Einleitung
Die seit Jahren im Aufbau befindliche Osteuropa-Wissenschaft in der Schweiz bietet heute ein leicht und gut überschaubares Bild. Die bisher unternommenen Bemühungen, diesen Lehrund Forschungszweig stärker auszubauen, konnten an keine Tradition anknüpfen, da eine »Ostforschung“ in der Schweiz unbekannt war. Zwar pflegte das Land in der Vergangenheit starke persönliche Beziehungen: Schweizer gehörten zu den Erziehern russischer Zaren, leisteten Kriegsdienste in der russischen Armee, belebten das russische Geschäfts-und Kultur-leben, fanden sich unter den von der Kaiserin Katharina II. nach Rußland geholten Siedlern; und die Schweizer in Rußland stellten zuweilen die stärkste Auslandsvertretung dieses emigrationsfreudigen Landes. Aber gerade deshalb war die Auslandsforschung in der Schweiz bis vor kurzem völlig vernachlässigt. Es gab in den seltenen Bedarfsfällen genügend Rückwanderer, die als Spezialisten ihrer vorübergehenden Wahlheimat eingesetzt werden konnten
Die Oktober-Revolution von 1917 zerstörte die russische Schweizerkolonie. Wer nicht zurückkehrte, wurde zur völligen Assimilation gezwungen. Die Rückwanderer jedoch sind eine im Aussterben begriffene Gruppe von Rußlandkennern, die zudem in der Regel den Kontakt mit der Sowjetunion verloren haben.
Eine Bestandsaufnahme der schweizerischen Osteuropa-Forschung nach Abschluß des zweiten Weltkrieges zeigt ein bescheidenes Bild. Die wenigen Ostspezialisten, über die das Land aus Zufall verfügte, mußten nebenbei und ohne Hilfe oder Unterstützung auf diesem Gebiet tätig sein — wie Prof. Valentin Gitermann mit seiner „Geschichte Rußlands“ (1944—49) und Prof. Fritz Lieb mit seinem bekannten Werk „Rußland unterwegs“ (1945); sie und andere mehr waren nebenberuflich tätig.
Den Studenten stellten sich in den ersten Jahren nach 1945 unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg. Zum ersten gab es außerhalb des Phlilologischen und Historischen keine Vorlesungen über die Sowjetunion an schweizerischen Hochschulen. Zum zweiten fehlten in den öffentlichen Bibliotheken sogar die primitivsten Unterlagen. Und schließlich eröffneten sich dem möglichen Ostspezialisten überhaupt keine Berufsaussichten
Es hat in den letzten Jahren in der schweizerischen Presse nicht an Mahnungen und Hinweisen gefehlt, die auf einen verstärkten und beschleunigten Auf-und Ausbau der Ost-Wissenschaft drangen. So schrieb erst kürzlich ein langjähriger und objektiver Beobachter dieses Forschungszweiges: „Der Aufstieg der Sowjetunion zur zweitgrößten Industriemacht der Erde und die Ausdehnung ihres Herrschaftsbereiches sind weltbekannte Tatsachen. Man kann sie auf sich beruhen lassen oder aus ihnen bestimmte Schlüsse ziehen. Aus dem gegenwärtigen Stand der Osteuropa-Forschung in der Schweiz ist man geneigt, anzunehmen, daß weite Kreise der schweizerisdien Öffentlichkeit es vorziehen, den bequemeren ersten Weg zu gehen. Nur so läßt sich die stiefmütterliche Behandlung aller wis-senschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem europäischen Osten beschäftigen, an unseren Hochschulen erklären. ... Im großen und ganzen müssen wir feststellen, daß die Grundlagen für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem europäischen Osten auf sprachlichem und kulturellem Gebiet — der Voraussetzung jeder weitergehenden Forschungstätigkeit — absolut ungenügend sind. Das ist um so bedauerlicher, als die Schweiz gerade wegen ihrer Unvoreingenommenheit und des Fehlens von historisch begründeten Ressentiments den slawischen und osteuropäischen Völkern gegenüber auf diesem Gebiet Wesentliches leisten könnte."
