man sie für ein äußerst liebenswertes, dem praktischen Leben gegenüber recht unbeholfenes Volk, dem Philosophie, Musik und Dichtung wohl anstanden, nicht aber das moderne Industrie-und Geschäftswesen. Gegenwärtig jedoch bringen die Deutschen kaum, wenn überhaupt, nennenswerte Denker, Musiker oder Dichter hervor; dafür sind sie erfolgreiche Draufgänger und zähe, tüchtige Meister des modernen Industrie-und Geschäftswesens geworden. Die Mongolen waren unter Dschingis-Chan ein für seine Kampfführung bekanntes Krieger-volk, das ganz Asien und halb Europa unter sein Joch gezwungen hatte. Durch die Annahme des lamaistischen Buddhismus im sechzehnten Jahr-
hundert wurde ihr alter Kampfgeist gänzlich gebrochen; sie wurden zu friedfertigen, frommen Männern. Unter dem Einfluß des Sowjetstaates und seiner revolutionären Propaganda sind die alten Rasseninstinkte wieder erwacht; ein neues und andersartiges Lebensbewußtsein hat nun begonnen, das mongolische Volk zu beleben und seine durch die Religion auferlegten Hemmungen zu überwinden.
Die Urteile der Beobachter des Charakters nationaler Gruppen sind je nach den politischen Erfordernissen der Situation und der gefühls-mäßigen Einstellung der einzelnen Berichter verschieden gefärbt. Die Pole dieses Spielraumes der Beurteilungsmöglichkeiten können durch folgende zwei Beispiele veranschaulicht werden: Henry Morley sagt, daß „wir in der Literatur eines jeden Volkes trotz aller Gegensätze der Form, verursacht durch wechselnde gesellschaftliche Einflüsse, den einen gültigen National-charakter durchweg erkennen“. Das Gegenteil behauptet J. M. Robertson, indem er sagt, daß „die Nation als ein stetiger und personifizierter Organismus im weitesten Sinne eine metaphysische Spekulation ist“. Zwischen diesen beiden Extremen können wir uns dem Standpunkt von Sir Francis Galton anschließen. Er sagt: „Die verschiedenen Ansichten von den mannigfalti-gen Charakteren der Menschen entsprechen den verschiedenen Anforderungen, die von außen an sie herangetragen werden. Dasselbe Individuum und vielmehr noch dieselbe Rasse können sich in verschiedenen Epochen verschieden verhalten." Der Mensch und sein Charakter ist aus einer Unzahl von Komponenten zusammengesetzt; je weiter er von seinem ursprünglichen Stadium entfernt ist, in desto höherem Maße trifft dieses zu. Dieses gilt noch mehr für eine komplexe Gemeinschaft wie die Nation. Sie setzt sich aus einer überaus großen Anzahl verschiedener Individualitäten zusammen, und während ihrer Lebenszeit wird sie durch die unterschiedlichsten Einwirkungen geprägt und umgestaltet. Denn die Gesetze, unter denen alle historischen Erscheinungen stehen, heißen: Wachstum und Wandlung.
Allgemeingut der Menschheit
Der Nationalismus ist in erster Linie und vor allen anderen Dingen eine Geisteshaltung, eine Bewußtheit, die seit der Französischen Revolution in steigendem Maße Allgemeingut der Menschheit geworden ist. Im geistigen Leben des Menschen herrschen gleichermaßen ein Ichbewußtsein und ein Gruppenbewußtsein. Beides sind geistige Vorstellungsgruppen, zu denen wir durch das Erlebnis der Unterscheidung und des Gegensatzes zwischen dem Ich und der Umwelt, zwischen der Wir-Gruppe und den Außenstehenden gelangen. Das Kollektiv-oder Gruppenbewußtsein kann sich auf gänzlich verschiedene Gruppen beziehen, von denen einige — die Familie, die Klasse, die Sippe, die Kaste, das Dorf, die Sekte oder Religion und so weiter — von relativer Beständigkeit sind, während andere, wie zum Beispiel Schulkameraden, eine Fußballmannschaft, die Passagiere eines Schiffes, vorübergehender Natur sind. Bis auf einen gewissen Unterschied hinsichtlich der Dauer wird in jedem dieser Fälle das Gruppenbewußtsein bestrebt sein, eine Übereinstimmung und ein Gleichgesinntsein, die eine gemeinsame Handlungsweise erst ermöglichen, herbeizuführen. In diesem Sinne können wir von einem Gruppen-geist und von einer Gruppenhaltung sprechen. Man kann von einem katholischen Geist und von einer katholischen Haltung, von einem englischen Geist und einer englischen Haltung sprechen; genau so kann man aber auch von einem ländlichen und von einem städtischen Geist, von der Haltung einer Landbevölkerung und von der Haltung einer Stadtbevölkerung sprechen. Alle diese Gruppen entwickeln einen eigenen Charakter. Der Charakter von Berufsgruppen, wie zum Beispiel von Bauern, Soldaten oder Beamten kann gerade so genau bezeichnet werden und ist genau so beständig wie der Charakter irgendeiner nationalen Gruppe. Jede Gruppe schafft sich ihre eigenen Symbole und gesellschaftlichen Spielregeln und steht unter dem beherrschenden Einfluß von gesellschaftlichen Überlieferungen, die sich in der öffentlichen Meinung der betreffenden Gruppe äußern.
