Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Der „Große Vaterländische Krieg". Sowjetkommunistische Geschichtsschreibung 1945-1961 | APuZ 5/1962 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 5/1962 Der „Große Vaterländische Krieg". Sowjetkommunistische Geschichtsschreibung 1945-1961

Der „Große Vaterländische Krieg". Sowjetkommunistische Geschichtsschreibung 1945-1961

HANS-ADOLF JACOBSEN

Mit freundlicher Genehmigung des Bernhard und Graefe Verlags, Frankfurt, werden Auszüge veröffentlicht aus der Neuerscheinung: Telpuchowski, B. S., Die Sowjetische Geschichte des „Großen Vaterländischen Krieges 1941— 1945“, hrsg. von A. Hillgruber und H. A. Jacobsen, Franfurt 1961.

I. Einführung und Literaturübersicht

Abbildung 1

Das Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, W. Karasjew, stellte in seinem 1961 veröffentlichen Literaturüberblick zur Geschichte des großen Vaterländischen Krieges fest, daß die sowjetischen Darstellungen, die zwischen 1945 und 1955 erschienen seien, in mancher Hinsicht die kriegsgeschichtliche Forschung in der Sowjetunion befruchtet, jedoch, wie die Arbeiten aus der Kriegszeit, „ernsthafte Fehler und Mängel" besessen hätten. So seien in ihnen die Verdienste Stalins übermäßig auf-gebauscht und die führende Rolle der Partei sowie des Zentralkomitees völlig unzureichend gewürdigt worden, ebenso der Zusammenhang zwischen der kämpfenden Front und dem Hinterland. Teils hätten die Autoren die Schwierigkeiten des Krieges verkleinert, teils einfach mit Stillschweigen übergangen. Vor allem hätten sie die Rückschläge der Roten Armee in der ersten Phase des Großen Vaterländischen Krieges mit dem fiktiven Plan der „aktiven Verteidigung" begründet, zudem den Weltkrieg weder periodisiert noch den besonderen Charakter des Konflikts bis zum Überfall Deutschlands auf die UdSSR aufgedeckt. Der größte Mangel dieser Arbeiten hätte jedoch in der unzulänglichen Quellenbasis bestanden. Die Darstellungen seien überwiegend auf der Grundlage von Zeitungsmeldungen, von Korrespondenten-und Informationsberichten während des Krieges abgefaßt worden. Im übrigen habe das Zitaten-und Zitierunwesen („Buchstabengelehrtheit“ und „Dogmatismus“), ein Ausfluß des Persönlichkeitskults, das wissenschaftliche Niveau der meisten Arbeiten gesenkt.

Die hier geäußerte Kritik ging auf die bedeutsamen Beschlüsse des Zentralkomitees der KPdSU des Jahres 1956 zurück, die mit Recht als „das Ende des Stalin-Mythos“ bezeichnet worden sind und dessen erste Anzeichen sich bis in das Jahr 1953 zurückverfolgen lassen (Stalin verstarb am 5. 3. 1953).

Schon auf dem Allunionskongreß sowjetischer Schriftsteller im Dezember 1954 war die Forderung erhoben worden, endlich eine „objektive“ Geschichte des Zweiten Weltkrieges zu schreiben. Am 5. Februar 195 5 erklärte der — drei Tage später zum Verteidigungsminister ernannte — Marschall Shukow in einem Interview mit amerikanischen Journalisten, „der Umschwung im deutsch-sowjetischen Krieg“ sei dank einer Reihe „erfolgreicher Operationen in den Jahren 1941 und 1942 eingetreten“. Während er Moskau, Stalingrad und Kursk als die entscheidenden Schlachten des Krieges bezeichnete, erwähnte er Stalins Rolle mit keinem Wort. Sechs Wochen später wandte sich zunächst Marschall Rotmistrow, im Mai 195 5 auch Marschall Shukow selbst, gegen das „idealisierte Bild", das sowjetische Historiker von der ersten Phase des Krieges 1941 entworfen hätten. Rotmistrow und Marschall Sokolowskij hatten überdies in verschiedenen Aufsätzen verlangt, daß die Geschichtsschreibung sich von den Fesseln der „stalinistischen Kriegswissenschaft“ befreien müsse.

Im Mittelpunkt der Kritik stand der Vorwurf an die Sowjethistoriographie, daß es bisher immer noch nicht gelungen sei, eine Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges herauszugeben, in der die Ereignisse von 1941— 1945 „objektiv“ gewürdigt seien. Es gebe keine Darstellung, „die der breiten Leserschaft empfohlen werden könne". Auffallend war, daß Stalins Werk „Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion", das bis dahin für die gesamte Geschichtsschreibung im Sowjetblock richtung-weisend gewesen war, nicht mehr erwähnt wurde.

Den Höhepunkt des nach 1953 eingeleiteten Revisionismus bildeten die Ausführungen Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU am 24. /25. 2. 1956. Seine Forderungen gipfelten in den Worten: „.. . Nach dem Parteikongreß werden wir wahrscheinlich viele militärische Operationen des letzten Krieges neu bewerten und im Lichte der Tatsachen darstellen müs-sen ... c .

Im Zusammenhang mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges bedeutete das, die Rolle Stalins als „Feldherr“ und die bisherige sowjetische Kriegsgeschichtsschreibung nach den Direktiven der Partei zu revidieren.

Daß sich die neue Generallinie nach dem XX. Parteitag nicht sogleich und überall durchsetzen konnte, bewies ein Artikel im „Roten Stern“, dem Zentralorgan der Politischen Hauptverwaltung der Armee, vom 9. Mai 1956, in dem noch entgegen den Ausführungen Chruschtschows die „Unvermeidbarkeit der Niederlagen von 1941/42“ hervorgehoben und kritisch gegen einen Aufsatz der Armeezeitschrift „Wojenny westnik“ vom 29. April 1956 Stellung genommen wurde.

Freilich wurde diese Kontroverse über die Beurteilung der ersten Phase des Vaterländischen Krieges nicht fortgesetzt. Schon in einem Artikel vom 19. Juli 1956 bekannte sich der „Rote Stern“ zu der Generallinie, was einer Kapitulation gleichkam. Es hieß nun, die russische Kriegsindustrie sei durch Stalins Schuld unzulänglich vorbereitet in den Krieg gegangen. Die Fabel von dem geplanten Rückzug zu Beginn des Krieges habe nur dazu gedient, vermeidbare schwere Niederlagen zu verheimlichen. Überdies sei im weiteren Verlauf des Krieges die Befehlgewalt Stalins eingeschränkt worden. Hohe Führer der Armee wie auch der Partei und des Staates hätten im eigenen Kommandobereich unabhängige Entschlüsse fassen können. Diesen komme daher ein entscheidender Anteil am Siege zu, ebenso dem Generalstab, dessen Verdienste die Historiker bisher verschwiegen hätten.

Damit hatte sich auch hier der neue Kurs durchgesetzt, indessen mit der auffallenden Variante, daß die Rolle der Strategen im Zweiten Weltkrieg und ihr persönlicher Anteil bei der Erkämpfung des Sieges stärker betont wurden. Dies ging wohl auf die Initiative Marschall Shukows zurück, den der Oberste Sowjet nach dem Sturz Malenkows am 8. Februar 1955 zum Verteidigungsminister ernannt hatte.

Während Marschall Konjew, im Gegensatz zu Shukow, in einem Artikel den „entscheidenden Anteil am Endsieg“ den politischen Frontbeauftragten der KPdSU zuschrieb, hoben sowohl Oberst Schatagin in einer Rundfunksendung über den „ Vaterländischen Krieg“ (Januar 1957) als auch Generaloberst Kurotschkin in seinem Gedenkartikel zum 30. Jahrestag der Roten Armee am 23. 2. 1957 noch die besonderen Verdienste der sowjetischen Heerführer hervor. Erst nach dem Sturz Shukows vollzog sich indessen die vollkommene Anpassung an die Generallinie der KPdSU.

In der „Prawda“ erschien am 3. November 1957 ein Artikel von Marschall Konjew mit der Überschrift: „Die Stärke der sowjetischen Armee und Flotte liegt in der Führung durch die Partei und in der festen Verbundenheit mit dem Volke“. Mit unverhohlener Schadenfreude warf Konjew dem gestürzten Rivalen Shukow vor, daß auch er für die „falsche Einschätzung der militärpolitischen Situation" vor dem Über-fall Deutschlands auf die UdSSR und damit für die Rückschläge der Roten Armee 1941 als ehemaliger Chef des Generalstabes „ernste Verantwortung" trage.

Freilich hatte dieses Ereignis für die sowjetische Kriegsgeschichtsschreibung noch ganz besondere Folgen. Darüber referierte am 30. November 1957 in Leipzig Generalmajor Boltin: „ ... In diesem Zusammenhang könnte nun die Frage auftauchen, warum eigentlich das Zentralkomitee der Partei die Ausarbeitung der (amtlichen) Geschichte des Krieges (in sechs Bänden) dem Institut für Marxismus-Leninismus und, sagen wir, nicht zum Beispiel einer Militärbehörde, die über viele Dokumente verfügt, übertragen hat Die Bedeutung und Zweckmäßigkeit dieser Maßnahmen bestätigt der kürzliche Beschluß des Oktoberplenums des Zentralkomitees der KPdSU, worin die Tätigkeit des ehemaligen Verteidigungsministers, des Marschalls der Sowjetunion G. K. Shukow, negativ beurteilt wird ... In seiner Person ... schätzt unser Volk einen seiner hervorragendsten Heerführer. Die Verdienste des Marschalls Shukow wurden von der Kommunistischen Partei und der Sowjetregierung hoch anerkannt. Aber all dies war kein Grund, die groben politischen Fehler, die dem Genossen Shukow unterlaufen sind, zu übersehen oder zu entschuldigen. Einer der Fehler ... bestand insbesondere in der Über-schätzung seiner eigenen Rolle für den Sieg des Sowjetvolkes und in dem Versuch, davon ausgehend einen Kult um seine Person in der Sowjetarmee großzuziehen ... In den Jahren nach dem XX. Parteitag hat die sowjetische Geschichtswissenschaft .. . beachtliche Erfolge erzielt und die Geschichte des Krieges vom Kult um Stalin bereinigt. Der Beschluß des Oktober-plenums des Zentralkomitees ist ein überzeugender Ausdruck dafür, daß die Partei niemandem gestattet, den verurteilten Kult um Stalin durch irgendeinen neuen Kult zu ersetzen.

Unser Standpunkt ist, daß der Sieg des Sowjetvolkes im Vaterländischen Kriege nicht durch das militärische Genie einer Person, sondern durch die kollektiven Leistungen der Kommunistischen Partei, der Sowjetregierung, der heldenhaften Sowjetarmee, ihrer Heerführer und tapferen Kämpfer und des gesamten Sowjet-volkes errungen wurde. Die . Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges', die auf Beschluß des Zentralkomitees der KPdSU ge-schrieben wird, muß den Volkscharakter unseres Kampfes und Sieges gerade in diesem Geiste veranschaulichen, ohne daß natürlich auch die persönlichen Verdienste der einzelnen hervorragenden Politiker und Heerführer geschmälert oder übertrieben werden."

Die hier angedeutete Entwicklung muß freilich auch im Lichte der von der Partei dekretierten Rückkehr zur „alten“ Generallinie gesehen und gewertet werden. Die relative Freiheit der Diskussion, die Anfang 1956 die Zeitschrift „voprosy istorii“ für die Historiker der UdSSR gefordert hatte, wurde rigoros eingedämmt angesichts der Revolution in Ungarn, der Bewegungen in Polen und der „gewissen geistigen Unruhe sowie Kritik in der Sowjetunion“. Das Prinzip der Leninschen Parteilichkeit wurde wieder zur alleinigen Richtschnur für die historische Wissenschaft erhoben. Sichtbares Zeichen dieses unverhohlenen Kampfes gegen die so-genannten „Tauwetter-Historiker" war die Kritik des Zentralkomitees der KPdSU vom 9. März 1957 an der Redaktion der Zeitschrift „voprosy istorii“.

Zwischen Dogmatismus und Revisionismus Das nach dem XX. Parteitag für die sowjetische Geschichtsschreibung vorübergehend entstandene Dilemma enthüllte in ganz besonderem Maße ein Sammelband über den „Großen Vaterländischen Krieg“, den das Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Moskau 195 5 veröffentlichte. Das Manuskript dieses Werkes war am 9. Februar 195 5 für den Satz abgeschlossen und am 20. September für den Ausdruck genehmigt worden. Diesen ersten Versuch, das politisch-militärische und wirtschaftliche Geschehen der Jahre 1941— 1945 in großen Umrissen wissenschaftlich-populär darzustellen, hatten die sowjetischen Historiker zu einem Zeitpunkt unternommen, der für sie nicht gerade günstig genannt werden konnte. Die Sowjetunion befand sich mitten im Prozeß der „stillen" Entstalinisierung. Doch ließen sich die späteren, so massiven Vorwürfe gegen den ehemaligen Generalissimus der UdSSR und die neuen Richtlinien vom 30. 6. 1956 über die „Überwindung des Personenkults und seine Folgen" zu diesem Zeitpunkt schwerlich voraussehen. Zweifellos stellte der in 20 000 Exemplaren aufgelegte „Abriß der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges“ einen gewissen Fortschritt gegenüber allen bis dahin veröffentlichten sowjetischen Abhandlungen über den Krieg dar. Unter der redaktionellen Leitung von B. S.