Die Slawistik ist zur Zeit mit Lehrstühlen oder Dozenturen an den Universitäten Basel, Bern, Zürich, Genf. Lausanne und Fribourg vertreten; genannt seien die Namen der Professoren Elsa Mahler, Michel Aucouturier, Peter Brang und des Dozenten Dr. Rudolf Bächtold In Lausanne wird die Slawistik in Personal-union mit der Indogermanistik von Prof. Constantin Regamey betreut, der auch einen Lehrauftrag an der Universität Fribourg innehat. Die Universität Fribourg verfügt in der Person von Prof. Alphonse Bronarski über einen ausgezeichneten Polonisten, wähnend an der Zürcher Universität Dr. Kita Tschcnkeli, der zu den höchst seltenen Kaukasus-Spezialisten zählt, als Lehrbeauftragter für Kaukasus-Sprachen sowie als Russisch-Lektor wirkt
Noch schlechter ist es um die Beschäftigung mit den nicht-slawischen Völkern Osteuropas bestellt. Die Baltistik findet nur an den Universitäten Bern und Neuenburg Berücksichtigung, da Prof. Redard, Ordinarius für Indogermanistik und alte Sprachen an der Universität Bern, dieses Gebiet an beiden Hochschulen in seinen Arbeitsbereich einbezogen hat. Eine erfreuliche Vorarbeit hat die „Schweizerisch-Finnische Gesellschaft“ geleistet, indem sie die Errichtung einer Abteilung „Finnica" in der Zürcher Zentralbibliothek ermöglicht hat; dort werden systematisch die wichtigsten Neuerscheinungen aus finnischen Verlagen gesammelt, aber auch estnische und karelische Werke finden Unterkunft
Während die Slawistik in der Bundesrepublik und in Österreich
Die anderen Disziplinen der Osteuropa-Wissenschaft sind hingegen in der Schweiz gar nicht oder nur in geringem Maße vertreten. So gibt es an keiner schweizerischen Universität Lehrstühle und Seminare für osteuropäische Geschichte oder für Recht, Wirtschaft und Landes-kunde Osteuropas. Wichtige und weit über den schweizerischen Raum hinausreichende Arbeit leistet das Osteuropa-Institut an der Universität Fribourg, wohl das einzige Forschungszentrum in der westlichen Welt, das sich ausschließlich mit östlicher Philosophie befaßt; es verfügt in der Person seines Leiters, Prof. Joseph M. Bochenski, über eine einmalige Kapazität von Weltrang. An der Universität Zürich wird die russische Geistesgeschichte von Prof. Alexander von Schelting, die Wirtschaftsgeschichte Rußlands und der Sowjetunion von Prof. Halperin (Genf) in Vorlesungen und Übungen mitberücksichtigt.
Außerhalb des Hochschulbereiches befassen sich mehrere Institutionen mit Ostfragen, manche in stärkerem Maße, andere wiederum nur am Rande. Das gilt für das „Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales” in Genf, die „International Commission of Jurists“ (Genf), die Handelshochschule in St. Gallen und mehrere Institutionen der Vereinten Nationen (UNO) in Genf. — Das von Dr. Peter Sager geleitete „Schweizerische Ost-Institut“ in Bern verfügt zwar über die größte heute in der Schweiz bestehende Ost-Bibliothek; es betreibt jedoch relativ wenig Ostforschung im wissenschaftlichen Sinn. Das Schwergewicht seiner Arbeit liegt vornehmlich auf der Herausgabe von Zeitschriften und Korrespondenzblättern, deren Informationscharakter stärker ist als ihr wissenschaftlicher Gehalt.