Ein Gruppenbewußtsein ist niemals ausschließlich. Die Menschen leben gleichzeitig in mehreren Gruppen. Mit zunehmender Komplexität der Zivilisation nimmt allgemein die Anzahl der Gruppen, zu denen ein Mensch sich zählen muß, zu. Diese Gruppen sind keine starren Gebilde; ihre Grenzen und ihre Bedeutung sind veränderlich. Innerhalb dieser Vielzahl von manchmal zu einander in Widerspruch stehenden Arten von Gruppenbewußtsein ist im allgemeinen eines, welches der Einzelne als das oberste und wichtigste anerkennt. Diesem schuldet er deshalb, in Fällen fraglicher Entscheidung, in erster Linie seine Loyalität. Er erklärt sich eins mit der Gruppe und ihrer Existenz, und dieses oft nicht nur für die Zeit seines Lebens, sondern auch noch über den Tod hinaus. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen dem Einzelnen und der Gruppe mag in manchen Fällen bis zum völligen Aufgehen des Individuums in der Gruppe gehen. Die gesamte Erziehung der Mitglieder einer Gruppe ist darauf gerichtet, eine gemeinsame geistige Bereitschaft zu gemeinsamer Haltung und gemeinsamer Handlung zu erwecken.
Forderung höchster Loyalität
Wir können feststellen, daß in verschiedenen Stadien der geschichtlichen Entwicklung sowie in verschiedenen Zivilisationsbereichen diese höchste Loyalität unterschiedlichen Gruppen gewidmet wird. Die moderne Geschichtsepoche, beginnend mit der Französischen Revolution, ist dadurch gekennzeichnet, daß in diesem Zeitabschnitt, und zwar nur in diesem Zeitabschnitt, die Nation die höchste Loyalität des Menschen fordert; daß alle Menschen, nicht nur ein gewisset Kreis von Einzelpersonen oder Klassen, von dieser allgemeinen Loyalitätsforderung erfaßt werden. Von jenem Zeitpunkt an werden alle Zivilisationen, die bis zum Anbruch der moderner. Epoche ihre eigenen, meist reichlich unterschiedlichen Wege gingen, mehr und mehr von diesem einen höchsten Gruppenbewußtsein, dem Nationalismus, beherrscht. Es ist schon oft bemerkt worden, daß Nationalismus und nationaler Partikularismus ausgerechnet zu jener Zeit entstanden sind, als die zwischenstaatlichen Beziehungen, Handel und Verbindungen sich in einer Art und Weise entfalteten wie nie zuvor. Die Landessprachen wurden zu literarischen und Kultursprachen erhoben, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem es am meisten angebracht gewesen wäre, alle Sprachunterschiede durch die Verbreitung von einigen Weltsprachen in den Hintergrund zu drängen. Doch dieser Standpunkt übersieht den Umstand, daß gerade die weltweite Entstehung des Nationalismus mit der Erweckung der Bevölkerungsmassen zur Teilnahme am politischen und kulturellen Leben den Weg für eine engere kulturelle Berührung sämtlicher Zivilisationen der Menschheit — die jetzt zum ersten Male auf einen gemeinsamen Nenner gebracht wurden — bereitet hat, indem er sie zur gleichen Zeit sonderte und vereinigte.
Deshalb ist der Nationalismus als ein Gruppenbewußtsein eine psychologische und soziologische Erscheinung, aber jeglicher Versuch einer psychologischen oder soziologischen Erklärung dieser Erscheinung ist unzureichend. Ein amerikanischer Psychologe hat die Nation folgendermaßen definiert: „Eine Gruppe von Individuen, die sich als eine Einheit empfindet, die — innerhalb bestimmter Grenzen — bereit ist, das Individuelle zugunsten des Gruppenvorteils aufzugeben, die als Ganzes gedeiht, in der einige Gefühlskomplexe gemeinsam empfunden werden, wo jedes einzelne Glied mit dem Fortschritt der Gruppe gedeiht und unter ihren Verlusten leidet. . . Nationalgefühl ist eine geistige Verfassung und eine gemeinsame Haltung.“ Diese Definition ist nicht nur für den Begriff der Nation gültig, sondern auch für jede andere übergeordnete Gruppe, der der Mensch Loyalität erweist und mit der er sich eins erklärt. Sie reicht deshalb nicht hin, um die nationale Gruppe von anderen Gruppen ähnlicher Bedeutung und Beständigkeit zu unterscheiden.
Die Nationalitäten sind das Ergebnis der Entwicklung der Gesellschaft im Verlaufe der Geschichte. Sie sind nicht identisch mit Sippen, Stämmen oder Volksgruppen — das heißt mit Gruppen von Menschen, die eine tatsächliche oder angenommene gemeinsame Abstammung oder eine gemeinsame Heimat verbindet. Solche ethnographischen Gruppen bestanden schon seit Anbeginn der Geschichte, und dennoch bilden sie keine Nationalitäten; sie sind lediglich ein „ethnologischer Rohstoff", aus dem unter gewissen Umständen Nationen erwachsen können. Und selbst wenn eine Nation erwächst, so kann sie doch wieder verschwinden, indem sie von einer größeren oder neuen Nation aufgesogen wird. Die Nationen sind das Wirkungsergebnis geschichtsbildender Kräfte. Sie sind deshalb in ständigem Wandel begriffen und niemals starr. Die Nationen sind Gruppen neuerer Entstehung und deshalb von vielseitiger Zusammensetzung. Ihre genaue begriffliche Bestimmung ist unmöglich. Die Nationalität ist ein historischer und politischer Begriff, und die Worte „Nation" und „Nationalität“ haben schon manchen Bedeutungswandel erlebt. Erst in der neuesten Zeit hat der Mensch begonnen, die Nation in den Mittelpunkt seines politischen und kulturellen Wirkens zu stellen. Nationalität besteht nicht an und für sich, und der größte Fehler, der für die meisten Auswüchse der Gegenwart verantwortlich ist, war, daß man sie zu einem Absoluten, zu einem a priori Seienden erhob und sie zur Quelle allen politischen und kulturellen Lebens machte.