Telpuchowski, Korotkow, Mitrofanowa und Samsonow entstand ein in vieler Hinsicht neuartiger und interessante Einzelheiten bietender Überblick über die Jahre 1941— 1945, der nicht allein die militärischen Operationen berücksichtigte, sondern auch die politische Seite. Antihitlerkoalition, Partisanenkampf, Mobilisierung des Hinterlandes und Rüstungswirtschaft wurden in den Rahmen der militärischen Kampfhandlungen geschickt eingeflochten und zu einem geschlossenen Gesamtbild vereinigt. Die führende und ausschlaggebende Rolle der Kommunistischen Partei bei der Erkämpfung des Sieges wurde an zahlreichen Stellen betont. Aber auch Stalin erhielt noch gebührendes Lob. Die in den Fußnoten angeführten Quellen deuten darauf hin, daß die Autoren nur Kriegs-und Nachkriegspublikationen, Broschüren und Zeitungen, ferner die bis dahin vorliegenden sowjetischen Dokumentarwerke ausgewertet haben; Archivmaterial stand ihnen nicht zur Verfügung. In Nr. 5/1956 der „voprosy istorii" veröffentlichten E. A. Boltin und A. S. Filippow eine Rezension dieses Buches unter der Über-schrift „Ernsthafte Mängel des Abrisses der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges“, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ und zu einer heftigen Kontroverse zwischen Autorenkollektiv und Kritiken führte. Zwar gab Boltin zu, daß der „Abriß“ im großen gesehen einen „Schritt nach vorn" für die sowjetische Kriegsgeschichtsschreibung bedeute; doch sei dieser leider nicht weit genug getan worden. Zu bemängeln sei vor allem, daß auch dieses Autorenkollektiv, dem Persönlichkeitskult verhaftet, das Hauptverdienst für den Sieg Stalin zugeschrieben und dabei die organisatorische und führende Rolle der Kommunistischen Partei bei der Mobilisierung aller Kräfte zur Vernichtung des Feindes „unzureichend“ gewürdigt hätte. Überdies seien in dem Band die Rüdeschläge, Fehler und Schwierigkeiten des Kampfes an der Front und im Hinterland verharmlost oder vertuscht worden. „Die mangelnde Bereitschaft unserer Truppen zur Abwehr des Feindes, die Unfähigkeit mancher Truppen-offiziere, einen Kampf zu führen", dürften nicht verschwiegen werden. Die „weitaus beweglicheren deutschen Truppen hätten die Auffangstellungen der zurückflutenden sowjetischen Einheiten oft eher als diese selbst erreicht“.

In einem Brief an die Redaktion der Zeitschrift „voprosy istorii“ versuchte sich das Redaktionskollegium des „Abrisses der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges" zu recht-fertigen. Es machte geltend, daß diejenigen Unterlagen, die die Vorbereitungen, den Verlauf des Krieges richtig zu beurteilen erlaubten und die von Stalin gemachten Fehler bei der Landesverteidigung und bei der Führung der Streitkräfte enthüllt hätten, nicht 195 3 (als der Sammelband ausgearbeitet wurde!), sondern erst nach dem XX. Parteitag bekannt geworden seien. Erst dieser habe die ernstzunehmende Rückständigkeit der sowjetischen Wissenschaft festgestellt. Erst nach dem Kongreß habe das Zentralkomitee der KPdSU eine Reihe von Entschließungen angenommen, die die Geistes-kämpfer mit neuem Rüstzeug versehen hätten. Erst nach dem XX. Parteitag hätten sich die Bedingungen für die wissenschaftliche Arbeit in der UdSSR grundlegend gewandelt: denn nunmehr seien den Historikern die Archive zugänglich gemacht und damit die Auswertung von statistischem und Quellenmaterial möglich geworden. Das Autorenkollektiv habe bei der Abfassung seines Werkes noch unter besonders ungünstigen Verhältnissen arbeiten müssen; amtliches Material habe es nicht benutzen können. Im übrigen sei ihm bekannt, welchen Schaden der Dogmatismus und die Reglementierung im Geiste des Persönlichkeitskults der Wissenschaft zugefügt hätten. Daher würden alle Vorwürfe der Rezensenten zu diesem Thema, die den Zeitpunkt des Erscheinens des Buches ignorierten, im besten Falle nur Befremden hervorrufen. Natürlich, so erklärten die Autoren am Schluß ihrer Erwiderung, seien sie bereit, jede ehrliche Kritik, die von den Beschlüssen des XX. Parteitages ausging, in ihren weiteren Forschungen zu berücksichtigen.

Boltin gab sich mit dieser Erklärung jedoch nicht zufrieden. In seinem Schlußwort bedeutete er, er habe die zahlreichen Schwächen des Buches hervorheben müssen unabhängig von der Frage, von wem und wann das Buch geschrieben worden sei. Hätten die Autoren die Entwicklung seit 195 3 aufmerksamer verfolgt, so wäre ihnen nicht entgangen, daß die Partei seit 1953 Dokumente und Unterlagen veröffentlicht habe, in denen sie gegen den Persönlichkeitskult Stellung bezogen (beginnend mit dem Material des Juli-Plenums des Zentralkomitees der KPdSU 195 3) und gefordert habe, die Rolle der Volks-massen und Jes Massenheroismus stärker herauszuarbeiten. Er selbst habe das Manuskript seinerseits mit kritischen Anmerkungen versehen, doch sei davon nichts berücksichtigt worden. Wenn die Autoren darüber hinaus erklärten, sie hätten keine Quellen zur Veröffentlichung benutzen können, so treffe dies zwar zu, doch niemand hätte sie an der Auswertung gehindert, zumal Telpuchowski und Korotkow auf Grund ihrer Stellung Zugang zu den Archiven gehabt hätten. Das Kollektiv sei jedoch den Weg des geringsten Widerstandes gegangen. * * * Während die sowjetischen Historiker an die Arbeit gingen, die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges nach den Direktiven des XX. Parteitages und auf der Grundlage der ihnen nunmehr beschränkt zugänglich gemach-ten Dokumente aus den Archiven „objektiv* neuzufassen bzw. auszuarbeiten, entsprach der Verlag für ausländische Literatur den Empfehlungen des Schriftstellerkongresses vom Mai 1955. Das Ministerium für Kultur hatte offenbar die Genehmigung erteilt, wichtige Neuerscheinungen über den Zweiten Weltkrieg aus den Vereinigten Staaten, England, Frankreich und aus der Bundesrepublik Deutschland in russischer Übersetzung herauszubringen.

Die neue „objektive” Geschichtsschreibung 1955 erschienen die Arbeiten der Amerikaner Matloff und Snell über die „Koalitionskriegführung 1941— 42“ (Washington 1953); 1956: „Die deutsche Industrie im Kriege“, die „Geschichte des Zweiten Weltkrieges“ von K. v. Tippelskirch, die Antlantikschlacht 1939— 1943" von S. E. Morison, „Das Heer 1933— 1945. Bd. I“ von B. Mueller-Hillebrandt, „Der Zweite Weltkrieg 1939— 1945“ von J. C. Fuller; 1957: die Bücher von Bradley, Liddell Hart („Strategie“), Doerr („Stalingrad“), „Bilanz des Zweiten Weltkrieges“, von Mellenthin („Panzerschlach-ten“), das „Ehrenbuch der deutschen Wehrmacht. Der Zweite Weltkrieg 1939— 1945“ und von Ruge („Der Seekrieg 1939— 1945“). Es folgten die Memoiren de Gaulles, Ridgways, das Buch von Sherwood über „Roosevelt und Hopkins“, die drei Bände der britischen Serie „Große Strategie“, die fünf Bände des „Pazifischen Krieges“ aus japanischer Feder und die Untersuchung von F. C. Pogue, „The Supreme Command“. Freilich ließen die sowjetischen Kommentatoren keine Gelegenheit aus, um auf die „Fälschungen" und „Lügen" in diesen Werken aufmerksam zu machen. Ja, sie führten geradezu eine immer heftiger werdende Kampagne gegen die „Geschichtsfälscher" des 2. Weltkrieges in der westlichen Welt.

War die sowjetische Kriegsliteratur bis 195 5 noch einigermaßen zu übersehen, so ändert sich dies ab 1956. Eine Flut von Veröffentlichungen setzte ein, in der fast alle Aspekte des Krieges im Lichte der neuen „Objektivität" behandelt wurden. „Die wichtigsten Operationen des Großen Vaterländischen Krieges 1941— 1945“ (Moskau 1956), hrsg. von Dr. Shilin, machten den Anfang. Es folgten u. a. „Der Zweite Weltkrieg. Militärpolitischer Abriß“ von G. A. De-borin, „Der Zweite Weltkrieg 1939— 1945. Kriegshistorischer Abriß“ (195 8), hrsg. von Generalleutnant Platonow, „Der Große Vaterländische Krieg der Sowjetunion 1941— 1945“ von B. S. Telpuchowski (1959), der „Merkwürdige Krieg in Westeuropa und im Mittelmeer 1939— 1943“ von W. A. Sekistow (195 8), und „Die zweite Front. Die Operationen in Westeuropa von 1944— 45“ von W. Kulisch (1960). Hinzu kamen Einzelstudien über die „Zerschlagung der Heeresgruppe Südukraine August-September 1944“, „Westlich von Woro-nesh“, „Die Schlacht um den Kaukasus", „Die große Schlacht vor Moskau“, „Die Kursker Schlacht" und die beachtliche Studie über die „Schlacht von Stalingrad" von A. M. Samsonow (Moskau 1960). Zur gleichen Zeit erschienen die ersten Memoiren ehemaliger Heerführer aus der Feder von: Marschall Tschuikow, Marschall Jeromenko, den Generalen Popelj, Puchow, Kusnetzow, Naumnow, Lobotschajew und anderen. Besondere Llntersuchungen galten der „führenden Rolle der Kommunistischen Partei“ im Kriege, die in Form des Lektorenmaterials für die Agit. -Prop. -Arbeit aufbereitet wurden, der Außenpolitik, der Wirtschaft und dem Partisanenkampf. Umfassend orientiert über die sowjetische Literatur heute eine von G. A. Ku-manjew erarbeitete Bibliographie. Höhepunkt dieser gelenkten, immer noch nicht abebbenden Veröffentlichungswelle war das Erscheinen des ersten Bandes der parteiamtlichen „Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion 1941— 1945", im Sommer 1960, deren Redaktionskommission sich aus 31 Mitgliedern zusammensetzte (darunter Generale, Admirale und Wissenschaftler). Zum Vorsitzenden dieses Gremiums hatte das Zentralkomitee der KPdSU den Kandidaten des Parteipräsidiums der Kommunistischen Partei, P. N. Pospelow, Sekretär des Zentralkomitees, seit 1949 Direktor des Marxismus-Leninismus-Instituts in Moskau, Doktor der Geschichtswissenschaften, berufen. Zum 20. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion (1961) lag der zweite Band vor, der den Krieg bis zum 18. 11. 1942 behandelt. Inzwischen (Oktober 1961) ist auch Bd. 3 erschienen, der mit der „militär-politischen Bilanz der 2. Periode des Großen Vaterländischen Krieges“ (Dezember 1943) abschließt.

II. Ausgewählte Beispiele sowjetkommunistischer Geschichtsschreibung über den 2. Weltkrieg

*) Diese sind der deutschen Übersetzung von B. S. Telpuchowski, Die sowjetische Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges 1941— 1945, entnommen. In Petit gesetzt findet der Leser dazu einen kurzen kritischen Kommentar des Herausgebers.

Wie es zum Hitler-Stalin-Pakt vom 23. 8. 1939 kam „Um ihre sowjetfeindliche Politik zu tarnen und die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung in ihren Ländern abzulenken, erklärten die Regierungen Englands und Frankreichs sich im Jahre 1939 einverstanden, mit der Sowjetunion Verträge über eine gemeinsame Abwehr der deutschen Aggression abzuschließen."

Nicht, um ihre „sowjetfeindliche Politik zu tarnen“, entschlossen sich England und Frankreich zu Verhandlungen mit der Sowjetunion, sondern, um durch ein Bündnis der Großmächte Hitlers Aggressionspolitik einzudämmen In einem Memorandum des Foreign Office über die Situation nach der Annexion der Tschechoslowakei (vom 29 3 1939) hieß es u. a.......... Der Zweck der Beratungen, die seiner Majestät Regierung führt, ist es, durch eine internationale Zusammenarbeit, die so weitreichend sein soll wie nur möglich, den natürlichen Widerstand zu stärken, den Staaten (gemeint war vor allem Polen) gegenüber eventuellen Versuchen (Hitlers), sie auf direktem oder indirektem Wege zur Aufgabe ihrei Unabhängigkeit zu zwingen, leisten werden ..." (Vgl. Documents on British Foreign Policy, Serie 3, Bd. IV, Anhang IV.) „Die Verhandlungen erstreckten sich über vier Monate und endeten mit einem Mißerfolg. Im Laufe der Gespräche hatte sich herausgestellt, daß die englischen und französischen Regierungskreise ein Doppelspiel betrieben und gleichzeitig mit den Moskauer Gesprächen Geheimverhandlungen mit dem faschistischen Deutschland führten.“

Hier werden die Tatsachen geradezu auf den Kopf gestellt. Nicht die Westmächte, wohl aber die Sowjetunion betrieb ein Doppelspiel. Am 15. 4. 1939 unterbreitete Frankreich der Sowjetunion ein Bündnisangebot (gegen Deutschland gerichtet), das die UdSSR am 18. 4. mit einem Gegenvorschlag (Bündnis mit Frankreich und England) beantwortete. Bevor die Westmächte hierzu Stellung genommen hatten, nahm die sowjetische Regierung bereits Fühlung mit Deutschland auf. Am 17. 4. 1939 sondierte der sowjetische Botschafter Merekaloff in Berlin. In seinem Gespräch mit Staatssekretär v. Weizsäcker führte er u. a. aus: „ ... Die russische Politik sei immer gradlinig gewesen Ideologische Meinungsverschiedenheiten hätten das russisch-italienische Verhältnis kaum beeinträchtigt und brauchten auch Deutschland gegenüber nicht zu stören, Sowjetrußland habe die jetzigen Reibereien zwischen Deutschland und den westlichen Demokratien nicht gegen uns (d. h. Deutschland) ausgenützt und wünsche das auch nicht zu tun. Es bestehe für Rußland kein Grund, warum es nicht mit uns (d. h. Deutschland) auf einem normalen Fuß leben sollte. Aus normalen Beziehungen könnten auch wachsend bessere werden . . ." (Vgl. Das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion 1939— 1941, Washington 1948, Seite 1 f.).

Die Westmächte standen vor dem Dilemma: ein Bündnis mit der Sowjetunion zustandezubringen, das Ostmitteleuropa vor einem Angriff Hitlers sicherte, dieses aber auch zugleich dem sowjet-kommunistischem Zugriff entzog. Wohl kam am 24. 7. 1939 ein politisches Abkommen zustande, doch trug dieses nur provisorischen Charakter; eine Reihe von Streitfragen konnten nicht geklärt werden, auch nicht bei den Verhandlungen der Militärmissionen Frankreichs, Großbritanniens und der Sowjetunion in Moskau (die am 12. 8. begannen). Freilich scheiterten diese Verhandlungen nicht allein deshalb, weil man über das Durchmarschrecht der Roten Armee durch Polen keine Einigung erzielen konnte, sondern weil Hitlers Angebot an die Sowjetunion viel großzügiger war und den Sicherheits-und expansiven Bestrebungen der UdSSR entgegenkam.