Angesichts dieser Situation ist es nur verständlich, daß sich die schweizerische Presse zum Teil in starkem Maße mit Ostfragen beschäftigt. An erster Stelle muß dabei die „Neue Zürcher Zeitung” genannt werden, die über eine Reibe bekannter und auch außerhalb der Schweiz geachteter Ostspeziallsten verfügt — wie Dr. Ernst Kux, Dr. Victor Meier und Alexander Osadczuk-Korab. Weiterhin müssen Dr. Hans Fleig, außenpolitischer Redakteur der „Zürcher Woche” (früher: Redakteur der Zürcher Tageszeitung „Die Tat“), Dr. Curt Gasteyger, Richard Schwertfeger und Dr. Rudolf A. Heimann (Redakteur der „Schweizerischen Politischen Korrespondenz“) Erwähnung finden. Wichtige Beiträge aus dem Bereich der aktuellen Osteuropa-Wissenschaft sind in den vergangenen Jahren auch in den „Schweizer Monatsheften“ erschienen. — In der Schweiz herrscht ein ausgesprochener Mangel an Publikationsmöglichkeiten auf dem Gebiet der Osteuropa-Forschung; daher arbeitet eine Reihe schweizerischer Ost-wissenschaftler für deutsche und österreichische sowie französische Fachzeitschriften. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß vor allem die „Sowjetologie", die im Westen in den letzten anderthalb Jahrzehnten ständig aus-gebaut worden ist und philosophische, soziologische und historische Teilgebiete wie auch wirtschaftliche, soziale, politische, psychologische und rechtliche Elemente enthält, in der Schweiz kaum vertreten ist. Mit den soziologischen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in den Ländern hinter dem Eiser-nen Vorhang und dem Phänomen des Sowjet-kommunismus in seinen vielfältigen und sich immer wandelnden Aspekten befaßt sich die schweizerische Osteuropa-Wissenschaft fast gar nicht
A. Die Osteuropa-Forschung im Bereich der schweizerischen Hochschulen
I. Lehrstühle an den Universitäten 1. Basel: Dr. phil. Elsa Mahlet, a. o. Prof.;
Dr. phil. Rudolf Bächtold, Priv. -Doz. 2. Bern
4. Zürich10): Dr. phil. Peter Brang, Extra-Ord.;
Dr. phil. Kita Tschenkeli, Lehrauftrag (für Kaukasus-Sprachen und Russisch). 5. Fribourg
II. Seminare und Institute an den Universitäten 1. Slawische Seminare a) Universität Basel Das Slawische Seminar an der Universität Basel war anfangs eine Unterabteilung des Seminars für Indogermanische Sprachwissenschaft, in dessen Rahmen es von Elsa Mahler begründet worden ist. Nach der im Jahre 1950 erfolgten Verselbständigung lautete sein Name „Russisches Seminar“; „Slawisches Seminar'heißt es erst seit 1953, nachdem Rudolf Bächtold im Herbst 1951 den ersten Grundstock nichtrussischer STavica gelegt hat.
Der Bestand der Bibliothek beträgt gegenwärtig ungefähr 5 000 Bände (500: Wörterbücher und Sprachwissenschaft; 500: Literatur-geschichte, 2 000: Ausgaben russischer Autoren, 1 500: russische Geschichte [einschließlich Memoiren-Literatur zur Revolutionsgeschichte], 500: nichtrussische Slawen). Zeitungen und Periodika werden gegenwärtig nicht laufend gehalten, da diese Aufgabe von der Universitätsbibliothek in Basel übernommen worden ist; von älteren Periodika sind jedoch ungefähr 300 Bände im Seminar vorhanden. Der Schwerpunkt der Seminar-Arbeit und der Bibliothek liegt eindeutig auf der russischen Literatur-geschichte, während der nicht-russische slawische Bereich sehr stiefmütterlich behandelt wird. Das Seminar wird von vier Personen ehrenamtlich verwaltet; die Oberleitung liegt in den Händen von Frau Prof. Elsa Makler, Prof. Dr. phil. et theol. Fritz Lieb und Dr. R. Bächtold. b) Universität Bern Der Bestand der von Dr. R. Bächtold und rer. poL Richard Schwertfeger ehrenamtlich geleiteten Bibliothek