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Der XXII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Eine Rückschau auf Probleme und Hintergründe | APuZ 3/1962 | bpb.de

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APuZ 3/1962 Der XXII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Eine Rückschau auf Probleme und Hintergründe China im Tibet

Der XXII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Eine Rückschau auf Probleme und Hintergründe

BORYS LEWYTZKYJ

Zwischen 17. und 31. Oktober 1961 fand im neu-erbauten Palast der Tagungen im Kreml in Anwesenheit von 4394 stimmberechtigten (gewählt waren 4408) und 405 beratenden Delegierten der XXII. Parteitag der KPdSU statt. Zugegen waren außerdem Delegationen 80 ausländischer kommunistischer Parteien (auf dem XXI. Parteitag 70, auf dem XX. 55). Ein politisches bedeutungsvolles Novum bildete die Gegenwart von Vertretern dreier politischer Organisationen Afrikas, die keinesfalls als kommunistisch zu bezeichnen sind — der Demokratischen Partei Guineas mit dem Vorsitzenden der Nationalversammlung der Republik, Sejfullaye Diallo, an der Spitze; der Sudanesischen Union unter Führung des Abgeordneten der Nationalversammlung der Republik Mali, Tideani Traore; der Convention Peoples Party der Republik Ghana unter ihrem Delegationsleiter Ebenezer Tsefas Quaye. Aus Gründen, die während des Kongresses zur Sprache kamen, fehlte die Delegation der kommunistischen Partei der Arbeit Albaniens. Der XXII. Parteitag war, wie die Auswertung der sowjetischen Dokumentation ergibt, eine sorgfältig vorbereitete Veranstaltung. Den Höhepunkt der Vorbereitungen bildeten die Parteitage in vierzehn Unionsrepubliken (die russische Föderation besitzt als einzige Republik keine eigene Parteiorganisation), die im September und in den ersten Oktobertagen stattfanden. Im voraus ist zu sagen, daß eine isolierte Betrachtung des XXII. Parteitages zu schwerwiegenden Mißverständnissen führen müßte. Alles spricht eindeutig dafür, daß im voraus eine genaueste Rollenverteilung zwischen den republikanischen Parteitagen, Parteikonferenzen in der Russischen SFSR und dem XXII. Parteitag selbst vorgenommen worden war. Erstgenannnte Veranstaltungen standen im Zeichen einer heftigen Kritik an den lokalen Mängeln in Industrie, Bauwesen und Landwirtschaft. Seit langem konnte man nicht mehr so viel interessante und bisher völlig unbekannte Angaben und Hinweise über den Stand der Erfüllung des Siebenjahresplanes und die Wirtschaftslage in der Sowjetunion überhaupt finden wie in der Dokumentation der vierzehn Parteitage. Ihre Funktion war es, nicht nur die Mißstände schonungslos aufzudecken, sondern auch erstmalig in der nachstalinistischen Geschichte des Landes so eindeutig und konkret mit dem Finger auf die Verantwortlichen zu weisen („moralisch zersetzte" Bürokraten alter Schule, Partei-und Staatsfunktionäre, die nicht fähig sind, sich auf den neuen Arbeitsstil umzustellen und durch Massenbetrug an Partei und Staat ihre privilegierte gesellschaftliche Stellung um jeden Preis zu halten trachten). Die Delegierten hatten also, bevor sie durch den machtvollen Ausbruch der antistalinistischen Welle auf dem XXII. Parteitag erschreckt wurden, bereits einen heftigen Schock hinter sich. Auf den Parteitagen und -konferenzen in den einzelnen Republiken wurde ihnen deutlich klargemacht, daß 1. die Landwirtschaft der UdSSR als Ganzes schon das dritte Jahr nicht mit den Kennziffern des Siebenjahresplanes Schritt zu halten vermag, daß besonders in der Viehwirtschaft haarsträubende Zustände herrschen (in Kasachstan verendeten z. B. allein zwischen Mai und Oktober 1961 779 000 Schafe!). 2. Im Bauwesen zeigte sich eine bedrohliche Situation, hauptsächlich weil die zuständigen Behörden aus Karrierestreben und Jagd nach Scheinerfolgen jedes Jahr die Hauptmittel in den Bau neuer Betriebe investieren — ohne Rücksicht, ob die früher begonnenen Objekte bereits fertiggestellt sind. Auf diese Weise kam es zu einer zu breiten Streuung der Investitionsmittel, Überlastung der Bauorganisationen und ähnlichen negativen Erscheinungen, so daß zahlreiche Projekte des Siebenjahresplanes nicht rechtzeitig vollendet werden können. 3. Auch in der Industrie hinken, trotz Erfüllung der Gesamtproduktionspläne, ganze Zweige hinter den Aufgaben des Siebenjahresplanes nach. Jeder Delegierte des XXII. Parteitages war also darüber ausgezeichnet informiert, und eine Rückkehr zu diesen Fragen erübrigte sich. Dem XXII. Parteitag war von der Parteizentrale die Lösung prinzipieller Probleme zugedacht, so die Annahme eines neuen Parteiprogramms, dessen Kernstück ein Zwanzigjahresplan bildet, und des neuen Parteistatuts.

