Noch nie waren die fundamentalen Schriften und Grunddokumente einer revolutionären Bewegung so wenig bekannt wie die des chinesischen Kommunismus vor 1949. Erst 1954 erschien eine englische, 1956 eine (aus dem Russischen stammende) deutsche Übersetzung der „Ausgewählten Schriften“ Mao Tse-tungs. Hätten die westlichen Diplomaten und Militärs in den dreißiger und vierziger Jahren Maos Abhandlungen analysiert, so wären genügend Schlüssel über Disposition, Stoßrichtung und Ablauf der kommunistischen Operationen in China vorhanden gewesen. Man handelte nicht nach dem auf Sun Tzu zurückgehenden chinesischen Sprichwort „Erkenne dich selbst, erkenne den Feind — dann sind hundert Schlachten gleich hundert Siegen". Für Mao ist dieses Wort „eine wissenschaftliche Wahrheit“
Maos Überleben im erbarmungslosen Bürgerkrieg seit 1927 und sein einzigartiger Siegeszug Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber der „Schweizer Monatshefte* (Dez. 1961). von 1945 bis 1949 beruhten nicht auf zufälligen Konstellationen. Mao hat seine Kriegsphilosophie vor über zwanzig Jahren in nächtelanger Arbeit in seiner Lößhöhle in Yenan in drei Hauptschriften autoritativ niedergelegt: „Über einen langdauernden Krieg“ (Mai 1938), „Fragen der Strategie des Partisanenkrieges gegen die japanischen Eindringlinge“ (Mai 1938) und „Strategische Fragen des revolutionären Krieges in China“ (geschrieben Dezember 1936, veröffentlicht Februar 1941). Die im vierten Band der „Selected Works“ (Oktober 1960, englische Übersetzung April 1961) enthaltenen Aufsätze und Kommentare Maos aus der Zeit von 1945 bis 1949 bilden nur Ergänzungen der Haupt-schriften. Sein bedeutendstes Werk „Über einen langdauernden Krieg“, das er im Alter von 45 Jahren schrieb, erhebt indirekt den Anspruch, ein klassisches Dokument von zeitloser Gültigkeit zu sein: „Unser langdauernder Krieg ist berufen, eine hervorragende, ruhmreiche Seite in der Geschichte der von der Menschheit geführten Kriege zu schreiben.“
In den Schriften des pragmatischen Denkers Mao werden alte chinesische Weisheiten an die marxistisch-leninistische Orthodoxie — dem „Fernglas und Miskroskop in Politik und Kriegswesen
Wie Lenin, Trotzky und Stalin vor ihm soll Mao um 1928 Carl von Clausewitz’ „Vom Kriege“ in chinesischer Übersetzung gelesen haben. Ob er über den ehemaligen kaiserlichen Berufsoffizier Chu Teh, der 1923/24 in Berlin Militärwissenschaften studierte, westliche militärische Denkformen kennenlernte, ist unbekannt. 1936 glossierte Mao einmal ungenannte deutsche und japanische Militärfachleute wegen ihrer Bevorzugung des strategischen Angriffs unter Vernachlässigung der strategischen Verteidigung
Lehrmeister Sun Tzu
Zur Fundamentierung seiner Kriegsdoktrin studierte Mao die Aphorismen dieses ältesten Kriegsphilosophen der Welt, für den gemäß alter chinesischer Weisheit Kriegslist und „indirekte Taktik" eine hervorragende Rolle spielen. Die Gedankenwelt Sun Tzus spiegelt sich am besten in diesem Abschnitt seines Traktats: „Jede Kriegführung beruht auf Täuschung. Wer zum Angriff gerüstet ist,'muß den Anschein erwecken, als sei er noch nicht fertig. Während man Kräfte sammelt, muß man untätig erscheinen ... Lege Köder aus, um den Feind anzulocken, täusche Unordnung vor und schlage zu!"