beläuft sich auf 1 250 Bände (sie gliedern sich in folgende Sachgebiete: 250 Sprachwissenschaft, 100 Literaturwissenschaft, 75 Geschichte, 300 russische Autoren, 150 polnische Autoren, 50 Tschechoslowaken, 100 Balkan-Slawen und 20 Sorben). Zeitschriften werden nur in geringem Maße berücksichtigt, da der Bücherkaufkredit kleiner ist als in Basel; bei den Neuanschaffungen wird vor allem Wert auf das Sprachwissenschaftliche gelegt (Wörterbücher). Die Bemühungen, das Slawische Seminar in Bem auszubauen, hatten bisher keinen Erfolg. — Die slawistische Bibliothek verfügt als einzige — mit Ausnahme von Genf — über die wesentlichsten Standardwerke. c) Universität Zürich Das mit Prof. Peter Brang besetzte Extra-Ordinariat für Slawistik an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich besteht seit April 1961. Zu diesem Zeitpunkt wurde auch ein Slawisches Seminar errichtet. Die Seminar-Bibliothek ist im schnellen Aufbau begriffen und umfaßt zur Zeit etwa 2 500 Bände. Sie verfügt bereits über eine Anzahl grundlegender Werke, die über den Bereich der Sprach-und Literaturwissenschaft hinausgehen. Bei der Seminar-Arbeit wird auch auf die Zentralbiblio-thek Zürich zurückgegriffen, in der sich eine Anzahl von wichtigen älteren und schwer beschaffbaren slawistischen Nachschlagewerken befindet. An der Universität Zürich wird auf eine möglichst gründliche linguistische Ausbildung der Slawistik-Studenten Wert gelegt, die sich vom Wintersemester 1961/62 an auch auf Polnisch und Serbo-kroatisch erstreckt. d) Universität Fribourg Die von Prof. Alphonse Bronarski geleitete Bibliothek des Slawischen Seminars verfügt über wertvolle Literatur-Bestände; sie besitzt vor allem ältere Publikationen aus Polen und eine reichhaltige Literatur, welche die tschechischen und serbo-kroatischen Bereiche betrifft. Die „Polonica-Sammlung" bildet die umfangreichste in der Schweiz. Prof. Bronarskis Seminar-Arbeit, die durch den Russisch-Unterricht Prof. Regameys ergänzt wird, bezieht sich vor allem auf das Studium der polnischen und tschechischen Sprache und Literatur
Das seit 1957 bestehende Osteuropa-Institut in Fribourg wurde am 5. Mai 1958 durch eine Verordnung des Staatsrates des Kantons Fribourg als Universitäts-Institut anerkannt und der Philosophischen Fakultät der Alma Mater Fribourgensis zugeordnet. In der Sitzung der Philosophischen Fakultät vom 7. Juni 1958 wurde das Direktorium bestimmt: als Vorsitzender sowie als leitender Geschäftsträger Prof. Dr. Joseph M. Bochenski O. P„ als Beisitzer die Professoren Constantin und F. Regantey Breun; die Beisitzer werden jeweils für drei Jahre gewählt und von der Fakultät ernannt
Die Arbeit des Instituts gliedert sich in zwei Sektionen.
Sektion A: Forschungen auf dem Gebiet der osteuropäischen und kommunistischen Ideologie;
Sektion B: Forschungen auf dem Gebiet kirchlicher Angelegenheiten.
Die Forschungsarbeit konzentriert sich vor allem auf das Studium der neueren Entwicklung (seit 1945) der Ideologie und Institutionen der ost-und südosteuropäischen Länder, mit besonderer Berücksichtigung der Philosophie. Das Institut hat zur Zeit 14 selbständige Mitarbeiter und erblickt seine Hauptaufgabe darin, den in den genannten Gebieten spezialisierten Wissenschaftlern seine hochwertige Bibliothek zur Verfügung zu stellen, die Mitarbeiter bei der Ausarbeitung und Publikation entsprechender Monographien zu unterstützen sowie die Forschungsarbeit seiner Mitglieder zu planen und zu koordinieren. Das Institut organisiert und leitet außerdem die sowjetwissenschaftlichen Lehrgänge an der Universität Fribourg.