1. Wider die „parteifeindliche Gruppe”

Abbildung 1

Der Kampf gegen die „parteifeindliche Gruppe", in deren Zeichen der XXII. Parteitag vornehmlich stand, kann nicht als Überraschung bezeichnet werden. Man darf nicht vergessen, daß N. S. Chruschtschow in seinem Rechenschaftsbericht den Zeitraum zwischen dem XX. Parteitag (1956) und dem jetzigen XXII. Parteitag zu behandeln hatte, da der XXL (1959) ein außerordentlicher Parteitag war. Zu den für die KPdSU wichtigsten Ereignissen innerhalb dieser Zeitspanne gehörte die politische Krise um das Juniplenum von 1957 und im Zusammenhang damit die Ausschaltung der „parteifeindlichen Gruppe" aus den leitenden Organen der Partei. Hinzu kam die Tatsache, daß die prominentesten „Parteifeinde" wie Molotow, Kaganowitsch, Malenkow und Woroschilow dennoch bis zum Parteitag als autoritative Kommunisten-führer betrachtet wurden. Warum aber diese Auseinandersetzung so scharfe Formen angenommen hat, läßt sich aus den Vorgängen erklären, die auf dem XXII. Parteitag bekannt wurden. Kurz vor dem Kongreß sandte Molotow an das ZK der KPdSU einen Brief, in welchem er den Programmentwurf der Partei als eine Abweichung von der Lehre Marx’s und Lenins bezeichnete. Die Ereignisse innerhalb des internationalen Kommunismus, die Versteifung der ideologischen Gegensätze und Herauskristallisierung einer aggressiven stalinistischen Front der albanischen Kommunisten haben zur Verschärfung des „Antistalinismus" beigetragen. Kuusinen bezeichnete in der Parteitagsdiskussion den Brief Molotows an das Zentralkomitee als Versuch, „eine Art sektiererische Plattform für seine weiteren parteifeindlichen Spekulationen zusammenzuzimmern. Er hat augenscheinlich beschlossen, das Wasser zu trüben, um dann im trüben zu fischen. Vielleicht beißt irgendein grätiger Kaulbarsch an, wenn nicht hier in den einheimischen, dann vielleicht irgendwo in fremden Gewässern.“