In der Tat sind nachhaltige Ergebnisse in der Kriegsgeschichte fast immer nur dann erzielt worden, wenn das Vorhaben so verschleiert war, daß es den Gegner unvorbereitet traf. Diese siegverheißende Verschleierung war oft physisch, immer aber psychologisch. Sun Tzu ist der Ansicht, daß in der Strategie der größte Umweg oft am schnellsten zum Ziel führt: „Wer erobern will, muß ablenken können — das ist die Kunst bei allen Operationen; darum gilt es, den Gegner von seinem eigenen Weg fortzulocken, lange Umwege einzuschlagen ... Wer das tut, beherrscht die Kunst des Ablenkungsmanövers."
Die höchste Form der Feldherrnkunst besteht nach Sun Tzu darin, die Pläne des Gegners zu durchkreuzen und zunichte zu machen. Der geschickte Stratege müsse dem Gegner seinen Willen aufzwingen (2300 Jahre nach ihm definierte Clausewitz den Krieg als einen „Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen"). Sun Tzu meint, nur wenn man die feindliche Widerstandskraft ohne Kampf breche, könne man Truppen auch durch einen langen Krieg hindurch kampfkräftig und moralisch intakt halten. Sun Tzu hat sinngemäß Napoleons vielzitierte — und von Mao verabsolutierte — These vorweggenommen, im Kriege verhalte sich die Moral zur Stärke wie 3: 1, das heißt: zahlenmäßige Überlegenheit kann bei absinkender Kampfmoral wertlos werden. Bei Sun Tzu ist jeder militärischen oder psychologischen Stärke in echter chinesischer Tradition eine ebensolche Schwäche dialektisch zugeordnet. Auch hierin ist bei Mao unschwer der Einfluß des Denkens Sun Tzus zu erkennen, dessen Führungsgrundsätze und dialektische Strategie bis heute das chinesische Offizierskorps durchdringen. Vor allem aber preist dieser Altmeister chinesischer Kriegskunst immer wieder, gleich Mao, den großen Vorteil der „indirekten Taktik": „Bei allen Auseinandersetzungen kann man die direkte Methode in der Schlacht anwenden; indirekte Methoden aber werden nötig sein, um den Sieg zu erringen.“
Mao, Lenin und Heraklit
Wir wissen nicht, ob Mao jemals die tiefsinnigen Fragmente des griechischen Philosophen Heraklit gelesen hat. Sagt doch Heraklit sinngemäß, der Kampf sei das Recht der Welt; die einen erweise der Krieg als Götter, die anderen als Menschen — die einen als Sklaven, die anderen als Freie. In dieser Aussage begegnen sich Mao und Heraklit. Wenn Clausewitz sagte: „Der Krieg ist nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln“, so bemerkte Lenin dazu: „Der Krieg ist im Kern Politik; der Krieg ist ein Teil des Ganzen, das Ganze ist Politik." Und des chinesischen Leninisten Mao Leitstern für den politisch-revolutionären Krieg war und ist: „Der Krieg ist Politik; der Krieg als solcher stellt eine Handlung dar, die politischen Charakter trägt. Politik ist ein unblutiger Krieg, Krieg aber ist blutige Politik.“
An anderer Stelle vertieft Mao seine Philosophie des Krieges so: „Wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges. Das ist nicht schlecht, das ist gut, das ist marxistisch.“
Da nach dem Selbstverständnis der chinesischen Kommunisten die Rote Armee die Fackel der Revolution ist, dient der Krieg gleichsam als Flamme, welche die Fackel reinigt: „Der revolutionäre Krieg dient als eine Art Gegengift; er wird nicht nur den wütenden Ansturm des Feindes brechen, sondern auch unsere eigenen Reihen von allem Schlechten säubern."
