Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber der . Schweizerischen Monats-hefte* (Dez. 1961).
Es scheint so rasch nicht mehr still werden zu wollen um das „Dach der Welt“, jenes zwischen den schwer übersteigbaren Gebirgszügen des Himalaja und des Kwen-Lun sich erstreckende, höchstgelegene Land der Erde, seitdem sich die Volksrepublik China 1951 den Priesterstaat Tibet einverleibt hat. Zwar könnte man einwenden, sehr laut sei es noch nie hergegangen um dieses rauhe, von Natur unwirtliche und überdies äußerst dünn besiedelte Land. Nicht nur wegen seiner geographischen Abgeschlossenheit ist es dem Blick von außen weitgehend entzogen, auch seine Menschen sind, obschon von gewinnender Höflichkeit und Gastlichkeit, dennoch von wenig mitteilsamer Art. Sie drängen sich nicht auf und zeigen ihrerseits auch wenig Neigung, sich von außen etwas aufzwingen zu lassen: zum Beispiel den Kommunismus. Seit 1951 gehört Tibet als „autonomes“ Teilgebiet zur kommunistischen Volksrepublik China. Als Peking den Tibetern diesen Status im Vertrag vom 23. Mai 1951 aufzwang, feierten die chinesichen Kommunisten die Annektion Tibets als „Rückkehr in die große Völkerfamilie der chinesischen Volksrepublik“. Die Tibeter, die soeben den starken Divisionen Mao Tse-tungs unterlegen waren, mußten schweigen. Insgeheim sahen sie die Dinge jedoch wesentlich anders. Und dies aus historischen und anderen Gründen.
Der Priesterstaat
Das etwa 1, 2 Millionen Quadratkilometer große Land grenzt im Norden und Osten an die chinesischen Provinzen Sinkiang, Tschinghai und Sikang, im Süden und Westen in der Hauptsache an Nepal und Indien. Dementsprechend wurde seine Geschichte über ein Jahrtausend lang vorwiegend von den Beziehungen zu diesen drei Ländern geprägt. Obgleich als Mongolen rasse-mäßig den Chinesen näher verwandt, neigten die Tibeter mit ihren Sympathien dennoch mehr zu ihren südlichen, insbesondere zu den indischen Nachbarn, von denen sie kurz vor der Mitte des 7. Jahrhunderts n. Chr.den Buddhismus übernahmen, den sie mit ihrem eigenen Schamanenglauben vermischten und zum Lamaismus entwickelten. Letzterer erlangte alsbald nicht nur die Stellung einer Staatsreligion, er bestimmte auch die Staatsform des Landes, die sich mindestens seit dem 15. Jahrhundert nahezu unverändert als Priesterstaat mit zwei annähernd gleichberechtigten Oberhäuptern, dem Pantschen-Lama oder Taschi-Lama, der seinen Sitz normalerweise im Bergkloster Taschi-Lumpo hatte, und dem politisch meist beteutenderen, im Kloster Potala in Lhasa residierenden Dalai-Lama, erhielt. Die Macht dieser Priesterherrschaft, die man auch als lamaistisches Doppelpapsttum bezeichnet hat, stützte sich in erster Linie auf die in etwa 5 OOO hausenden, sehr streitbaren Mönche, die sogenannten Lamas. Über die Bevölkerungszahl Tibets gab es zu keiner Zeit auch nur einigermaßen zuverlässige Unterlagen. Die Schätzungen wichen stets beträchtlich voneinander ab und bewegten sich zwischen einer halben Million und sechs Millionen. Wahrscheinlich liegt die richtige Zahl für den Zeitpunkt des chinesischen Einmarsches bei ungefähr zweieinhalb Millionen. Ebenso unsicher sind die Angaben über die Anzahl der Mönche, die von Kennern des Landes für die Zeit um 1950 herum noch mit mehr als 400 000 angegeben wurde. Vermutlich betrug sie jedoch nur etwa die Hälfte, so daß immerhin noch etwa jeder sechste Mann im Tibet Lama war. Etwa neun Zehntel aller Mönche waren „Gelugpas" oder Gelbmützen-Lamas und lebten ehelos. Dieser Umstand legt die Vermutung nahe, daß die gewaltigen Differenzen in den Angaben über die tibetische Bevölkerungszahl vielleicht durch einen zeitweisen, raschen Bevölkerungsschwund zu erklären seien. Trotz dieser und manch anderer nachteiliger Folgen und obwohl die Last der produktiven schweren Handarbeit auf dem nichtmönchischen Teil der männlichen Bevölkerung und auf den Frauen ruhte, ist der Lamaismus offenbar doch tief im Volk verwurzelt. Diese Tatsache ist möglicherweise weitgehend auf den demokratischen Charakter der lamaistischen Hierarchie zurückzuführen. In ihr gab es — obgleich die Mönche, aller Arbeit ledig, das Leben in vollen Zügen genießen konnten — im allgemeinen weder Güngstlingswirtschaft noch nennenswerten persönlichen Besitz. Den Aufstieg bestimmte allein die geistige Leistung.