Im Laufe des Parteitages versuchten die einzelnen Diskussionsredner, die Liste der Verbrechen der „Parteifeinde“ minutiös zusammenzustellen. Viele Einzelheiten kamen bei dieser Verfahrensweise ans Tageslicht. Es wurde bestätigt, was westliche Autoren längst wußten: nicht nur die Namen Malenkow und Kaganowitsch, sondern auch Molotow läßt sich nicht von den Liquidierungslisten aus der Zeit der großen Säuberungen hinwegtilgen. Die Verbrechen Molotows, Kaganowitschs und Malenkows, schließlich auch Woroschilows wurden nicht systematisch und lükkenlos registiert, sondern nur Beispiele ausgewählt, durch welche die Gefühle der Delegierten mit Erfolg angesprochen wurden; zum zweiten muß man vielleicht den sowjetischen Kommunistenführern recht geben, wenn sie sagen, daß ihnen viele Einzelheiten selbst noch nicht bekannt sind. Wie überhaupt anzuzweifeln ist, ob überhaupt alles eines Tages aufgeklärt werden kann. Stalin war ein wahrer Virtuose bei der Organisierung seiner Verbrechen. Viele wichtige Spuren sind restlos verwischt worden, und der XX. Parteitag hatte eindeutig bestätigt, wie unfähig die Nachfolger Stalins waren auch nur etwas zur Wiederherstellung der Wahrheit, selbst im Interesse der sowjetischen Kommunisten, zu leisten: Vorsitzender der Kommission für die Aufklärung der Verbrechen Stalins war um die Zeit des XX. Parteitages W. M. Molotow ...

Studiert man also die Liste der Verbrechen der Parteifeinde, so kann man sich nicht des Eindrucks der Zweckgebundenheit dieser Manipulationenerwehren. Von vielen Rednern wurde die Teilnahme Molotows an zahlreichen Verbrechen zu Lebzeiten Stalins angeschnitten; wirklich ernst und leidenschaftlich vorgebracht wurde jedoch nur die Tätigkeit Molotows nach Stalins Tod. „Molotow lehnt überhaupt die Linie der friedlichen Koexistenz ab" (Mikojan); „Molotow trat gegen die Reorganisation der Leitung von Industrie und Bauwesen, gegen die Erschließung von Neuland, gegen die Verbesserung der Planungsmethoden und gegen andere vom Leben diktierte Maßnahmen der Partei auf" (Poljanskij). Iljitschew erinnerte, wie Molotow noch am 18. April 1960 — zu einer Zeit, als er politisch schon vollständig ausgebootet war — einen Artikel anläßlich des 90. Geburtstages Lenins an die Redaktion des theoretischen Parteiorganes „Kommunist" übersandt und in einigen Punkten wider die Beschlüsse des XX. Parteitages zu opponieren gewagt habe. Satjukow, Chefredakteur der „Prawda", der zweifellos neben Mikojan, Kossygin und Iljitschew zu den interessantesten und aufgeschlossensten Rednern gehörte, stellte ausführlich dar, wie Molotow kurz vor dem XXII. Parteitag den Programmentwurf angegriffen hatte. Aus alledem ist leicht herauszuhören, daß nicht die entferntere Vergangenheit, sondern Molotows Tätigkeit zwischen dem XX. und XXII. Parteitag den eigentlichen Anlaß für seine jetzige Verdammung bildete.

In ähnlicher Weise trifft das auch auf andere „Parteifeinde“ zu. Dieser utilitaristische Charakter des Kampfes gegen die „parteifeindliche Gruppe“ läßt sich am Beispiel Woroschilows am besten erkennen. Während des XX. Parteitages wurde er von Chruschtschow als „Verfolger Stalins“ hingestellt, den dieser als „englischen Spion" bezeichnet und in seiner Wohnung mittels Abhöranlagen überwachen lassen habe. Auf dem XXII. Parteitag aber avancierte er zu einem Molotow, Kaganowitsch und Malenkow ebenbürtigen Verbrecher. Der Ex-Chef des Komitees für Staatssicherheit, Schelepin, zitierte einige bislang unbekannte Dokumente über die Tuchatschewskij-Affäre (1937), aus welchen die Beteiligung Woroschilows klar hervorgeht. Aus dem, was alle anderen Redner über Woroschilow sagten, wird aber erst klar, weshalb er jetzt so eingestuft wird. Im Juni 1957, als die „partei-feindliche Gruppe" gegen Chruschtschow vorging, war der mit politischem Scharfsinn nicht eben gesegnete Woroschilow, nach eigenen Worten „vom Teufel besessen“ und setzte kritiklos seine Autorität zugunsten der antichruschtschowschen Opposition ein. Als die „parteifeindliche Gruppe“ schließlich das Spiel verloren hatte, führte er Umschwenkmanöver aus. Man darf jedoch nicht vergessen, daß Woroschilow nicht nur populär, sondern zum gegebenen Zeitpunkt noch dazu Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR war. Er verfügte also nicht nur über persönliche Autorität, sondern hielt auch genügend Macht in Händen, um die Opposition mit rein administrativen Maßnahmen unterstützen zu können, wovon er reichlich Gebrauch machte. Vergessen wurde es ihm, wie wir sehen, niemals.