Theorie der Substitution
Im September 1927 rekrutierte Mao in den südchinesischen Provinzen Kiangsi und Fukien aus Bergarbeitern, Bauern und desertierten Kuomintang-Soldaten das erste rote Regiment. Die* aus 2000 Soldaten bestehende „Rote Armee'von 1928 war ein dürftig organisierter, zerlumpter Haufen von Banditen und Partisanen. Sie hatten keine Uniformen, kaum Gewehre, keinen Sold, keine geregelte Verpflegung, Reserven. Die Bewaffnung bestand zur Hälfte aus Dolchen, Spießen und Heugabeln: es galt unter primitivsten Umständen zu überleben. Mit der Kuomintang-Armee konnte sich Maos Truppe noch 1936, damals 50 000 bis 90 000 Mann stark, nach eigenem Eingeständnis „absolut nicht vergleichen"
Die aus der skizzierten „äußerst schwierigen Lage" geborene revolutionäre Kriegsdoktrin Maos gründet sich auf eine radikale Neubewertung der klassischen Stärkefaktoren: man dürfte niemals „mechanisch an die Probleme der Krieg-führung herangehen
Clausewitz’ Satz „Der ganze kriegerische Akt ist von geistigen Kräften und Wirkungen durchzogen“ findet im Einklang mit den Thesen Lenins im chinesischen Kommunismus durch Mao diese Definition: „Das Kräfteverhältnis wird nicht allein durch das Verhältnis der wirtschaftlichen und militärischen Macht bestimmt, sondern auch durch das Verhältnis der Menschenreserven und ihres moralischen Zustandes."
So bietet sich denn Maos Kriegsphilosophie im wesentlichen zunächst als eine „Theorie der Substitution“ dar: sie ersetzt Gewehre durch Propaganda, stellt Partisanen und Subversion höher als Luft-oder Seemacht, setzt Menschenpotential und Raum gegen Maschinen und Mechanisierung. Mao will prinzipiell die politisch-psychologische gegen die industriell-materielle Mobilisierung ausspielen, um zum Sieg zu kommen. Er ist denn auch bestrebt, den Krieg vorrangig durch „moralische und physische Zermürbung
Der Krieg muß so lange hinausgezogen werden, bis er, angesichts der — stets vorausgesetzten — überlegenen politischen Moral der Kommunisten, die Kräfte des Gegners übersteigt, bis dessen Nervenzentrum paralysiert wird. In diesen Gedanken verbinden sich alte militärische Traditionen der Chinesen mit der kommunistischen Dialektik. Maos Denken kreist stets um die Frage, wie man einen Krieg erfolgreich mit einem Minimum an Technik und Material führen könne. Bei ihm spielen demnach psychologisch-ideologische Wirkursachen eine viel größere Rolle als in der sowjetischen Kriegslehre. Maos Doktrin gilt, wie gesagt, auch für das Atomzeitalter...
Die Rolle des Zeitfaktors
Neben den Elementen „Überraschung" und „Bewegung“ war stets der Faktor „Zeit“ ein Grundbestandteil jeder Strategie. Der Zeitfaktor — besser: die politisch-revolutionäre Nutzung von Zeit und Raum — bildet den zweiten Eckpfeiler in der Kriegsphilosophie Maos. Er hat zeitlebens über die Frage nachgedacht, wie man Zeit gewinnen könne, um sie politisch und strategisch nutzbar zu machen. Das westliche militärische Denken empfindet Zeit in Begriffen von Stunden, Tagen, Monaten; ein jahrelanger Zermürbungsoder Abnutzungskrieg gilt im Westen im allgemeinen nicht als Haupt-, sondern als Hilfsform der Kriegführung. Ganz anders Mao — bei ihm heißt es apodiktisch: „Das Hauptmittel, das China die Führung eines langdauernden Krieges ermöglicht, ist die Ermattung des Gegners."
Es sei daran erinnert, daß Mao nach insgesamt 22 Jahren Krieg und Bürgerkrieg schließlich die Macht in China übernehmen konnte. Durch politisch-strategische Nutzung der Zeit, die letztlich unvermeidlich zugunsten der Kommunisten arbeite, will er die überlegene Militärtechnik des Gegners schlagen. Aus diesem Gedankengang Maos kann man überdies ableiten, daß er davon überzeugt ist, jeder künftige Krieg, in den China verwickelt ist, werde sich zunächst und vorrangig auf chinesischem Gebiet abspielen.