Die Bibliothek umfaßt gegenwärtig etwa 2 OOO Titel, worunter sich 50 Zeitschriften, vornehmlich aus dem Bereich der sowjetischen Philosophie, befinden. Bei seiner Gründung übernahm das Institut die Archive des ADOK (Erzbischöfliches Dokumentationszentrum für die Angelegenheiten der katholischen Kirche in Polen), das schon seit Jahren alle erreichbaren und sonst nur schwer zugänglichen Dokumente über das Schicksal der katholischen Kirche in Polen sammelt. Das Archiv des ADOK hatte bereits bis zum Juni 1958 fast 50 Arbeiten, meist in polnischer Sprache, vorgelegt; die Arbeiten werden meist hektographiert oder im Selbstverlag gedruckt
Die Zusammenarbeit mit anderen Ost-Institutionen in und außerhalb der Schweiz besteht im Austausch von Informationen und Schriften und in gemeinsamer Planung der Forschungsarbeit. Besonders rege ist die Zusammenarbeit mit dem Berner Ost-Institut, dem Osteuropa-Institut an der Freien Universität Berlin und dem Internationalen Sozialarchiv in Amsterdam. Ein Ausbau der Forschungsarbeit ist auf dem Gebiet der Philosophie, jedoch nicht in der Abteilung für religiöse Fragen, für die nächste Zeit geplant.
Die Arbeit des Osteuropa-Instituts in Fribourg findet über den schweizerischen Raum hinaus seit Jahren starke Beachtung. Es gibt auch in den angelsächsischen Ländern kaum ein Institut, das sich in so starkem Maße mit den Fragen der sowjetischen Philosophie und Ideologie auseinandersetzt. Die starke Resonanz dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß das Institut in seiner Reihe „Bibliographie der sowjetischen Philosophie" die wichtigste philosophische Literatur der Sowjetunion für die Jahre 1947— 1959 übersichtlich zusammengestellt und damit der westlichen Forschung erstmalig eine umfassende Übersicht über mehr als 2000 einschlägige Arbeiten in der Sowjetunion gegeben hat. Die „Bibliographie“, die zur Zeit für die Jahre 1959/60 weitergeführt wird, bildet eine wertvolle Hilfe für jede ernsthafte Beschäftigung mit der sowjetischen Philosophie in der westlichen Welt, da es auf diesem Sektor weder in der UdSSR noch im Westen bisher einen solchen Überblick gegeben hat. Auf großes Interesse sind auch die anderen Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts, vor allem die Arbeiten der Professoren J. M. Bochenski, Nikolaus Lobkowicz und Siegfried Müller-Markus, gestoßen. b) Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales (an der Universität Genf)
Das von Prof. Jacques Freyntond geleitete Institut befaßt sich zwar nicht mit einer eigentlichen Ostforschung, veranstaltet jedoch fast regelmäßig Vorlesungen über Ostprobleme. In den während der letzten Jahre durchgeführten Vorlesungen und Seminaren wurden in erster Linie Fragen des Rechts und der politischen sowie ökonomischen Entwicklung der Sowjetunion behandelt. Das Institut selbst verfügt nicht über eigene Ostspezialisten, sondern lädt regelmäßig qualifizierte Wissenschaftler ein; sie wirken vornehmlich an amerikanischen Universitäten. Zu den Gastdozenten zählen die Professoren Vernon V. Aspaturian (Pennsylvania State University), Herbert S. Dinerstein (Rand Corporation, Washington), Leo Gruliow (Herausgeber des „Current Digest of the Soviet Press“), John Hazard und Charles McLane (beide von der Columbia University)
B. Osteuropa-Forschung außerhalb der Hochschulen
1. Schweizerisches Ost-Institut AG in Bern Das Schweizerische Ost-Institut ist eine Aktiengesellschaft, welche die Erforschung der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in den kommunistischen Ländern bezweckt. Es wurde im August 1959 gegründet und entstand aus der finanziellen und personellen Aufspaltung einer privaten Organisation, deren Anfänge in das Jahr 1945 zurückreichen. Dem Institut ist ein Beratender Ausschuß beigegeben, der mit weitgehenden Kompetenzen ausgestattet ist und dem 30 Mitglieder, unter ihnen Parlamentarier und Abgeordnete von sieben politischen Parteien, ferner Universitäts-Professoren, Redakteure mehrerer Zeitungen sowie weitere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der Schweiz angehören. Die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen in der Schweiz wird dadurch gesichert, daß der Direktor des Osteuropa-Instituts an der Universität Fribourg, Prof. J. M. Bochenski, Mitglied des Beratenden Ausschusses und daß das Schweizerische Ost-Institut im Koordinationsausschuß verwandter Organisationen vertreten ist
Das Institut ist keine rein akademische Forschungsinstitution und betreibt daher relativ wenig Ostforschung im wissenschaftlichen Sinne. Hauptziel seiner Arbeit ist vor allem eine in die Breite gehende Aufklärung auf Grund einwandfrei erarbeiteter und interpretierter Informationen aus den kommunistischen Ostblockstaaten. Der Arbeit liegt die Überzeugung zugrunde, „daß die freie Welt der kommunistischen Gefahr nur dann erfolgreich begegnen kann, wenn es ihr gelingt, die Entscheidung Demokratie oder Kommunismus an jeden einzelnen Bürger heranzutragen" (P. Sager).
