Zuerst als Vortrag gehalten auf einer Tagung der Friedrich-Naumann-Stiftung in Bad Soden und veröffentlicht in Heft 3 der Schriftenreihe der Friedrich-Naumann-Stiftung (1961). 1. Lassen Sie midi versuchen, die zur Diskussion stehenden Begriffe inhaltlich kurz zu umschreiben.
Da ist zunächst der Begriff des Volkes. Volk ist im Gegensatz zur Nation etwas von Natur Gegebenes. Völker hat es im Gegensatz zu Nationen ebenso in der Antike wie im Mittelalter wie der sogenannten Neuzeit gegeben. Und zwar setzt Volk im ursprünglichen Sinn, so wie dieser Begriff noch heute in den romanischen Staaten verwendet wird, wenn diese von „popolo" oder „peuple" sprechen, oder so wie dieser Begriff ursprünglich den angelsächsischen Staaten geläufig gewesen ist, wenn diese den Ausdruck „people" verwenden, immer die reale Anwesenheit einer Anzahl von Menschen voraus, die irgendwie sinnlich — sei es optisch, rhetorisch, akustisch oder körperlich — faßbar sein müssen.
In diesem Sinne hat man früher etwa von dem „gemeinen Volk“ gesprochen, wenn man es von den herrschenden Schichten hat unterscheiden wollen. In diesem Sinne verwenden wir selbst diesen Begriff noch heute, wenn wir etwa davon sprechen, daß sich viel Volk auf einer Straße oder einem Platze oder in einer Halle versammelt hat. Als Kaiser Wilhelm II. in den Augusttagen 1914 von dem Balkon des Schlosses die auf dem Schloßplatz in Berlin versammelte Menge angesprochen hatte, sprach er in der Tat zu dem Volk. Volk in diesem Sinne ist das anwesende, wirklich versammelte Volk, also das Volk, das seinen Willen in der Form von Akklamationen, plebiszitären Wahlen und Abstimmungen kundgibt. Volk in diesem Sinne ist das Volk der plebiszitären oder unmittelbaren Demokratie, das als Aktivbürgerschaft mit Hilfe des Wahl-und Stimmrechts sich willensmäßig äußert. Volk in diesem Sinne ist aber auch das Volk in der heute weitgehend zur politischen Wirklichkeit gewordenen par-teienstaatlichen Demokratie insofern, als diese bei Lichte besehen eine rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie oder — wenn man will — ein Surrogat der direkten Demokratie im modernen Flächenstaat ist
Gewiß wird hier nicht das Volk als ein von den Individuen unabhängiges Kollektiv gedacht. Aber es wird doch zugleich als mehr vorausgesetzt als die Summe der die Volksgemeinschaft bildenden Individuen. Das Volk erscheint hier als ein Ganzes, das zugleich das Erbe vergangener Generationen wie im Keime das Leben zukünftiger Geschlechter umfaßt.
Volk innerhalb der deutschen Sprachgrenzen bat also eine doppelte Bedeutung. Volk ist einmal das real präsente Volk der unmittelbaren Demokratie und ihrer Surrogate. Volk ist aber darüber hinaus auch — und zwar nicht zuletzt auf Grund des nachhaltigen Einflusses, den Romantik und Idealismus auf die Prägung dieses Volksbegriffes gehabt haben — jenes Volk, das durch einen festen Bestand von ideellen Werten in der konkret-individuellen Wirklichkeit mit Hilfe des Prinzips der Repräsentation als ideelle Einheit in Erscheinung tritt.
Wodurch wird eine Gruppe zum Volk?
Über diese Frage sind bekanntlich die verschiedensten Auffassungen in der Literatur geäußert worden. Ich darf mich auf folgende Bemerkungen beschränken.
Zunächst hat man auf die objektiv naturhafte Sphäre hingewiesen, aus der ein Volk heraus-wächst, den gemeinsamen Raum und die gemeinsame Abstammung. Neben der gemeinsamen Abstammung und dem gemeinsamen Raum sind es sodann die gemeinsamen kulturellen Güter, wie die Sprache, das kulturelle Leben, die Literatur, die Kirchen, die das Volk zu einer ideellen Wertgemeinschaft zusammenschließen und eine konkret-individuelle, geschichtliche Gestalt annehmen lassen. Schließlich sind es aber auch noch die gemeinsamen geschichtlichen Erfahrungen, die ihrerseits integrierend wieder auf die Völker zurückwirken und diese von sich aus zu einer Einheit zusammenschließen.
In der Regel sprechen wir von einem Volk und verwenden Begriffe wie z. B. Volksbewußtsein, Volksgemeinschaft, Volksgeist, Volkstum nur, wenn die erwähnten sog. objektiven Konstitutionselemente eines Volkes, wie gemeinsame Abstammung, gemeinsamer Raum, gemeinsame Sprache und Kultur, gemeinsame Geschichte, sich wechselseitig miteinander verbinden. Aber notwendig ist dies nicht; man denke z. B. an die Schweiz und die Vereinigten Staaten, die ethnologisch nicht über die im allgemeinen vorausgesetzte natürliche Homogenität verfügen.
Je nachdem man eines der verschiedenen »Elemente“, die an der Konstituierung eines Volkes teilhaben, verabsolutiert, unterscheidet man verschiedene Volksbegriffe. So z. B. hatte der Nationalsozialismus seinem Volksbegriff einen biologisch-materialistischen Inhalt zu geben gesucht. Wird dagegen die gemeinsame Sprache und die gemeinsame Kultur als das bezeichnet, was ein Volk zum Volke macht, so kann man im Gegensatz zu diesem sogenannten biologischen Volksbegriff von einem durch die Sprache und Kultur geprägten Volksbegriff sprechen, der in die Sphäre des Geistes hinein-ragt. Und schließlich kann man diesen Volks-begriffen einen sogenannten geschichtlichen Volksbegriff gegenüberstellen, wenn es allein das gemeinsame politische Schicksal ist, das eine Gruppe zum Volke macht.
Doch sind alle Versuche, das Phänomen „Volk" mit Hilfe eines „Grundelements“ zu erklären, gescheitert. Bei dem biologischen Volksbegriff, bei dem die sog. Rasse das entscheidende Element sein soll, das eine Gemeinschaft zum Volke macht, ist dieses ohne weiteres ersichtlich. Denn die Zugehörigkeit zu einer Rasse, wie z. B.der „arischen“, steht mit der Zugehörigkeit zu einem Volk nicht in einem inneren Zusammenhang. Rassemerkmale sind noch keine volklichen Gemeinschaftsmerkmale. Angehörige der gleichen Rasse gehören ganz verschiedenen Völkern und Angehörige verschiedener Völker der gleichen Rasse an. Tatsächlich ist der biologische Volksbegriff mit den geschichtlich gewordenen volklichen Gemeinschaftsbildungen schlechthin unvereinbar. Der sogenannte biologische Volksbegriff führt sogar konsequent zu Gliederungen, die die bestehenden volklichen Gruppenbildungen überspielen, und es ist so kein Zufall, daß z. B. vom Boden der modernen Rassetheorie Graf Gobineau die Idee des Vater-landes als eine „kanaanäische Monstrosität" bezeichnet hat.
Aber auch die gemeinsame Sprache und Kultur allein kann in der überwiegenden Regel die Existenz eines Volkes nicht ausreichend erklären. Es gibt Völker, die die gleiche Sprache sprechen, ohne ein Volk zu bilden; man denke etwa nur an England und die Vereinigten Staaten oder an die verschiedenen mittel-und südamerikanischen, spanisch sprechenden Völker. Es können sogar in einem Volk verschiedene Sprachen gesprochen werden, wie dies z. B. in der Schweiz der Fall ist.
Schließlich reichen auch die gemeinsamen politisch-geschichtlichen Erfahrungen in der Regel nicht aus, um den Bestand eines Volkes zu erklären. Denn bei Lichte besehen setzen diese schon immer die Existenz einer Gemeinschaft voraus, die diese Erfahrungen erst möglich macht.
Wodurch wird ein Volk zur Nation?
1. Die philologische Interpretation des Wortes darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Zusammengeboren-und Zusammengewachsensein ein Volk noch nicht zu einer Nation macht. Auch die gemeinsame Sprache vermag trotz Herder und des Einflusses, den er auf die Entwicklung des Nationalbewußtseins insbesondere der slawischen Völker gehabt hat, die Nationalwerdüng von Völkern nicht allein zu erklären.
In Wirklichkeit wird ein Volk erst dadurch zur Nation, daß es sich seines politisch kulturellen Eigenwertes bewußt wird und gefühlsmäßig seine Existenz als selbständige konkrete Ganzheit bejaht. Ein Volk erweitert sich somit zur Nation durch einen Akt des Selbstbewußtseins und des Willens. Daher hatte schon E. Renan recht, wenn er im Jahre 1882 in seiner bekannten Schrift „Qu’estce qu’une nation" sagte: „Die Nation ist ein sich täglich wiederholendes Plebiszit." Wenn ein Volk sich als Subjekt der Geschichte oder, wie Stavenhagen gesagt hat, „als Träger existenzieller Geschichtlichkeit“ bejaht, wenn es seiner Sendung und Mission bewußt wird und seine Eigenheit und Besonderheit gegenüber dem Fremden akzentuiert und geschichtsgeformt und geschichtsbestimmt konkrete Gestalt annimmt, ist man berechtigt, von einer Nation zu sprechen.