Unbegrenzte Zeit hängt vor allem von unbegrenztem Raum ab. Und Mao ist der felsen-festen Überzeugung: „Man braucht nicht zu befürchten, daß es keinen Platz gäbe, sich zu entfalten.“
Das bedingungslose Festklammern auch an wichtigen Gebieten wird von Mao als „linksopportunistische Abweichung“ bekämpft
Immer wieder kehrt er mit immer neuen Spruchweisheiten zu diesem Thema zurück: „Die Stärke eines Pferdes erkennt man auf einem langen Weg, das Herz eines Menschen in einem langen Dienst; (so) wird (auch) der Partisanenkrieg im Verlauf eines langen und erbitterten Kampfes seine mächtige Stärke zeigen.“
Nach dem Motto „Hat man den Wald, wird es auch Brennholz geben
Theorie des zweitrangigen Hinterlandes
In deutlichem Gegensatz zur sowjetischen Militärwissenschaft hat Mao stets die Konzeption bekämpft, daß man ohne eine große und produktive Nachschubbasis nicht Krieg führen könne. Schon 1936 forderte er den „Kampf gegen das System der tiefgegliederten Etappe“
Um zu überleben, waren die geschlagenen, verfolgten und in einer „hilflosen Lage" befindlichen Truppen Maos gezwungen, sich ein neues Hinterland zu erobern. Mao hatte damit Marschall Tschiang Kai-schek und dessen deutschen Berater, General von Falkenhauser, demonstriert, daß Heere nicht immer Nachschubbasen benötigen. Um den Magen zu füllen, mußten die Kommunisten vorübergehend von ihren Beinen, ihrer oft bewunderten Marschgeschwindigkeit leben. Wie sagte doch Sun Tzu vor 2 500 Jahren? „Ein Rüdezug schadet nichts, wenn die eigenen Bewegungen schneller als die des Feindes vonstatten gehen.“ Der „Lange Marsch“ dauerte 368 Tage — davon wurde an 253 Tagen scharf marschiert; erst nach 170 Kilometern gab es einen Ruhetag. Nach Mao kann die strategische Beweglichkeit sehr wohl ein Ersatz für ein schwaches oder zerschlagenes Versorgungswesen sein. Man müsse nur „das Minimum zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse berücksichtigen“
Später erklärte Mao in geradezu herausforderndem Ton hierzu: „Schafft man eine eigene Kriegsindustrie, muß man so vorgehen, daß es zu keiner Vergrößerung der Abhängigkeit von dieser Industrie führt. Unsere Hauptlinie besteht darin, uns auf die Kriegsindustrie der Imperialisten und unseres Gegners im Bürgerkrieg zu stützen. Wir haben ein Recht auf die Arsenale von London und Hanyang, wobei uns der Gegner als Transport-brigade dient. Das ist eine Wahrheit und kein Paradoxon."
Mao überspitzte seine These sogar dahingehend, die Rote Armee habe die geringsten Siege erstritten, als sie in Juichin (bis Oktober 1934) eine eigene Waffenfabrik habe unterhalten können. Während die Sowjets stets die Stabilität des Hinterlandes unterstreichen, besteht Mao hartnäckig darauf, sich nicht auf ein tadellos funktionierendes Hinterland und Versorgungsnetz zu verlassen. Ebenso dachte übrigens auch Sun Tzu: „Nutze die Hilfsquellen des besetzten Landes und laß den Feind für deinen Unterhalt sorgen.“ So bildeten denn auch die als Kriegsbeute eingebrachten Waffen die Erst-ausstattung der kommunistischen Truppen. Mao hatte damit im Grunde die alte militärische Weisheit wieder entdeckt, daß für Truppen, die sich durch Plünderung oder Requisition örtlich selbst versorgen, die Nachschublinien von geringerer Bedeutung sind. Diese bewußte Geringschätzung von Hinterland, Industriebasis und Versorgung durch die Chinesen gewinnt im Blick auf die Operationen nach einem verheerenden Atomschlag ihre besondere, aktuelle Bedeutung.