Die Untersuchung der Ursachen für den verschärften Kampf gegen die „parteifeindliche Gruppe“ bestätigt also eindeutig, daß die ganze Angelegenheit ein ausgesprochenes Produkt der jüngsten Gesdrichte der Sowjetunion ist. Das muß besonders betont werden, da der Kampf gegen die „parteifeindliche Gruppe" sehr eindrucksvolle Konsequenzen nach sich zog. Die Auffrischung der Vergangenheit sollte der moralischen Erledigung der Führer der „Parteifeinde" dienen und den Beweis erbringen, daß ihr Widerstand gegen die Reformen Chruschtschows eng mit ihrer Vergangenheit verknüpft sei: sie erstrebten, daß sich die sowjetische Gesellschaft bezüglich Rechtspflege, politischen Verhältnisse und Wirtschaftspolitik nach den gleichen Prinzipien entwickeln sollte wie zu Lebzeiten Stalins.

2. Der Stalinismus als Bremsklotz für die Aufwärtsentwicklung

Das neue Zentralkomitee

Eng verbunden mit der Aktion gegen die „parteifeindliche Gruppe“ war die Attacke auf Stalin und seine Lehre als zweites eindrucksvolles Merkmal des XXII. Parteitages. Die ganze diesbezügliche läßt sich in zwei Dokumentation Gruppen teilen. Eine Reihe von Rednern, einschließlich Chruschtschow, stellte die Liste der Verbrechen Stalins zusammen. Im Vergleich zum XX. Parteitag warfen Chruschtschow und Schelepin etwas mehr Licht auf die Ermordung Kirows (Dezember 1934), die das Signal zu Massenrepressalien gegen die gesamte Generation der alten Bolschewiken gegeben hatte. Der wenig bekannte Fall Sergo Ordshonikidse wurde jetzt von Chruschtschow authentisch dargestellt: „Genosse Ordshonikidse erkannte, daß er mit Stalin nicht mehr länger zusammenarbeiten konnte ... Um nicht mit Stalin zusammenzustoßen und um nicht die Verantwortung für dessen Machtmißbrauch mitzutragen, beschloß er, seinem Leben durch Selbstmord ein Ende zu setzen.“ Aus verschiedenen Memoiren, die von sowjetischen Emigranten erschienen sind, war bekannt, daß Stalin eine Reihe von Verwandten seiner ersten Frau liquidieren ließ. Ihren Bruder, Aljoscha Swanidse, ließ er, wie Chruschtschow jetzt bekanntgab, als angeblichen Spion erschießen. Die Liste der Verbrechen Stalins war jedoch, wie sie auf dem XXII. Parteitag vorgebracht wurde, viel bescheidener als Chruschtschows Angaben in seiner Geheimrede vor dem XX. Parteitag. Auch hier wurden Fälle ausgewählt, besonders im Schlußwort Chruschtschows, die der psychologischen Bearbeitung der Delegierten dienten.