(Vgl. auch: Braubach, M., Hitlers Weg zur Verständigung mit Rußland im Jahre 1939, in: Beilage zur Wochenzeitung . Das Parlament" vom 16. 12. 1959.)

Was die britisch-deutschen Handelsgespräche betrifft (Ministerialdirektor Wohltat mit Unterstaatssekretär Hudson und Staatsekretär Wilson), mit denen T wohl das „Doppelspiel der Westmächte" zu begründen sucht, so kommt Hofer in seiner Analyse der Gespräche zu der Feststellung: .... daß Chamberlain oder sein Beauftragter Wilson . . . außer wirtschafts-politischen Angeboten auch schwerwiegende außenpolitische Konzessionen gemacht oder auch nur ins Auge gefaßt hätten", nicht den Tatsachen entspreche. Vgl. Hofer: Die Diktatur Hitlers bis zum Beginn des 2. Weltkrieges, Seite 185. „Diese zweigleisige Politik der Regierungskreise Englands und Frankreichs zeigte, daß sie „nicht nur nicht entschlossen waren, ernsthaft irgend etwas zu unternehmen, um Hitlerdeutschland zu hindern, einen Krieg zu entfesseln, sondern daß sie im Gegenteil alles in ihrer Macht Stehende taten, um durch die Methode geheimer Besprechungen und Verträge, durch die Methode aller möglicher Provokationen Hitler-deutschland gegen die Sowjetunion aufzuhetzen". (Geschichtsfälscher [Historische Auskunft], Staatsverlag 1952, Seite 5 2— 53.) „Die Regierungskreise der USA, Englands und Frankreichs schätzten Hitlerdeutschland als eine Kraft ein, die in der Lage sei, die revolutionäre Bewegung in Europa zu ersticken, die Sowjetunion zu schwächen und blutlos zu machen. Gleichzeitig rechneten sie damit, daß ihre Hauptkonkurrenten auf dem Weltmärkte — Deutschland und Japan — in einem Kriege gegen die UdSSR ihre Kräfte erschöpfen würden und sich daraus die Möglichkeit ergeben könne, deren Platz einzunehmen und die eigene beherrschende Stellung in der Welt zu festigen. Diesen Aufgaben paßten die Imperialisten der USA, Englands und Frankreichs ihre Außenpolitik an. Deshalb verwarfen sie die Vorschläge der Sowjetunion zur Schaffung kollektiver Sicherheit und kollektiver Feindabwehr.

Nur die Sowjetunion setzte sich entschieden und folgerichtig gegen die faschistische Aggression für die kollektive Sicherheit und die Interessen der friedliebenden Völker ein.

In der historischen Mitteilung des sowjetischen Informationsbüro . Geschichtsfälscher'wird dargelegt: , In dieser Periode lebte der Kampf zwischen zwei Linien der internationalen Politik wieder auf. Die eine Linie war die Linie für den Frieden, für eine organisierte kollektive Sicherheit und für die Abwehr der Aggression durch gemeinsame Anstrengungen aller friedliebenden Völker. Diese Linie verfolgte die Sowjetunion, die konsequent und beharrlich die Interessen aller großen und kleinen friedliebenden Völker vertrat. Die andere Linie verzichtete auf eine Organisation der kollektiven Sicherheit, verzichtete auf Widerstand gegen die Aggression und ermunterte damit zwangsläufig die faschistischen Länder, ihre aggressive Tätigkeit zu verstärken, und begünstigte so den Ausbruch eines neuen Krieges.'(Geschichtsfälscher [Historische Auskunft], Seite 18— 19.)

Nachdem die Verhandlungen der UdSSR mit England und Frankreich in eine Sackgasse geraten waren, weil diese Länder nicht mit der Sowjetunion zusammenarbeiten wollten, war es unerläßlich, ohne zu zögern Maßnahmen zu ergreifen, die verhinderten, daß unser Land in einen kriegerischen Konflikt verwickelt wurde. Es mußte damit gerechnet werden, daß die englische Regierung bei Hitler den Abschluß gegen die Sowjetunion gerichteter Verträge anstreben würde.“

Der Beginn der deutsch-sowjetischen Annäherung kann nicht als Folge des Scheiterns der Verhandlungen zwischen den Westmächten betrachtet werden. Hierzu auch: Deuerlein, E., Die gescheiterte Anti-Hitler-Koalition, in: Wehrw. Rdsch. 1959, Seite 634 ff. „Am 23. August 1939 wurde in Moskau ein Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der UdSSR abgeschlossen. Die Vertragspartner verpflichteten sich dazu, sich jeder Gewalttat, jeder aggressiven Handlung des einen gegen den andern allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu enthalten.

Durch den Vertrag mit Deutschland sicherte die Sowjetregierung unserem Lande für die Dauer von fast zwei Jahren den Frieden und die Möglichkeit, ihre Kräfte weiter für die Abwehr einer Aggression vorzubereiten. Die Außenpolitik der Sowjetunion warf alle Berechnungen der Imperialisten über den Haufen und wehrte den unsere Heimat bedrohenden Schlag ab. Der Angriff des faschistischen Deutschlands auf die UdSSR wurde aufgeschoben.“

Der Hitler-Stalin-Pakt legte vor allem die Interessensphären zwischen beiden Partnern fest. Hitler gestand der Sowjetunion rückhaltlos zu, was diese — wenn auch in etwas modifizierter Form — von den Westmächten gefordert hatte.

Hinzu kommt, daß in dem genannten Vertrag gerade die entscheidende Klausel fehlte, die bisher in zahlreichen Nichtangriffsverträgen (auch der UdSSR) enthalten war: daß die vertragschließenden Parteien von allen übernommenen Verpflichtungen befreit sein sollten, falls eine Partei eine Aggression gegen eine dritte Macht ausführe. Das Abkommen verhinderte also nicht, vielmehr begünstigte es einen Angriffskrieg. Mit Recht kommt daher Hofer zu dem Ergebnis: „ ... Die Sowjetunion räumt Hitler das letzte Hindernis aus dem Wege — die Drohung des Zweifrontenkrieges zwischen den Großmächten des Westens und des Ostens, und der deutsche Diktator spielt dem Kreml dafür die begehrten Positionen im Baltikum, in Ostpolen und an der Donaumündung in die Hände. Es war ein Erwerbsgeschäft auf Gegenseitigkeit..." (a. a. O., Seite 212 ff.). Sowjetische „ Bündnis" -Verträge mit den baltischen Staaten 1939 „Die außerordentliche Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR, die vom 31. Oktober bis zum 2. November 1939 stattfand, nahm den Entschluß zur Wiedervereinigung der Westukraine mit der ukrainischen SSR und Westweißrußlands mit der weißrussischen SSR an.

Bald danach wurden von der Sowjetregierung Pakte über gegenseitige Hilfeleistung mit den Regierungen Litauens, Lettlands und Estlands unterzeichnet. Sie räumten der Sowjetunion das Recht ein, auf dem Gebiet dieser Staaten Garnisonen der Sowjetarmee zu unterhalten sowie sowjetische Flugplätze und Flottenbasen anzulegen. Diese von der Sowjetunion mit den baltischen Staaten abgeschlossenen Hilfeleistungsverträge bewahrten letzteren die nationale Un-abhängigkeit und garantierten ihnen den Schutz vor der drohenden Versklavung durch deutsch-faschistische Eindringlinge."

Zwischen Skylla und Charybdis blieb den Politikern des Baltikums gar keine andere Wahl, als sich den ultimativen Forderungen der Sowjetunion zu beugen. Als der estnische Außenminister Selter am 23. 9. 1939 nach Moskau reiste und dort erklärte, daß Estland es bisher immer abgelehnt habe, Bündnisse irgendwelcher Art mit den Großmächten abzuschließen, erwiderte ihm Molotow: „. . . Sollte Estland . . . versuchen, sich den (sowjetischen) Forderungen (nach Stützpunkten in der Ostsee) zu widersetzen, würde sich die Sowjetregierung gezwungen sehen, ihre Wünsche mit Gewalt durchzusetzen. Dabei brauche Estland auf keinerlei Hilfe zu rechnen: England seit weit, Deutschland sei im Westen gebunden und könne hier nicht mitreden ..." Unter gleichen Umständen wurde der lettische Außenminister Münters zur Unterzeichnung des sog. „Beistandspaktes" mit der UdSSR gezwungen (Vgl. Meißner, B., Die Sowjetunion, die baltischen Staaten und das Völkerrecht, Köln 1956, Seite 57 ff.).

Die UdSSR als führende Macht der antifaschistischen Koalition — 1941 — „In den Plänen des faschistischen Deutschlands nahm die Rechnung mit der internationalen Isolierung der UdSSR und der Spaltung der freiheitliebenden Völker einen wichtigen Platz ein. Dodt auch diese Pläne wurden durch die Politik der Sowjetunion vereitelt. Indem die Sowjetunion das Schwergewicht der Schläge der Hitlerischen Kriegsmaschine auf sich nahm, entwickelte sie sich zur Avantgarde im großen historischen Kampfe der freiheitliebenden Völker gegen den Faschismus. Der heroische Kampf des Sowjetvolkes wurde zum mitreißenden Beispiel für die Aktivierung der kriegerischen Tätigkeit der Widerstandskräfte in allen von den faschistischen Eindringlingen besetzten Ländern. Die grundsätzliche Interessengemeinschaft der freiheitliebenden Völker im Kampfe gegen die deutsch-faschistischen Eindringlinge führte entgegen den Intrigen der reaktionären Regierungskreise in den kapitalistischen Ländern zur Bildung einer antihitlerschen Koalition. Der Große Vaterländische Befreiungskrieg der Sowjetunion gegen den schlimmsten Feind der ganzen Menschheit — den Faschismus — vereinigte sich mit dem Kampfe der Völker Europas und Amerikas um nationale Unabhängigkeit und demokratische Freiheit. Das war der eigentliche Grund, weshalb die freiheitliebenden Völker der ganzen Welt Freunde unseres Landes wurden. Aus dem gleichen Grunde sahen sich die Regierungen Englands und der USA zur Bereitschaft gezwungen, die Sowjetunion im Kriege gegen das faschistische Deutschland zu unterstützen.“

Diese Kriegsziele der Sowjetunion: „nationale Unabhängigkeit'und „demokratische Freiheit“ sind nur im Lichte der Theorie und Praxis des So-wjetkommunismus richtig zu interpretieren. Stalins Politik in Osteuropa nach dem Einmarsch der Roten Armee hat sehr schnell verdeutlicht, was die Sowjets unter „nationaler Unabhängigkeit“ verstehen. Vgl. das Osteuropa-Handbuch Polen, hrsg. von W. Markert, Köln-Graz 1959, Seite 210 ff.; Die Sowjetisierung Ost-Mitteleuropas, hrsg. von E Birke und R Neumann. Frankfurt 1959 Ebenso sind die sog „demokratischen" Freiheiten ganz als Verpflichtungen gegenüber der kom-munistischen Gesellschaft (und nicht dem Gewissen!) aufzufassen. Bekanntlich heißt es im Artikel 125 der sowjetischen Verfassung einleitend: „. . . Es werden den Sowjetbürgern zum Zwecke der Befestigung der sozialistischen Organisation (Sperrung d. Hrsg.) und i m Interesse der Arbeiter folgende Freiheiten garantiert ..." Vgl. Bochenski, J. M., Die kommunistische Ideologie und die Würde, Freiheit und Gleichheit der Menschen im Sinne des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. 5. 1949, Bonn 1956, der auf Seite 72 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst, Heft 21) mit Recht die zwei Wertordnungen hervorhebt: Grundgesetz: „Und allen Menschen kommt die grundsätzliche Freiheit zu"; kommunistische Ideologie: „Und nicht allen Menschen kommt die grundsätzliche Freiheit zu; vielmehr soll sie den Gliedern der gegnerischen Klasse (d. h.de facto allen Nichtkommunisten) abgesprochen werden.“ Vgl. auch: Fetscher, I., Die Freiheit im Lichte des Marxismus-Leninismus, Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst, Heft 40, 1959. „Bei der Organisation der antihitlerischen Koalition spielte die weise Außenpolitik der Sowjetregierung eine ausschlaggebende Rolle. Der konsequente Kampf der Sowjetregierung gegen die faschistische Aggression stellte die Regierungen Englands und der LISA vor die unumgängliche Notwendigkeit, eine antifaschistische Koalition zu bilden, was den Interessen aller freiheitliebenden Völker entsprach.

Am 22. Juni 1941 hielt der britische Premierminister Churchill eine Rede, in der er sich über die Solidarität des englischen Volkes mit den Völkern der Sowjetunion ausließ. Am 24. Juni 1941 wurde eine Erklärung des Weißen Hauses über die Unterstützung der Sowjetunion in ihrem Kampfe gegen die Hitlersche Aggression durch die Vereinigten Staaten von Amerika veröffentlicht.

Am 12. Juli 1942 wurde eine Vereinbarung zwischen der UdSSR und Großbritannien über die gemeinsame Kriegfühung gegen Deutschland unterschrieben. Ferner wurden Vereinbarungen zwischen der UdSSR und den in London befindlichen Regierungen der Tschechoslowakei und Polens getroffen ..." „Die Kommunistische Partei Englands verlieh dem Willen der werktätigen Massen Ausdruck, indem sie in einer Deklaration vom 22. Juni 1941 ausführte: , Die Sache der Sowjetunion ist die Sache der Werktätigen aller Völker des Erdballs. Wir fordern Solidarität mit der sozialistischen Sowjetunion. Wir fordern den unverzüglichen Abschluß eines militärischen und diplomatischen Übereinkommens zwischen England und der Sowjetunion. Bildet eine machtvolle Einheitsfront des britischen Volkes mit den Völkern des ersten sozialistischen Staates in der Welt! 1 Der Wille des amerikanischen Volkes kam in der Erklärung der Kommunistischen Partei der USA zum Ausdruck, in der es hieß: , Das amerikanische Volk — die Arbeiter, werktätigen Farmer, die Negermassen und der Mittelstand — jeder, der den Faschismus und die Unterdrückung haßt, dem Frieden und Freiheit teuer sind, betrachtet die Sache der UdSSR und ihrer Völker als eine Sache der ganzen zielbewußten und fortschrittlichen Menschheit. .