Das Institut beschäftigt insgesamt
Das Schweizerische Ost-Institut kann wegen seiner stark im Vordergrund stehenden politischen Aufklärungsarbeit nur begrenzt als Instrument der schweizerischen Ostforschung gelten. Das geht auch daraus hervor, daß die Forschungs-und Publikations-Tätigkeit in Zukunft auf Afrika und Asien, Lateinamerika und die Entwicklungsländer ausgedehnt werden soll.
Räumlich, finanziell und personell geschieden vom Schweizerischen Ost-Institut ist die Stiftung Schweizerische Osteuropa-Bibliothek. In der Stiftungsurkunde heißt es: „Die Stiftung bezweckt den Ankauf sowie die Weiterführung mindestens im bisherigen Rahmen der durch Dr. Peter Sager in Bern gegründeten Osteuropa-Bibliothek, durch die die theoretischen Grundlagen des Kommunismus und seine praktischen Auswirkungen im bestehenden und angestrebten Herrschaftsbereich der Sowjetunion auf Grund der einschlägigen Literatur dargestellt werden sollen“. — Die von Dr. Peter Sager geleitete Bibliothek dürfte mit ihrem Bestand von 22000 Bänden alle anderen schweizerischen Ost-Bibliotheken übertreffen. Sie bezieht über 600 Periodika (davon 180 aus der Sowjetunion) und verfügt über ein Mikrofilm-Archiv von rund 30 000 Aufnahmen. Das Zeitungs-Archiv mit etwa 70 000 Ausschnitten ist in den Besitz des Instituts übergegangen. Die in mühsamer mehrjähriger Arbeit von Dr. Sager zusammengetragene Osteuropa-Bibliothek wird allgemein als äußerst bedeutend anerkannt; leider weist sie aber einige grundsätzliche Mängel auf, die ihren Wert herabmindern. Unangenehm bemerkbar macht sich das Fehlen von Standardwerken aus den Volksdemokratien, die erst seit 1958 systematisch gesammelt werden. Als wissenschaftliches Arbeitsinstrument ist sie nur wenig brauchbar, da lediglich rund 15 % der Bestände katalogisiert sind
Die Bibliothek der Internationalen Juristen-Kommission verfügt über rund 2 000 Bände, die den Bereich der Ostrecht-Forschung betreffen; davon beziehen sich 75 °/o auf das sowjetische Recht (sowohl russisch als auch in westlichen Sprachen). Am stärksten vertreten ist die Literatur über das sowjetische Straf-und Zivil-recht; sie ist jedoch nicht vollständig und reicht nicht weiter als bis 1952/53 zurück. Die anderen Bestände verteilen sich auf die einzelnen kommunistischen Volksdemokratien (einschließlich der Chinesischen Volksrepublik); geführt werden auch die wichtigsten Rechts-Zeitschriften aus der Sowjetunion und Polen. 3. Handelshochschule St. Gallen An der Handelshochschule St. Gallen wird keine eigentliche Ostforschung betrieben. Die einzelnen Fachinstitute befassen sich nur am Rande mit den einschlägigen Fragen, ohne daß diese bisher irgendwie institutionalisiert worden sind. Vorlesungen über Ostprobleme hält regelmäßig Dr. Ernst Kux; sie sollen in absehbarer Zeit ausgebaut werden.