Ungeachtet der geographischen Abgeschiedenheit des Landes verlief die Geschichte Tibets nichts weniger als friedlich und unbewegt. Etwa um 650 n. Chr. entstand ein tibetisches Großreich, das rasch erstarkte, so daß es um die Mitte des 8. Jahrhunderts das benachbarte chinesische Reich mit Krieg überziehen und im Jahre 763 sogar dessen Hauptstadt plündern konnte. Nur wenige Jahrzehnte später setzte allerdings schon der Niedergang ein, und bereits Ende des 9. Jahrhunderts konnte von einem Großreich keine Rede mehr sein. DerTibet verharrte von nun an in der Abgeschiedenheit seiner natürlichen Grenzen und entwickelte vom 13. Jahrhundert an die klassischen Formen seiner lamaistischen Hierarchie. Im 18. Jahrhundert fielen die Chinesen ein und errichteten, tausend Jahre nach ihrer eigenen, nie vergessenen Niederlage ein chinesisches Protektorat über das Land. Es folgte ein Jahrhundert der völligen Abriegelung gegen alle Einflüsse aus Indien und Europa. Erst mit der Konferenz von Simla im Jahre 1904 gelang es England, politischen und wirtschaftlichen Einfluß auf den Tibet zu erringen, was den Dalai-Lama zur Flucht nach China bewog. Als England jedoch 1907 im Petersburger Vertrag auf diesen Einfluß wieder verzichtete und China wieder vordrang, flüchtete der inzwischen längst wieder heimgekehrte Dalai-Lama diesmal vor den Chinesen nach Indien. Der Sturz der Mandschu-Dynastie im Jahre 1912 brachte Tibet wieder die Freiheit; es benutzte die Wirren der chinesischen Revolution, um sich von China zu trennen. Spätere chinesische Wiedereroberungsr.. suche wurden blutig abgewiesen, und der Tibet, der trotz der Bedürfnislosigkeit seiner Bewohner doch in einem gewissen Umfang auf einen bescheidenen Außenhandel angewiesen war, wandte sich nun wieder mehr dem ihm geistig näher-stehenden Indien zu, mit dem er eine 2 700 Kilometer lange gemeinsame Grenze hatte, und seinem südlichen Nachbarn Nepal, demgegenüber er auf Grund eines Vertrages aus dem Jahre 1856 ohnedies gewisse politische und wirtschaftliche Verpflichtungen hatte.