Auf dem XX. Parteitag war nur über die krassen Auswüchse des Stalinismus gesprochen worden. Die Stalinsche Lehre wurde zwar damals von Mikojan angegriffen, das gehörte jedoch zu den zweitrangigen Ereignissen in der ersten Welle des Antistalinismus, die vom XX. Parteitag ausging. Auf dem XXII. Parteitag hingegen warf eine Reihe von Diskussionsteilnehmern die Frage auf, ob der Stalinismus als Lehre und politische Doktrin noch irgendwelche Bedeutung besitze. Besonders deutlich war die Kritik an der Lehre Stalins in zwei Punkten: an der statischen, doktrinären Denkweise, die sich auf die Predigung einiger festgestanzter Formeln beschränkt, und an ausgewählten Programmthesen des Stalinismus. Auch hier ist die Kritik Chruschtschows und seiner Anhänger allein die Folge einer Zwangslage. Es werden nämlich nur jene Thesen Stalins angegriffen, die sich in einen Hemmschuh für die gegenwärtige Entwicklung verwandelt haben oder durch die Praxis bereits ad acta gelegt sind.

Mikojan war neben Chruschtschow der Haupt-streiter wider die stalinistische Theorie. Er beschäftigte sich mit dem letzten Werk Stalins, „Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR“, das bis jetzt als sein Vermächtnis bei den sowjetischen Kommunisten gegolten hatte. „Heute kann man bereits mit Bestimmtheit sagen, daß der XIX. Parteitag der KPdSU gar nicht darauf vorbereitet sein konnte, ein neues Parteiprogramm zu bringen. Jetzt ist allen klar, daß die . Ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR“ nicht zur Grundlage eines neuen Programms hätten genommen werden können. Die Partei mußte eine Reihe falscher Vorstellungen vom Übergang zum Kommunismus überwinden. Es genügt daran zu erinnern, daß am Vorabend des XIX. Parteitages Ansichten Mode waren, daß man nur ein ständiges Anwachsen der Produktion zu sichern, das kollektivwirtschaftliche Eigentum zu Volkseigentum zu machen, die Warenzirkulation durch ein System des Austauschs von Produkten zwischen Stadt und Land zu ersetzen, den Arbeitslohn zu verdoppeln, das kulturell-technische Niveau der Arbeiter und Bauern zu heben brauche, um dann zum Kommunismus übergehen zu können. Das war eine simplifizierende Vorstellung.“

Zu den „ausgewählten" Thesen Stalins, die jetzt angegriffen werden, gehört jene über die Beziehungen zwischen Produktion und Konsumtion, mit welcher Stalin den chronischen Mangel an Massenbedarfsgütern zu rechtfertigen versuchte, zum andern das Problem Sowchos-Kolchos. Wie bekannt, forderte Stalin die Verwandlung der Kolchose in Sowchose (Staatsgüter); ferner die Verwirklichung seiner These über die Erlöhung des Lebensstandards, nach welcher der Reallohn der Arbeiter mechanisch gesteigert werden sollte. Mehrere Redner verurteilten den Superzentraliswus, hauptsächlich in der Wirtshaftspolitik, und die damit zusammenhängende Verringerung der Republikrechte. Viele Thesen, wie beispielsweise die über eine ständige Verschärfung des Klassenkampfes in der Aufbau-etappe des Sozialismus, über die Maschinen-Traktoren-Stationen und andere wurden auf dem XXII. Parteitag nicht mehr diskutiert — die entgegengesetzten Ansichten zu dieser Frage sind bei den sowjetischen Kommunisten bereits tief verwurzelt.

Eine genauere Auswertung der Materialien über Stalin und den Stalinismus während des XXII. Parteitages bestätigt, daß Chruschtschow und seine Anhänger nicht nur mit dem Stalinismus unter dem Aspekt der heutigen Lage diskutieren, sondern daß sie ganz offensichtlich versuchen, zwischen Stalinismus und parteifeindlicher Gruppe und damit auch der gesamten Opposition gegen Chruschtschows Reformen und andere Maßnahmen zur Modernisierung der sowjetischen Gesellschaft ein Gleichheitszeichen anzubringen. Die Funktion der zweiten „antistalinistischen Welle“ läßt sich niemals recht verstehen, ohne daß man sich diese Tatsache vor Augen hält. Es ist keine feierlich angekündigte Rückkehr zur historischen Wahrheit, es ist auch keine prinzipielle Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, sondern ein sehr ernster Versuch, jenes Erbe des Stalinismus aus dem Wege zu räumen, das sich unter den heutigen Verhältnissen als Bremsklotz für die positive Weiterentwicklung erwiesen hat.