Theorie des verlängerten Krieges
Nach der Theorie der Substitution und der Rolle des Zeitfaktors formuliert Mao hier den dritten Eckpfeiler seiner Strategie. Die Anhänger des „raschen Sieges" befänden sich ebenso im Irrtum wie die Anhänger der „unvermeidlichen Niederlage“ Chinas. Die erste Auffassung erzeuge eine Tendenz zur Unterschätzung des Gegners“, die zweite eine „Tendenz zum Versöhnlertum"
Mao findet sich damit ab, daß die Gegner Chinas zu Kriegsbeginn die strategische und taktische Überlegenheit und das Gesetz des Handelns innehaben werden. Ist mithin das Kräfte-verhältnis zunächst erwartungsgemäß ungünstig, so muß zweierlei erreicht werden: 1. die anfänglichen taktischen Erfolge des Gegners dürfen sich nicht zum strategischen Sieg ausweiten; 2. man muß eine Reihe von „allmählichen" (offenbar unscheinbaren) punktuellen „Veränderungen im Kräfteverhältnis“
Zweite Phase: Nun ist ein „strategisches Gleichgewicht" hergestellt. Es kommt zu einer Art Stillstand und wachsamen Beobachten auf beiden Seiten. Unentschiedene Kämpfe, auch Scheingefechte erstrecken sich zwar über lange Zeitspannen, sind aber in der Aktion nur kurz. Gleichzeitig wird China, der kommunistische „Verteidiger", auf allen Gebieten eine totale Mobilisierung seiner Kräfte durchführen. Damit ist eine allmähliche Schwächung der übermäßig ausgedehnten Versorgungslinien des Gegners verbunden. Die Kommunisten bereiten sich vor, die Initiative an sich zu reißen.
Dritte Phase: Jetzt wird die sorgfältig vorbereitete strategische Gegenoffensive eingeleitet. Ihr Zeitpunkt soll mit der wirtschaftlichen Erschöpfung und der moralischen Zersetzung des Gegners zusammenfallen. Der Gegner wird in die strategische Defensive getrieben. Über die militärische Niederlage und die Revolutionierung soll der endgültige Zusammenbruch des Gegners herbeigeführt werden.
Wie man erkennt, unterscheidet und analysiert Mao den Krieg nach gesetzmäßigen Phasen. In seiner Stufenfolge „Verteidigung — Kräftegleichgewicht — Gegenangriff"
Der für die erste Phase prophezeite Verlust der Produktionsmittel bedeutet nach Mao im Einklang mit seiner „Theorie des zweitrangigen Hinterlandes" durchaus nicht den Verlust des Krieges. Während dieser Phase erwartet Mao zwar Kampf, aber vorrangig Rückzüge. Allerdings dürfe man nur zentrifugale oder zentripetale, nie jedoch lineare Rückzüge durchführen; nötigenfalls müsse man auch lernen, sich sehr schnell zu zerstreuen. Er fragte einmal rhetorisch: „Besteht nicht ein direkter Widerspruch darin, daß wir zunächst eine heroische Schlacht liefern und dann Territorien preisgeben?" Mao antwortet auf solch „unsinnige Fragen“ mit einer anderen, drastisch formulierten Frage: „Essen wir nicht umsonst, wenn wir uns später entleeren?"