Mao Tse-tung ante portas
Die nun einsetzende Periode äußerer Ruhe dauerte nur bis 1949. Kaum hatte nämlich Mao Tse-tung in China gesiegt, kündigte er bereits einen „Marsch auf Lhasa“ an. Auch um einen „moralischen“ Vorwand war der chinesische Kommunistenführer nicht verlegen. Seit dreißig Jahren hatte sich der mit dem Dalai-Lama im Streit liegende Pantschen-Lama fast ununterbrochen im chinesischen Exil befunden, und dieser Zustand hatte sich nicht geändert, obwohl in der personalen Besetzung dieser beiden hierarchischen Spitzen inzwischen ein Wechsel eingetreten war. Diesen Zwist benutzten nun die „Baltschebuks“, wie die chinesischen Kommunisten von den Tibetern genannt werden, um unter dem Vorwand, die beiden Oberlamas wieder auszusöhnen, ihre Hand erneut nach Tibet auszustrecken. Entgegen anders lautenden rotchinesichen und sowjetischen Darstellungen nahmen die Tibeter die chinesische Invasionsdrohung durchaus nicht etwa in ruhiger Gelassenheit hin. So berichtete zum Beispiel der junge französische Tibetforscher Amaury de Riencourt: „Der ganze Apparat lamaistischer Gebete wurde zur Abwehr gegen die kommunistische Lawine in Bewegung gesetzt. Hunderte von . Lebenden Buddhas" versammelten sich in Lhasa, um ihre geistige Offensive vorzubereiten, während Send-linge ganz Tibet und das westliche China durchstreiften, um die Lamasereien zu alarmieren und in Verteidigungszustand zu versetzen.“
Der „ Marsch auf Lhasa"
Sein weiteres Schicksal war nun nicht mehr aufzuhalten. Es begann mit rotchinesischen Truppenkonzentrationen an der chinesisch-tibetischen Grenze im Sommer 1950. Zwar verzögerte sich die Invasion dann noch um einige Monate, da im August schwere Erdbeben die nach Tibet führenden Straßen unpassierbar machten; aber im November marschierten Mao Tse-tungs Truppen, von der Bevölkerung angeblich freudig begrüßt, über die Grenze und besetzten am 9. November 1950 Lhasa. Während der Dalai-Lama vorübergehend wieder einmal nach Indien floh, setzten die Chinesen den vorsorglich mitgebrachten Pantschen-Lama wieder in seine Rechte ein.
Um es gleich vorwegzunehmen: die Chinesen benahmen sich im Tibet während der ersten Jahre weit diplomatischer und ganz gewiß auch weniger barbarisch als 1945 die Sowjets in den von ihnen „befreiten" osteuropäischen Ländern, und dies sicherlich nicht etwa aus wirtschaftlichem Interesse an dem kahlen Land, das außer etwas Wolle, Obst und Salz kaum mehr hervorzubringen vermag, als für die Ernährung seiner bitter armen Bevölkerung unbedingt benötigt wird. Am 23. Mai 1951 diktierten sie in Peking den neuerdings Annektierten einen aus 17 Artikeln bestehenden Vertrag, der dem Lande zwar Gebietsautonomie, aber „unter Leitung der Zentralen Volksregierung“, das heißt also Pekings, zugestand. Im übrigen gingen die chineschischen Kommunisten zunächst äußerst behutsam vor. Sie tasteten in den ersten Monaten weder die innere Staatsform noch die Lama-Klöster an und überließen es wenigstens auf dem Papier den Tibetern selbst, ob und in welchem Umfang sie ihr Land nach dem Vorbild des kommunistischen Chinas umgestalten würden. Eine Ausnahme unter ihren innenpolitischen Bedingungen stellte lediglich die Forderung dar, der inzwischen aus Indien wieder zurückgekehrte Dalai-Lama solle mit dem Pantschen-Lama gemeinsam regieren. Diese scheinbar harmlose Bedingung hatte jedoch einen sehr triftigen Grund, denn der Pantschen-Lama war inzwizwischen in seinem chinesischen Exil längst zu einem zuverlässigen Bewunderer Mao Tse-tungs und des Kommunismus herangeschult worden. Die Außenpolitik und die militärische Verteidigung des Landes allerdings erklärten sie zur Angelegenheit der Volksrepublik China und gliederten dementsprechend die kleine tibetische Armee ihrer eigenen ein.