Durch zwei fiktive Vorstellungen, denen man realen Inhalt zusprach, wurde die Nation zu einem Absoluten erhoben. Die eine besagt, daß Blut beziehungsweise Rasse die Grundlage der Nationalität sei, daß sie Ewigkeitswert besitze und ein unveränderliches Erbgut in sich trage; die andere sieht im Volksgeist den ewig sprudelnden Quell der Nationalität und ihrer Offenbarung. Aber diese Theorien bieten keine begründete Erklärung für die Entstehung und die Rolle der Nation in der Geschichte: sie verweisen uns lediglich auf mythische, prähistorische Pseudo-Realitäten; man sollte sie eher als ein für das Zeitalter des Nationalismus typisches Gedankengut auffassen und sie der Analyse durch den Historiker des Nationalismus unterwerfen.
Unterscheidung durch konkrete Merkmale
Nationalitäten entstehen nur, wenn Gemeinschaftsgruppen durch bestimmte gegenständliche Merkmale voneinander abgesondert werden. Im allgemeinen verfügen Nationalitäten über mehrere derartige Merkmale, aber nur wenige über alle. Die häufigsten sind: gemeinsame Abstammung, Sprache, Landschaft, politisches Wesen, Sitten, Traditionen und Religion. Schon eine kurze Erörterung wird genügen, um zu zeigen, daß keines von diesen Merkmalen an sich für den Bestand oder die begriffliche Bestimmung der Nation wesentlich ist.
Die gemeinsame Abstammung war für den primitiven Menschen, dem Geburt und Tod gleichgroße Mysterien waren, von großer Bedeutung; deshalb waren sie der Gegenstand von Legenden und abergläubischen Vorstellungen. Aber die modernen Nationalitäten sind ein Gemisch aus verschiedenen und manchmal sehr unterschiedlichen Rassen. Die Völkerwanderungen unserer Geschichte und die Beweglichkeit des neuzeitlichen Lebens haben überall zu Vermischungen geführt. Wenn überhaupt, so können gegenwärtig nur ganz vereinzelte Nationen eine gemeinsame Abstammung für sich in Anspruch nehmen.
Die Bedeutung der Sprache für die Entstehung und das Leben einer Nation haben Herder und Fichte betont. Aber es gibt viele Nationen, die keine eigenen Sprachen besitzen. So sprechen zum Beispiel die Schweizer vier verschiedene Sprachen, und alle latein-amerikanischen Nationen sprechen spanisch oder portugiesisch. Die englisch-sprechenden wie die spanisch-sprechenden Nationen sind teilweise ähnlicher Abstammung; sie sprechen die gleichen Sprachen, und bis vor nicht allzu langer Zeit hatten sie eine gemeinsame geschichtliche Vergangenheit, und ihre Traditionen und Sitten waren nahe verwandt. Dennoch sind es verschiedene Nationen mit oft einander entgegengesetzten Zielen. Ein anderes Beispiel dafür, daß die gegenständlichen Merkmale für die Entstehung und Fortdauer verschiedener Nationalitäten von verhältnismäßig geringer Bedeutung sind, bietet sich in Norwegen und Dänemark: hier ist die Bevölkerung gleicher Rasse, und in beiden Ländern wird beinahe die gleiche Sprache gesprochen. Und trotzdem betrachten sie sich als zwei verschiedene Nationen; die Norweger konstituierten eine eigene Sprache nur aus dem Grunde, weil sie eine selbständige Nation geworden waren.
Die Bedeutung der Sitten und Traditionen für die Nationalität hat zuerst Rousseau hervorgehoben. Zweifellos hat jede Nation ihre eigenen Sitten, Überlieferungen und Einrichtungen; aber diese zeigen oft schon große Unterschiede innerhalb einzelner lokaler Bereiche, und andererseits neigen sie dazu, sich in unseren Zeiten über die ganze Welt hin, oder doch mindestens innerhalb sehr großer Bereiche, gegenseitig anzugleichen. Heutzutage ändern sich Sitten und Gebräuche oft innerhalb kurzer Fristen.
Vor der Entstehung des Nationalismus in der Neuzeit war die Religion die große, das politische und kulturelle Leben beherrschende Kraft; dieses trifft für das westliche wie für das öst-liche Christentum, für den Islam wie für Indien-zu. Die Trennungslinien entsprachen nicht den nationalen Grenzen, sondern denen der religiösen Kulturbereiche. Deshalb wurde die Entstehung der Nationalitäten und des Nationalismus von einer Wandlung der religiösen Einstellung des Menschen begleitet, und in vielen Hinsichten übte die Religion einen teils fördernden, teils hemmenden Einfluß auf das Werden der Nationen aus. Manchmal haben religiöse Auseinandersetzungen Nationen aufgespalten oder geschwächt, oder sie haben sogar, wie im Falle der katholischen Kroaten und der orthodoxen Serben, zur Entstehung neuer Nationen beigetragen. Andererseits waren Nationalkirchen bedeutende Pflegestätten des Nationalgedankens; und wenn bei Auseinandersetzungen zwischen den Nationen Religionsunterschiede vorhanden waren, dann hat die Religion oft eine bedeutende Rolle im Verteidigungsapparat der schwächeren Nation gespielt, wie zum Beispiel der Katholizismus in Irland und preußisch Polen.