C. Quellen der Osteuropa-Forschung in der Schweiz
I. Bibliotheken Einen genauen überblick über alle Ost-Literatur-Bestände in der Schweiz zu vermitteln, ist nicht möglich, weil viele Bibliotheken
Eine wertvolle Grundlage für geisteswissenschaftliche Rußland-Studien bietet die „Russisch-slawische Bibliothek Lieb“ in Basel, die Prof. Fritz Lieb 1952 der Universitätsbibliothek Basel geschenkweise vermacht hat. Lieb, Verfasser von Büchern und zahlreichen Aufsätzen, Mitherausgeber der Fachzeitschriften „Der Orient“ (1928/29) und „Orient und Occident" (1928— 1934 und 1936), hat mit dem Aufbau seiner Privatbibliothek, die heute einen Bestand von nahezu 12000 Bänden aufweist, im Jahre 1920 begonnen. Die Bibliothek enthält u. a.: Bibliographien (allgemeine und besondere über Theologie, Philosophie, Literatur und Literaturgeschichte, Enzyklopädien); Abteilungen: Bibelwissenschaften (alt-und neutestamentliche Theologie), Patristik und Byzanistik; Russische Geschichte bis zur Oktoberrevolution von 1917; Allgemeine Werke über Rußland: Kultur und Geistesgeschichte, russische Philo-
Sophie (Religions-und Geschichtsphilosophie); Russische Belletristik und Literaturgeschichte; Memoiren allgemeiner Bedeutung. Die größte Abteilung der Bibliothek Lieb besitzt Allgemeines über die russische Kirche und Kirchengeschichte und zur systematischen Theologie sowie Biographien. Was den sprachwissenschaftlichen Bet eich betrifft, so verfügt die Sammlung über Wörterbücher, Grammatiken und Sprach-geschichtliches aus dem Gebiet aller wichtigen slawischen Sprachen. Wertvolle Bestände sind auch über die Balkanvölker (Geschichte, Geistesleben, Literatur) vorhanden. Abgerundet wird die Bibliothek durch Zeitschriften-und Handschriften-Sammlungen. — In der Bibliothek fehlt vor allem die während des zweiten Weltkrieges erschienene russische Literatur; seit 1952 wurde nahezu ausschließlich Literatur aus der Sowjetunion auf den von Prof. Lieb gepflegten Gebieten angeschafft
Schließlich ist noch hinzuweisen auf die Ost-Literatur-Bestände der UNO-Bibliothek in Genf. Ihre genaue Zahl läßt sich nicht feststellen, weil die einzelnen Titel nicht gesondert katalogisiert sind. Die UNO-Bibliothek, Nachfolgerin der alten Völkerbunds-Bibliothek, verfügt über gute Bestände auf den Gebieten Recht, Politik, Wirtschaft und Sozialwissenschaften der osteuropäischen Länder, während Literatur aus anderen Sachgebieten gar nicht oder nur in geringem Umfang anzutreffen ist. Auch führt die Bibliothek die wichtigsten osteuropäischen und vor allem sowjetischen Zeitschriften sowie die Gesetzblätter der einzelnen Ostblockstaaten. Gute Ost-Bestände besitzen einzelne UNO-Organisationen — wie das Internationale Arbeitsamt und die Weltgesundheitsorganisation auf ihren Sachgebieten
IL Veröffentlichungen 1. Instituts-Publikationen a) Osteuropa-Institut an der Universität Fribourg Reihe „Veröffentlichungen
J. M. Bochenski: Die dogmatischen Grundlagen der sowjetischen Philosophie — Zusammenfassung der „Osnovy Marksistskoj Filosofii“ (mit Register, Stand 1958), 1959.
N. Lobkowicz: Das Widerspruchsprinzip in der neueren sowjetischen Philosophie (Die Moskauer Tagung zur Frage der dialektischen Widersprüche 21. bis 26. April 1958), 1960.