Damit schien der rote Friede endgültig in Tibet eingekehrt, und man vernahm fortan außer zensierten offiziellen Verlautbarungen nur mehr wenig über die Vorgänge und Veränderungen im Innern des Landes. Ganz so friedlich, wie die Kommunisten es darzustellen beliebten, verlief die Bolschewisierung des Landes in Wirklichkeit jedoch keineswegs. Vor allem fanden sich die Lamas nur sehr zögernd zu einer Zusammenarbeit mit den kommunistischen Eindringlingen bereit. So weigerten sich beispielsweise die streitbaren Mönche der drei bedeutendsten Klöster in Sera, Drepung und Ganden zu verraten, wo ihre Waffen-und Munitionslager waren
Gleichschaltung mit „friedlichen" Mitteln
Immerhin durften sich die Tibeter zunächst noch als Nutznießer der strategischen Bedeutung ihres Landes betrachten, und Peking verstand es in der nüchternen Erwägung, daß es gefährlich sei, ein so wichtiges Grenzgebiet von Unzufriedenen bewohnt zu wissen, anfänglich recht gut, sich hier sogar einige Freunde zu erwerben. Allerdings stand hinter seinen scheinbaren Wohltaten auch immer ein Nutzen, und wenn Mao Tse-tungs Soldaten durch die Salzwüsten, Steppen und unwegsamen Gebirgszügen Straßen bauten und Brüchen über die reißenden Flüsse des Landes schlugen, dann nahmen dies die tibetischen Nomaden und wohl auch manche der im Lande herumziehenden Lamas mit Dankbarkeit zur Kenntnis. Mao Tse-tung aber dachte dabei zweifellos an seine Panzer, die über diese Straßen und Brücken vielleicht einmal nach Süden rollen würden. Er wußte auch recht wohl, weshalb er überall im Lande Schulen baute und die Jugend des Tibets nicht nur in den Künsten les Lesens, Schreibens und Rechnens unterrichteten, sondern sie auch in die Geheimnisse der Verwaltung und Wirtschaftslenkung einführen ließ, die bis dahin ausschließlich den Lamas vorbehalten waren. Diese Jugend sollte nämlich in einigen Jahren von sich aus die politischen Garantien des Vertrages von 1951 liquidieren und die Regierung des Landes den Händen der Lamas entreißen. Mit besonderem Mißtrauen betrachteten die Chinesen von Anfang an Tibets Haltung gegenüber Indien, insbesondere gegenüber den beiden benachbarten indischen Staaten Uttar-Pradesch und Westbengalen, mit deren Bewohnern die Tibeter außer Handelsbeziehungen auch stammesmäßige, religiöse, kulturelle und sprachliche Gemeinsamkeiten verbinden. Die Chinesen waren klug genug, diese Beziehungen nicht sofort und brutal zu unterbinden. Allerdings gaben sie gleich nach der Besetzung des Landes zu verstehen, daß sie die tibetischen Handelsbeziehungen mit Indien bis zum Ende des Jahres 1953 erloschen zu sehen wünschten. Als dieser Zeitpunkt gekommen war, erwiesen sich diesbezügliche rotchinesische Verbote oder Verordnungen als gar nicht mehr erforderlich. Man hatte nämlich auf chinesischer Seite die Zeit nicht ungenützt verstreichen lassen und den tibetisch-indischen Handel mit anderen, sozusagen „friedlichen“ Mitteln bereits zum Erliegen gebracht. Indien hatte bis dahin hauptsächlich Getreide und Textilien nach Tibet geliefert und dafür Wolle und Salz gekauft. Inzwischen hatten die Chinesen die Belieferung des Tibets mit Getreide und Stoffen übernommen, wofür sie den Tibetern deren Hauptexportgut, die Wolle, zu Preisen abnahmen, die Indien nie hätte bezahlen können. Für 50 Kilogramm weißer tibetischer Wolle, wofür die indischen Händler bis zur chinesischen Invasion noch 70 bis allenfalls 100 Kilogramm Getreide gegeben hatten, bezahlten die Chinesen nun mit bis zu 320 Kilogramm Getreide. Ähnlich sah es bald auch mit dem Absatz der wenigen sonstigen Produkte des Landes aus, wie Salz und Obst, die von einer eigens zu diesem Zweck in Lhasa errichteten Zweigstelle der Chinesischen Nationalbank nun zu Preisen aufgekauft wurden, die in jedem Falle höher lagen, als die bis dahin von indischen Händler bezahlten. Den Import aus Indien hingegen lösten staatliche chinesische Handels-gesellschaften ab, die das Land mit allem Notwendigen billiger versorgten, als dies den früheren Importeuren aus Indien vorher möglich gewesen war.