Der wichtigste äußerliche Faktor, der zur Bildung einer Nationalität beiträgt, ist das Vorhandensein eines gemeinsamen Landgebietes oder vielmehr der Staat. Politische Grenzen begünstigen die Giründung von Nationalitäten. Viele der neven Nationen, wie die kanadische, entwikkelten sich lediglich auf Grund der Tatsache, daß sie eine politische und geographische Einheit bildeten. Allgemein kann man aus Gründen, die später erörtert werden sollen, sagen, daß der Zustand der staatlichen Einheit oder der nationalen Einheit (im Sinne einer gemeinsamen Bürgerschaft unter einer territorialen Regierung) ein wesentliches Aufbauelement im Leben einer Nation ist. Der Zustand der staatlichen Einheit braucht nicht unbedingt bei der Entstehung der Nation bereits gegeben zu sein; aber in diesem Falle (wie bei den Tschechen im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert) ist es immer die Erinnerung an einen vergangenen Staat und das Streben nach staatlichem Dasein, was eine Nation im Zeitalter des Nationalismus auszeichnet.
Lebendiger Gemeinschaftswille das Wichtigste
Obgleich einige dieser sachlichen Faktoren von großer Bedeutung für die Bildung von Nationalitäten sind, so ist das Wichtigste doch ein lebendiger und reger Gemeinschaftswille. Durch den Entschluß zur nationalen Einheit entsteht die Nation. So wurde die französische Nation in der enthusiastischen Willenskundgebung von 1789 geboren. Ein französisches Volk, die Bevölkerung des französischen Königreiches, bestand auch schon vorher, genau so wie einige andere der zur Gründung einer Nation erforderlichen sachlichen Voraussetzungen. Erst das Bewußtsein und der Wille, beide neu erweckt, belebten diese Elemente und machten sie wirksam, verschmolzen sie zu einer „Quelle" von ungeheurer nach innen strebender Kraft und begabten sie mit neuem Wert und neuem Sinn. Die englische und die amerikanische Nation wurden durch gegenseitiges Übereinkommen, durch freie Willenserklärung konstituiert, und die französische Revolution entwickelte die Volksabstimmung. Hiernach wurde die Zugehörigkeit zu einer Nation nicht durch dingliche Merkmale, sondern durch eine Willenskundgebung bestimmt. Die Gründung der Schweizer Nation wurde durch Friedrich v. Schiller auf Grund einer Legende im „Wilhelm Teil“ im berühmten Rütli-Schwur dramatisiert: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern.“ Diese mythische Erklärung wurde bei der Geburt jeder Nation ausgesprochen, sei es, daß sich die Geburt nach einer langen Schwangershaftszeit im Enthusiasmus einer Revolution vollzog oder daß die Massen erst durch viele Jahre unausgesetzter Propaganda erweckt werden konnten. Als Völker, als „ethnographischer Rohstoff", als „pragmatische" und „zufällige“ Faktoren haben die Nationen schon sehr lange in der Geschichte bestanden. Aber erst durch die Entstehung des Nationalbewußtseins wurden sie zu willensfähigen und absoluten Faktoren der Geshihte. Der umfassende Gebrauch des Wortes „Nationalität“ darf uns nicht den Blick dafür verschließen, daß dieses Moment der freiwilligen Entscheidung das ist, was die Nationen der Gegenwart von dem, was man vor der Zeit der Entstehung des modernen Nationalismus manchmal als Nation bezeichnete, grundlegend unter-scheidet. Die Nation auf gegenständliche Faktoren wie Rasse und so weiter zu begründen, bedeutet einen Rückfall in das primitive Stadium des Stammes-Systems. In der Neuzeit haben die den Ideen innewohnenden Kräfte die Nationen geformt und nicht die Stimme des Blutes.
Die Nationen bilden sich aus ethnographishen und politischen Elementen, wenn der Nationalismus die von den vorausgegangenen Jahrhunderten überlieferten Formen mit Leben erfüllt. Demgemäß stehen Nationalismus und Nation in enger Wehselbeziehung. Nationalismus ist eine Geisteshaltung, von der die Mehrheit der Bevölkerung ergriffen ist und die den Anspruh erhebt, die Gesamtheit der Bevölkerung erfassen zu können; sie erkennt den Nationalstaat als die ideale Gestalt der politishen Ordnung und die Nation als die Quelle aller shöpferishen Kulturkräfte und des wirtschaftlihen Wohlstandes. Deshalb, weil sein individuelles Leben angenommenermaßen in ihrer Wohlfahrt wurzelt und durh diese ermögliht wird, shuldet der Mensh seiner Nation die höhste Loyalität. Eine kurze Untersuchung der in dieser Definition enthaltenen Elemente wird den Sahverhalt klären.