Die Erklärung der Kommunistischen Partei der USA zum „Willen des amerikanischen Volkes“ zu deklarieren, entspricht dem sowjetkommunistischen Klischee. Von den 131, 7 Millionen Einwohnern der Vereinigten Staaten von Nordamerika wählten im Jahre 1940 27 243 466 (d. s. 54, 7%) der Wahlberechtigten die Demokratische Partei, 22 304 755 (d. s. 44, 8 %) die Republikanische Partei. Die Kommunisten erhielten ganze 46 251 Stimmen. Vgl. Morison-Commager, Das Werden der Amerikanischen Republik, Bd. II, Seite 816, Stuttgart 1950. „Im Gegensatz zu ihren Regierungskreisen begriffen die Volksmassen der USA und Englands, daß der deutsche Faschismus alle freiheitliebenden Völker der Welt zu versklaven drohte und daß der Kampf gegen ihn eine lebenswichtige Aufgabe der gesamten fortschrittlichen Menschheit bildete. Sie forderten von ihren Regierungen, daß sie der Sowjetunion Hilfe leisteten. Unter dem Druck der Volksmassen sahen diese Regierungen sich gezwungen, sich zu den antifaschistischen, demokratischen Kriegszielen zu bekennen. Tatsächlich führten aber die einflußreichen Kreise dieser Länder auch während des Krieges eine sowjetfeindliche Politik und unterstützten insgeheim den Faschismus."

Von dem „Druck der Volksmassen" in diesem Zusammenhang zu sprechen, ist reines Klischee. Roosevelt und Churchill haben sich, übrigens ähnlich wie Stalin, weit weniger von der „öffentlichen Meinung" in ihrer Kriegszielprogrammatik leiten lassen, vielmehr von eigenen geschichtlichen Erfahrungen (1918!), Gefühlen und Leitbildern. Vgl. Snell, J L., Wartime origins of the east-west dilem-ma over Germany, New Orleans 1959.

Eine Unterstützung des „Faschismus“ durch die Alliierten zu unterstellen, ist ideologische Schablone. Die Regierungen Großbritanniens und der Vereinigten Staaten haben es bis 1945 sogar entschieden abgelehnt, mit dem „anderen Deutschland" (d. h.der deutschen Opposition) Verbindung aufzunehmen. Vgl.: Rothfels, H., Die deutsche Opposition gegen Hitler, Fischer Bücherei 1958, Seite 137; auch: Graml-Krausnick, Der deutsche Widerstand und die Alliierten ..., in „Politik und Zeitgeschichte", Beilage zur Wochenzeitung DAS PARLAMENT, 19. 7. 1961. „Die amerikanischen und englischen Regierungskreise gingen davon aus, daß , ein starker Bundesgenosse gefährlich sei und es deshalb nicht in ihrem Interesse liege, ihn stärker zu machen, besser sei es, einen schwachen Bundesgenossen zu haben und, wenn er dennoch stärker wird, Maßnahmen zu ergreifen, die ihn schwächen.'

Unter solchem Aspekt wünschten die Regierungskreise Großbritanniens und der USA keine völlige Vernichtung des faschistischen Deutschlands und keine Befreiung des deutschen Volkes und der Völker anderer Länder von der Herrschaft der reaktionären Kräfte und keine Verwirklichung demokratischer Reformen. Sie träumten von einer Entmachtung der Sowjetunion, ihrer Niederlage, dem Untergang des Sowjetsystems, und sabotierten im weiteren Kriegsablauf die militärische Hilfe für die Sowjetunion. Lange Zeit führte das sowjetische Volk ganz auf sich allein gestellt den Kampf mit dem starken Gegner, der sich nicht nur auf die Produktionskraft Deutschlands, sondern auf die fast ganz Europas stützte.

Nur dieSowejtunion führte einen ununterbrochenen, entscheidungsuchenden Kampf mit dem Ziel der völligen Vernichtung des faschistischen Deutschlands und entlarvte die Ränke der internationalen Reaktion, die die Sache des Kampfes mit dem Feinde der gesamten fortschrittlichen Menschheit zu hintertreiben suchte. Das aber gerade bestimmte die führende Rolle der Sowjetunion bei der Vernichtung des faschistischen Deutschlands." — 1942 — „Die antihitlersche Koalition besaß gegenüber dem faschistischen Länderblock eine ganz offensichtliche Kräfteüberlegenheit, die die Niederlage des faschistischen Deutschlands in dem von ihm angezettelten Kriege unausweichbar bedingte. Die zeitgerechte und übereinstimmende Verwendung aller dieser Kräfte und ihr unmittelbarer Einsatz gegen Deutschland und seine Verbündeten in Europa hätten die Niederzwingung des gemeinsamen Feindes bedeutend beschleunigen können. Aber die sich einschneidend verschlechternde politische und militärische Lage für Hitlerdeutschland wurde nicht zur Eröffnung einer zweiten Front in Europa und zu einem Offensivstoß von Westen her ausgenutzt In die Pläne der englischen und amerikanischen Imperialisten paßte eine rasche Zerschmetterung des faschistischen Deutschlands nicht, weil sie besorgt waren, daß die Sowjetunion nach Erringen eines raschen Sieges noch kraftvoller dastehen werden zur Jalta-Konferenz im Februar 1945 glaubten, mit der UdSSR auch nach Kriegsende harmonisch Zusammenarbeiten zu können. Durch die „Pazifizierung des Aggressors” (Deutschlands) würden alle Schwierigkeiten in Europa aus dem Wege geräumt. Vgl.: Sherwood, R., Roosevelt und Hopkins. Hamburg 1950; Snell, J. L., Wartime origins of the east-west dilemma over Germany, New Orleans (USA) 1959. „An Stelle aktiver Kriegshilfe für die Sowjetunion gegen den gemeinsamen Feind, mittels schneller Eröffnung einer zweiten Front, nutzten die Regierungskreise Englands und der USA den Aufmarsch ihrer Streitkräfte dazu aus, ihre eigenen imperialistischen Ziele zu erreichen. Obwohl sie der Sowjetunion versprochen hatten, in Europa eine zweite Front zu bilden, schickten sie sich de facto an, ihre Truppen auf dem afrikanischen Kriegsschauplätze einzusetzen. Operationen solcher Art waren nicht dazu angetan, nennenswerte deutsch-faschistische Kräfte abzuziehen, Deutschland zu schwächen und einen wirklichen Einfluß auf die allgemeine Lage an der Hauptfront des Zweiten Weltkrieges, der sowjetisch-deutschen, auszuüben.“

Die sowjetische Geschichtsschreibung wertet den 2. Weltkrieg völlig einseitig aus dem Blickwinkel des europäischen Kriegsschauplatzes und des Land-krieges Die Kampfhandlungen im Pazifik, die eine beträchtliche Anzahl amerikanischer und britischer Einheiten aller Waffengattungen banden (vgl. unten), das Ringen zur See und der Kampf in der Luft verdienen aber ebenso große Beachtung. Vgl. die Beiträge von J Rohwer, in: Entscheidungsschlachten des 2. Weltkrieges, Frankfurt 1960, Seite 189 ft und 327 ff. Kein ernsthafter Historiker bestreitet heute, daß die Sowjetunion in Europa die schwersten Blutopfer gebracht hat. Allein es gehört zur Vollständigkeit des Bildes zu wissen, daß die Alliierten neben ihren militärischen Operationen die UdSSR durch Sachlieferungen aller Art erheblich unterstützt haben. „Dabei hatten England und die Vereinigten Staaten von Amerika im Sommer 1942 durchaus die Möglichkeit, in Europa eine zweite Front zu bilden. Zu diesem Zeitpunkte standen in England und Kanada mehr als 4 Millionen Mann, in den USA mehr als 2 Millionen unter den Waffen. Diese Truppenmengen reichten vollkommen aus, um Kriegshandlungen auf dem europäischen Kontinent einzuleiten. Die USA und England besaßen auch hinreichend schwimmenden Transportraum, um Truppen für eine Invasion auf dem europäischen Kontinent herüberzuwerfen. Die Eröffnung der zweiten Front wurde also nicht durch solche „objektiven“ Gründe wie das Fehlen hinreichender Kräfte und Landungsmittel — wie jetzt die bürger-lichen Historiker zu diesem Thema berichten —, sondern auf Grund einer feindseligen Politik der reaktionären Kreise Englands und der USA der UdSSR gegenüber unterlassen. Die Sowjetunion sah sich gezwungen, weiterhin allein auf sich gestellt, den schweren Kampf gegen Hitler-deutschland und seine Vasallen zu führen."

Im Juni 1942 hatten die Vereinigten Staaten rund 3 Millionen Mann unter den Waffen (Army), im November 4, 9 Millionen. Davon waren rund 1 Million Mann auf den Kriegsschauplätzen der Erde wie folgt verteilt:

Europa: 200 000 Mann Nordafrika: 140 000 Mann Mittlerer Osten/Afrika: 20 000 Mann Pazifik: 340 000 Mann Südamerika: 116 000 Mann Alaska/Nördl. Amerika: 114 000 Mann. (Vgl. Matloff, M. and Snell, E. M., Strategie plan-ning for coalition warfare, 1941— 1942, Washington 1953, Seite 387 ff.).

Eine Übersicht über den Aufmarsch der US-Armee am 31. 12. 1943 zeigt folgendes Bild:

gegenüber gegenüber Deutschland Japan Personal: 1 810 367 1 878152 . Flugzeuge: 9 377“) 11 460*) Kriegsschiffe: 515 713 *) einschl.der Navy-Luftwaffe.

Zur gleichen Zeit hatten die Briten ihre Streitkräfte folgendermaßen verteilt:

gegenüber Deutschland: 2 000 000 Mann gegenüber Japan: 1 822 000 Mann Diese Aufstellung verdeutlicht, daß die Alliierten im Gegensatz zur Sowjetunion (die nur Sicherungskräfte im Fernen Osten belassen hatte!) einen Zweifrontenkrieg führen mußten (Vgl. Matloff, M., Strategie planning for coalition warfare 1943— 1944, Washington 1959, Seite 392 f.).

Zweifellos hat das Fehlen einer ausreichenden Anzahl von Landungsfahrzeugen bei der Diskussion auf alliierter Seite eine wichtige, jedoch keineswegs ausschließliche Rolle gespielt. Vgl. Norman, A., Die Invasion in der Normandie 1944, in: Entscheidungsschlachten des zweiten Weltkrieges, a. a. O., Seite 399 ff.

Stalingrad 1942 „Das deutsch-faschistische Kommando hatte keine Ahnung von der ernsten Gefahr, in der sich seine Kampfgruppen um Stalingrad befanden. Am 14. Oktober 1942 schrieb Hitler in seinem Befehl Nr. 420 817/42: , Die Vorbereitungen zum Winterfeldzug sind in vollem Gange. Dem zweiten russischen Winter gehen wir vorbereitet und besser ausgerüstet entgegen. Die russischen Kräfte, die infolge der letzten Kämpfe stark dezimiert sind, werden nicht mehr imstande sein, im Winter 1942/43 so viel Truppen in den Kampf zu werfen wie in der vorigen Winterperiode. Was auch sonst geschehen mag, einen . härteren und schwereren Winter'kann es nicht mehr geben.“

Richtig ist vielmehr, daß die Ansichten über die Feindlage und -absichten bei den deutschen Kommandostellen (vom OKW, OKH bis zu den Ar-meen) sehr geteilt und unterschiedlich waren. So notierte z. B.der Heeresadjutant im Führerhauptquartier am 7. 11. 1942 in sein Tagebuch: ,... Zeitzier (Chef des Generalstabes des Heeres) trägt im Anschluß an Lage Feindlage Ost vor (d. h. Hitler) mit entsprechenden Unterlagen von OQu IV. Man wisse genau, daß in mehreren Besprechungen Stalin die Notwendigkeit einer Großoffensive im Süden betont (habe) und damit zu rechnen sei, daß (die) Russen im großen Donbogen und ostwärts Rostow Truppen zusammenzögen; dies deute auf Offensivabsichten hin. F(ührer) widerspricht, daran glaube er vorläufig nicht ...“. Am 6. 11. 1942 beurteilte die Abteilung Fremde Heere Ost im OKH die Lage dahin, daß die Sowjets wohl eher im Abschnitt der Heeresgruppe Mitte angreifen würden. Ab Mitte Oktober 1942 hatte dagegen das AOK 6 (vgl. Paulus, Ich stehe hier auf Befehl, Frankfurt 1960, S. 207) durch Erdund Luftaufklärung die Vorbereitungen eines Großangriffs erkannt, „als dessen erstes Ziel die Abschnürung der im Don-bogen und ostwärts des Don um Stalingrad kämpfenden deutschen Kräfte vermutet wurde“. Freilich: eine derartig wuchtige Kräftemassierung der Sowjets ist wohl von den wenigsten erwartet worden. Bilanz der Kriegswende 1942/43 „Die Niederlage der deutsch-faschistischen Armeen an der sowjetisch-deutschen Front verschlechterte wesentlich die wirtschaftliche und kriegspolitische Lage des faschistischen Deutschlands und brachte dieses in eine abgrundtiefe Krise. Unter den Generalen und Großindustriellen entstand eine oppositionelle Stimmung gegen Hitler. Diese Opposition wollte schnellstens einen Kompromißfrieden mit den Westmächten schließen, um das faschistische Deutschland zu retten.“

Die deutsche Widerstandsbewegung setzte sich aus allen Schichten und sozialen Gruppen des Volkes zusammen: Sozialisten, Konservativen, Vertretern der Kirchen, Offizieren, Gelehrten usw. Es ging den Männern um Goerdeler und Beck gerade darum, nicht allein Hitler, sondern das ganze totalitäre NS-Regime zu stürzen. In der vorbereiteten Regierungserklärung (nach geglücktem Umsturz) hieß es u. a.: ,... Erste Aufgabe ist die Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts . . Die zerbrochene Freiheit des Geistes, des Gewissens, des Glaubens und der Meinung wird wieder hergestellt . . Vgl 20. 7. 1944, hrsg in der 3. Ausl, von E. Zimmermann und H. -A. Jacobsen, Bonn 1960, Seite 167 ff. „Eine Folge des Sieges der Sowjetarmee war eine weitere Erschöpfung der materiellen Hilfsquellen und der Menschenreserven im faschistischen Deutschland. Ende Januar 1943 wurde in Deutschland die . totale'Mobilisierung verkündet.“