Soweit schienen sich die chinesischen Pläne zur Gleichschaltung des Tibets fürs erste zur vollen Zufriedenheit Pekings anzulassen, und da über die wirklichen Verhältnisse im Lande immer weniger zuverlässige, unzensierte Nachrichten in die Außenwelt drangen, bildete sich allmählich auch im Westen die Überzeugung, die Tibeter hätten keinen schlechten Tausch gemacht. So schrieb zum Beispiel die in Kairo erscheinende, sonst in der Regel gut informierte „Deutsche Orient-Zeitung“: „Es ist anscheinend nicht allzu schwer gewesen, die Tibetaner einzufangen, und, wenn man Peking glauben darf, wurden schon Solidaritätskundgebungen für China veranstaltet, die teilweise von zwanzigtausend Lamas besucht worden sein sollen"
Zäher Widerstand unter Führung der Lamas
Die Vorstellungen eines angeblichen Friedens-Idylls auf dem „Dach der Welt" wurden denn auch empfindlich gestört durch die sich häufenden Nachrichten über blutige Aufstände der Lamas und einiger osttibetischer Stämme gegen die chinesischen Besatzungstruppen. Dadurch drohte auch das Vertrauen in die Aufrichtigkeit chinescher „Koexistenz“ -Versicherungen gestört zu werden, und so sah sich Anfang August 1956 Liu Ke-ping, der Vorsitzende des Nationalitäten-Ausschusses des chinesischen Volkskongresses, veranlaßt, in einem Interview mit der Zeitung der italienischen KP, „L'Unitä", alle diese Meldungen zu dementieren. Immerhin kam auch Liu Ke-ping nicht um das Eingeständnis herum, „daß in der chinesischen Provinz Szetschuan, die an Tibet grenzt, Ende Februar von . nationalchinesischen Agenten und einigen feudalen Landherren kleinere Revolten'angezettelt worden seien, die sich . gegen die Einführung der einfachsten Reformen in diesen sozial rückständigen Gebieten richteten'... Im Tibet habe es niemals eine Rebellion gegeben . . . Da die kommunistische Verwaltung die Freiheit der Religion im Tibet respektiert habe, habe , die lamaistische Kirche'keine Ursache gehabt, an einem Aufstand teilzunehmen und habe es auch tatsächlich nicht getan“
Am Pekinger Dementi mag ein Punkt der Wahrheit allerdings annähernd entsprochen haben, nämlich die Feststellung, die „lamaistische Kirche Tibets" habe an einem Aufstand nicht teilgenommen, sofern man diese Kirche nämlich mit den Personen des Dalai-Lama und des Pantschen-Lama gleichsetzt, die damals beide noch im „zarten Jünglingsalter“ standen und von denen der letztere ja bereits während seines chinesischen Exils zum Anhänger des Maoismus erzogen worden war. Im übrigen aber war das Dementi nicht dazu angetan, die zahlreichen Augenzeugenberichte indischer Händler und geflüchteter Tibeter zu entkräften, die zum Beispiel in „Times of India“, „The Statesman" und anderen angesehenen indischen Zeitungen immer wieder auftauchten. Diesen weit glaubhafteren und detaillierten Berichten zufolge gab es im Tibet sogar sehr ausgedehnte und zeitweise erfolgreiche Aufstandsbewegungen vor allem im Nord-und Ost-Tibet, als deren hauptsächliche Träger unter anderen der osttibetische Golok-Stamm und die große Masse der Gelugpa-Lamas genannt wurden. Sie sollen den maoistischen Truppen teilweise sogar schwerste Verluste zugefügt haben. Mochte man auch manches an diesen Augenzeugenberichten für aufgebauscht oder phantasievoll ausgemalt halten, die Tatsache der Aufstände war jedenfalls nicht mehr zu bezweifeln. Wie auch immer sie verliefen und welches ihr Schicksal gewesen sein mag, Anlässe dafür boten die Verhältnisse im besetzten Tibet in Menge. Da waren zum Beispiel die chinesischen Versuche, die Bodenreform, die in China selbst schon so viel Blut gekostet hatte, nun auch auf Tibet zu übertragen, wodurch in erster Linie die Lamasereien betroffen wurden; da war ferner die von den Chinesen immer mehr angezogene Steuerschraube und die im Gegensatz zur ersten Besatzungszeit und zu den Garantien von 1951 immer mehr schwindende chinesische Zurückhaltung in Fragen der Religion, was alles zusammengenommen mit der Zeit reichlichen Explosivstoff gegeben hatte. Er sammelt sich vor allem in den Lamaklöstern und in den am meisten betroffenen osttibetischen Stämmen an.