Die Geisteshaltung der Mehrheit der Bevölkerung: Wir können feststellen, daß sogar shon vor dem Zeitalter des Nationalismus einzelne Menshen Empfindungen ausgesprohen haben, die dem Nationalismus sehr ähnlih sind. Aber diese Gefühle empfanden nur vereinzelte Individuen; die Masse der Bevölkerung empfand das eigene Leben in kultureller, politisher sowie wirtshaftlicher Hinsiht niht als von den Geshicken der nationalen Gruppe abhängig. Zeiten der Unterdrückung oder der äußeren Drohung können in der Bevölkerung sehr wohl Nationalgcfühle erwecken, so wie das während der Perserkriege in Griehenland und während des hundertjährigen Krieges in Frankreich geschah. Doch solche Gefühle sind bald wieder versiegt. In der Regel haben die Kriege vor der Französischen Revolution keine tieferen Nationalgefühle erweckt. In religiösen wie in dynastischen Kriegen haben Deutsche gegen Deutsche und Italiener gegen Italiener gekämpft, ohne sich der Tatsache des „Brudermordes", der in solcher Handlung beschlossen liegt, bewußt gewesen zu sein. Soldaten wie Zivilisten sind bei „ausländischen" Herrschern in Dienst getreten und haben ihnen oft mit einer Loyalität und Treue gedient, die das Fehlen jeglichen Nationalgefühles beweist.
Der Nationalstaat als die ideale Gestalt der politischen Ordnung: die Forderung, daß die politischen Grenzen mit den ethnographischen und Sprachgrenzen übereinstimmen sollen, ist eine Forderung, die erst in jüngster Zeit erhoben wurde. Früher galt die Stadt, das Lehen oder ein vielsprachiges, durch dynastische Bande verknüpftes Staatsgebilde als die allgemein anerkannte Gestalt der politischen Ordnung und wurde häufig als die „natürliche" oder „ideale“ Form erachtet. Zu anderen Zeiten wieder glaubten die gebildeten Schichten sowie die Menge der Bevölkerung an das Ideal des universalen Weltstaates, obwohl dieses Ideal wegen der praktischen und geographischen Voraussetzungen niemals in Erfüllung ging.
Die Nationalität als Quelle des kulturellen Lebens: Während der längsten Zeit unserer Geschichte wurde die Religion als die wahre Quelle des kulturellen Lebens erachtet. Man nahm an, daß durch tiefe Versenkung in die Traditionen des religiösen Glaubens und durch die Hingabe an den Urquell allen Seins der Mensch schöpferisch würde. Zu anderen Zeiten wieder war die menschliche Bildung in der Kultur eines Standes befangen, die über alle völkischen Grenzen hinausreichte, wie zum Beispiel die ritterliche Kultur des mittelalterlichen Europas, oder die Zivilisation des französischen Hofes während des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Während und nach der Renaissance wurzelte die Bildung des Menschen im Boden der klassischen Kultur. Erziehung und Gelehrsamkeit, die Bildung des menschlichen Geistes und Charakters, war durch keinerlei nationale Grenzen beschränkt.
Die Nationalität als Quelle des wirtschaftlichen Wohlstandes: diese, wie auch die politische Entwicklung des Nationalismus wurde durch das Zeitalter der absoluten Monarchie mit seinem Merkantilismus vorbereitet. Aber der Merkantilismus war niemals mehr als ein von oben auferlegtes Schema, der Versuch, eine nationale Einheit zu erzeugen, der in seiner Ausführung auch nicht annähernd das gesteckte Ziel erreichte. In vieler Hinsicht wurde die Unordnung und Zerrissenheit des mittelalterlichen Wirtschaftslebens beibehalten und die Provinzen, Städte und Dörfer als Zentren der Produktion belassen. Der Zweck des Merkantilismus war, den Staat und seine Macht für die internationale Politik zu stärken. Das System, weldies auf den Merkantilismus folgte, die Periode des laissez faire, hatte die Förderung des individuellen Wohlstandes zum Ziele. Der Nationalismus hat im Wirtschaftsleben einen Neo-Merkantilismus hervorgerufen, wobei er, wie auch im Falle des zentralisierten Staates, die von den Monarchen errichtete Wirtschaftsform übernahm und mit neuem Leben erfüllte. Diese Entwicklung in der Wirtschaft war wesentlich jünger als das Eindringen des Nationalismus in Politik und Kultur, und sie behauptete, daß der Wohlstand des Individuums nur durch die nationalwirtschaftliche Macht gesichert werden kann.
Die Identifizierung des Individuums mit dem politischen und kulturellen Leben einer Nation vollzog sich an der Schwelledes achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts; auf wirtschaftlichem Gebiet wurde dieser Schritt erst im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert vollzogen.
Die der Nationalität geschuldete höchste Loyalität: Die österreichische Monarchie wurde solange anerkannt, als die oberste Loyalität des Menschen den rechtmäßigen Herrschern zukam. Ihr Bestand wurde fraglich, als sich das Loyalitätsgefühl von der Dynastie und auf die Nationalität verlagerte.
Es ist nur wenige Jahrhunderte her, seit der Mensch die oberste Loyalität noch seiner Kirche oder seiner Religion schuldete; damals wurde ein Ketzer genau so aus der Gesellschaft ausgestoßen wie heute ein „Verräter" seiner Nation. Die Verlagerung der obersten Loyalität auf die Nation bezeichnet den Anfang des Zeitalters des Nationalismus.