Die totale Mobilisierung war nicht allein die Folge der Niederlage bei Stalingrad, sondern der immer prekärer werdenden Gesamtlage an allen Fronten. Im übrigen kann zu diesem Zeitpunkt noch kaum von einer „Erschöpfung der materiellen Reserven und der Menschenreserven" in Deutschland gesprochen werden. Die Kräftebilanz zeigt, daß gegenüber 1943 im Jahre 1944 0, 8 Millionen Arbeitskräfte mehr in der Industrie tätig waren. Ebenso ergibt sich aus den Indexziffern der Rüstungsendfertigung, daß 1943 222 Einheiten (Gesamt), dagegen im April 1944 274, im Juli 1944 322 Einheiten produziert wurden, also trotz der angespannten Lage immer noch ein Anwachsen der Produktion zu verzeichnen war (vgl. Jacobsen, 1939— 1945, Seite 561 ff.). „Die von der Sowjetarmee erhaltenen Schläge vermehrten die Verwirrung und die Mutlosigkeit in den Reihen des faschistischen Blocks. Italien befand sich bereits an der Grenze eines militärisch-politischen und wirtschaftlichen Zu-sammenbruchs. Die geschwächte Position Italiens im Hitlerblock, die schweren Niederlagen, die er durch die sowjetischen Armeen erlitten hatte, und die unmittelbare Drohung der Katastrophe in Italien — alles das hatte die innenpolitische Krise im Lande zugespitzt, das Ausscheiden Italiens aus dem Kriege ermöglicht und so auch den Zusammenbruch der italienisch-deutschen . Achse'verursacht.“

Hier werden die Tatsachen völlig auf den Kopf gestellt. So sehr auch der sowjetische Sieg bei Stalingrad das Ansehen Hitlers „als Feldherr" erschüttert und den Glauben an den Endsieg Deutschlands bei den Verbündeten ins Wanken gebracht hatte, der Zusammenbruch des faschistischen Italiens wurde dadurch nicht verursacht. Vielmehr gaben die Erfolge der Alliierten in Nordafrika (13. Mai 1943: Kapitulation der deutsch-italienischen Heeresgruppe Tunis — 252 000 geraten in Gefangenschaft), auf Sizilien (10. 7. 1943: Landung der anglo-amerikanischen Truppen), die Kampfhandlungen zur See und zur Luft den Ausschlag.

Vgl. Warlimont, W., Die Entscheidung im Mittelmeer, 1942, in: Entscheidungsschlachten des zweiten Weltkrieges, a. a. O., Seite 233 ff.; Bryant, A., Kriegswende. Aus den Kriegstagebüchern des Feldmarschalls Lord Alanbrookes, Chef des Empire Generalstabs, Düsseldorf 1957, Seite 457 ff., 627 ff.; Roskill, S. W., The navy at war, London 1960, Seite 279 ff. „In seiner Beurteilung der historischen Bedeutung der Schlacht von Stalingrad schrieb Mao Tse-tung Mitte Oktober 1942: . Diese Schlacht ist nicht nur ein Wendepunkt im sowjetisch-deutschen Kriege und auch nicht nur ein Wendepunkt im jetzigen Weltkriege gegen den Faschismus, sondern auch ein Wendepunkt in der ganzen Geschichte der Menschheit.'(Mao Tse-tung, Ausgewählte Werke, Bd. 4, Seite 186— 189.)

Die Zunahme der Sowjetunion an Kraft und Autorität paßte jedoch nicht in die Pläne der imperialistischen Reaktion, die immer noch hoffte, daß die Sowjetunion ausgeblutet aus diesem Kriegt hervorgehen würde und damit abhängig werde vom amerikanischen und britischen Imperialismus. Im Hinblick darauf ist der Brief Churchills an Eden vom 8. Januar 1942 bemerkenswert, den der frühere Premier in seinen Memoiren vom zweiten Weltkriege widergibt: Niemand kann sich vorstellen', hieß es in diesem Brief, , wie das Kräfteverhältnis beim Kriegsende sein wird oder wo die siegreichen Armeen stehen werden. Es ist aber doch anzunehmen, daß die USA und das britische Imperium nicht nur weit entfernt von jeglicher Erschöpfung sein werden, sondern daß sie sogar zu einem solch gewaltigen militärischen und wirtschaftlichen Block werden, wie ihn die Welt noch nie gesehen hat, und die Sowjetunion wird unsere Hilfe zu ihrem Wiederaufbau mehr brauchen, als wir ihre Hilfe benötigen werden.'“ (Winston Churchill, The Second World War, Bd. 3, Seite 616.)

Vgl.den Wortlaut des Briefes vom 8. 1. 1942, aus dem hier völlig willkürlich und ohne Zusammenhang zitiert wird: Churchill, Der zweite Weltkrieg, Bd. III, Seite 367. Der britische Premierminister schrieb unter dem Eindruck der Berichte Edens von seinen Besprechungen in Moskau (Dezember 1941). Bei diesen Verhandlungen hatte Sta lin die Anerkennung der osteuropäischen Annexio-nen der Sowjetunion durch die Westmächte gefordert. Churchill vertrat damals aber noch den Standpunkt, daß z. B. die Völker des Baltikums „unabhängige, souveräne Staatswesen" bilden sollten; Gebietsverschiebungen nach Kriegsende müßten nach Möglichkeit durch „frei und fair durchgeführte Volksabstimmungen'geregelt werden Angesichts der wachsenden Stärke der USA und Großbritanniens hoffte Churchill, dieses Ziel im Geiste der Atlantik-Charta vom August 1941 gegenüber der Sowjetunion durchsetzen zu können. „Aber die Siege der Sowjetarmee im Winter 1942/43 machten einen Strich durch die Rechnung der amerikanischen und englischen Monopolisten, die den Völkern der Welt nach dem Kriege ihren Willen aufzwingen wollten.

Die Siege der Sowjetarmee schufen eine günstige Voraussetzung zur Schaffung einer zweiten Front in Europa und zur Vernichtung des Hitler-sehen Deutschlands durch die vereinigten Kräfte der Verbündeten. Das war jedoch in den Plänen der anglo-amerikanischen Imperialisten nicht vorgesehen.“

Diese Behauptung ist nur als ein Produkt des „Kalten Krieges" zu verstehen, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat Von Anfang an haben die Alliierten in ihrer großen Strategie mit allen Mitteln das Ziel verfolgt, Deutschland zuerst zu schlagen und zwar aus der Luft, zur See und auf dem Lande. Der sowjetische Sieg wurde daher im Rahmen ihrer Gesamtoperationen und angesichts des hartnäckigen deutschen Widerstandes als große Erleichterung empfunden und freudig begrüßt. Vgl. die Telegramme Churchills an Stalin 1942/43. Am 2. 2. 1943 hieß es u. a.: „... Das war (Sieg bei Stalingrad) wahrhaftig eine große Waffentat ...'Churchill, Bd. IV., Seite 345).

Die Konferenz von Teheran im Dezember 1943 *) „Die Sowjetunion verteidigte die Interessen des deutschen Volkes, lehnte die Forderungen der USA und Englands ab und bestand darauf, Deutschland als einheitlichen Staat zu betrachten. Die englischen und amerikanischen Vorschläge wurden zur Überprüfung an die Europäische Beratende Kommission übersandt. In der Konferenz von Teheran wurde eine Deklaration angenommen über die Zusammenarbeit nach dem Kriege, in der das Streben der drei Groß-mächte unterstrichen wurde, einen gesicherten Frieden in der Nachkriegszeit zu gewährleisten und die Mitarbeit aller friedliebenden Staaten, der großen so wie der kleinen, zu sichern. , Wir sind bestrebt'— heißt es in der Deklaration —, , zur Mitarbeit und aktiven Teilnahme alle Staaten hinzuzuziehen, die großen und die kleinen, die sich wie unsere Völker mit dem Herzen und Verstand zum Ziel gesetzt haben, die Tyrannei, die Sklaverei, die Bedrückung und Unduldsamkeit abzuschaffen." („Die Außenpolitik der Sowjetunion im Vaterländischen Krieg", Bd. I, Seite 425.)

Unzutreffend. Stalin erklärte zu den in Teheran vorgetragenen amerikanischen und britischen Zerstückelungsplänen, er sei grundsätzlich auch für die Zerstückelung Deutschlands. Ihm gefalle aber keiner der beiden Pläne richtig, doch ziehe er den Roosevelts vor. Da die Diskussion ohne sofortige Einigung verlief, wurde beschlossen, das Problem der „Zerstückelung" der — durch einen Beschluß der „Großen Drei“ in Teheran ins Leben gerufenen — Beratenden Europäischen Kommission (Sitz in London) zur weiteren Erörterung zu überlassen. In allen Entwürfen über die Zukunft Deutschlands, die unter Mitarbeit der sowjetischen Vertreter in London ausgearbeitet wurden, bis über die Jalta-Konferenz (4. — 11. 2. 1945) hinaus war die Zerstückelung Deutschlands — wenn auch ohne konkrete Einzelvorstellung — fester Bestandteil. Es bedeutete daher eine scharfe Schwenkung der sowjetischen Deutschlandpolitik gegenüber den Westalliierten, als Stalin in seiner Proklamation vom 8. 5 1945 erklärte, „die Sowjetunion beabsichtige nicht, Deutschland zu zerstückeln oder zu vernichten". Diese Schwenkung hatte sich erst seit Anfang April 1945 angekündigt. „Die Konferenz von Teheran spielte eine ge-wichtige Rolle für die Festigung der englisch-sowjetisdi-amerikanischen Koalition. Sie bewies, wie unhaltbar das Rechnen der Diplomatie Hitlers auf ein Auseinanderfallen der Koalition war. Trotz der erreichten Übereinstimmung in allen Fragen, die mit der schnellstmöglichen Zertrümmerung Hitler-Deutsdilands verbunden waren, trieben die anglo-amerikanischen reaktionären Kreise weiterhin eine feindliche Politik gegenüber der UdSSR, sie ergriffen Maßnahmen, um die Schaffung einer zweiten Front zu verzögern und damit den Faschismus in Europa vor dem völligen Zusammenbruch zu retten.

Die anglo-amerikanischen Reaktionäre verwandten nicht wenig Mühe darauf, die nationale Befreiungsbewegung in den von den Hitleristen besetzten Gebieten zu schwächen. Diese ideologischen Behauptungen stehen in schärfstem Widerspruch zu den Tatsachen. Churchill und Roosevelt gingen so weit, ihre eigenen antikommunistischen Verbündeten mit den Widerstandsgruppen im besetzten Europa zugunsten der kommunistischen Partisanen zu schwächen (am sichtbarsten in Jugoslawien, wo Mihajlovit fallen-gelassen und Tito zum favorisierten Bundesgenossen erhoben wurde. Vgl. Osteuropa-Handbuch, Band: Jugoslawien, herausgegeben von Werner Markert, Köln/Graz 1954, Seite 117 ff.).

„Trotz der Intrigen der imperialistischen Reaktion wuchs unter dem Einfluß der Siege des Sowjetvolkes der Kampf der unterjochten Völker für die Freiheit und nationale Selbständigkeit ihrer Länder jedoch immer mehr an.“

Der Einmarsch der Roten Armee in Deutschland „Zugleich war das Benehmen der Sowjetsoldaten, der Zöglinge der KP, zur deutschen Bevölkerung menschlich. Nach Beendigung der Kämpfe um Berlin halfen sie der Bevölkerung und unterstützten sie bei der Wiederherstellung des normalen städtischen Lebens. In den ersten Tagen übergab das Sowjetkommando aus den Frontreserven etwa 6 Millionen Pud (1 Pud ist etwa 16 kg. Der Übersetzer.) Getreide und Mehl, ca. 100 0001 Kartoffeln, Tausende Stücke Rindvieh. Ungefähr 1200 Lkw waren zum An-transport der Verpflegung für die Stadt eingesetzt.“ Eine angesichts des barbarischen Verhaltens der Roten Armee als Ganzes (nicht nur einzelner Soldaten) beim Einmarsch in Ostdeutschland groteske Feststellung (wenn auch dieses Verhalten z. T. als Gegenterror gegen das Wüten der SDund Polizeieinheiten in den besetzten sowjetischen Gebieten 1941— 43 zu erklären ist) (vgl. Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Bd I: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, herausgegeben vom Bundesministerium für Vertriebene, Groß Denkte/Wolfenbüttel o. J. (1956).

Die Vernichtung des imperialistischen Japans — 1945 — Die Vernichtung des faschistischen Deutsch lands beendete den Krieg im Westen. Der Hitlerstaat war vernichtet, und seine Streitkräfte hatten bedingungslos kapituliert. Dennoch hat das rühmlose Ende der faschistischen Bewerber um die Weltherrschaft die japanischen Imperialisten nicht entsprechend belehrt. Japan, der Hauptverbündete Deutschlands, setzte den Krieg gegen China, die USA, England und Australien, Holland und andere Staaten fort und bedrohte immer wieder die Sicherheit der UdSSR."