Von diesem Standpunkt aus gesehen ist die Auseinandersetzung der sowjetischen Kommunisten mit bestimmten Leitsätzen der Lehre Stalins von viel geringerer Bedeutung als die Verurteilung des doktrinären Denkens, eines der primären Merkmale der kommunistischen Weltanshauung in der Stalinära. Die doktrinäre Entartung wurde shon vor dem XX. Parteitag bekämpft, erst aber auf dem XXII. Parteitag erhielt ihre Verurteilung prinzipielle Bedeutung. Shon in seinem Rehenshaftsberiht plädierte Chruschtschow für dynamishes Denken: „Wir würden Verrat am Geist unserer Lehre verüben, wenn wir es unter diesen neuen Umständen nicht verstünden, den Marxismus-Leninismus shöpferish anzuwenden und zu entwickeln, wenn wir ihn niht durh neue theoretishe Thesen und Schlußfolgerungen bereihern würden, wenn wir niht kühn genug wären, die Formeln und Thesen zu präzisieren, die aufgehört haben der neuen historishen Erfahrung zu entsprechen. Das Leben ist unermeßlih reiher als jeglihe Formeln. . .. Der shöpferishe Marxismus-Leninismus duldet keinen Stillstand des Denkens, duldet niht, Formeln zu huldigen, die niht der realen Sahlage, der objektiven Situation entsprechen."

Am weitesten prellte in dieser Rihtung wohl der Leiter der Abteilung für Propaganda und Agitation beim ZK der KPdSU, L. F. Iljitschew, vor: „Unter den Bedingungen des Personenkults war eine fruhtbare Entwicklung der Gesellshaftswissenshaften unmöglih . . . Der Personenkult in der Theorie, das ist dem Wesen nach der Versuh, theoretishe Probleme durh Erlaß von Dekreten auf administrativem Wege zu lösen, und das ist Madttmißbraudt auf dem Gebietder Theorie.“ Die Betonung der antidoktrinären Einstellung der sowjetishen Kommunisten läuft parallel zur Beshuldigung der „parteifeindlihen Gruppe“ als doktrinär entartet. „Womit ist der Widerstand der konservativ-dogmatischen Gruppe zu erklären," fragte Mikojan, und gab selbst auh gleih die Antwort: „Vor allem dadurh, daß ihre Mitglieder organisch mit dem dem Marxismus-Leninismus fremden Personenkult verbunden waren, durh ihr Unvermögen zu begreifen, daß das Land in eine neue Etappe seiner Entwicklung eintritt...“ „Molotow und den anderen Angehörigen der parteifeindlihen Gruppe war alles Neue und Fortshrittlihe fremd, sie waren so sehr vom Leben und von der Praxis losgelöst, daß sie jede neue, für die Entwicklung der Volkswirtshaft nützlihe Anregung stets bezweifelten und mit höhster Feindseligkeit aufnahmen.“ Diese seine Überlegungen ergänzte Kossygin mit folgender These: „Sie waren der Meinung, allein die Zentralisierung und nihts weiter bestimme einen sozialistishen Stil der Wirtshaftsführung“. Noh besser wird die jetzige antistalinistishe Welle verständlich, wenn an den gegenwärtigen Kampf um die Shaffung eines neuen Funktionärstyps in der Partei erinnert wird. In einem Rehenshaftsberiht malte Chruschtschow mehrfach den Funktionärstyp der Stalinzeit ab, einen Bürokraten, der Jahre hindurh zu blindem Gehorsam dressiert worden und daher niht in der Lage war, etwas ohne Direktiven „von oben" zu unternehmen. Jetzt verlangt die Partei von ihren Funktionären die Fähigkeit, selbständig zu handeln, die Probleme an Ort und Stelle zu lösen, auh wenn einmal keine Weisungen von vorgesetzten Instanzen vorliegen. Chrushtshow kritisierte auh jene Funktionäre, „die sih gegenüber der Steigerung ihrer fachlihen Qualifikationen und ihres ideologischpolitishen Niveaus sorglos verhalten". Der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Breshnew, stellte fest: „Unsere Partei kritisiert diejenigen Funktionäre, die anstelle lebendiger organisatorisher Arbeit administrieren, Beshlüsse fassen, Verfügungen erlassen und meinen, darin bestehe das Wesen der Leitung." Es ließen sih Dutzende solher Zitate anführen, anhand derer sih einer der wichtigsten Hintergründe des jetzigen Antistalinismus erklären ließe. Die Partei will einen neuen Funktionärstyp in den Vordergrund stellen, der in der gegenwärtigen Übergangsphase die Forderungen der modernen Industriegesellschaft erfüllen kann.