Nationalismus fordert den Nationalstaat
Der Nationalismus ist eine Geisteshaltung. Die Geschichtsentwicklung kann als eine Folge von Veränderungen der Psychologie des Gemeinschaftssinnes, der Einstellung des Menschen gegenüber allen Äußerungen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens, aufgefaßt werden. Mit einer Änderung der Psychologie des Gemeinschaftssinnes verändert sich auch die Wert-stellung solcher Faktoren wie Sprache, Land-gebiet, Tradition — und solcher Gefühle wie Liebe zur Heimat, zu Familie und Sippe. Der Nationalismus ist eine Idee, eine idee-force, die des Menschen Geist und Herz mit neuen Gedanken und neuen Gefühlen erfüllt, und die den Menschen dazu zwingt, seine Bewußtheit in geordnete Tat umzusetzen. Deshalb ist eine Nation nicht nur eine Gruppe, die durch ein gemeinsames Bewußtsein zusammengehalten und belebt wird; sie ist außerdem eine Gruppe, die das Verlangen hat, sich in dem auszudrükken, was sie für die höchste Form der geordneten Wirksamkeit hält, im souveränen Staat. Solange eine Nation dieses Endziel nicht erreichen kann, begnügt sie sich mit irgendeiner Form von Autonomie oder Vor-staatlicher Ordnung, mit der ständigen Tendenz, sich in einem gegebenen Augenblick, „dem Zeitpunkt der Befreiung“ in einen souveränen Staat zu entwickeln. Der Nationalismus fordert den Nationalstaat; die Schöpfung des Nationalstaates stärkt den Nationalismus. Hier, wie überall in der Geschichte, finden wir fortlaufende Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen.
„Die Nationalität ist eine geistige Haltung, die einem politischen Sachverhalt entspricht“, oder die bestrebt ist, einem politischen Sachverhalt zu entsprechen. Diese Definition spiegelt die Entstehung des Nationalismus und der modernen Nation wider, die aus der Verschmelzung einer bestimmten Geisteshaltung mit einer gegebenen politischen Form entstanden ist. Die geistige Haltung, die Idee des Nationalismus, erfüllte die Form mit neuem Inhalt und neuem Sinn; die Form gestattete der Idee ihre Äußerungen und Bestrebungen in gestalteter Ordnung zum Ausdruck zu bringen. Beides, sowohl die Idee als auch die Form des Nationalismus, haben sich vor dem Zeitalter des Nationalismus entwickelt. Die Idee geht auf die Hebräer und Griechen des Altertums zurück und wurde in Europa im Zeitalter der Renaissance und Reformation zu neuem Leben erweckt. Während der Renaissance haben die Gelehrten den griechisch-römischen Patriotismus wiederentdeckt; aber diese neue Geisteshaltung ist nicht bis zu den breiten Schichten der Bevölkerung durchgedrungen, und ihre Diesseitsfreudigkeit wurde gar bald durch die erneute Theologisierung Europas in Reformation und Gegenreformation hinweggefegt. Aber die Reformation, besonders der Calvinismus, hat den alttestamentlichen Nationalismus zu neuem Leben erweckt. Unter den in England herrschenden günstigen Voraussetzungen wurde das englische Volk während der Revolution des siebzehnten Jahrhunderts von einem neuen Nationalbewußtsein, das von Gott auserwählte Volk zu sein, ergriffen. Mittlerweile hatte im Westen eine neue politische Macht — das absolute Königtum — eine neue politische Form entwickelt: den modernen zentralen, souveränen Staat. Dieser war die politische Form, in die sich während der Französischen Revolution die Idee des Nationalismus ergoß und sie mit einer neuen Bewußtheit erfüllte, an der jeder Bürger teilhaben konnte und die den politischen und kulturellen Zusammenschluß der Bevölkerungsteile zur Einheit der Nation ermöglichte. Mit dem Aufkommen des Nationalismus waren die Massen der Bevölkerung nicht mehr lediglich ein Teil einer Nation, sondern die Nation selbst. Sie identifizierten sich selbst mit der Nation, ihre Kultur mit nationaler Kultur, ihr Leben und ihre Existenz mit dem Leben und der Existenz der Nation. Hinfort bestimmte der Nationalismus die Triebkräfte und die Geisteshaltung der Bevölkerung, und gleichzeitig diente er zur Rechtfertigung der Staatsautorität und zu ihrer Legitimierung bei der Ausübung ihrer Gewalt, sowohl nach innen als auch nach außen.
Die Souveränität hat eine zweifache Bedeutung: Sie erstreckt sich einerseits auf die Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern und andererseits auf die zwischenstaatlichen Beziehungen. Dementsprechend hat auch das Nationalgefühl zwei Wirkungsseiten. Im innerstaatlichen Leben führt es zur lebendigen Übereinstimmung aller Bürger innerhalb der gleichen Nation; im zwischenstaatlichen Leben führt es zu Gleichgültigkeit, Mißtrauen oder gar zu Haß zwischen Menschen verschiedener Nationen. Die innerstaatlichen Beziehungen von Mensch zu Mensch werden nicht nur durch eine angenommene, innere Gemeinsamkeit der Interessen bestimmt, sondern auch durch Sympathiegefühle, Verehrung und sogar Selbstaufopferung. Die zwischenstaatlichen Beziehungen werden durch scheinbaren Mangel an ständig vorhandenen gemeinsamen Interessen zwischen den Staaten, sowie durch Gefühle, die von gänzlicher Gleichgültigkeit bis zur heftigsten Abneigung reichen und innerhalb dieses Bereiches plötzlichen Veränderungen unterworfen sind, bestimmt. Die Nation, die nur ein Bruchteil der Menschheit ist, ist bestrebt, sich als ein in sich abgeschlossenes Ganzes zu konstituieren. Im allgemeinen kommt es nicht zu dieser letzten Konsequenz, denn Ideen, die älter sind als das Zeitalter des Nationalismus, üben weiterhin ihren Einfluß auf die Menschheit aus. Diese Ideen machen das Wesen der westlichen Zivilisation — des Christentums wie des aufgeklärten Rationalismus — aus: der Glaube an die Einheit der Menschheit und an die Grundwerte des Individuums. Einzig der Faschismus, der unnachsichtliche Feind der westlichen Zivilisation, hat den Nationalismus auf die äußerste Spitze getrieben, hat ihn zu einem totalitären Nationalismus erhoben, in dem Menschheit und Individuum verschwinden und nichts anderes übrig bleibt als die Nation als das Einzige und zugleich das Ganze.