Noch immer war nämlich der Einfluß der Lamas in der tibetischen Bevölkerung ungebrochen. Überall in Asien pflegt der Kommunismus mit dem Anspruch einer neuen Religion aufzutreten. 1950 und 1951 hatten die chinesischen Eindringlinge dies klugerweise noch für sich behalten. Bald aber fühlten sie sich stark genug, um solche Hemmungen allmählich fallen zu lassen. Es war daher begreiflich, daß die überwiegende Mehrzahl der Lamas, zumal die Gelugpas, erklärte Feinde des chinesischen Kommunismus wurden. Sie sahen durch ihn nicht nur ihre eigene beherrschende Stellung im Lande bedroht, sondern lehnten ihn vor allem auch als eine ihrer eigenen geradezu entgegengesetzte Weltanschauung aufs schärfste ab. Allen Berichten zufolge waren daher die Aufstände, wenn auch nicht ausschließlich, so doch vorwiegend solche der Lamas und trugen den doppelten Charakter eines nationalen Freiheitskampfes und eines erbitterten Religionskrieges. Mit ihrem endgültigen Erlöschen wird vor der völligen Ausrottung des Lamaismus wohl kaum zu rechnen sein.
Der Aufstand vom März 1959
Die blutigste und folgenschwerste aller bisherigen Erhebungen war zweifellos der Aufstand vom März 1959, der vorwiegend durch die Spannungen ausgelöst wurde, die sich im Laufe der Jahre im Verhältnis Peking zum Dalai-Lama ergeben hatten. Dieser war stets ein überzeugter Gegner des Kommunismus geblieben und hatte sich nur ungern und auf Anraten des indischen Ministerpräsidenten Nehru bis zu einem gewissen Grad den Umständen gefügt. Aber auch diese Nachgiebigkeit hatte ihre Grenzen, die sich zum Beispiel zeigten als Peking die Unterstützung Lhasas gegen aufrührerische tibetische Bergstämme forderte. Der Dalai-Lama hatte dies abgelehnt. Daraufhin versuchten die Chinesen mit allerlei fragwürdigen Mitteln den ihnen unbequemen jungen Mann unschädlich zu machen. So wurde berichtet, daß er im Februar des Jahres 1959 nur mit knapper Not einem Attentat entgangen sei, dessen zumindest intellektuelle chinesische Urheberschaft kaum anzuzweifeln sein mag. Als er schließlich im März 1959 die Aufforderung erhielt, ohne seine übliche Leibwache im chinesischen Militärhauptquartier zu erscheinen, war es um die Geduld der Tibeter, die wohl nicht zu Unrecht eine Verhaftung ihres obersten priesterlichen und politischen Führers befürchteten, geschehen, und der Aufstand brach los.
Dieser neue Aufstand breitete sich mit Windeseile aus und vereinigte seine Kräfte mit der bereits seit längerem im Gange befindlichen Widerstandsbewegung „Chu-Zhi-Kang-Druk“. Der Name dieser Bewegung bedeutet so viel wie „die vier Flüsse der sechs Berge" und drückte ein Programm aus, das besagte, daß gekämpft werden sollte, bis alle Teile Tibets, auch die schon länger zu China gehörenden Provinzen wie Szetschuan, Tsching-hai und Kan-su, in denen mehr als doppelt so viele Tibeter leben wie im Tibet selbst, wieder in Freiheit vereinigt seien — ein Programm, dem jedoch leider aller Wahrscheinlichkeit nach niemals Erfüllung beschieden sein wird. Nach anfänglichen beträchtlichen Erfolgen der Aufständischen siegten die modernen Waffen, die brutalere Kriegführung und die sonstige militärische Übermacht der Chinesen. Der Dalai-Lama floh nach Indien, wo er von Nehru offensichtlich nur höchst ungern und unter allerlei Bedingungen, zum Beispiel dem Verbot jeder politischen Tätigkeit, ausgenommen wurde. Mit ihm flohen viele Tausende seiner Landsleute. Dieser Flüchtlingsstrom ist, allen chinesischen Abriegelungsmaßnahmen zum Trotz, bis heute noch nicht ganz versiegt.