In Vorbereitung:
Studies in Soviet Thought — Part L Herausgegeben von J. M. Bochenski und Tb. J. Blakeley.
L. Vrtai: Einführung in den jugoslawischen Marxismus-Leninismus (Organisation, Bibliographie).
Reihe „Abhandlungen“:
Siegfried Müller-Markus: Einstein und die Sowjetphilosophie — Krisis einer Lehre. Band I: Die Grundlagen — Die spezielle Relativitätstheorie, 1960.
In Vorbereitung Band II: Allgemeine Relativitätstheorie. Th. J. Blakeley: Soviet Scholasticism. 1961.
N. Lobkowicz: Marxismus-Leninismus in der CSR. 1961.
Z. Jordan: Philosophy and Ideology — The Development of Philosophy and Marxism-Leninism in Poland since the Second World War. 1961.
In Vorbereitung:
J. M. Bochenski: Soviet Logic.
J. Planty-Bonjour: Etudes d’ontologie sovitique. Alle genannten Veröffentlichungen sind bei der D. Reidel Publishing Company, Dordrecht, Holland, erschienen. b) Schweizerisches Ost-Institut (Bern)
Reihe „Materialien":
Otto Palffy: L’Education en Union sovietique. Essai bibliographique. 1960.
Reihe „Dokumente":
Curt Gasteyger: Die feindlichen Brüder — Jugoslawiens neuer Konflikt mit dem kommunistischen Block. 1960. 2. Einzelveröffentlichungen Rudolf Bächtold: Karamzins Weg zur Geschichte. Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft. Hrsg, von E. Bonjour, W. Kaegi, F. Stähelin. Band 23. Basel, 1946.
Ders.: Sowjetrußland im Spätmittelalter (Territoriale, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse). Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Band 38. Basel, 1951.
Iwan Andrejewitsch Krylow: Sämtliche Fabeln. Deutsch von R. Bächtold. Zürich, 1960.
Joseph M. Bochenski: Der sowjetrussische dialektische Materialismus (DIAMAT). 3., umgearbeitete Auflage. Bern/München, 1960.
Handbuch des Weltkommunismus. In Zusammenarbeit mit zahlreichen Gelehrten herausgegeben von J. M. Bochenski und Gerhart Niemeyer. Freiburg/Br., 1958.
Peter Brang: Pukin und Krjukow. Zur Entstehungsgesdhichte der „Kapitanskaja doka". Berlin. 1957.
Ders.: Studien zu Theorie und Praxis der russischen Erzählung 1770— 1811. Wiesbaden, 1960.
Jacques Freymond: Lenine et l'imperialisme. Lausanne, 1951.
Valentin Gitermann: Die historische Tragik der sozialistischen Idee. Zürich/Oprecht, 1939.
Ders.: Geschichte Rußlands. Büchergilde Gutenberg, drei Bände, Zürich, 1944— 1949.
Ders.: Die russische Revolution (Sonderdruck aus Propyläen-Weltgeschichte), Berlin, 1960.
Ernst Halperin: Der siegreiche Ketzer — Titos Kampf gegen Stalin. Köln, 1957.
Fritz Lieb: Rußland unterwegs — Der russische Mensch zwischen Christentum und Kommunismus. Bern, 1945.
Ders.: Wir Christen und der Kommunismus. München, 1952.
Elsa Mahler: Altrussische Volkslieder aus dem Pecoryland (mit Notenteil, Tafeln). Basel, 1951.
Dies.: Die russischen dörflichen Hochzeitsbräuche (Notenbeispiele). Wiesbaden, 1960. Band 20 der Veröffentlichungen der Abteilung für Slavische Sprachen und Literaturen des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin.
Alexander von Schelting: Rußland und Europa im russischen Geschichtsdenken. Bern, 1948.
Kita Tschenkeli: Einführung in die georgische Sprache. Band I: Theoretischer Teil; Band II: Praktischer Teil. Zürich, 1958.
Ders.: Georgisch-deutsches Wörterbuch. Zürich, 1960 ff.