Neue Organisationsformen können den Nationalismus verdrängen
Bezeichnend für bedeutende Geschichtsabschnitte ist der Umfang des Bereiches, auf den sich menschliche Sympathie erstreckt. Die Grenzen dieses Bereiches sind weder festliegend noch beständig, und ihre Verlagerungen werden von großen geschichtlichen Krisen begleitet. Im Mittelalter empfang die Bevölkerung der Ile de France heftige Abneigung und Verachtung gegenüber Aquitaniern und Burgundern. Noch vor sehr kurzer Zeit herrschte in Ägypten das gleiche Verhältnis zwischen den Mohammedanern und den eingeborenen Christen, den Kopten. Im Altertum haßten und verachteten die Athener die Spartaner. Fast unüberwindbare Hindernisse schieden die Anhänger rivalisierender religiöser Sekten innerhalb gleicher Glaubensgemeinschaften. Bis in die allerjüngste Zeit hinein galt in China die Familie als der abgegrenzte Bereich der Sympathie, und einer größeren gesellschaftlichen Gruppe oder der Nation brachte man so gut wie gar keine Loyalität entgegen.
Im Okzident mit dem neunzehnten Jahrhundert und im Orient mit dem zwanzigsten Jahrhundert beginnend, verlagerte sich die Grenze dieses Bereiches auf die Nation. In vielen Fällen wurden durch diese Veränderungen neue Trennungslinien errichtet. Diese Umgruppierung von Menschen in neue Organisationsformen und ihre Vereinigung um neue Symbole führte zu einer in früheren Zeiten unbekannten Kraftentfaltung. Der ungeheure Bevölkerungsaufschwung, die Ausbreitung der Bildung, der gesteigerte Einfluß der Bevölkerungsmassen, die neuen Techniken, die zur Verbreitung von Nachrichten und Propaganda entwickelt wurden: alles dies gab dem neuen Nationalgefühl eine anhaltende Intensität, die es bald als etwas „Natürliches" erscheinen ließ, als etwas, das von jeher bestanden hat und immer bestehen wird. Aber der Bereich der Sympathieäußerungen braucht nicht immer innerhalb seiner gegenwärtigen Grenzen zu verharren. Durch die Wandlungen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur, durch die zunehmende gegenseitige Abhängigkeit aller Nationen auf einer enger werdenden Erde, durch neu gesteckte Erziehungs-und Bildungsziele könnte sich dieser Bereich sehr wohl erweitern und Sphären übernationaler Interessen und Sympathien einbeschließen.
Sollte eine derartige Erweiterung der Solidarität wirklich eintreten, so wird sich dieses nur in der Folge eines Kampfes von noch niemals dagewesenen Ausmaßen ereignen; denn der Nationalismus vertritt „althergebrachte“ politische, geistige und ideelle Interessen von derartiger Intensität und solchem Ausmaß, wie das noch bei keiner der vorausgegangenen Ideen der Fall gewesen ist. Angesichts der Allmacht des Nationalismus erscheint „die Menschheit“ als ein weit entferntes, blutloses Ideal, als eine blasse Theorie oder als ein dichterisches Traum-gebilde. Im Augenblick ist es auch so. Aber in der Geschichte waren auch einstmals die deutsche und die französische Nation nur ein fernes Ideal. Geschichtliche Wirkungskräfte haben unter langanhaltenden großen Kämpfen und Erschütterungen diese Ideen verwirklicht. Im achtzehnten Jahrhundert war eine gemeinsame Ordnung der Menschheit eine Utopie; damals war der Entwicklungsstand des Staates und der Wirtschaft, der Technik und des Verkehrs-und Nachrichtenwesens in keiner Weise dieser Aufgabe gewachsen. Das ist heute anders. Gegenwärtig sieht es so aus, als ob der Nationalismus — der anfangs eine große Eingebung war und die menschliche Einsicht, die eigenständige Würde der Masse, vertiefte — nicht mehr in der Lage sei, in politischer und gefühlsmäßiger Hinsicht mit der neuen Situation fertig zu werden.
Einst hat er die individuelle Freiheit und das individuelle Glück vermehrt; heute untergräbt er beides und unterwirft sie der durch seinen Fortbestand gegebenen Notlage, ein Zustand, der nicht mehr zu rechtfertigen ist. Einst war er eine große, Leben fördernde Kraft, ein Ansporn für die Entwicklung des Menschen; heute kann er zu einem Ballast für die fortschreitende Entwicklung der Menschheit werden. Anders ist es nur in den „unterentwickelten" Ländern; dort ist der Nationalismus, wie er es früher im Westen war, ein Element menschlichen Fortschritts.