Daß das im Mai 1945 nach vierjährigem verlustreichem Kampf gegen die USA und Großbritannien vor dem vollständigen Zusammenbruch stehende Japan die . Sicherheit der UdSSR" in irgendeiner Weise bedroht hätte, wirkt angesichts der hoffnungslosen Lage Japans grotesk und vermag nur eine dünne ideologische Vernebelung für die imperialistische Politik und Kriegführung der Sowjetunion im August 1945 abzugeben — ganz abgesehen davon, daß die sowjetische Aktion einen Völkerrechtsbruch darstellte (der Neutralitätspakt vom 13. 4. 1941 galt auch nach der Kündigung seitens der UdSSR am 5. 4. 1945 noch bis zum 13. 4. 19461). „Die Sowjetregierung konnte gegenüber dem im Fernen Osten weitertobenden 2. Weltkrieg nicht gleichgültig bleiben; an den Grenzen der UdSSR befand sich die millionenstarke japanische Kwantung-Armee und bedrohte die Sicherheit der Sowjetunion im Fernen Osten. Man mußte in kürzester Zeit die japanische Aggression unschädlich machen, den 2. Welt-krieg beenden und die Sicherheit der fernöstlichen Sowjetgrenzen gewährleisten. Denn die USA und England waren gar nicht gewillt, den Krieg schnell zu beenden. Offensichtlich konnte nur der Eintritt der Sowjetunion in den Krieg diesen schnell beenden und auf der ganzen Erde Frieden herstellen.“

Wohl nirgends werden die Dinge in dem Werk von T. so auf den Kopf gestellt wie in diesem 11. Kapitel. An keiner Stelle läßt sich auch die sowje-tische Haltung so schlecht verteidigen, lassen sich die imperialistisch-aggressiven Absichten so schlecht bemänteln wie hier. — Der amerikanischen Führung kam es Im Sommer 1945 darauf an, den schon sehr verlustreichen Pazifik-Krieg angesichts der jetzt sicheren Niederlage Japans nicht durch ein zu großes Blutopfer amerikanischer Soldaten noch verlustreicher zu gestalten. Daraus erklären sich die langfristig angesetzten Planungen für die Fortführung des Krieges bis zur Besetzung der japanischen Hauptinseln. — Im übrigen hatte ausschließlich die Sowjetunion ein Interesse daran, daß der Krieg gegen Japan nicht zu schnell zu Ende ging, war sie doch mit ihren Angriffsvorbereitungen noch nicht fertig, so daß eine Kapitulation Japans oder gar ein Waffenstillstand auf Grund von Verhandlungen sie in eine peinliche Lage versetzt hätte (ähnlich der — wenn auch im Schatten bedeutender Ereignisse verbliebenen — Vorgänge um die sowjetische Kriegserklärung an Bulgarien im September 1944) So hielt die Sowjetregierung die japanischen Unterhändler (Sondierungen Hirotas im Juni 1945, Plan einer Entsendung des Fürsten Konoye nach Moskau Mitte Juli 1945) bis zur Potsdamer Konferenz hin (vgl. die Darstellung in den Memoiren Togos [deutsche Ausgabe Bonn 1958] und Schigemitsus [deutsche Ausgabe Frankfurt a. M. 1959]) Erst am 18. Juli informierte Stalin Truman in Potsdam über die japanischen Friedensbemühungen, am 28 Juli über Japans Bereitschaft zur Kapitulation (Botschaft des japanischen Außenministers Togo vom 21. Juli). Truman lehnte das japanische Angebot ab, um den Sowjets eine kurzfristige Teilnahme am Krieg gegen Japan zu ermöglichen und den beiderseitigen Wunsch nach einer „bedingungslosen Kapitulation" Japans zu befriedigen. Im übrigen wird in dem Werk von T. nicht mit einem Wort der Wert der japanischen Neutralität für die Sowjetunion, namentlich in den Jahren 1941 und 1942, erwähnt.

Die welthistorische Bedeutung des Sieges des Sowjetvolkes im Großen Vaterländischen Krieg „Durch seinen selbstlosen Kampf hat das Sowjetvolk die Unversehrtheit und Unabhängigkeit seines Vaterlandes behaupten können, hat die großen Errungenschaften des Sozialismus verteidigt, hat die fortschrittliche und soziale Staatsordnung allen anderen Ordnungen der ganzen Welt gegenüber behaupten können und hat die Völker Europas von der Tyrannei Hitlers und die Völker Ostasiens vom japanischen Imperialismus befreit.

Am Ende des Krieges des Sowjetvolkes waren die beiden wichtigsten Herde des Faschismus und der Weltaggression vernichtet, wurden die Stoßkräfte der internationalen Reaktion zerschlagen und kampfunfähig gemacht. Die Sowjetunion durchkreuzte die Eroberungspläne des deutschen und japanischen Imperialismus, die die Weltherrschaft errichten und die anderen Völker versklaven wollten.

Ohne den selbstlosen Heldenkampf der Sowjetunion und seiner Streitkräfte und ohne ihren Sieg über das faschistische Deutschland und über das imperialistische Japan wären die Welt von den Imperialisten dieser Länder unterjocht, Freiheit und Demokratie vernichtet und die Menschheit um Hunderte von Jahren zurückversetzt worden. Das gewaltige, geschicht-liehe Verdienst des Sowjetvolkes war es, die Weltzivilisation vor einem faschistischen Pogrom und von der Gefahr der Herrschaft deutscher und japanischer Imperialisten errettet zu haben. Die Streitkräfte der UdSSR haben im gemeinsamen Kampfe mit den Armeen Englands und der USA einen Sieg über die Aggressoren errungen. Alle Völker der Anti-Hitlerkoalition haben durch ihre Arbeit und ihre Kampfhandlungen einen würdigen Beitrag für die gemeinsame Sache des Kampfes gegen die faschistische Aggression beigetragen; jedoch eine entscheidende Rolle beim Zerschlagen Hitlerdeutschlands und des imperialistischen Japans haben die Sowjetunion und ihre Streitkräfte gespielt, sie hatten die Hauptlast des Krieges zu tragen.

III. Analyse und Zusammenfassung

Eine kritische Analyse der sowjetkommu-nistischen Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg aus den Jahren 1956 bis 1961 läßt folgendes erkennen: Sie geht ohne Ausnahme von ganz bestimmten, parteigebundenen Axiomen aus und deutet von daher das politisch-wirtschaftliche und politische Geschehen. Im nachfolgenden wird versucht, die wichtigsten davon aufzuführen.

I. Die „Ursachen für die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges"

Der Zweite Weltkrieg brach 1939 aus, weil 1. die stetig wachsenden inneren Widersprüche des modernen kapitalistischen Systems sich weiter verschärft hatten; 2. zwischen den faschistischen Mächten (Japan, Italien und Deutschland) — „Faschismus als die extremste und räuberischste Form des Imperialismus“ — und den anderen kapitalistischen Staaten (USA, Großbritannien, Frankreich) der Kampf um die „Vorherrschaft in der Welt“ entbrannte; 3. die reaktionären Kräfte der Westmächte die deutsche Aufrüstung unterstützten, um Hitlers Expansionsdrang — durch eine „Beschwichtigungspolitik“ — nach Osten abzulenken mit dem Ziel, dadurch den lästigen Konkurrenten zu schwächen und dann selbst einen imperialistischen Frieden zu diktieren.

Am 15. September 1957 hatte die „Prawda“ die Thesen der Abteilung für Propaganda und Agitation des Zentralkomitees und des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der KPdSU veröffentlicht. Über den „Großen Vaterländischen Krieg“ lauteten die Richtlinien für die Wissenschaft: „Den Zweiten Weltkrieg entfesselte der deutsche Faschismus; er war aber lediglich der grausamste und räuberischste Trupp des Weltimperialismus. Gerade die Imperialisten der USA, Großbritannien und Frankreichs verwandten entgegen den nationalen Interessen ihrer Völker viele Milliarden Dollar darauf, den deutschen Monopolherren zu helfen, den Hitlerfaschismus aufzupäppeln und die faschistischen Horden zu bewaffnen. Gerade sie ermunterten die hitler-faschistischen Aggressoren in ihren Ansprüchen auf Österreich und die Tschechoslowakei, indem sie sie immer näher an die sowjetischen Grenzen drängten.“

II. Die „konsequente, friedliebende Politik der UdSSR“

Einzig und allein die „friedliebende Sowjetunion“ hat, getreu ihren Grundsätzen, in den Jahren bis zum Kriegsausbruch (bzw. bis 1941) eine Politik der „kollektiven“ Sicherheit verfolgt; sie hat alles in ihrer Macht Stehende getan, um einen Krieg zu verhindern.

III. Der Abschluß des sowjetisch-deutschen Nichtangriffspakts vom 23. August 1939

Dieser war ein „weiser Akt sowjetischer Staatskunst" und eine „politische Notwendigkeit". Denn 1. hat die Sowjetunion damit den unmittelbar bevorstehenden Angriff Deutschlands auf ihr Land (1939) abgewendet und eine wichtige Atempause für die Beschleunigung ihrer Aufrüstung erhalten; 2. da England und Frankreich nicht gewillt waren, im „Interesse des Friedens“ mit der Sowjetunion zusammenzuarbeiten, mußte die UdSSR ein aggressives Bündnis gegen ihr Land verhindern. 3. Die Sowjetunion hat dadurch einen Zweifrontenkrieg vermieden, nachdem am Chalchin Gol-Fluß (11. 5. 1939) Kämpfe im Fernen Osten begonnen hatten.

IV. Die „Periodisierung des Zweiten Weltkrieges"

Der Zweite Weltkrieg ist nicht, was England und Frankreich betrifft, von Anfang an ein „gerechter“ Krieg gewesen, er war vielmehr ein „imperialistischer Eroberungskrieg". Erst mit dem wachsenden Widerstand der „Volksmassen" gegen die deutschen Okkupanten hat sich der Übergang zum „gerechten Krieg" angebahnt (sog. „Übergangsperiode“ vom Juli 1940 bis Juni 1941). Mit dem Eintritt der Sowjetunion in den Konflikt (1941) hat sich der Krieg endgültig zu einem „wahrhaft gerechten Befreiungskampf" entwickelt. Auch für die „kapitalistischen Teilnehmer der (Antihitler-) Koalition hat der Krieg zu diesem Zeitpunkt einen gerechten und fortschrittlichen Charakter" angenommen.

V. Für die sowjetischen Rückschläge an der Ostfront 1941 bzw. 1942 sind folgende Gründe maßgebend: 1. Personelle, materielle Überlegenheit des Gegners in dieser Phase des Krieges; seine wirtschaftlichen Mittel, die militärische Erfahrung und das Moment der Überraschung. 2. Mangelnde Wachsamkeit auf sowjetischer Seite, wofür in erster Linie Stalin (auch Shukow) verantwortlich gemacht wird. 3 Der unfertige Rüstungsstand der Sowjetunion; die allgemeine Umrüstung des Heeres und der Luftwaffe und der unzulängliche Ausbildungsstand der Armee (u. a. ein Werk des „Verräters" Berija). 4. Das Ausbleiben der versprochenen „ 2. Front“

(1942).

VI. Die Entscheidung des Zweiten Weltkrieges fiel an der sowjetisch-deutschen Front 1. Die Rote Armee hat bis Kriegsende die Masse aller deutschen Kräfte — zu Lande und in der Luft — gebunden und „zerschmettert";

ihr allein gebührt der Sieg. 2. Der Sieg über die „faschistische“ Wehrmacht war nicht eine Folge der personellen und materiellen Überlegenheit, sondern der höheren „Führungskunst“ und Kriegswissenschaft, der größeren organisatorischen Leistung, des hervorragenden Kämpfertums sowie der fortschrittlicheren Staats-und Gesellschaftsordnung. Dies beweisen die Schlacht um Moskau, der heroische Sieg bei Stalingrad — als allein ausschlaggebende Kriegswende — und die Schlacht um Kursk, ferner alle Kämpfe der Jahre 1943-1945.

3. Die sowjetische Wirtschaft ist die „beste“

der Welt, dies zeigen ihre einmaligen Lei‘stungen. Die Unterstützung der UdSSR durch die Alliierten hat 4 ’/o des Gesamtumfanges der eigenen Produktion nicht überschritten. 4. Alle Sowjetbürger haben im Großen Vaterländischen Krieg für ihre Lebensweise, für die kommunistischen Ideale und für das „sozialistische Vaterland" mit unvergleichlichem Sowjetpatriotismus gekämpft. Der Krieg wurde für die „Rettung der Weltzivilisation geführt, zur Verteidigung des gesellschaftlichen Fortsdritts". 5. Der Sieg des Sowjetvolkes ist das Verdienst der Partei, der kollektiven Führung. In den schon zitierten Thesen des Zentralkomitees der KPdSU hieß es:

„Der Inspirator und Organisator des Sieges über das faschistische Deutschland und das imperialistische Japan war die Kommunistische Partei der Sowjetunion. Millionen ihrer besten Söhne entsandte die Partei an die Front. Sie begeisterten die Sowjetsoldaten durch die selbstlose Erfüllung ihrer militärischen Pflicht und waren die Seele der Truppenteile and Verbände. Die Autorität der Parteimitglieder erhöhte sich außerordentlich. Die Soldaten der Sowjetarmee hielten es für eine große Ehre, mit einem Parteimitglied in den Kampf zu gehen. Trotz der großen Verluste an der Front wuchs die Partei während des Krieges um 1 600 000 Mitglieder. Im Laufe des ganzen Krieges erläuterte die Partei seinen gerechten Charakter und seine edlen Ziele, vereinte und lenkte die Bemühungen des ganzen Volkes.

Dank der Führung durch die Kommunistische Partei, durch ihr Zentralkomitee, ging das Sowjetvolk als Sieger aus dem Kriege hervor.“

6. Die Sowjetunion hat sich auf den Kriegskonferenzen des Zweiten Weltkrieges für die Einheit Deutschlands eingesetzt und gegenüber den Teilungsplänen der Westmächte durchgesetzt.

7. Die Niederlage Japans ist die Folge des siegreichen Angriffs der sowjetischen Truppen.

VII. Der sowjetische Sieg war gesetzmäßig und die Niederlage Deutschlands „unvermeidbar“

Der sowjetische Sieg über das „ faschistische Deutschland, Italien und Japan" beruhte nicht auf irgendwelchen Zufälligkeiten, sondern war gesetzmäßig, denn der Sieg des Sozialismus-Kommunismus über den Imperialismus ist weltgeschichtlich „wissenschaftlich“ erwiesen. Im Zweiten Weltkrieg siegte das „Neue“ über das „Alte".

VIII. Die „Politik der Stärke“ im Zweiten Weltkrieg gegenüber der Sowjetunion ist gescheitert.

Die unter der Führung der Sowjetunion kämpfende Antihitlerkoalition hat alle Versuche des Gegners vereitelt, durch eine „Politik der Stärke“ den Kommunismus zu vernichten. IX Die Politik der Westmächte im Zweiten Weltkrieg war von Anfang an gegen die UIdSSR gerichtet 1. Die Errichtung der „Zweiten Front“ wurde absichtlich immer wieder hinausgezögert, um die Sowjetunion zu schwächen. Erst unter dem „Drude der Volksmassen“ und als der Sieg der Roten Armee in greifbare Nähe gerückt war, landeten die Alliierten in Nordfrankreich (6. 6. 1944). Die Richtlinien der Partei legten folgende Diktion fest: „Die USA und England schlossen mit unserem Lande Abkommen über gemeinsame Aktionen im Krieg gegen Deutschland. Sie verpflichteten sich vor allem, noch im Jahre 1942 eine zweite Front gegen die deutsch-faschistischen Truppen in Westeuropa zu eröffnen. Wären diese Verpflichtungen erfüllt worden, so wäre der Krieg bedeutend früher beendet worden, Millionen Menschenleben und gewaltige materielle und kulturelle Werte wären erhalten geblieben. Aber im Gegensatz zur Sowjetunion, die unter den schwierigsten Bedingungen alles, was in ihren Kräften stand, zur Erleichterung der Aktionen der Verbündeten und zur Beschleunigung des Sieges tat, verzögerten die Regierungen der USA und Großbritanniens unter allen möglichen Vorwänden die Eröffnung der zweiten Front.