Bei dieser Sachlage ist es kein Wunder, daß in einer Zeit, in der in Europa die Völker sich allgemein zu Nationen erweitert haben, und in der in Asien und Afrika die Völker in zunehmendem Maße im Vollzüge der Entdeckung ihres Selbstbewußtseins ihre geschichtliche Eigenständigkeit bejahen und sich damit von anderen Völkern absetzen, Volk und Nation weitgehend identifiziert werden. 2. Weiterhin wird so klar, warum der Begriff der Nation im Gegensatz zu dem des Volkes nicht etwas von Natur aus Gegebenes, sondern etwas geschichtlich Gewordenes ist und warum Disraeli's Wort, daß die Nation „A work of art and time“ ist, zutrifft. Gewiß mag es nicht leicht sein, exakt den Zeitpunkt anzugeben, wann ein Volk zur Nation wird oder, anders ausgedrückt: von wann man das Zeitalter des Nationalstaates datieren kann. Scharfe zeitliche Zäsuren sind in diesem Zusammenhang nicht möglich.
Vielmehr wachsen Völker langsam zu Nationen heran. Nicht selten dauert es Jahrhunderte, bis das Volksbewußtsein in einem sich faßt unbewußt vollziehenden Prozeß zum Nationalbewußtsein umgebildet hat und das Volk durch Bejahung seiner politischen Existenz zu einer Nation wird. Wie der Historiker Eduard Meyer einmal zu diesem von ihm zu tiefst bewunderten Prozeß bemerkt hat: „Erst allmählich ... bildet sich, zunächst halb unbewußt, ein Gefühl der näheren Zusammengehörigkeit, eine Vorstellung von der Einheit des Volkstums. Die höchste Steigerung desselben, die Idee der Nationalität, ist das feinste und komplizierteste Gebilde, welches dann die geschichtliche Entwicklung zu schaffen vermag. Sie setzt die tatsächlich bestehende Einheit in einen bewußten aktiven und schöpferischen Willen um.. 3. Fest steht jedenfalls hiernach, daß man nicht als Ausdruck dessen betrachten kann, was Nationalgefühl oder Nationalbewußtsein ist. Auch die Tatsache, daß das alte Reich sich später den Namen „Römisches Reich deutscher Nation" beigelegt hat, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier unter Nation nur das Volk verstanden wurde. Aus dem erwähnten Grunde kann man auch nicht im Mittelalter von Nationen im modernen Sinne sprechen. Nicht daß man auch im Mittelalter wie in noch früheren Zeiten in bestimmten Zusammenhängen den Begriff der Nation verwendet hätte. Aber der Sinn, den man zu jener Zeit mit diesem Begriff verbunden hat, war doch ein von dem uns geläufigen völlig verschiedener, wie etwa deutlich wird, wenn wir uns daran erinnern, daß auf dem Basler Konzil noch zu den Deutschen auch die Skandinavier, Polen und Ungarn gerechnet wurden und daß man in Italien italienische Nationen einfach geographisch nach ihrem Heimatort unterschied.
Im übrigen fühlten sich die Völker des Mittelalters zugleich als Teil des umfassenden Corpus Christianum und innerhalb desselben als Teil der verschiedenen Sozialstände, die die zwischen den Völkern bestehenden Unterschiede relativierten. Anders ausgedrückt: Im Mittelalter war, soweit das volkliche Selbstbewußtsein sich zu einem nationalen Selbstbewußtsein hätte entwickeln können, dieses von dem allumfassenden religiösen Gemeinschaftsbewußtsein wie von dem Bewußtsein der einzelnen ständischen Gemeinschaften überlagert — sehr im Gegensatz gerade zum Zeitalter des modernen Nationalstaates, in dem die Bindung an die Nation den Vorrang vor allen anderen sozialen Verhaltensweisen besitzt. 4. Die Einsicht, daß es sich bei dem Phänomen der Nation um ein Produkt der Geschichte und nicht der Natur handelt, macht auch verständlich, warum die Nation im Laufe der Geschichte mit den verschiedenen Ständen und Gruppen innerhalb des Volkes identifiziert und inhaltlich so verschieden interpretiert werden konnte. Es ist kein Zufall, daß zu einer Zeit, in der lediglich der Adel ein echtes Nationalbewußtsein zu entwickeln vermochte, die Nation mit dem Adel gleichgesetzt wurde. So adressierte z. B. Luther seine 1520 veröffentliche Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“. Noch im 18. Jahrhundert wurde weiterhin der Adel mit der Nation identifiziert. Burke meinte z. B., in diesem Sinne, daß die Französische Revolution die Nation (den französischen Adel) nach Deutschland vertrieben habe und de Maistre beantwortete die Frage, was eine Nation sei, geradezu mit dem Satz, daß die Nation aus dem Herrscher und dem Adel bestehe. In Deutschland waren es vor allem Pütter und Häberlin, die in diesem Sinne die Nation mit den Ständen identifizierten.
Im Gefolge der Französischen Revolution, die so häufig als die Gebrutsstunde des modernen Nationalstaates bezeichnet wird, waren es dann die bürgerlichen Schichten, die durch Bejahung des Eigenwertes der volklichen Existenz dem Nationalstaat des 19. Jahrhunderts in Europa sein entscheidendes Gepräge gaben. Endlich haben im Gefolge des radikalen Egalisierungs-und Demokratisierungsprozesses im Laufe des letzten Jahrhunderts auch die früheren sozialen Unterschichten in fortschreitendem Ausmaß an dem Prozeß der Nationwerdung des Volkes teilgenommen. Eine Nation kann so einen politisch wie soziologisch ganz verschiedenen Charakter annehmen, je nachdem der Adel, das Bürgertum, das Bauerntum, die Arbeiterschaft ihr ein aristokratisches oder bürgerliches oder sozialistisches Gepräge vermitteln. 5. Wenn der Begriff der Nation geschichtsbeladen und das Nationalbewußtsein ein Produkt geschichtlicher Entwicklung und nichts „Natürliches“ ist, so ist es nicht überraschend, daß das Geschichtsbild einer Nation wandelbar ist und mit einem verschiedenen Inhalt gefüllt werden kann. In diesem Zusammenhang darf z. B. an einen von Balzac in einer seiner Geschichten eingeführten typischen Deutschen erinnert werden, der von ihm in folgender Weise charakterisiert worden ist: „Er war der echte Sohn des edlen und reinen Germanien, das so fruchtbar ist an ehrenwerten Charakteren, deren friedfertige Sitten sich selbst nach sieben Invasionen nicht verleugnen." Welcher Franzose des 20. Jahrhunderts hat wohl dieses Balzacbild des Deutschen sich zu eigen gemacht?
Fällt aber die These von dem unwandelbaren Nationalcharakter, so ergibt sich jedenfalls vom Grundsätzlichen her die Möglichkeit, auf die Bildung desselben Einfluß zu nehmen. Damit ist zugleich einer Erziehungsarbeit auf nationaler Ebene eine grundsätzliche Möglichkeit eröffnet, sofern diese sich nur ihrer Grenzen bewußt bleibt, nämlich daß Nationen nicht von ihrer Geschichte gelöst und beliebig geformt werden können
Auch ist hiermit offenbar, daß das Zeitalter des Nationalstaates nach alledem nicht den Anspruch erheben kann, geschichtslos, d. h. in der Lage zu sein, unabhängig von der Geschichte das menschliche Zusammenleben ein für allemal in der Zukunft ordnen zu können. Als Produkt der Geschichte wird dieses Zeitalter selbst einmal der Geschichte und damit der Vergangenheit angehören. Nationen kommen und gehen. Das Zeitalter des Nationalstaates ist nicht in der Lage, sich von dem Fluch der Vergänglichkeit, die allem geschichtlich Gewordenen anhaftet, zu befreien. 6. Der Akt, durch den sich ein Volk seines eigenen Wertes bewußt wird, und der Wille, sich zur Nation zu erweitern, kann verschiedene Formen annehmen:
Es ist möglich, daß ein Volk bereits zeitlich früh sich staatlich organisiert hat und daß die Erweiterung des Volkes zur Nation in einer mehr oder weniger organischen Entwicklung mit Hilfe des Staates erfolgt und dieser so allmählich den Charakter eines Nationalstaates annimmt. In Frankreich und England z. B. hatte so schon vor der Nationalwerdung des Volkes ein im wesentlichen die gleiche Sprache sprechendes und die gleiche Kultur besitzendes Volk, das auch das gleiche Schicksal erfahren hatte, sich als „Staatsvolk“ im Staate organisiert. Hier war die Entwicklung zum Nationalstaat relativ früh abgeschlossen, während in Zentraleuropa, etwa in Deutschland und Italien, der Wille der Nation politisch erst im 19. Jahrhundert sich hat durchsetzen können. Diese verspäteten Nationen vollzogen ihre nationale Einigung unter schweren Geburtswehen, die mit der Sprengung früherer dynastischer Bildungen ein ganzes Jahrhundert erschütterten.