Peking antwortet mit Völkermord
Die Rache Pekings war furchtbar. Im September 1959 richtete der Dalai-Lama einen eindringlichen Appell an die Vereinten Nationen, worin er China der systematischen Ausrottung des tibetischen Volkes beschuldigte und ein sofortiges Eingreifen der Weltorganisation forderte. Der Appell blieb, wie nicht anders zu erwarten, ohne Erfolg. Die furchtbare Beschuldigung aber, die der Dalai-Lama gegen China erhoben hatte, war leider keineswegs übertrieben, wie sich in den darauffolgenden Jahren erweisen sollte. Peking hatte den Eindruck gewonnen, daß die Sympathien der Tibeter für China und den chinesischen Kommunismus mit friedlichen Mitteln offenbar nicht zu wecken seien. Es ließ daher die Maske fallen und beschloß, das tibetische Volk zu liquidieren. Dabei bediente es sich in der Hauptsache folgender Mittel: Die Hauptträger des antichinesischen und antikommunistsichen Widerstandes waren immer noch die buddhistischen Mönche. Gegen sie ergriff man denn auch die ersten Vergeltungsmaßnahmen. Die Lamaklöster wurden zum größten Teil zerstört, der Rest gesd. lossen. Die Mönche selbst, soweit sie nicht während des Aufstandes im Kampfe fielen oder hinterher ermordet worden waren, stechte man entweder in Konzentrationslager oder verurteilte sie zu Zwangsarbeit. In den Konzentrationslagern starben sie zu Tausenden an Hunger und Krankheiten; in den Zwangs-arbeitskolonnen gingen ebenso viele an den unmenschlichen Arbeits-und Lebensbedingungen zugrunde. Der übrigen Bevölkerung ging es nicht viel besser. Wer irgend der Teilnahme am Aufstand oder auch nur der Sympathie mit den Aufständischen verdächtig schien, wurde hingerichtet. Abertausende wurden — wie die Mönche — in Zwangsarbeitslager eingeliefert. In vielen Provinzen des Landes wurden Männer und Frauen der fortpflanzungsfähigen Jahrgänge systematisch sterilisiert, die Kinder nach China verschleppt oder chinesische Besatzungssoldaten zwangsweise mit tibetischen Frauen und Mädchen verheiratet. Daneben erfolgten immer wieder Massendeportationen von Tibetern ins Innere Chinas, während gleichzeitig Chinesen in in den Tibet umgesiedelt wurden.
Im Herbst 1959 berichtete Jigme Norbu, der Bruder des Dalai-Lama, daß Peking beabsichtige, im Laufe der nächsten Jahre zehn Millionen Chi-nesen im Tibet anzusiedeln. Man hielt seinerzeit diesen Bericht für ein Phantasieprodukt und beschäftigte sich weiter nicht mehr damit. Inzwischen aber wurde bekannt, daß schon knapp ein Jahr nach dem Aufstand vom März 1959 die Zahl der im Tibet zwangsangesiedelten Chinesen bereits fünf Millionen überschritten habe. Da die Siedlungsaktion weiterlief, dürften demnach von den in Norbus Bericht genannten zehn Millionen heute kaum mehr viel fehlen, während Tibeter im Tibet wohl bald nur noch schwer zu finden sein werden.