Als es klar wurde, daß die Sowjetarmee auch allein das faschistische Deutschland niederschmettern könnte und den unterjochten Völkern Europas die Freiheit zu bringen imstande wäre, landeten die USA und England im luni 1944 ihre Truppen in Frankreich. Aber auch danach waren die amerikanischen und britischen Imperialisten weniger um die Offensive gegen Deutschland von Westen her besorgt als um das Eindringen auf den Balkan.“ 2. Seit 1941 haben die reaktionären Kräfte der USA und Großbritannien hinter dem Rücken ihres Verbündeten, der UdSSR, mit Deutschland Geheimverhandlungen geführt. Beginnend mit dem Flug von Rudolf Heß (10. Mai 1941) bis zum 20. Juli 1944, ein „Werk des amerikanischen Geheimdienstes“, zielten alle Maßnahmen darauf ab, einen „militärischen Einheitsblock gegen die Sowjetunion zustande zu bringen“ und diese „zu vernichten“.

3. Der amerikanische Monopolkapitalismus unterstützte Japan gegen China.

X. Jeder, der die Grundfragen des Zweiten Weltkrieges anders beurteilt — in Wort und Schrift — ist ein Lügner und Fälscher der Geschichte.

Denn wer die Geschehnisse nicht vom richtigen Klassenstandpunkt aus wertet, ist unfähig, die „Wahrheit“ zu erkennen.

Es bedurfte in Leipzig nicht mehr der hochtrabenden Erklärung L. Sterns vom 30. 11. 1957 über die „Tagung der Historikerkommission der UdSSR und der DDR zur Geschichte des 2. Weltkrieges“: „Unabhängig voneinander und ohne wechselseitige Kenntnis der Gedankengänge kamen wir in allen Grundfragen und Schlußfolgerungen zu dem gleichen Ergebnis.“

Letzteres stand fest, bevor die erste Sitzung eröffnet wurde. Die Partei hatte ihre Direktiven erlassen; der Rahmen für das Prokrustesbett der sowjetkommunistischen Geschichtsschreibung war längst abgesteckt. Wer „anerkannt und unbehelligt“ bleiben wollte, mußte sich bedingungslos der Generallinie anpassen. * Die Methoden der sowjetkommunistischen Geschichtsschreibung unterscheiden sich von der freien Geschichtswissenschaft grundlegend. Nur das Erscheinungsbild mit Quellennachweisen, Literaturverzeichnis und Auswertung des internationalen Schrifttums deutet darauf hin, daß gewisse äußerliche Merkmale übereinstimmen. In Wirklichkeit haben wir es mit einer ganz anderen Grundeinstellung und Zielsetzung zu tun.

Wir haben bereits auf die Tatsache hingewiesen, daß für die Geschichtsschreibung im Sowjetblock die Axiome (nämlich die Direktiven-Thesen der Partei und des Zentralkomitees) die „conditio sine qua non" darstellen. Das heißt: die Ergebnisse der „wissenschaftlichen“ Arbeiten liegen fest, bevor der Historiker oder besser: das Autorenkollektiv mit der eigentlichen Forschung begonnen hat. Der Wissenschaftler hat das zur Einsicht genehmigte Quellenmaterial und die Literatur des In-und Auslandes dahin zu prüfen, ob sie für den „Beweis" der vorgeschriebenen These brauchbar sind. Im Sachlichen monotones Wiederholen der befohlenen Leitsätze und das Hervorheben der eigenen Leistungen sowie Fähigkeiten durch Superlative gehören zu den hervorstechenden Merkmalen der historischen Darstellung, die auf allen Kanälen totalitärer Propaganda — ähnlich wie in Deutschland unter dem Nationalsozialismus — verbreitet wird. Dabei sind dem Variationsvermögen und Einfallsreichtum des einzelnen nur insoweit Grenzen gesetzt, als die gestellte Aufgabe gelöst werden muß. Die Skala reicht von Auslassungen und Kürzungen (Konferenz von Teheran), über die durchtriebene oder groteske Übertreibung (Verlust-zahlen) des Geschehens bis hin zu bewußten Umdeutungen (Sowjetisch-Finnischer Winterkrieg 1939/40), Entstellungen, Behauptungen ohne Beweis (Befehl zur Zerstörung von Stalingrad) und reinen Phantasieprodukten, die aus dem marxistisch-leninistischen Klischee resultieren. Ja man scheute sich auch keineswegs vor direkten Textfälschungen, wie dies die Übersetzung des Halder-Tagebuchs ins Russische eklatant beweist (Militärhistorische Zeitschrift). Bisher hat die Sowjetunion aus ihren eigenen Archiven keine nennenswerten Dokumente veröffentlicht; auch nicht, nachdem einzelne Leser dies kritisiert haben. Ein Überblick über die von der „Militärhistorischen Zeitschrift“ publizierten Dokumente ist in jeder Hinsicht aufschlußreich: über 90 °/o sind Übersetzungen aus dem Deutschen und Englischen.

Es bleibt abzuwarten, ob in den 5 Dokumentarbänden zur „Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges“ wirklich brauchbare, nicht allein propagandistischen Zwecken dienende Dokumente sowjetischer Archive herausgegeben werden.

Bezeichnend für die sowjetkommunistische Geschichtsschreibung sind auch ihre Tabus, die — als ungeschriebenes Gesetz — von jedem Historiker beachtet werden. Ob es sich um das Geheime Zusatzabkommen zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. 8. 1939 handelt, um die hohen sowjetischen Gefangenen-zahlen in den Kesselschlachten der Jahre 1941 und 1942, um die große Zahl der Überläufer in dieser Zeit, das Phänomen der Wlassow-Bewegung oder um die Kollaboration in den besetzten Gebieten. Mit Stillschweigen wird das Verhalten der Roten Armee beim Warschauer Aufstand 1944 übergangen; selbstredend erfährt der Leser nirgends etwas über die z. T.organisierten Gewalttaten und Ausschreitungen der Roten Armee 1944/45 bei der Eroberung Ostmitteleuropas. Vor allem aber bleibt unerörtert, warum das „faschistische“ System trotz der personellen und materiellen Überlegenheit der „Antihitlerkoalition" so lange Widerstand leisten konnte. Damit hängt zusammen, daß die Leistungen des deutschen Soldaten im Sinne des marxistisch-leninistischen Klischees nicht in angemessener Weise gewürdigt werden.

Symptomatisch ist schließlich auch die Unterstellung, daß das, was für die sowjet-kommunistischen Historiker selbstverständlich ist, auch für den „Gegner“ gelten müsse. Wenn L. Stern in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1960 den „bürgerlichen Historikern“ vorwirft: daß sie wie ein „hochempfindlicher Seismograph“ auf „jede taktische Wendung ihrer Auftraggeber“ reagierten, so schließt er von den eigenen Zuständen auf die Verhältnisse im Lager der „Gegner“. Heißt es doch im „Kommunist“ Nr. 5/1954: „.. . Das Zentralkomitee der KPdSU hilft den Gelehrten unermüdlich und lenkt ihre Kräfte auf die Lösung der aktuellen Probleme der Geschichtswissenschaft. Die marxistisch-leninistische Theorie ist für sie ein zuverlässiger Kompaß.“ Ulbricht unterstellt den westdeutschen Historikern, daß sie beweisen wollen, die Niederlage im Zweiten Weltkrieg sei nicht unvermeidlich gewesen, um „in einem künftigen Kriege zu siegen“. In Wirklichkeit deklarieren die sowjetkommunistischen Historiker den „Mythos“ von der „unbesiegbaren“ Roten Armee.

Es paßt einfach nicht in das sowjetkommunistische Denkschema, daß der Historiker in der freien Welt aus eigener Initiative — seinem Gewissen und seinem wissenschaftlichen Ethos verpflichtet — Forschungen treibt und seine Ergebnisse veröffentlicht.

Bedeutet das bisher Gesagte, daß die sowjet-kommunistische Geschichtsschreibung — soweit es sich um die Zeitgeschichte handelt — für uns wertlos ist? Ja und nein. Abgesehen von dem Erkenntniswert über Methoden und Zielsetzung dieser „Geschichtsschreibung“, die in einem großen Teil der Erde tagtäglich propagiert und oktroyiert wird, und die auch gewisse Rückschlüsse auf die sowjetkommunistischen Tendenzen in der gegenwärtigen Weltpolitik zulassen, sind die Ergebnisse recht unterschiedlich zu bewerten. Was den Zweiten Weltkrieg anbetrifft, kann vielleicht folgendes gesagt werden: im militärisch-taktischen Bereich sind sie, soweit die Darstellungen konkrete Angaben enthalten, in vieler Hinsicht brauchbar, im Rahmen opera-tiver Schilderungen nur noch mit Einschränkungen, bei Fragen der großen Strategie — d. h. im Zusammenhang von Politik und Kriegführung _ herrscht das ideologische Klischee vor. Beim letzteren ist immer von der unabdingbaren Wechselwirkung von Theorie und Praxis auszugehen und zu berücksichti-gen, welche Aufgabe die Kommunistische Partei dem Historiker im sowjetischen Machtblock gestellt hat.

G. Wetter hat in seiner Untersuchung über den dialektischen Materialismus das sowjetkommunistische Prinzip der Einheit von Theorie und Praxis sehr klar dargelegt. In ihrem Ursprung geht es auf Marx zurück. Wenn dieser die „Aufhebung der Philosophie“ durch ihre „Verwirklichung" gefordert hatte, so bedeutete das nichts anderes als die „Idee aus der Sphäre des rein theoretischen Denkens in die Wirklichkeit" zu überführen. „An Stelle des . Wissens" bei Hegel setzte Marx die Praxis“, die einen dialektischen Charakter aufweise: der „Wesenskern der marxistischen Theorie: die materialistische Geschichtsauffassung (die Vorgänge im sozialen Bewußtsein sind Abbilder von Zuständen im sozialen Sein), und der Wesenskern der marxistischen Praxis: die revolutionäre Überwindung der auf dem Privateigentum beruhenden Gesellschaftsordnung und die Aufrichtung des Kommunismus sind dem Begriff der Praxis als ihrem gemeinsamen Ursprung entsprossen und bedingen sich gegenseitig: die materialistische Geschichtsauffassung ist theoretische Prämisse für den Kommunismus und der Kommunismus nach marxistischer Auffassung Voraussetzung für eine wirklichkeitsgetreue erkenntnismäßige Erfassung der sozialen Wirklichkeit“.

Das Verhältnis von Theorie und Praxis im Marxismus-Leninismus wird in dem neuen sowjetischen Lehrbuch „Grundlagen des Marxismus-Leninismus" (1960) folgendermaßen umschrieben: „. .. Die Theorie dient dem praktischen Kampf der Arbeiterklasse, die Praxis erhellt ihren Weg mittels der Theorie, andernfalls leiden Theorie wie Praxis. Eine von der Praxis losgelöste Theorie verwandelt sich in eine taube Blüte, eine Praxis aber, der die Theorie den Weg nicht erhellt, muß im Dunkeln umhertappen.

Im Soizalismus gehen die Entwicklung der Theorie und die Erfolge der Praxis Hand in Hand. Die Praxis des Aufbaus von Sozialismus und Kommunismus in den Ländern des sozialistischen Lagers läßt sich von der marxistischleninistischen Theorie leiten, und die Theorie wird durch die Praxis der Massen bereichert, die die neue Gesellschaft errichten."

So entspricht der einen „praktischen“ Grund-these der gegenwärtigen sowjetischen Außenpolitik: die Sowjetunion, an der Spitze des sozialistischen Weltfriedenslagers, besitze eine absolute Überlegenheit auf allen Gebieten, die von ihren Gegnern akzeptiert werden müsse (das meint Chruschtschow, wenn er von den „Realitäten" spricht), die Sowjetunion sei im Falle eines ihr aufgezwungenen Krieges nicht „zu besiegen“, das „Forschungsergebnis“ der sowjetkommunistischen Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg:

Die mächtige Sowjetunion, an der Spitze der Antihitlerkoalition, ist dank ihrer gesellschaftlichen, politischen und militärischen Kräfte allein mit dem „faschistischen Aggressor" fertig geworden. Sie ist die Siegerin des Zweiten Weltkrieges; auch in Zukunft sei sie „unüberwindlich". Dieser theoretische „Schluß“ dient wiederum zur Untermauerung der praktischen Grundthese der gegenwärtigen Außenpolitik.

Das dadurch gesteigerte Selbstbewußtsein und das Gefühl der Unüberwindbarkeit sollen die Kampfbereitschaft und die Moral der Sowjetmenschen für die „gerechte“ Sache des „Weltfriedenslagers“ stärken und auf der Seite des Klassenfeindes lähmend wirken, die Ausweglosigkeit seiner Lage demonstrieren und ihn kapitulationsreif machen.

Der zweiten axiomatischen These der sowjetischen Außenpolitik, es seien immer die gleichen „imperialistischen Kräfte“, die zum Kriege schüren und deren Niederlage gesetzmäßig feststehe, entspricht das „Forschungsergebnis“

über die Geschichte des Zweiten Weltkrieges:

die „imperialistischen Mächte“ (USA, Großbritannien und Frankreich), deren „Exponent" — der „Faschismus" — 1939 den Krieg entfesselte, erlitten mit Notwendigkeit Schiffbruch. Sie zerbrachen an den „fortschrittlichen Kräften“ des Sozialismus. In einem dritten Weltkrieg werden sie völlig vernichtet werden. Wir stimmen mit dem sowjetischen Historiker, Gen. Major Boltin, ganz und gar überein, wenn er warnt: „Der Wahnwitz eines neuen Krieges kann und muß verhindert werden. Was sich am 22. 6. 1941 ereignete, darf sich nicht wiederholen." Freilich wäre zu ergänzen, auch jener vom 1. 9. 1939 nicht, als ein hochgerüstetes totalitäres System — unter Rückendeckung durch ein anderes, gleichartiges System — seinen Nachbarn angeblich im Geiste einer „gerechten" Sache überfiel.