Jedenfalls den Willen, sein politisches Leben selbständig zu gestalten, oder wie man gewöhnlich sagt, den Willen zur nationalen Selbstbestimmung muß ein Volk bei dem Prozeß der „Nationwerdung" besitzen. Wie es in der Präambel zum Bonner Grundgesetz heißt: Das in der Bundesrepublik lebende, deutsche Volk hat sich, „im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine staatliche und nationale Einheit zu wahren ..., eine neue Ordnung gegeben.“
Tendenz zur Einheit
Nur so wird im übrigen verständlich, warum — und die Geschichte liefert hierfür viele Belege — abstammungsmäßig zu einem bestimmten Volk gehörende Individuen eine führende politische Rolle in einer anderen Nation haben spielen können, der sie sich auf Grund ihrer freien Willensentschließung zugehörig gefühlt haben. 1. Ein als Träger existentieller Geschichtlichkeit sich fühlendes und sich durch einen solchen Bewußtseinsakt zur Nation erweiterndes Volk sucht seine politische Organisationsform im Staate zu finden und diesen damit zugleich inhaltlich zu legitimieren. Anders formuliert: Im Zeitalter des Nationalstaates tendieren Volk, Nation, Staat — idealtypisch gesehen — zueinander; sie tendieren dahin, eine Einheit zu bilden. Die politische Wirklichkeit des Nationalstaates hat diesem idealtypischen Bild in der Vergangenheit nicht immer entsprochen. Die Geschichte liefert genug Beispiele, die zeigen, daß es einem zur Nation erweiterten Volk verwehrt gewesen ist — man denke z. B. an das polnische Volk —, sich in einem selbständigen Staatsverband zu organisieren. Es ist auch möglich, wie gerade das Beispiel Preußens oder des heutigen Deutschlands zeigt, daß es nur Teilen einer Nation gelungen ist, in einem eigenen Staatsverband in Freiheit zu leben, während andere Teile der gleichen Nation als Staatsangehörige anderen Staaten oder einem in Unfreiheit lebenden Satellitenstaat einverleibt sind. Die Nation kann eben, wie schon Mancini vor mehr als 100 Jahren bemerkt hat, auch eine Gemeinschaft sein, die sich mit den Staatsgrenzen nicht deckt. 2. So wird verständlich, warum man nicht selten zwischen den sogenannten Staatsnationen, in denen ein zur Nation erweitertes Volk zugleich im Staate seine politische Organisationsform gefunden hat, und den sogenannten Kultur-nationen (Meinecke) unterschieden hat, die vorzugsweise auf einem gemeinsam ererbten Kulturbesitz beruhen. Klar ist jedenfalls, daß Staats-und Kulturnationen nicht zusammenfallen müssen, da die letzteren nicht notwendigerweise ihren Willen zur nationalen Selbstbehauptung in einer staatlichen Organisationsform verwirklichen müssen.
Umgekehrt ist es aber auch möglich, daß allein das gemeinsame geschichtliche Leben im selben Staatsverband verschiedene Volksgruppen im Laufe der Zeit zu einer nationalen Gemeinschaft zusammenschließt. In solchen Fällen ist es dann der Staat selbst, der durch die ihn tragenden politischen Ideen und sein geschichtliches Dasein nationsgründend wirkt und durch sein Regiment das Staatsvolk in die Lage versetzt, seinen politisch-geschichtlichen Eigenwert zu bejahen. Die sich aus Deutschen, Franzosen und Italienern zusammensetzende Schweiz hat sich so z. B. zu einer echten „politischen Nation“ entwickelt. Ähnliches gilt von den Vereinigten Staaten. 3. Wenn im Zeitalter des Nationalstaates idealtypisch von diesem die nationale Homogenität des Staatsvolkes vorausgesetzt wird, so erscheint ein nicht national homogener Staat als eine Anomalie. Umfaßt ein Staatsvolk Minderheitsgruppen, die infolge verschiedener Abstammung, verschiedener Kultur und eines getrennt geschichtlichen Schicksals bewußtseinsmäßig sich als zu anderen Nationen gehörig fühlen, wie dies z. B. im Bismarckschen Reich bei den Polen, Dänen, Elsässern der Fall war oder heute in Italien bei den Südtirolern der Fall ist, so ist die Verlegenheit sehr groß, in der sich die Mehrheit des Staatsvolkes unter nationalstaatlichen Aspekten gegenüber der Minderheit in einem solchen Staat befindet.
In den europäischen Staaten hat man nach dem ersten Weltkrieg, als diese Verlegenheit infolge der zahlenmäßige Stärke der nationalen Minderheiten außerordentliche Maße annahm, mit Hilfe des nationalen Minderheitenrechtes die Schärfen des nationalstaatlichen Prinzips zu mildern gesucht; man hat der Mehrheit des Staats-volkes, die ihren unter dem Blickpunkt des Nationalstaates legitimen Herrschaftsanspruch den Minderheiten gegenüber anmeldete, und diese nach Möglichkeit sich zu assimilieren suchte, bestimmte rechtliche Schranken auferlegt, um den sich zur Minderheit rechnenden Staatsbürgern ihre individuellen Freiheiten und kulturellen Rechte zu sichern.
Aber selbst diese Hilfsmittel versagen im reinen Nationalitätenstaat, in dem die Existenz verschiedener, größerer, nationaler Gruppen die Legitimität des Herrschaftsanspruchs einer Volksgruppe in Frage stellt. In einem solchen Staat könnte man die bestehenden Schwierigkeiten vielleicht im Sinne einer pragmatischen Gemeinschaft (Stavenhagen) dadurch überwinden, daß man alle Nationalitäten auf dem Fuße der Gleichberechtigung in einer hündischen Form an der Ausübung der Staatsgewalt gemeinsam beteiligt; doch würde damit das Prinzip des Nationalstaates selbst letzthin zugleich in Frage gestellt werden. So ist es nicht zufällig in der Habsburger Doppelmonarchie in ÖsterreichUngarn nicht zu einem solchen Nationalitäten-staat gekommen.
Im übrigen hat Hitler dadurch, daß er eingedenk des Nietzsche-Wortes: „das Volk zerbricht den Staat" — sehr im Gegensatz zu Bismarck — die deutschen Minderheiten außerhalb der deutschen Staatsgrenzen als Sprengpulver für die national nicht homogen zusammengesetzten europäischen Staaten verwandt hat, dem Versuch, den radikalen Konsequenzen des Nationalstaatsprinzips durch Entwicklung eines nationalen Minderheitenrechts zu begegnen, den Todesstoß versetzt. Seine Politik hat es diesen Staaten leicht gemacht, die von diesen angestrebte nationale Homogenität durch brutale Liquidationen, d. h. Austreibung der deutschen Minderheiten, herbeizuführen.
Begriff und Wesen der Souveränität
1. Die zentrale Bedeutung, die im Zeitalter des Nationalstaates der Staat hat, findet ihren sichtbaren Ausdruck darin, daß derselbe, um die Existenz von Volk und Nation zu sichern, Macht, und zwar suprema potestas ausübt. Tatsächlich gehören im Zeitalter des Nationalstaates das zur Nation erweiterte Volk, Staat und Souveränität aufs engste zusammen; sie sind einander zugeordnet und wechselseitig aufeinander bezogen.
2. Begriff und Wesen der Souveränität sind bekanntlich bereits von Bodin in seiner Schrift über die Republik näher umschrieben worden. Souverän ist hiernach der, der die höchste Gewalt innerhalb eines bestimmten territorialen Bereichs ausübt. „Souverän sein“, bedeutet, wie man immer wieder betont hat, ein Zuhöchstsein, ein Niemand-über-sich-haben. Souverän sein in diesem Sinne bedeutet „Herr im eigenen Hause sein“. Prägnanter könnte man noch formulieren: Souverän ist derjenige, der die finale, höchste, universale Entscheidungsgewalt innerhalb eines bestimmten territorialen Bereiches hat. In diesem Sinne hat man den souveränen Staat als eine gebietsuniversale Entscheidungseinheit bezeichnet (Heller).
Die Frage, wer in diesem Sinne jeweils als der Souverän anzusprechen ist, mag verschieden beantwortet werden. Offenbar ist, daß nur einer wirklich das letzte Wort haben, d. h. souverän zu sein vermag, und daß die Souveränität nicht, wie irrtümlich immer wieder behauptet worden ist, geteilt werden kann. In der absoluten Monarchie war der Monarch, von dem alle politische Gewalt sich ableitete, der Souverän. In der Demokratie ist das Volk an dessen Stelle getreten. Nicht zufällig heißt es daher in den geschriebenen Verfassungen, wie z. B. auch im Bonner Grundgesetz, daß alle Gewalt sich „vom Volke herleitet“. In der Demokratie müssen alle politischen Instanzen (Verfassungsorgane) ihre Autorität, wenn sie legitim sein soll, von unten, d. h. vom Volke herleiten. Unter diesem Aspekt erscheint die konstitutionelle Monarchie des 19. Jahrhunderts als ein Zwischenstadium und ein Kompromiß zwischen dem Monarchen und dem Volk, das die transzendent legitimierte Souveränität des Monarchen für sich in Anspruch nehmen möchte, aber ihren Besitz noch nicht endgültig hat sichern können.
3. Hiernach kann jemand wie z. B.der Präsident der Vereinigten Staaten die denkbar größten Machtbefugnisse besitzen, ohne doch in der Lage zu sein, für sich die Qualitäten des Souveräns in Anspruch nehmen zu können. In der angelsächsischen Theorie wird nicht selten bis zum heutigen Tage das Parlament als der Souverän bezeichnet, weil — wie man sagt — „das Parlament alles beschließen kann, was ihm beliebt, abgesehen davon, daß es nicht aus einer Frau einen Mann und aus einem Mann eine Frau machen kann.“ In Wirklichkeit sind aber auch dem englischen Parlament viel weitergehende, verfassungsrechtliche Schranken gesetzt. Das Parlament kann auch in England im Gegensatz zum Souverän gerade nicht schlechthin das tun, was ihm beliebt, eben weil seine Autorität nicht eine originäre, sondern vom Volk abgeleitete ist. Und ganz gewiß nicht ist Souverän derjenige, „der über den Ausnahmezustand entscheidet", da die Befugnis in einer rechtsstaatlichen Demokratie, über den Ausnahmezustand zu entscheiden, selber eine von dem Souverän abgeleitete und daher durch die Verfassung inhaltlich begrenzte Befugnis enthält. Kein formiertes Verfassungsorgan kann in einer Demokratie mit Fug für sich beanspruchen, der Souverän zu sein, weil es nicht die höchste, universale und letzte Entscheidungsmacht, die allein dem Souveränitätssubjekt, d. h. in der Demokratie dem Volk, zukommt, für sich beanspruchen kann.