Truppen und an der Heimatfront auf; der „Kampfgeist beginnt zu sinken"; es gibt bereits „Anzeichen der beginnenden Erschöpfung des Gegners“
Nicht zuletzt auf Grund dieser von Mao vorhergesehenen gegnerischen Demoralisierung beginnt andererseits die Kampfmoral der Kommunisten zu steigen. Jetzt gewinnt die psychologische Determinante zunehmend an Gewicht: dann ist der „Gegner nur relativ an Kräften überlegen, und wir sind ihm nur relativ unterlegen“
Uber den Partisanenkrieg
Mao gilt allgemein, vor allem durch seine Abhandlung „Strategische Fragen des revolutionären Krieges in China", als der Schöpfer der besten zeitgenössischen Doktrin des Guerilla-und Partisanenkrieges. Er selbst stellt einmal nicht zu Unrecht selbstbewußt fest: „Dieser breite und sich hinziehende Partisanenkrieg (der KPCh) stellt etwas völlig Neues dar in der Geschichte der Kriege, die von der Menschheit geführt worden sind.“
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Gerade in dieser Frage sind ziemlich deutlich die Thesen Sun Tzus als Maos Quellen zu erkennen. Ferner stützt er sich auf die konfuzianischen „Frühlings-und Herbstannalen“, die Schlachten des 6. Jahrhunderts v. Chr. behandeln. Auch der in ganz China bekannte berühmte Bandenroman „Alle Menschen sind Brüder" stand Pate. Gemäß Mao ist der klassische Zweck des Partisanenkrieges Beute-machen, Ellbogenfreiheit erlangen sowie sich Stützpunkte sichern, das heißt im weiteren Sinne die Rekrutierung einer revolutionären Truppe im gegnerischen Gebiet. Guerillas und Partisanen sollen nicht an einem Zermürbungskrieg interessiert sein. Ihre Charakteristika seien vielmehr Beweglichkeit, schneller Vorstoß, Verbergen und Tarnen, spurloses Verschwinden und dann blitzartige Vernichtung gegnerischer Einheiten nach dem Motto von Sun Tzu: „Schnelligkeit ist die Seele des Krieges.“ Um jeden Preis müsse der Versuchung ausgewichen werden, sich in den Kampf gegen starre Front-linien und in den Stellungskrieg einzulassen, Die oft bei Maos Partisanen-Operationen gelühmte Wendigkeit in Planung, Durchführung und Ablauf sei Vorbedingung jeden Erfolges.
Nach dem Gesagten erscheint es auf den ersten Blick widersinnig, daß ihn die Versuchungen dieser Kampfform fast erschrecken. Demnach sei der Partisanenkrieg zwar lebensnotwendig, doch dürfe man darüber den Bewegungskrieg nicht vernachlässigen. Denke man sich das Kriegsgebiet als eine Einheit, so sei der Bewegungskrieg das Primäre und die Guerillatätigkeit das Sekundäre; denke man es sich in seine einzelnen Teile zerlegt, so sei die Guerillatätigkeit das Primäre und der Bewegungskrieg das Sekundäre. Der Grund für Maos vorsichtige Bewertung des Partisanenkrieges scheint in jenem negativen Aspekt zu wurzeln, der in seiner (erst jüngst bekanntgewordenen) Direktive an das ZK der KPCh vom 10. Oktober 1948 zum Ausdruck kommt: „ ... Wir erlaubten den führenden Organen der Partei und Armee (im Partisanenkrieg) eine sehr beträchtliche Autonomie ... (Das) bewirkte gewisse Erscheinungen der Disziplinlosigkeit, der Anarchie, des Lokalismus und des Guerillaismus, die der Sache der Revolution schädlich waren.“
Die Dialektik der Partisanen-Kriegführung faßt Mao in diesem Satz zusammen: „Unsere Strategie besteht darin, daß einer gegen zehn kämpft, unsere Taktik darin, daß zehn gegen einen kämpfen. Das ist eines der Hauptgesetze, die uns den Sieg über den Feind gewährleisten.“
Atombombe und Imperialismus als dialektische „Papiertiger"
In bemerkenswert deutlichem Gegensatz zu den Erkenntnissen der sowjetischen Militär-wissenschaft bestreitet Mao entschieden, die Atomwaffen bedeuteten eine unabsehbare Revolutionierung der Kriegstheorie. Zum ersten Male nahm Mao zur Atombombe in seiner Rede vor Kaderfunktionären in Yenan am 13. August 1945 Stellung. Lim „einige Genossen“ von ihrer kleingläubigen Ansicht, „die Atombombe sei allmächtig“, sofort abzubringen und sie mit neuem Mut zu erfüllen, flocht Mao in seine Ausführungen ein: „Können Atombomben Kriege entscheiden? Nein, das können sie nicht... Ohne den vom Volk geführten Kampf würden Atombomben ohne Nutzen sein.“
Diese Einschätzung überträgt Mao auf seine Gegner: „Alle Reaktionäre sind Papiertiger“ (offenbar hat er sich dabei an Lenins Wort vom „Imperialismus als Koloß auf tönernen Füßen" orientiert). Der anonyme Parteikommentator des IV. Bandes nennt in seiner Fußnote diese seit 1958 der chinesischen Bevölkerung eingehämmerte Parole „eine fundamentale (also überzeitliche, d. Vers.) strategische Konzeption für das revolutionäre Volk“. Wer sie nicht teile, gar als „abenteuerlich" ablehne, sei ein „Metaphysiker“.