Das Beharrungsvermögen nicht zu unterschätzen
Weder die deutsche noch die französische Nation sind eine durch die Natur prädestinierte Wesenheit, genau so wenig wie die amerikanische Nation. Sie alle wurden, wie auch das Nationalbewußtsein, das sie beseelt, durch geschichtliche Wirkungskräfte geschaffen. Die Entstehung des deutschen Nationalbewußtseins und die Gestaltwerdung des deutschen Nationalstaates stießen auf unzählige Widerstände und gerieten immer wieder in die Gefahr, an den Klippen althergebrachter, politischer Sonderinteressen, an dem Beharrungsvermögen altehrwürdiger und hochgehaltener Traditionen und des Partikularismus Schiffbruch zu erleiden. Aber der Nationalismus, der die Herzen der Menschen mit großer Hoffnung auf eine neue Freiheit und auf bessere und menschlichere Beziehungen zwischen den Völkern erfüllte, setzte sich schließlich doch durch. Das hat sich nun geändert. „Unter den gegenwärtigen Bedingungen steht der Nationalismus in Widerspruch zu den Haupttendenzen der zwischenmenschlichen Beziehungen, welche sich von der Isolierung weg zur gegenseitigen Abhängigkeit hin entwickeln. Seine Ziele sind nicht der Dienst an der Allgemeinheit und die Zusammenarbeit, sondern Ausschließlichkeit und Alleinherrschaft.“ Heute muß zumindest im Westen die individuelle Freiheit des Menschen auf einer übernationalen Basis organisiert werden. Demokratie und Industrialismus, die beiden Kräfte, welche gleichzeitig mit dem Nationalismus gewachsen sind und sich über die Welt hin ausgebreitet haben, sind heute beide über die nationale Bindung hinausgewachsen.
Aber der „Dreißigjährige Krieg“ unseres Jahrhunderts hat gezeigt, wie stark die Stellungen sind, die der Nationalismus gegenwärtig bezogen hat. Der Nationalstaat ist tiefer in den Gefühlen der Massen verankert als irgendeine frühere Staatsform. Das Werden des Nationalismus hat die Geschichtsschreibung und die Geschichtsphilosophie beeinflußt, und jede Nation hat eine eigene Deutung der Geschichte entwickelt. Diese verleiht der Nation nicht nur das Gefühl der Verschiedenheit von allen anderen Nationen, sondern schreibt dieser Unterschiedlichkeit einen grundsätzlichen, ja sogar metaphysischen Sinn zu. Die Nation fühlt, daß sie für eine besondere Mission auserwählt ist, und daß die Erfüllung dieser Mission für den Fortgang der Geschichte, ja sogar für die Erlösung des Menschengeschlechtes wesentlich ist. Durch die Identifizierung von Nation und Staat, wofür Rousseau die Grundlagen bereitet hat, wurde das kulturelle und gefühlsmäßige Leben der Massen eng mit dem politischen Leben verbunden. Jede Veränderung in den Grundsätzen der politischen Ordnung wird deshalb auf stärksten Widerstand stoßen, der sich gegenüber allen Argumenten der Vernunft und des Allgemeinwohles auf tief verwurzelte Überlieferungen berufen wird.
Soziologen haben auf die nahe Artverwandtschaft zwischen nationaler und Glaubensbewegung hingewiesen. Beide tragen sie den Stempel der göttlichen Eingebung und der Glaubenserweckung. „Beides sind in tiefstem Grund kulturelle Bewegungen mit den dazu gehörigen politischen Folgeerscheinungen.“ Diese Folgeerscheinungen sind jedoch nicht zufällig, sie sind vielmehr durch den Stand der geschichtlichen Entwicklung bestimmt. Die Religion, eine ihrem Wesen nach geistige Bewegung, führte zu gegebenem Zeitpunkt in der Geschichte zu grundlegenden und wesentlichen politischen Folgerungen. Sie beherrschte und gestaltete Politik und Gesellschaft. Gegenwärtig trifft das für den Nationalismus zu. Als das Wohlergehen der Menschheit und der Kultur durch unausgesetzte blutige Religionskriege bedroht war, hat die Aufklärung, jene rationalistische Bewegung, die um 1680 einsetzte und das achtzehnte Jahrhundert erfüllte, zur Entpolitisierung der Religion geführt. Bei diesem Vorgang hat die Religion nichts von ihrer wahren Würde eingebüßt. Sie blieb eine jener großen geistigen Kräfte, welche die menschliche Seele erquickten und erhoben. Aber sie büßte das Element des Zwanges, das durch viele Jahrhunderte hindurch so „natürlich“ an ihr gewesen war, ein. Ihre Verbindung mit dem Staat, mit der politischen Autorität, wurde aufgelöst. Die Religion zog sich auf die Innerlichkeit und den freien Antrieb der Seele des Einzelnen zurück. Zwei Jahrhunderte mußten seit dem von Roger Williams 1644 veröffentlichten „The Bloudy Tenent of Persecution for Couse of Conscience Discussed in a Conference Between Truth an Peace“ verstreichen, ehe seine Ursache, wenigstens im westlichen Europa, allgemein erkannt wurde. Die Anzeichen für eine ähnliche Entpolitisierung des Nationalismus machen sich bemerkbar. Es ist denkbar, daß sich seine Verquickung mit der politischen Organisation löst, und daß auch er als ein wesentliches und bewegendes Gefühl fortbestehen wird. Wenn einmal dieser Tag eintreten sollte, so wird das Zeitalter des Nationalismus in dem hier beschriebenen Sinne abgeschlossen sein.