4. Demgegenüber wird nicht selten darauf hingewiesen, daß es im zwischenstaatlichen wie innerstaatlichen Bereich eine Fülle von Bindungen gibt, denen sich der Souverän nicht entziehen kann, ohne gleichzeitig bestehendes Recht zu verletzen. Man denke nur an die zahlreichen Bindungen, die die Staaten völkerrechtlich in ihrer Handlungsfreiheit beschränken, etwa an die Verpflichtungen, die der Bundesrepublik durch die europäische Integration und ihre Zugehörigkeit zur NATO auferlegt sind. Wenn aber Völker und Staaten in Freiheit sich dem Recht unterstellen können, wäre es da nicht konsequent, mit Kelsen zu behaupten, daß in Wahrheit allein das Recht der Souverän sei? Erscheint nicht dann das Recht höher als der Staat, der dem Recht unterworfen und an dasselbe gebunden ist? Wenn zum Wesen der Souveränität der Besitz der suprema potestas gehört, muß die Tatsache, daß das Recht sich Staat, Nation und Volk unterwerfen kann, zu der Frage führen, ob wirklich heute noch Volk, Nation und Staat legitimerweise als souverän bezeichnet werden können.
Wenn diese Frage auch heute noch in einem positiven Sinn beantwortet werden darf und muß, so liegt dies daran, daß der Begriff der Souveränität in seiner Substanz letzthin ein politischer Begriff und nicht ein Rechtsbegriff ist. Der Staat hat auch heute noch im Bereich des Politisch-Existentiellen das letzte Wort. Er ist es, der noch heute höchste, universale Entscheidungsmacht ausübt. Er ist souverän, weil er sich möglicherweise auch gegen das Recht behaupten kann, selbst wenn er sich in Freiheit demselben unterworfen hat. Im Bereich des Völkerrechts ist der politische Charakter der Souveränität im übrigen auch in verschiedenen Formen anerkannt: Solange die Staaten in der Lage sind — unter oder ohne Verletzung des Völkerrechts — zum Kriege zu schreiten oder sich unter bestimmten Umständen auf die clausula rebus sic stantibus zu berufen, sind die Staaten souverän.
Ich erinnere beispielsweise an den Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien 1914, der einen klaren Bruch bestehender völkerrechtlicher Verpflichtungen enthielt. Von dem damaligen deutschen Reichskanzler von Bethmann-Hollweg wurde dieser vor dem Reichstag mit dem Hinweis „Not kennt kein Gebot“, d. h. mit den Besonderheiten der damaligen politisch-existentiellen Lage des deutschen Volkes, kurzum mit dem Hinweis, daß Staat und Nation souverän sind, d. h. in politischen Fragen das letzte Wort haben, gerechtfertigt. Oder man denke an die Ereignisse im Nahen Osten vor wenigen Jahren, wo entgegen bestehenden rechtlichen Verpflichtungen Ägypten von den westlichen europäischen Großmächten aus politischen Gründen in einen kriegerischen Konflikt verwickelt wurde. Schließlich sei an de Gaulle erinnert, der nicht müde wird, die Souveränität Frankreichs erneut immer wieder nachdrücklichst unter Beweis zu stellen.
Diese leicht vermehrbaren Beispiele zeigen einmal, daß die Souveränität ein politischer Begriff und nicht ein Rechtsbegriff ist, und weiter, daß trotz allem Atavismus, der diesem Begriff heute anhaften mag, der Souveränität auch in der Gegenwart eine politisch reale Bedeutung nicht abgesprochen werden kann. 5. Noch ein weiterer grundsätzlicher Einwand wird gegen das Gesagte erhoben. Man argumentiert: Selbst wenn der Begriff der Souveränität im politischen Sinne verstanden werden muß, komme man doch heute nicht an der entscheidenden Tatsache vorbei, daß im politischen Raum die faktischen Druckmittel in einer solchen Fülle und Intensität von den Großmächten gegenüber den kleineren und mittleren Staaten zur Anwendung gebracht werden, daß von einer Souveränität in Wahrheit nicht mehr gesprochen werden kann. Man verweist in diesem Zusammenhang u. a. auf die Wirtschaftsund Finanzhilfe, durch die schwächere Staaten unter Druck gehalten werden und die gerade für die jungen, der Entwicklungshilfe bedürftigen Staaten von so großer Bedeutung ist, auf die Drohungen, benötigte Waffenlieferungen einzustellen, auf Versprechungen, solche zu bewirken, auf den Druck, der mit dem Besitz der heutigen Atom-und Raketenwaffen verbunden ist. Unter diesem Blickpunkt — so scheint es — kann man heute eigentlich nur noch konsequent, die Atommächte für souverän erklären.
Bei näherem Zusehen erweist sich aber auch dieser Einwand als nicht überzeugungskräftig. Auch in früheren Zeiten haben die jeweils mächtigeren Staaten Drude auf schwächere Staaten ausgeübt, ohne daß dieselben deshalb ihre Souveränität eingebüßt hätten. Gewiß, der heute potentiell ausgeübte Druck seitens der Atommächte kann sich ins Gigantische steigern. Aber auch dieser hat jedenfalls in der westlichen Hemisphäre bisher noch nicht zu einem grundsätzlichen Wandel der Verhältnisse geführt. Denn trotz des massiven Druckes, der in so vielfältigen Formen auf die kleineren und mittleren Staaten ausgeübt werden kann, haben diese in der freien Welt sich immer noch die Fähigkeit erhalten, selbst einem solchen Druck gegebenenfalls ihr „Nein“ entgegenzusetzen — unbeachtet der sich möglicherweise aus einer solchen Haltung für sie ergebenden Konsequenzen.
Solange aber ein Staat im politisch-existentiellen Bereich noch „nein“ zu sagen vermag, kann er mit Fug den Anspruch für sich erheben, ein souveräner Staat zu sein. Als Holland unter starkem amerikanischem Druck seine Besitzungen im Fernen Osten liquidierte, hätte die Entscheidung auch anders fallen können, eben weil Holland auch zu jener Zeit als souveräner Staat diese Fähigkeit zum Neinsagen noch besessen hatte. Auch die Franzosen waren, als es sich darum handelte die Verträge über die europäische Verteidigungsgemeinschaft zu ratifizieren, einem massiven Druck ausgesetzt worden. Trotzdem hat Frankreich diese Verträge nicht ratifiziert. Und als die Engländer und Franzosen — dem auf sie ausgeübten Druck folgend — die Suezaktion liquidierten, sind sie weiser politischer Einsicht gefolgt. Aber niemand hat gezweifelt, daß sie auch anders hätten politisch agieren und den Krieg im Nahen Osten zu einem dritten Weltkrieg ausweiten können. 6. Mit der Feststellung, daß die Souveränität ein politisch-existentieller Begriff ist, der dem Primat des Politischen vor dem Recht sichert und den souveränen Staat in die Lage versetzt, sich unter bestimmten Voraussetzungen möglicherweise auch gegen das Recht zu behaupten, sowie daß Abhängigkeiten rein politischer Art auch heute noch nicht geeignet sind, grundsätzlich die Souveränität in Frage zu setzen, sind wir zugleich in die Lage versetzt, den Begriff des Satellitenstaates näher zu bestimmen. Der Satellitenstaat unterscheidet sich von dem souveränen Staat dadurch, daß er das Epitheton der Souveränität nicht mehr legitimerweise für sich in Anspruch nehmen kann.
Dies ist das Entscheidende. Jugoslawien z. B. ist ein souveräner Staat, weil es den Satelliten-status abgeschüttelt und trotz des kommunistischen Regimes sich die Fähigkeit zum Nein-sagen auf der politischen Ebene erhalten hat. Andererseits hat der Versuch Ungarns, sich aus dem Satellitenstatus zu lösen und ein souveräner Staat zu werden, mit einem Fiasko geendet, während ein heute noch nicht geklärtes Zwielicht über dem polnischen Gomulka-Regime lastet. Wir sind Zeugen des Versuches eines Staates der danach strebt souverän zu werden, ohne zu wissen ob diesem Versuch schließlich Erfolg beschieden sein wird. Erst wenn Polen wieder auf politischer Ebene das letzte entscheidende Wort zu sprechen, d. h. gegebenenfalls „nein“ zu sagen vermag, würde es legitimerweise sich als souverän bezeichnen können. 7. An dem traditionellen Souveränitätsdogma haben die meisten völkerrechtlichen Vereinbarungen auch in der Gegenwart mit Zähigkeit festgehalten. Man denke etwa nur an den Marshall-Plan, an die verschiedenen Verträge, die zum Nordatlantik-Pakt, zum Europarat, zur Westeuropäischen Union und Europäischen Integration geführt haben. Hier werden die Staaten noch wie in früherer Zeit als souveräne politische Einheiten vorausgesetzt. Vergessen wir auch nicht, daß die Ablösung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik unter der Devise der Wiedergewinnung der deutschen Souveränität angestrebt und gefeiert worden ist. Wie es in der Pariser Änderung des Generalvertrages hieß: „Die Bundesrepublik wird demgemäß die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten haben.“
Gewiß, im Schumann-Plan, der Montanunion, der Europäischen Wirtschafts-und Atomgemeinschaft hat man den Versuch gemacht, supranationale Gemeinschaften zu schaffen, und in Rechtsetzung, Verwaltung und Rechtsprechung die nationalen Instanzen zu überspielen. Doch dürfen diese neuen supranationalen Gemein-schäften nicht etwa zu der Auffassung führen, als ob die Souveränität der an diesen Gemeinschaften teilhabenden Staaten wirklich irgendwie maßgeblich affiziert worden wäre. Auch heute noch trägt ein etwaiger Konflikt über die aus den zwischenstaatlichen Vereinbarungen resultierenden Verpflichtungen echten völkerrechtlichen Charakter. Auch heute noch ist das politische Bild einer Vielheit souverän entscheidender Staaten noch keineswegs in der Praxis ad absurdum geführt worden. Auch heute noch sind die Staaten auf Grund ihrer Souveränität in der Lage, sich aus den supranationalen Gemeinschaften zu lösen und „nein" zu sagen, selbst wenn ein solches „Nein“ gleichzeitig gegen bestehende rechtliche Verpflichtungen verstoßen sollte. Auch heute noch sind die supranationalen Gemeinschaften nicht in der Lage, die Sezession eines ihrer Glieder durch Sanktionen zu verhindern und somit ihren souveränitätssprengenden Charakter zu erweisen.