In dem schon genannten sowjetischen Lehrbuch heißt es weiter: „Die Praxis (aber) bleibt nicht auf der Stelle stehen, sie verändert sich ständig, entwickelt sich und schreitet voran. Der Wirkungsbereich des Menschen und seine Möglichkeiten, in die Umwelt einzudringen, erweitern sich ständig. Zuweilen vergeht nicht wenig Zeit, ehe die Praxis diese oder jene Idee zu bestätigen vermag. Aber früher oder später findet eine wahre Idee notwendig ihre Bestätigung ...

Wenn die Praxis sich entwickelt, so folgt daraus, daß es in ihr auch Altes und Neues geben kann. Daher ist nicht jede Praxis ein zuverlässiges Kriterium der Wahrheit. Konservative Menschen berufen sich in ihrem Kampf gegen neue Ideen auch oft auf die Praxis, aber auf die Praxis von gestern. Eine fortschrittliche Theorie stützt sich auf die fortschrittliche Praxis. Gerade diese liefert uns Angaben, die Theorie auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, bietet der Wissenschaft neues Material, weckt Ideen und bringt sie vor-a n. a Chruschtschow stellte nach Überwindung der Stalin-Ära die Unterordnung des Regierungsund Polizeiapparates sowie der Armee unter die Hierarchie der Partei (Leninistisches Prinzip) 1957 wieder her. Die „Theorie“ hatte diese „praktische“ Entscheidung zu beweisen, ihre Richtigkeit und ihre Erfolge in der Vergangenheit hervorzuheben. Daraus ergab sich für die Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg, daß die führende, organisatorische, „weltgeschichtliche“ Rolle der Kommunistischen Partei im Großen Vaterländischen Krieg bei der Erkämpfung des Sieges als der entscheidende Faktor betont werden mußte.

In den „Grundlagen des Marxismus-Leninismus" wird behauptet, daß „eine Idee oder wissenschaftliche Theorie der Gesellschaft nur dann dienen kann, wenn sie wahr ist. Um festzustellen, ob eine bestimmte Theorie wahr oder falsch ist, muß man sie mit der Wirklichkeit konfrontieren und klären, ob sie der Wirklichkeit entspricht.

Doch wie soll das geschehen? Mit Recht zählte man dieses Problem zu den schwierigsten, und lange Zeit konnten die Philosophen keinen richtigen Weg zu seiner Lösung finden. Erst Marx vermochte dieses Problem zu lösen. Er begriff, wie fruchtlos die Versuche bleiben mußten, das Kriterium der Wahrheit einzig und allein im Bewußtsein des Menschen zu finden.

Ei stellte fest, daß der Mensch die Wahrheit und Stärke seines Denkens nur im Prozeß der praktischen Tätigkeit beweisen kann.

In der Tat, der Mensch besitzt kein anderes Mittel, um die Wahrheit seines Wissens festzustellen, als die Praxis. Gerade die praktische Tätigkeit, die Grundlage und das Ziel der Erkenntnis, entscheidet in letzter Instanz, welche von den gewonnenen Kenntnissen wahr oder falsch sind. Die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit.

Auch in der Gesellschaftswissenschaft bildet die Praxis das Kriterium der Wahrheit. Hier werden unter Praxis nicht die Handlungen einzelner Menschen verstanden, sondern die Tätigkeit großer gesellschaftlicher Gruppen: Klassen, Parteien. Die praktische Erfahrung des einzelnen, die notwendig eng und begrenzt ist, darf der kollektiven Erfahrung der Klasse, der Partei nicht entgegengestellt werden. Das Kriterium der Wahrheit gesellschaftlicher Theorien kann nur die Produktion und die praktisch-revolutionäre Tätigkeit der Massen sein.

Die Große Sozialistische Oktoberrevolution war eine glänzende Bestätigung der von Marx gegebenen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise und seiner Schlußfolgerung, daß der Kapitalismus unweigerlich untergehen und durch die sozialistische Produktionsweise abgelöst werden wird ...“

Ein weiterer Grundsatz der sowjetkommunistischen Ideologie ist das Prinzip der Parteilichkeit. Es dient „als zuverlässiger Kompaß, der die Entwicklung aller Formen des sozialistischen gesellschaftlichen Bewußtseins in die erwünschte Richtung lenkt.“

„Auf dem Boden der kommunistischen Parteilichkeit in der Ideologie zu stehen bedeutet, daß man imstande sein muß, die Klassenbedingtheit eines jeden ideologischen Phänomens sichtbar zu machen und auf dem Gebiet der Ideologie die Interessen der Arbeiterklasse, des Sozialismus, der Demokratie und des Friedens zwischen den Völkern zu vertreten. Die k o m m u -nistischeParteilichkeit besteht ir derUnversöhnlichkeitgegen-über jeder beliebigen Erscheinung der bürgerlichen Ideologie sowie in dem bewußten und aktiven Dienst an dem großen Ziel des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft mit den Mittelnder Ideologie.“ 1957 schrieb die Zeitschrift „Kommunist“ zu diesem Prinzip: „Die marxistischen Historiker vertreten der Standpunkt der Arbeiterklasse, deren Interessen voll und ganz mitdem objektiven Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung zusammenfa 11 en. Sie bedürfen keinerlei vorgefaßter Schemata, sie brauchen die Tatsachen nicht zu entste 11 en . Die Parteilichkeit der marxistischen Wissenschaft, ihre militante Unversöhnlichkeit gegenüber den bürgerlichen Verzerrungen und reformistischen Theorien sind nicht möglich ohne die Wider-spiegelung des Wesens und der Logik des historischen Prozesses. Die proletarische Parteilichkeit ist der höchste Ausdruck der wissenschaftlichen Objektivität und der historischen Wahrheit.“

Warum verheimlichen die sowjetkommunistischen Historiker eigentlich bis heute alle exakten Daten über personelle und materielle Stärken, Verluste und Produktionsziffern, warum geben sie keine Auskunft über das Entstehen von Führungsentschlüssen und Divergenzen zwischen den Wehrmachtsteilen der Roten Armee im 2. Weltkrieg? Einmal mag eine solche Verhaltungsweise auf das kollektive Denken und Handeln als oberstes Prinzip (Lenins) zurückzuführen sein (der einzelne kann irren, das Kollektiv ist unfehlbar), zum anderen beweist dies, daß die sowjetische Führung die gegenwärtige Lage als einen permanenten „kalten K r i e g“, als eine noch nicht abgeschlossene „unversöhnliche“ Auseinandersetzung zwischen den beiden Lagern des Sozialismus-Kommunismus und dem Kapitalismus betrachtet. Dem „Feind" darf man keine Angaben über Führungsmethoden, Stärke, Verluste und Produktionskapazitäten liefern.

Der sowjetkommunistische Historiker weiß sich im Besitz der „alleingültigen Wahrheit“; für ihn ist „wissenschaftlich“ erwiesen, daß der „bürgerliche Historiker“ die Geschichte „entstellt“ und fälscht“, da dieser einen überholten, rückständigen Klassenstandpunkt vertritt. Selbstverständliche Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse, Quellenlage, Irrtum, subjektive Rechtfertigung, Differenziertheit der Urteile, Fortschritte gegenüber bestimmten Thesen der Vergangenheit durch neue wissenschaftliche Untersuchungen, das ständige Streben nach Wahrheit, diese bedeutsamen Kriterien der freien Geschichtswissenschaft läßt der Sowjetkommunist nur sehr beschränkt gelten, auf keinen Fall bei der Beurteilung der „bürgerlichen" Geschichtsschreibung. Für ihn wird zur neuen vom Endziel determinierten Wahrheit, was die Partei in ihren Direktiven festgelegt hat. Denn ein weiterer „historischer Fortschritt" ist nur denkbar, wenn die Ereignisse der Tagespolitik (d. h. die „Praxis“) zu einem Wandel der „Theorie“ führen, die den Historiker des Ostblocks zu einer raschen Korrektur veranlaßt. So hat er aufmerksam jede leise Regung der „Prawda“, jede Maßregelung und leichte Schwenkung des Parteikurses zu registrieren, will er nicht Gefahr laufen, scharf kritisiert oder gar kaltgestellt zu werden. Geschichte wird somit im sowjetkommunistischen Machtbereich ständig umgeschrieben, wie dies die Umbenennung Stalingrads in Wolgograd in jüngster Zeit so eindrucksvoll beweist.

Am 26. Juni 1953 wurde L. Berija seiner Funktionen im Staats-und Parteiapparat enthoben, im Dezember des gleichen Jahres als Staatsfeind Nr. 1 angeklagt, verurteilt und hin-gerichtet. Den Mann, dessen Verdienste die große Sowjet-Enzyklopädie aus dem Jahre 1950 in 179 Zeilen und durch eine ganzseitige Abbildung besonders hervorgehoben hatte, machten die Kriegshistoriker der parteiamtlichen Ausgabe des „Großen Vaterländischen Krieges“ (1961) für die Säuberung innerhalb der Roten Armee 1937/38 verantwortlich; diese hätte er im Auftrage der Westmächte durchgeführt, um die eigenen Streitkräfte zu schwächen. Heute gilt Berija als „Verräter“, und die sowjetkommunistische Geschichtsschreibung hat ihn entsprechend historisch „einzuordnen" und abzuwerten.

Glauben die sowjetkommunistischen Historiker im übrigen wirklich, was sie schreiben und auf allen Tagungen mit dem Brustton der Über-zeugung erklären? Erkennen sie nicht, daß sie in vieler Hinsicht die Tatsachen einfach auf den Kopf stellen, indem sie von falschen Prämissen ausgehen? Diese oder ähnliche Fragen sind bei uns oft zu hören. Die Antwort lautet meistens; sicherlich nicht alle; viele leiden möglicherweise unter einer Art von Bewußtseinsspaltung. So berechtigt derartige Fragen und Vermutungen von unserem Standpunkt aus sein mögen, sie gehen am Kern des ganzen Problems vorbei. Für den Sowjethistoriker ist es im Grunde belanglos, ob seine Aussage im Augenblick wahr oder falsch ist; es kommt allein auf den Nutzen an und darauf, daß sie geglaubt wird. Dahinter steht die Überzeugung daß dieser „Glaube“ unüberwindlich macht. Nützt die aufgestellte Behauptung der Kommunistischen Partei und damit der Verwirklichung des unablässig verheißenen weltgeschichtlichen Entstadiums, so ist sie nicht nur moralisch gerechtfer-tigt, sondern im „höheren, dialektischen Sinne wahr“, d. h. sie spiegelt dann die „Gesetzmäßigkeiten und das sozialistische Sein“ wider und geht „zutreffend" davon aus, daß der Sieg des Proletariats „als Klasse ohne jedes Interesse an der Ausbeutung der Menschen durch den Menschen“ gesellschaftliche und geschichtliche Voraussetzung für die Erkenntnis der ganzen Wahrheit“ schafft. Die Mannigfaltigkeit historischen Geschehens zu erfassen und zu deuten, zu schildern „wie es wirklich gewesen ist“ (Ranke), bleibt für den Wissenschaftler des Ostblocks häufig sogar lästiges Nebenprodukt. Geschichte ist weniger contem-p 1 a t i o , „geistige Form, in der eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt“, sondern in erster Linie agitatio, scharf geschliffene Waffe des Geistes, — erbarmungslos und gewalttätig angewandt — ein Instrument des Hasses und der unversöhnlichen Feindschaft, die den sowjetkommunistischen Historiker zwingt, sich selbst zum hochbezahlten Handlanger beim Aufbau des Kommunismus zu degradieren. Dies ist allerdings um so weniger der Fall, je mehr er sich in seinen Untersuchungen von der Gegenwart (d. h. von der Geschichte der Sowjetgesellschaft) abwendet. Dennoch besteht seine vornehmste Aufgabe und Pflicht darin, das Heute zu revolutionieren und umzugestalten. Karl Marx hat seiner Zeit in der berühmten 11. Feuerbachthese proklamiert: „. . . Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Mit Recht hat G. Möbus davon gesprochen, daß man diesem Satz eine andere Form geben müsse, nämlich, „Die Historiker haben die Welt nur verschieden erklärt. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Die sowjetkommunistischen Theoretiker sind nicht müde geworden — ob 1957, 1954 oder 1961 — immer und immer wieder diesen spezifisch politischen Auftrag den Wissenschaftlern des Ostblocks einzuhämmern und diese als „Akkumulatoren“ der Ideen und Weisungen der Partei im Geiste des Marxismus-Leninismus zu verwenden.

Einzelheiten und Belege sind in den kritischen Kommentaren der Bearbeiter in den Fußnoten und in der Einführung des Werkes von Telpuchowski zu entnehmen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die wirklichen Schwierigkeiten einer alliierten Landung auf dem europäischen Kontinent werden mit keinem Wort gewürdigt, ganz zu schweigen von den heftigen Kontroversen der Alliierten untereinander. Bekanntlich haben die amerikanischen Planer von Anfang an für eine Operation in Frankreich plädiert; die Briten, zunächst über die größeren Erfahrungen mit der deutschen Wehrmacht verfügend, haben sich dann freilich mit ihrer Ansicht durchsetzen können, daß es die . weichste Stelle* der Achse anzugreifen gelte (Nordafrika, See-Luftkrieg). Vgl. die scharfe Kritik an der alliierten Kriegführung bei: Wedemeyer, A. C., Der verwaltete Krieg, Gütersloh 1960. Außerdem: Morison, S. E., American contributions to the strategy of world war II, London 1958. Aus britischer Sicht:

  2. Das Gegenteil trifft zu. Alle Pläne der Alliierten waren der unverzüglichen Vernichtung Deutschlands und Italiens gewidmet. Erst Ende 1943 mehrten sich gewisse Stimmen, die vor einem . Macht-vakuum“ in Europa nach der Niederwerfung Deutschlands warnten, das in erster Linie der Sowjetunion zugute kommen müsse. Aber diese fanden kaum Gehör, da die führenden . Politiker der Alliierten, vor allem Roosevelt, zumindest bis

  3. Die nachfolgenden Beispiele wurden von A. Hillgruber kommentiert.

  4. Vgl. hierzu Teil III.

Weitere Inhalte

Dr. phil. Hans-Adolf Jacobsen, Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Fall Gelb (1957); Dünkirchen (1958); Der zweite Weltkrieg in Chronik und Dokumenten (1959, 5. Ausl 1961); Der 20. Juli 1944, (Mithrsg.) (1960); Entscheidungsschlachten des zweiten Weltkrieges (Mithrsg.) (1960).