Diese massiven Formulierungen scheinen einen wilden „Atomfanatismus“ Maos anzudeuten, der zwischenzeitlich bewußt immer wieder durch Zweckgerüchte genährt wurde. Es sieht so aus, als ob Mao dahin tendiert, die Folgen eines Atomkrieges zu unterschätzen. Indessen sind in diesem Zusammenhang Maos dezidierte dialektische Anschauungen über Stärke und Schwäche des Gegners zu berücksichtigen. So heißt es etwa in seiner (erst jüngst publizierten) Direktive an das ZK der KPCh vom 18. Januar 1948, strategisch gesehen und im Blick aufs Ganze müßten die Kommunisten den Feind verachten und geringschätzen — taktisch gesehen und im Blick auf die konkrete Situation sei es unerläßlich, den Feind emstzunehmen und Vorsicht zu üben; andernfalls versinke man in „Desperadound Abenteurertum“: „Wir treten nicht dafür ein, daß unsere Befehlshaber sich von den objektiv gegebenen Bedingungen loslösen und zu tollkühnen Heiß-spornen werden.“
Als Crossman meinte, die Briten hielten nichts von Prahlerei und Unterschätzung ihrer Gegner, sondern warnten das Volk immer vor einem denkbar starken Gegner, entgegnete Genosse Wu: „Da kann ich Ihnen nicht zustimmen. Nach unserer Ansicht würde eine Über-schätzung unserer Gegner in unserem Volk Furcht hervorrufen." Es besteht guter Grund für die Annahme, daß hier die offizielle Propagandarichtschnur ziemlich deutlich ausgesprochen wurde.
Auf der anderen Seite läßt die Analyse der Schriften Maos und der militärpolitischen Kommentare Pekings diesen Schluß zu: die KPCh bewertet Chinas industrielle Primitivität in einem möglichen Krieg mit dem Westen als ausgesprochenes Positivum. Diese Annahme geht davon aus, daß ein Krieg in der mindestens zehnjährigen Übergangsperiode Chinas bis zur Industrialisierung ausbrechen werde. Bis dann, vielleicht bereits innerhalb naher Zukunft, wird China zwar in der Lage sein, Wasserstoffbomben und auch die dazu gehörigen Trägermittel herzustellen. Es wird aber noch keinesfalls über die angestrebte, mit dem Potential Großbritanniens vergleichbare schwerindustrielle Basis verfügen. Das Nichtvorhandensein großer Industriezentren wäre in Pekinger Sicht aus zwei Gründen wertvoll: 1. vielleicht nähme der „beutegierige Imperialismus“ davon Abstand, atomare Kampfmittel gegen China einzusetzen, um den chinesischen Markt zwecks rascher Ausbeutung möglichst unzerstört wiederzugewinnen; 2. aber auch ein Atomwaffeneinsatz gegen China würde nicht kriegsentscheidend sein. Denn die Versorgung der Armee sei eben nicht (wie in den Vereinigten Staaten und in der Sowjetunion) auf industrielle Ballungszentren angewiesen, sondern stütze sich auf die unzähligen kleinen Werkstätten im Landesinnern. Einen Atomangriff müßte sich zudem notwendigerweise der (von Mao erhoffte) Versuch einer Besetzung Chinas anschließen, wobei er sogar unterstellt, „daß der größere Teil Chinas zum Hinterland des Gegners werden wird“