Kein idealtypisches Verhältnis von Volk, Nation und Staat
Das für das Zeitalter des Nationalstaates gekennzeichnete idealtypische Verhältnis von Volk, Nation und Staat hat sich bei uns aus besonderen Gründen nicht wirklich durchzusetzen vermocht. Das preußisch-deutsche politische Denken der letzten 150 Jahre war geradezu dadurch charakterisiert, daß es primär nicht an dem Phänomen von Volk und Nation, sondern am Staat als solchem orientiert gewesen ist. Schon Friedrich der Große bezeichnete sich als der erste Diener des Staates und nicht des Volkes. Weiter hat vor allem Hegel durch seine Auffassung vom Staat als der Inkarnation des objektiven Geistes der Lehre den Weg geebnet, die über ein Jahrhundert lang repräsentativ das deutsche Staatsdenken bestimmt und zu der diesem eigenen Verabsolutierung des Staates geführt hat. Es ist diese Deifizierung des Staates, die dem deutschen politischen Denken den Staat in seiner konkreten Geschichtlichkeit als schlechthin vernünftig erscheinen läßt. Der Staat hat eine in sich ruhende, eigene Existenz und vernünftige Bestimmung, die zugleich dem Allgemeininteresse gerecht wird.
Auch die von Stahl begründete Lehre des preußischen Konservativismus war entscheidend an dem Phänomen des Staates und seines im Hegelschen Sinne sittlichen Gehaltes ausgerichtet. Auch Staatsrechtslehrer wie z. B. Maurenbrecher, Zoepfl und Schmitthenner waren Hegelianer in dem Sinne, daß sie im Staate eine ethische Einrichtung sahen, die mit Hilfe der Vernunft und des durch sie geprägten Geschichtsprozesses ein System des sittlichen Lebens garantieren sollte.
So überrascht es nicht, daß in Preußen und Österreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunlerts die Demagogenverfolgungen besonders heftige Formen annahmen. Diese Verfolgungen trafen jene als feindlich und undeutsch, sogar als hochverräterisch empfundenen Gruppen, die gegenüber der herrschenden Staatsauffassung die durch die Französische Revolution geprägten Begriffe wie Volk und Nation als Wirkkräfte in das politische Leben einführen wollten. So war es möglich, daß zur Zeit der revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 die Maxime „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“ von der damaligen preußischen Regierung zur entscheidenden Richtlinie ihres politischen Handelns genommen werden konnte. Volk, Nation, Demokratie hatten eben zu jener Zeit einen revolutionären Beigeschmack, und diejenigen, die sich dieser Begriffe bedienten, erschienen als die Revolutionäre, die die bestehende politische Ordnung umstürzen wollten. Einem Abgeordneten und Richter, der sich dem linken Flügel des Zentrums zurechnete, konnte so z. B. vom preußischen Justizminister entgegengehalten werden, daß er „der verderblichen Richtung der äußersten Linken der Nationalversammlung sich angeschlossen habe und . .. noch gegenwärtig Umgang mit Leuten habe, welche die öffentliche Stimme zu den Demokraten zähle“. So triumphierte 1848 das den Staat verkörpernde monarchisch-autoritäre Prinzip über die revolutionären liberal-demokratischen Kräfte und konnte Friedrich Wilhelm IV. die ihm von der Frankfurter Nationalversammlung angebotene Kaiserkrone ablehnen, weil er fühlte, daß seine transzendent legitimierte, politische Autorität sich nicht aufrechterhalten lassen würde, wenn dieser ihre Rechtfertigung entscheidend durch Volk und Nation vermittelt werden würde.
Auch Treitschke konnte letzten Endes das Hegel’sche Erbe nicht verleugnen, auch wenn die sittlichen Bindungen des Staates bei ihm durch seine These, daß es die Bestimmung des Staates sei, Macht zu behaupten und zu entfalten, in zunehmendem Maße in Frage gestellt wurden. Schließlich brach auch Bismarcks Reich, das den Namen des mittelalterlichen Imperiums aufnahm, und in dem das deutsche Sehnen nach einem Nationalstaat im 19. Jahrhundert seine Erfüllung fand — jedenfalls in seinen Anfängen —, nicht mit dieser Tradition. Denn es waren nicht die Begriffe von Volk und Nation, die entscheidend das politisch-deutsche Denken zur Zeit der Reichsgründung bestimmten. Vielmehr war für den Gründer des Reichs diese eine Schöpfung der preußischen Staatsmacht. Das Reich erschien Bismarck im Grunde genommen nur als das Mittel, um Preußen in die Lage zu versetzen dem Reich den Stempel seines eigenen Geistes aufzudrücken. Dieses Reich war zentral am Phänomen des Staates im traditionell preußisch-konservativen Sinne, sodann an der Monarchie und schließlich an einem Föderalismus orientiert, der durch den Zusammenschluß der einzelnen Monarchien sein und zwar durch die preußische Hegemonie typisches bundesstaatliches Gepräge erhielt. Anders ausgedrückt, das Reich war sozusagen das Mittel, um die Zentralgewalt, d. h. die preußische Hegemonie im monarchischen Bundesstaat sicherzustellen und diese den widerstrebenden Fürsten im Süden schmackhaft zu machen, die wohl bereit waren, von einem deutschen Kaiser, nicht aber einem preußischen König Befehle entgegenzunehmen. Dieser Sachlage entsprach es, daß in der Bismarckschen Reichsverfassung zunächst vom Bundesrat, sodann vom Präsidium des Bundes, das dem Könige von Preußen zustand, der den Namen Deutscher Kaiser führte, und erst zuletzt vom Reichstag die Rede war. Sie macht zugleich verständlich, einmal warum ursprünglich die preußischen Konservativen gegen die Annahme des Kaisertitels durch den preußischen König waren, sodann warum es möglich war, daß die nationalstaatliche Bewegung durch Bismarck zunächst auf das Reichsgebiet von 1871 begrenzt wurde, und schließlich warum das westlich nationalstaatliche Denken des Liberalismus darauf gerichtet war, das neue Reich von seiner Belastung mit der preußischen Tradition zu befreien und dasselbe mit einem neuen Inhalt zu füllen 3).
Mit der Zerschlagung Preußens hat jedenfalls der Reichsgedanke bei uns, wenn man von den Mythenbildnern und den ihnen Hörigen absieht, seine Werbekraft verloren, selbst wenn man von seiner Kompromittierung durch den späteren Imperialismus absieht. Dieser ist es, der heute ganz allgemein den Reichsgedanken fragwürdig gemacht hat. Es ist kein Zufall, daß die Engländer ihr Empire in ein Commonwealth of Nations umgewandelt haben und Frankreich und Österreich nur im Namen noch die Erinnerung an die frühere Reichsidee wach halten.
Der Einbruch des Ideologischen in das nationalstaatliche Denken
1. Schon zur Zeit der Entstehung des Nationalstaates gab es im zwischenstaatlichen Bereich Mächte, die sich den letzten Endes anarchischen Auswirkungen des nationalstaatlichen Prinzips hemmend entgegenstellten. Schon im Zeitalter des Humanismus, des Vernunft-und Natur-rechtes, der Aufklärung gab es bestimmte »ideologische“ Bindungen, die die Schärfen des nationalstaatlichen Prinzips milderten. Der universale Glaube an e i n e Humanitas, der Glaube an d e n Menschen, der Glaube an d i e Vernunft und die Natur des Menschen, der Glaube an d e n Fortschritt kollidierte zutiefst mit den Forderungen des modernen Nationalstaates. Die Schaffung des modernen Völkerrechtes, das im 16. und 17. Jahrhundert auf die Natur und Vernunft der Menschen gegründet wurde, liefert hierfür vielleicht den eindrücklichsten Beweis.
Zu diesen Bindungen kommen seit dem 18. Jahrhundert die politischen Querverbindungen. Konservative hatten ihre Sympathien für den politischen Konservatismus in konservativ ausgerichteten Staaten; man denke z. B. an die Heilige Allianz, die nicht zuletzt durch ihre innenpolitisch gleiche Ausrichtung auf Thron und Altar zusammengehalten wurde. Entsprechendes galt für die englischen Liberalen, die nicht zufällig — zunächst jedenfalls — die Französische Revolution von 1789 wärmstens begrüßten, weil sie glaubten, daß ihre Träger für die gleichen Ideale auf die Barrikaden gestiegen waren, die den Revolutionären des 17. Jahrhunderts heilig waren. Auch im 19. und 20. Jahrhundert hat die Verletzung liberaler Prinzipien zu entsprechenden liberalen Reaktionen der öffentlichen Meinung in allen Ländern geführt.