Blutige Bodenreform
Hand in Hand mit diesem von Peking planmäßig betriebenen Völkermord ging die ebenso planmäßige „Sozialisierung“ nach chinesischem Muster. Ihren Kern bildete eine Bodenreform, mit deren Durchführung man endgültig im Sommer 1959 begann, nachdem die Bodenreform-Versuche früherer Jahre größtenteils am hartnäckigen Widerstand der Bevölkerung gescheitert waren. Die chinesischen Behörden gingen dabei von einer Verfügung aus, derzufolge sämtlicher persönlicher Besitz an Geld, Boden und Viehbeständen aller vom am Aufstand März 1959 beteiligten Personen — und dies traf ja in irgendeiner Form auf den weitaus überwiegenden Teil der tibetischen Bevölkerung zu — beschlagnahmt und unter Landarme verteilt werden sollte. Gerade weil die Zahl der davon Betroffenen so groß war, kam dies praktisch einer Enteignung nahezu aller gleich. Man sah sich daher gezwungen, in der Praxis das Verfahren etwas abzuändern und hielt sich dann ziemlich getreu an jene Methode, mit der nach 1950 in China selbst eine ähnliche Bodenreform durchgeführt worden war. Kommissionen der Kommunistischen Partei zogen von Dorf zu Dorf und trieben die ganze Einwohnerschaft in eine öffentliche Versammlung. Vorher hatte man erkundet, welches die zwei oder größten Grundbesitzer des Dorfes waren. Diese Unglücklichen wurden dann von einem „Ankläger“ des Aufruhrs der antikommunistischen Hetze, der Ausbeutung und anderer, meist erfundener Verbrechen bezichtigt, von einem dazu aus dem Stegreif bestellten oder auch gleich mitgebrachten „Volksgericht" zum Tode verurteilt und sofort gehenkt. Offiziell wurde das Eigentum der Delinquenten dann zwar unter die Anwesenden aufgeteilt, in Wirklichkeit aber verwandelten sich die Dörfer alsbald in erzwungene Kollektivwirtschaften, und in Peking selbst wurden Pläne bekanntgegeben, die darauf hinausliefen, ganz Tibet in eine gewisse Anzahl von „Volkskommunen" aufzuteilen
Es gibt im Tibet keine eigene Kommunistische Partei. Eine solche würde von den Chinesen auch gar nicht geduldet werden, da sie Tibet ja nicht als einen souveränen Staat, sondern lediglich als chinesische Provinz betrachten. Innerhalb der chinesischen KP wurde jedoch eine tibetische Sektion gebildet, die den Namen „Komitee Tibetischer Werktätiger“ führt. Ihr Generalsekretär ist Chang Ching-wu, von dem nicht einwandfrei feststeht, ob er Tibeter ist oder Chinese. Wahrscheinlich aber ist er Chinese. Wenig bekannt ist auch über die Mitgliederzahl dieser tibetischen KP-Sektion, der im übrigen vorwiegend nach dem Tibet umgesiedelte Chinesen, aber nur sehr wenige Tibeter angehören. Doch auch diese wenigen tibetischen KP-Angehörigenstehen bei den Chinesen im Geruch der Unzuverlässigkeit, ja man verdächtigt sie insgeheim sogar der Konspiration mit den immer noch da und dort sich regenden Widerstandskräften und mißtraut ihnen aufs äußerste. Dieser Umstand macht den Chinesen schwer zu schaffen, da sie lieber mit tibetischen Quislingen zusammenarbeiten und unter Hinweis auf sie ihre verlogene Behauptung von einer „begeisterten Heimkehr des befreiten tibetischen Volkes in das chinesische Mutterreich“ unterstreichen würden. Eine Zeitlang schien es daher als habe Peking jede Hoffnung auf eine friedliche Zusammenarbeit aufgegeben und sich zur völligen Ausrottung des tibetischen Volkes entschlossen.
Inzwischen aber scheint man sich eines anderen besonnen zu haben. Seit dem Frühjahr 1961 häufen sich die Berichte, wonach Peking sein barbarisches Regiment im Tibet zu lockern beginnt. Sogar von einem geplanten Abzug chinesischer Truppen aus dem Tibet war bereits verschiedentlich gerüchteweise die Rede, und eine amtliche Stelle in Peking gab sogar eine Erklärung ab, der zu entnehmen war, daß „die Einführung des echten Sozialismus im Tibet um fünf Jahre verschoben wurde, da das Land dafür noch nicht reif ist“. Man wird aufmerksam und besorgt abwarten müssen, was die Chinesen im Laufe der kommenden fünf Jahre zu unternehmen gedenken, um diese fehlende „Reife“ in ihrer tibetischen Kolonie herbeizuführen. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:
Joseph M. Bochenski: „Sowjetologie"
R. Bogatsch: „Hitler und die Kriegführung im Mittelmeerraum"
Ludwig Dehio: „Deutschland und das Epochenjahr 1945"
Hans-Jürgen Eitner: „Mao Tse-tungs Kriegsphilosophie"
Romano Guardini: „Der Glaube in unserer Zeit"
Jens Hacker: „Osteuropa-Forschung in der Schweiz"
Hans Kohn: „Die Idee des Nationalismus"
Helmut Krausnick: „Unser Weg in die Katastrophe von 1945"
Frederic Lilge: „Makarenko“
Carl Günther Schweitzer: „Hat die Weltgeschichte einen Sinn?"
Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"
Egmont Zechlin: „Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche"
(IV. Teil)