Munition, Waffenausstattung und Versorgung der Chinesen würden zwar — wie bei der opferreichen Odyssee des „Langen Marsches“ — sozusagen steinzeitlich-primitiv sein, aber es käme eben nicht auf die materielle Qualität der Waffen, sondern auf die Quantität und vor allem auf die politische Qualität der Volksmassen an. Noch 1961 ließ Mao die Parteipresse wiederholt im Sinne seiner Kriegsphilosophie, besonders seiner „Theorie der Substitution", der amerikanischen Atombombe die schließlich doch triumphierenden chinesischen Massen als „geistige Atombombe“ gegenüberstellen. Und dies genau so, wie er 1946 erklärt hatte: „Die Geschichte wird letzten Endes erweisen, daß Hirse und Gewehre stärker sind als Flugzeuge und Panzer.“
Nach dem Atomschlag sieht man eine bis zur Zerreißgrenze gehende Dezentralisierung aller operativen Funktionen voraus, für die das Netz der Volkskommunen und der kleineren autonomen Einheiten beispielgebend vorgesehen ist. Mit diesen aus den Pekinger Verlautbarungen herauszulesenden Überlegungen ist dann unschwer wieder der Anschluß an Maos sakrosankte Kriegsphilosophie herzustellen: Auch nach einem folgenschweren Atomangriff würden Strategie und Taktik der chinesischen Kommunisten im gleichen Stil wie vor zwanzig Jahren ablaufen, wobei Mao heute einen Krieg sogar auf eine Dauer von über zwanzig Jahren zu bemessen scheint. Diese Konzeption mag angesichts der sowjetischen militärwissenschaftlichen Überlegungen naiv anmuten, und sie steht sicher im Gegensatz zu derjenigen Moskaus. Wenngleich innerhalb des Pekinger Generalstabs nicht umstritten, bildet sie abe: nach wie vor das gültige militärpolitische Fundament des chinesischen Kommunismus. — Grundlage jeder erfolgreichen Strategie ist die richtige Einschätzung und Koordinierung von Ziel und Mitteln. Mao glaubt mit seiner Kriegs-philosophie, die gleichzeitig als Testament für seine Nachfolger gilt, diese Grundbedingung für Chinas Zukunft geschaffen und garantiert zu haben.
Literaturnachweis Mao Tse-tung: Ausgewählte Schriften, Bd. 1— 4, Berlin 1956 Mao Tse-tung: Selected Works. Bd. IV, Peking 1961. Mao Tse-tung: Strategische Fragen des revolutionären Krieges in China, Berlin 1955. Basil H. Liddel Hart: Strategie, Wiesbaden 1955. Robert Payne: Mao Tse-tung, Hamburg 1951. Robert B Rigg: Red China’s Fighting Hördes, Harrisburg 1951. Edward L. Katzenbach, Jr -Gene Z. Hanrahan: The Revolutionary Strategy of Moa Tse-tung, Political Science Quarterly, Lancaster, Vol. LXX, September 1955. Stefan T. Possony: Jahrhundert des Aufruhrs, München 1956. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:
Joseph M. Bochenski: „Sowjetologie"
R. Bogatsch: „Hitler und die Kriegführung im Mittelmeerraum"
Ludwig Dehio:
„Deutschland und das Epochenjähr 1945"
Romano Guardini: „Der Glaube in unserer Zeit"
Hans Kohn: „Die Idee des Nationalismus"
Helmut Krausnick: „Unser Weg in die Katastrophe von 1945"
Gerhard Leibholz: „Volk, Nation, Reich"
Frederic Lilge: „Makarenko“
Wilhelm v-Schramm: „Generaloberst Beck und der Durchbruch zu einer neuen deutschen Wehrtheorie"
Carl Günther Schweitzer: „Hat die Weltgeschichte einen Sinn?"
Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"
Egmont Zechlin: „Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche (IV. Teil)