Auch an die kirchlichen Querverbindungen ist in diesem Zusammenhang zu erinnern. Katholiken standen und stehen für Katholiken überall in der Welt, wenn die katholischen Glaubens-prinzipien verletzt und Katholiken verfolgt werden. Von protestantischer Seite hat sich im Gefolge der ökumenischen Entwicklung eine ähnliche Entwicklung angebahnt. Die pathologischen Reaktionen des Nationalsozialismus auf die jüdischen internationalen Querverbindungen sind noch in aller Erinnerung. Lind schließlich und nicht zuletzt ist vor allem auf die Arbeiterbewegung hinzuweisen, die in der 2. und
Für das Zeitalter des Nationalstaates war entscheidend, daß bei einem Zusammenprall zwischen dem, was hier um der Abbreviatur willen das Ideologische genannt sein mag, und den Forderungen, die sich aus der Zugehörigkeit zu Volk und Nation ergaben, die letzteren den Vorrang hatten. Die Loyalität des einzelnen Bürgers gegenüber seinem Volk nahm den Vorrang vor allen ideologischen Loyalitäten für sich in Anspruch. Anders ausgedrückt, die Bindungen, die sich aus der nationalen Zugehörigkeit des einzelnen ergaben, transzendierten alle interund übernationalen Bindungen „ideologischer“ Natur. 2. Auch nach dem ersten Welktrieg hielt man an den traditionellen Formen des Nationalstaa-tes fest. Die Schaffung einer größeren Anzahl von neuen Nationalstaaten dokumentierte den ungebrochenen Glauben an die schöpferische Kraft des nationalstaatlichen Prinzips. Ebenso beruhte der Genfer Völkerbund auf dem klassischen nationalstaatlichen Souveränitätsbegriff. Der Völkerbund war eine allianzähnliche Organisation freier Völker, die nach Belieben dieser beitreten, aber auch — und dies war gerade bei den Großmächten der Fall — aus ihr austreten konnten. Im Einstimmigkeitsprinzip fand die politische Souveränität der Staaten ihren sichtbaren Ausdruck. Kein Staat konnte gegen seinen Willen zu einer Aktion gezwungen werden. In allen Dingen, die den Mitgliedsstaat selber betrafen, hatte er das letzte Wort.
Auch während des zweiten Weltkrieges war es das „Prinzip der souveränen Gleichheit aller friedliebenden Staaten", das in allen wichtigen Konferenzen, in denen über die künftige völkerrechtliche Neuordnung gesprochen wurde, angerufen wurde. Man denke etwa an die Atlantic Charter, die Moskauer Konferenz von 1943, die Konferenz von Teheran vom gleichen Jahre, die Konferenzen von Jalta und Potsdam von 1945. Immer war es das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten, auf das die künftige zwischenstaatliche Ordnung gegründet werden sollte. Insbesondere die Sowjetunion wurde nicht müde, auf diesen Konferenzen das von ihr in Anspruch genommene Vetorecht mit dem Prinzip der Souveränität zu verbinden und deutlich zu machen, daß die neue völkerrechtliche Ordnung auf der Anerkennung dieses Prinzips beruhen müsse.
Tatsächlich glaubte man zu jener Zeit, daß man mit Hilfe des Prinzips der Souveränität die schon damals zwischen den Alliierten in ideologischer Hinsicht bestehenden Spannungen überbrücken und die Welt nach dem Kriege neu ordnen könnte. Daher konnte auch der Begriff der nationalen Sicherheit während des Krieges und nach demselben eine so zentrale Rolle spielen. Denn wenn die künftige Friedensordnung der Welt in erster Linie von den souveränen Großmächten abhängig sein sollte, war es nur folgerichtig, daß diese Staaten sich nicht irgendwie in ihrer nationalen Sicherheit bedroht fühlen durften. Deshalb glaubte man um des künftigen Friedens willen verpflichtet zu sein, auch die Sicherheitsansprüche der Sowjetunion und anderer östlicher Nachbarn Deutschlands grundsätzlich als berechtigt anerkennen zu müssen. 3. Diese Auffassung fand auch in der in San Franzisko zunächst geschaffenen Organisation der Vereinten Nationen ihren Niederschlag. Gewiß war man sich in San Franzisko darüber klar, daß die Organisationsform des Genfer Völker-bundes heute den veränderten Forderungen der Zeit nicht mehr entsprechen könnte, und daß man eine mehr selbständige Körperschaft mit den erforderlichen Machtmitteln ausstatten müßte, um einen etwa drohenden neuen Welt-konflikt nach Möglichkeit von vornherein auszuschließen. Darum brach man in San Franzisko mit dem Prinzip der Einstimmigkeit und führte in der neuen völkerrechtlichen Verfassung das Mehrheitsprinzip ein. Zu einer wirklich strukturellen Veränderung des Völkerrechts ist es aber letzthin in San Franzisko nicht gekommen, weil die Verfasser der Charter eben gleichzeitig auch das Prinzip der souveränen Gleichheit der Großmächte respektieren mußten. Dieses hat dem Mehrheitsprinzip die ihm an sich im Völkerrecht eigene schöpferische Bedeutung genommen. Denn im Weltsicherheitsrat kann das Mehrheitsprinzip infolge des Vetorechtes der Großmächte nicht zur Entfaltung gelangen. Dieses Vetorecht hat die für die Großmächte sich aus der Satzung ergebenden Beschränkungen in einem Maße kompensiert, daß man in Wahrheit statt von einer Beschränkung der Souveränität durch das Mehrheitsprinzip von einer Bestätigung der Souveränität durch die Orgasation der Vereinten Nationen sprechen kann. 4. Das Unbehagen angesichts dieser Situation ist offenbar. Einerseits wissen wir, daß heute unter dem Blick der Wirtschaft, des Verkehrs, der Wissenschaft, der Technik, insbesondere der Wehrtechnik und der Atomwaffen Raum und Zeit überwunden sind und die Welt eine Welt geworden ist. Und zwar ist für diese Entwicklung charakteristisch, daß sie sich unabhängig vom Willen des Menschen, ja man kann fast sagen, gegen seinen Willen vollzogen hat.
Dieser Sachlage entspricht es, daß, wenn unter dem Blickpunkt des Nationalstaates heute die Völker in Freiheit aufgerufen werden würden sich zu entscheiden, ob sie eher bereit sein würden auf ihre politische Souveränität zu verzichten als einen alle vernichtenden dritten Weltkrieg zu führen, diese heute grundsätzlich bereit sein würden ihre politische Freiheit und damit die Souveränität auf dem Altar des Friedens zu opfern. Die Erhaltung des Friedens erscheint der Menschheit heute wichtiger als die Erhaltung der staatlichen Souveränität. Anders ausgedrückt, die Prinzipien des Nationalstaates besitzen von sich allein aus nicht mehr die innere Kraft, eine politische Unifizierung Europas und darüber hinaus der Welt auf die Dauer zu verhindern. Die fortschreitende europäische und atlantische Integration bezeugen dies zur Genüge. 5. Wenn trotzdem die an sich hiernach mögliche, allgemeine, politische Befriedung nicht eingetreten ist, so sind hierfür bekanntlich andere Gründe verantwortlich. Die heutige Unruhe der Welt geht bekanntlich auf ihre ideologische Aufspaltung und Zerissenheit zurück. Der Einbruch der revolutionären weltanschaulichen Bewegungen des Kommunismus und Faschismus in seiner, verschiedenen Schattierungen hat die Situation grundsätzlich verändert. Entscheidend ist heute — wenn die terminologische Abbreviatur beibehalten werden darf —, daß bei einem Konflikt zwischen nationalstaatlicher Loyalität und politisch-ideologischer Bindung die sich aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation und einem bestimmten Staat ergebenden Pflichten nicht mehr wie im Zeitalter des Nationalstaates den selbstverständlichen Primat vor den Bindungen haben, die sich aus dem Glauben an eine der revolutionären, weltanschaulichen Ideologien ergeben. Vielmehr ist diesen gemeinsam, daß sie ihrerseits die nationalstaatlichen Forderungen transzendieren. Dem Zeitalter des Nationalstaates im traditionellen Sinn wird damit die Totenglocke geläutet. 6. Diese Entwicklung erklärt im übrigen auch, warum der letzte Weltkrieg nicht einfach als die
Fortsetzung des ersten Weltkrieges betrachtet werden kann, wie so oft während der Kriegs-jahre behauptet worden ist. Dieser von Feldmarschall Smuts einmal so genannte Dreißigjährige Krieg ist in Wirklichkeit durch eine tief-greifende Zäsur des zweiten Weltkrieges vom ersten getrennt gewesen. Während der erste Weltkrieg seinem Ursprung und seiner Anlage nach noch im traditionellen Sinne ein national-staatlicher Konflikt war und dem Zeitalter des Nationalstaates zuzurechnen ist, kann das gleiche von dem zweiten Weltkrieg nicht mehr behauptet werden. Dieser war vielmehr im Gegesatz zum ersten Weltkrieg ein primär ideologischer Konflikt.
Das bedeutet nicht, daß auch heute nicht das Nationalgefühl und das Nationalbewußtsein politische Faktoren erster Ordnung sind und daß der Appell an die nationalen Instinkte eines Volkes von großer Bedeutung werden kann. Es ist kein Zufall, daß die Führer der totalen Staaten mit Erfolg im letzten Weltkrieg — und zwar gerade in seinem kritischsten Stadium — rücksichtslos an die nationalen Instinkte ihrer Völker appelliert haben. Aber dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß letzten Endes dies nur geschah, um die Völker zugleich in den Dienst der sie beherrschenden politischen Ideologien zu stellen und sie so zu „verführen". Während man im Zeitalter des Nationalstaates ideologische Zielsetzungen mißbraucht hat, um mit ihrer Hilfe den Imperialismus zu tarnen, werden im 20. Jahrhundert in Übereinstimmung mit dem Wandel der Grundlagen unseres Zeitalters bestimmte nationalstaatliche Zielsetzungen verfolgt, um eine ideologische Machtausweitung zu ermöglichen. Während in der Vergangenheit das missionarische Sendungsbewußtsein — man denke z. B. an die Propagierung der Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit — letzthin vor dem nationalstaatlichen Prinzip kapitulierte, bedient man sich heute traditioneller nationalstaatlicher Kategorien und Formen, um die frühere politische Rang-und Wert-ordnung umzukehren, und das nationalstaatliche Prinzip den bestimmenden gesellschaftlich-ideologischen Kräften ein-und unterzuordnen.
So hat der Appell an die nationalen Gefühle im letzten Krieg nichts Entscheidendes mehr daran geändert, daß dieser im Grunde genommen ein primär ideologischer und nicht nationalstaatlicher Konflikt war. Gewiß ist richtig, daß der letzte Krieg in zunehmendem Maße gerade von den westlichen Alliierten faktisch nicht als ideologischer Krieg geführt wurde. Es sei nur an die Konferenz von Casablanca vom Januar 1943 und die dort auf Veranlassung des damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten geprägte Formel von der „bedingungslosen Unterwerfung" Deutschlands erinnert. Kein Wunder, daß bei dieser Sachlage der letzte Krieg auch als ein primär nationalstaatlicher Konflikt vom Westen her im politischen Raum faktisch beendet wurde und die westlichen Alliierten nicht als „Befreier", sondern als „Sieger“ nach Deutschland kamen. Dies bedeutet jedoch nicht — wie man nicht selten anzunehmen geneigt ist —, daß der Konflikt unter dem Druck der Verhältnisse seinem inneren geistigen Gehalt nach wirklich zu einem nationalen Krieg geworden war, sondern im Grunde genommen lediglich, daß man einen primär ideologischen Konflikt mit den traditionellen Mitteln des Nationalstaates beendet hatte, d. h. mit Mitteln, die seinem wahren Charakter nicht entsprachen.
Die Nachkriegsereignisse haben gezeigt, daß die nationalstaatliche Pervertierung des zweiten Weltkrieges durch die Alliierten ein ebenso verhängnisvoller Irrtum war wie der Glaube, daß die künftige zwischenstaatliche Ordnung auf das Prinzip der nationalstaatlichen Souveränität gegründet werden könnte. Die tief-gehenden geschichtlichen Wandlungen, die sich vor unseren Augen vollzogen haben und uns berechtigen, heute von einer Zeitwende zu sprechen, sind stärker gewesen als die Menschen, die geglaubt haben, von ihren traditionellen Vorstellungen und Begriffen aus die Ereignisse beeinflussen zu können. 7. Wenn die Völker, um die Welt vor den selbstmörderischen Konsequenzen eines dritten Weltkonflikts zu bewahren, heute auch bereit sind, das Prinzip der nationalstaatlichen Souveränität und Unabhängigkeit zu opfern, so muß nach dem Gesagten jetzt hinzugefügt werden, daß die potentielle Aufgabe der nationalen Unabhängigkeit nicht die Bereitschaft der Völker in sich schließt, sich einem ihnen wesensfremden ideologischem System zu unterwerfen. Auch heute scheinen die Völker — wenn man von den konsequenten Atomgegnern absieht, die etwa mit dem englischen Lord Russell gegenüber der Alternative „Rot oder Tod“ das Rot dem Tod vorziehen —, noch eher bereit zu sein, das Risiko eines neuen furchtbaren Krieges mit all seinen Konsequenzen auf sich zu nehmen, als die ideologische Grundlage ihrer eigenen politischen Existenz aufzugeben und sich ihren „way of life" von außen durch ihnen ideologisch feindliche Mächte vorschreiben zu lassen. 8. Auf einige Konsequenzen aus dem Gesagten soll noch hingewiesen werden:
Wenn es richtig ist, daß wir heute in einer Zeit-wende leben, in der das Nationalstaatliche entscheidend durch das Weltanschaulich-Ideologische überlagert wird, so verstehen wir, warum die Organisation der Vereinten Nationen so weitgehend aufgehört hat die ihr ursprünglich zugedachten Funktionen zu erfüllen. Die Ursache ist nicht so sehr, daß die Großmächte durch das Verfassungsinstrument in San Franzisko in ihrer Souveränität sozusagen bestätigt worden sind. Diese Schwäche teilt vielmehr die heutige Organisation mit früheren völkerrechtlichen Einrichtungen. Sie ist gewissermaßen dem Völkerrecht als zwischenstaatlichem Recht überhaupt eigen.
Nein, in Wahrheit geht diese Schwäche darauf zurück, daß infolge der ideologischen Aufgespaltenheit der Welt das Souveränitätsprinzip heute Funktionen ausübt, die ihm im Zeitalter des Nationalstaates nicht zukamen. In einem primär ideologischen Zeitalter wird nämlich das politische Prinzip der Souveränität in Wirklichkeit zu einem Vehikel, mit dessen Hilfe man sachfremde, nämlich ideologische und nicht nationalstaatliche Zielsetzungen verfolgt. Tatsächlich wird heute im Grunde genommen das Vetorecht weniger gebraucht, um die politische Unabhängigkeit der Großmächte zu verteidigen, als un-ter dem Deckmantel der nationalstaatlichen Souveränität ideologische und durch diese Ideologie machtmäßig bestimmte Zielsetzungen zu erreichen. Dies ist auch der Grund, warum in den Vereinten Nationen Staaten als souverän fingiert werden, auch wenn diese in Wirklichkeit durch ihren Satellitenstatus längst ihre Souveränität verloren haben. 9. Dabei prallen die sich gegenüberstehenden Weltanschauungen deshalb mit so großer Härte aufeinander, weil ihnen jenes Minimum an Homogenität fehlt, ohne das eine Gemeinschaft weder rechtlich noch sittlich noch politisch auf die Dauer existieren kann. Man kann nicht die Freiheit wollen und sie gleichzeitig verneinen. Wie kann eine politische Ordnung, die den Anspruch erhebt, auf Grund des ihr immanenten Prinzips der Totalität das ganze Dasein zu umfassen, mit einer grundsätzlich auf Freiheit gegründeten Gesellschaftsordnung zu einem Ausgleich gelangen? Zwischen so verschiedenen Ordnungen und Ideologien mag es wohl von taktischen Erwägungen bestimmte, wechselseitige Konzessionen geben. Man mag nach Möglichkeiten des Miteinanderlebens suchen, man mag „koexistieren“. Für ein solches Miteinanderleben bietet die Geschichte viele Belege.
Aber man täusche sich nicht: In einem Zeitalter der „Koexistenz“, wie dem gegenwärtigen, leben im Grunde genommen die wechselseitigen Partner von der Hoffnung, daß im Laufe der Zeit bei einem der Partner etwas „Grundsätzliches“ geschieht, das auf weitere Sicht gesehen eine Angleichung der verschiedenen ideologischen Systeme möglich und damit einen Konflikt letzthin entbehrlich erscheinen läßt.
Die Kommunisten hoffen heute, daß vor allem wirtschaftliche Krisen die westliche Welt so erschüttern werden, daß es ohne Krieg möglich sein wird, diese Welt in Übereinstimmung mit dem gesellschaftlich-ideologischen System des Ostens zu bringen. Andererseits hofft der Westen, daß sich im Ostblock (z. B. zwischen der Sowjetunion und China) oder in der Sowjetunion selbst irgendwie brüchige Stellen im System zeigen, die es gestatten, zu gegebener Zeit eine Applanierung zwischen den heterogenen gesellschaftlich-ideologischen Systemen vorzunehmen. Ein wirklich konstruktiver, schöpferischer Kompromiß zwischen den verschiedenen Ordnungssystemen ist jedoch nicht möglich. Deshalb kann auch keine Brücke, gleichgültig ob diese von Deutschland, England oder Europa geschlagen werden soll, von der einen Ordnung zu der anderen hinüberführen; denn eine Brücke setzt immer voraus, daß etwas da ist, was überbrückt werden kann. Und auf die Frage, wie denn die Brücke aussehen soll, die diese so entgegengesetzten weltanschaulichen Ordnungen in einer höheren Einheit aufheben soll, ist die Antwort bis zum heutigen Tage — und man kann nur hinzufügen: nicht zufällig — nicht erteilt worden. 10. Aus dem Vorrang des Politisch-ideologischen gegenüber dem nationalstaatlichen Prinzip folgt weiterhin, daß das Prinzip, daß kein Staat sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einmischen darf, einer Revision bedarf. Das Prinzip der Nichtintervention ergibt sich aus dem Respekt vor der national-staatlichen Souveränität. Dieses Prinzip wird auch von der Satzung der Vereinten Nationen ausdrücklich anerkannt. Nach ihr ist es den Vereinten Nationen verwehrt, sich mit Fragen zu befassen, die zu den inneren Angelegenheiten irgendeines ihrer Mitglieder gehören. In einem primär ideologischen Zeitalter kann dieses Prinzip aber in dieser Allgemeinheit nicht mehr aufrechterhalten werden. Es ist einfach ein nicht mehr zeitgemäßes, weil der politischen Wirklichkeit nicht mehr entsprechendes Prinzip. Nicht zufällig heißt es auch in der Satzung der Vereinten Nationen, daß es sich bei den eine Intervention ausschließenden Angelegenheiten um solche handeln muß, die „essentially within the domestic jurisdiction“ der Staaten liegen. Aber was ist eine „essentailly domestic affair“? Diese Formulierung läßt Tor und Tür offen für eine den veränderten Zeitverhältnissen gerecht werdende Interpretation und ermöglicht es, daß schon im Rahmen der bestehenden Organisation der Vereinten Nationen ideologischen Gesichtspunkten Rechnung getragen wird. In einem primär ideologischen Zeitalter können die Staaten nicht mehr an der „intern" verfassungsrechtlichen Struktur eines Landes schlechthin desinteressiert sein. In einem solchen Zeitalter gibt es landesrechtliche Reservate, auf die sich die Staaten berufen können, nur insoweit, als diese nicht zugleich einen ideologischen Charakter haben, der für das gesamte politische Weltbild im westlichen oder östlichen Sinne von fundamentaler Bedeutung ist.
Die Gleichschaltungen z. B.der in der russischen Einflußsphäre gelegenen Staaten im Laufe des letzten Jahrzehnts haben zur Genüge gezeigt, wie vital die Sowjetunion an der kommunistisch-ideologischen Gleichschaltung der im Bereich ihrer Machtsphäre liegenden Staaten interessiert ist, und wie das „Mutterland“, wenn es die gemeinsame ideologische Ausrichtung erfordert, gegebenenfalls ohne Skrupel bereit ist, das von ihm auch heute noch so hartnäckig verteidigte alte Prinzip der nationalstaatlichen Souveränität um der gemeinsamen politischen Ideologie willen zu opfern. Bei dem fehlgeschlagenen Versuch zur Invasion auf Kuba sind von den Vereinigten Staaten ähnliche ideologische Erwägungen zur Rechtfertigung derselben ins Feld geführt worden. 11. Der revolutionäre Einbruch des Ideologischen zeigt sich auch noch bei einer Reihe von Fragen, von denen einige jedenfalls beispielsweise erwähnt sein mögen:
So existierte das Problem der 5. Kolonne in seiner heutigen Form noch nicht zur Zeit des Nationalstaates. Schon unter dem Nationalsozialismus und Faschismus war es so, daß dieser von Nationalsozialisten und Faschisten in den eroberten Ländern offen mit warmer Sympathie begrüßt wurde und daß man sich nicht scheute, mit seinem Verhalten den Tatbestand des Landesverrats zu verwirklichen. Auch heute unterliegt es keinem Zweifel, daß bei einem etwaigen künftigen Konflikt Kommunisten von Kommunisten über all in der Welt als Freunde und Befreier begrüßt werden würden, und daß umgekehrt der „Westen“ im Osten in der gleichen Weise von der westlich ausgerichteten Bevölkerung willkommen geheißen würde. So wird der Feind im Sinne des Nationalstaates heute von Millionen von Menschen im ideologischen Sinne als Befreier und Freund begrüßt, während gleichzeitig Millionen von eigenen Volksgenossen gleichzeitig als Feinde im ideologischen Sinne betrachtet werden. Man denke z. B. nur an die Versuche, die heute in der Sowjetzone unternommen werden, um die dortigen Deutschen zu veranlassen, in dem deutschen Nicht-kommunisten in der Bundesrepublik den Feind“, der als . Revanchist', . Imperialist', Monopolkapitalist'charakterisiert wird, zu sehen.
Ferner: Ist es z. B. noch möglich, den Begriff des Landesverrats in einem primär ideologischen Zeitalter in der gleichen Weise zu bestimmen wie zur Zeit des Nationalstaates, die diesen Begriff geprägt hat, oder haben wir den Begriff des Landesverrats durch einen anderen Begriff zu ersetzen, der der Zeitenwende mehr gerecht wird?
Ferner: Befinden wir uns vielleicht in einer Entwicklung, die von dem heutigen formalen Staatsangehörigkeitsrecht fort zu einem neuen, entscheidend durch ideologische Merkmale bestimmten Staatsangehörigkeitsrecht führen wird?
Oder man denke an das traditionelle Neutralitätsrecht, für das — gleichgültig, ob in der traditionellen schweizer oder neuen afrikanischen oder asiatischen Form Nehrus — in einem primär ideologischen Zeitalter grundsätzlich kein Raum ist, auch wenn man aus taktischen Gründen an dieser Neutralität festhalten mag und will. Denn diese Neutralität lebt im Grunde genommen als Nutznießer von der Existenz der Spannung zwischen den großen Weltmächten, die sich blockmäßig ideologisch als Feinde einander gegenüberstehen und deren Aufhebung zugleich das Ende des sog. dritten neutralen Macht-blocks zur Folge haben würde. 12. Mit einem Hinweis auf einen spezifisch deutschen Beitrag zu dem hier erörterten Fragenkomplex darf ich schließen:
Ich denke an die Bewegung des 20. Juli 1944, so wie sie von der sie tragenden Elite verstanden worden war. Ihre Besonderheit bestand nämlich darin, daß sich mit ihr ebenfalls etwas vollzog, was in unserem Zusammenhang als der Einbruch des Ideologischen bezeichnet werden kann.
Im ganzen hat sich die westliche Welt gegenüber der Situation in der sich Deutschland damals befand, insofern in einer glücklicheren Lage befunden, als es in ihr zu einem echten Konflikt zwischen den Forderungen einer weltanschaulich bestimmten politischen Ideologie und denen des Nationalstaates nicht gekommen war. Auch bei den Widerstandsbewegungen der westlichen Länder kam es nicht zu einem solchen Konflikt, weil diese Bewegungen nicht nur antikommunistisch ausgerichtet, sondern zugleich auch im Sinne des Nationalstaates echte nationale Freiheitsbewegungen waren.
Bei uns lagen die Dinge anders. Hier geschah es zum erstenmal, daß einer revolutionären politischen Weltanschauung, die in ihrer Totalität das Individuum in seiner Eigenständigkeit dem Prinzip nach aufhob und alle objektiv verbindlichen Werte relativierte, vom Westen her auf prinzipiell gleicher Ebene begegnet wurde und Männer bereit waren, den sich aus Antike und Christentum herleitenden Forderungen der westlichen Zivilisation den Primat vor den national-staatlichen Prinzipien und den sich aus diesen ergebenden Loyalitätsverpflichtungen einzuräumen. Hier zum erstenmal ist in einer militanten Form vom Westen der dem Ideologischen der Primat gegenüber den sich aus dem Nationalstaat ergebenden Prinzipien gesichert worden. Dies scheint mir ein Ereignis von gesamteuropäischer Bedeutung zu sein, das der Nationalsozialismus sozusagen gegen seinen Willen produziert hat. Es ist ein Ereignis, in dem sich, wie dies in großen geschichtlichen Augenblicken — nach einem schönen Wort Rosenstock Huessy’s — der Fall ist, die legitime Gewalt in der Form des Illegitimen offenbart. Es ist das größte Positivum, das von deutscher Seite im Zuge der europäischen und darüber hinaus der westlichen Integration in die Waagschale geworfen werden kann, weil es im Grunde genommen ein Ereignis gewesen ist, das ein zukünftiges Zeitalter symbolhaft eingeläutet hat.
Wir sind heute gewohnt, des 17. Juni 1953 im Zusammenhang mit der erhofften Wiedervereinigung feierlich zu gedenken. Solange wir nicht bereit sind, das gleiche bezüglich des 20. Juli zu tun, werden wir nicht der politischen Gesamtsituation gerecht, in der wir leben. Unterstellen wir einmal hypothetisch, daß in Freiheit durchgeführte Wahlen in der sowjetischen Zone aus irgendwelchen Gründen nicht eine Mehrheit zugunsten eines freiheitlich ausgerichteten Regimes ergeben würden, so würden wir unter nationalstaatlichem Aspekt gehalten sein, nichtsdestoweniger die Wiedervereinigung weiter zu betreiben. Eine andere Haltung läßt sich nur rechtfertigen, wenn wir dem 20. Juli letzthin, um es pointiert zu formulieren, zum mindesten den gleichen Rang wie dem 17. Juni einräumen. Das Wort von der Wiedervereinigung in Freiheit verdunkelt in Wirklichkeit den hier erörterten komplexen Sachverhalt, nämlich daß bei einem Konflikt zwischen den Forderungen, die sich aus dem nationalstaatlichen und ideologischen Denken ergeben, das letztere heute den Vorrang hat. Die Zeit der Saarabstimmung von 1935, bei der in Übereinstimmung mit der Mehrheit des Abstimmungsvolkes der Kommerzienrat Röchling erklärte, daß auch wenn in Berlin der Teufel sitze man für das nationalsozialistische Deutschland stimmen müsse, ist nicht mehr die unsere, wenn man nicht einer potentiell unter dem Zeichen des Totalitarismus stehenden Wiedervereinigung den Vorzug gegenüber einem heute zwar zweigeteilten, aber überwiegend in Freiheit lebenden Deutschland geben will. Wie der Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (vgl. das Referat „Was ist des Deutschen Vaterland“, gehalten auf dem 10. Parteitag der CDU am 24. April 1961) es jüngst so treffend formuliert hat; „Des Deutschen Vaterland ist heute das Deutschland derer, die zur Freiheit entschlossen sind.“ Auch in den Feiertagen, die für die Nation eine gesteigerte, symbolhafte Integrationskraft haben, sollte dieser Primat seinen Ausdruck finden.