Die antistalinistishe Welle, so wie sie dem XXII. Parteitag entsprang, hatte tragishe Folgen nicht nur für Stalin, dessen sterblihe Über-reste auf Beshluß des Kongresses vom 30. Oktober aus dem Lenin-Mausoleum entfernt werden mußten. Von den Anträgen zu dieser Resolution ist die Stimme des Leningrader Parteihefs Spiridonow besonders hervorhebenswert: „Sowohl die Repressalien der Jahre 1934 bis 1937 als auh die der Nahkriegszeit in den Jahren 1949 und 1950 wurden entweder auf direkte Anweisung oder mit Wissen und Billigung Stalins ausgeführt. Weih“ riesigen Shaden hat die Ausrottung der Kader, die nur unter den Bedingungen der hemmungslosen Herrshaft des Kultes um die Person Stalins auf allen Gebieten möglih war, angerichtet!" Spiridonow betonte, daß sih die Shäden des Personenkults in der Ausrottung der Kader bei weitem niht ershöpfen: „Wie auf dem XX. Parteitag, so wurde auh auf diesem Kongreß der große, oft niht wieder gutzumachende Shaden, der infolge des Personenkults auf verschiedenen Gebieten des wirtshaftlihen, politishen und ideologishen Lebens entstanden ist, in ausreichendem Umfange dargestellt.“ Deswegen bedeutet für die ganze Schule der sowjetischen Partei-und Staatsfunktionäre — auch jene, die Chruschtschow bei jeder Gelegenheit Beifall zollen und seine Linie der Form halber akzeptieren, jedoch nicht fähig sind, aus dem Arbeitstil Stalinscher Prägung herauszugelangen — die antistalinistisdie Welle nidrts Gutes. In dieser versteckten Drohung liegt gerade der Sinn des Chruschtschow-sehen Antistalinismus, wie er auf dem XXII. Parteitag demonstriert wurde.

3. Im Zeichen der Forderungen der modernen Industriegesellschaft

In vielen Kommentaren über die Entwicklung in der Sowjetunion wird häufig eine elementare Frage übersehen, welche Aufgaben die KPdSU als ihre wichtigsten bezeichnet. Seit Beendigung des Bürgerkrieges steht der Kampf um Erfüllung der Wirtschaftspläne im Vordergrund der Partei-tätigkeit. So war es zu Lenins Zeiten, so war es auch unter Stalin, so ist es bis heute geblieben. Dennoch bestehen wesentliche Unterschiede zwischen der Entwicklung in der Sowjetunion seit dem XXL Parteitag (1959) und der Vergangenheit. Durch den Siebenjahresplan und jetzt durch die Ankündigung des Zwanzigjahresplanes haben die Wirtschaftspläne der sowjetischen Kommunisten stark an Bedeutung gewonnen. Sie enthalten nicht mehr eine bloße systematische Aufstellung der Wirtschaftsaufgaben, sondern bedeuten eine präzise politische Konzeption der sowjetischen Kommunisten, in welcher nicht nur der Zeitraum für die Erfüllung der Pläne festgelegt wurde, darüber hinaus auch die historisch umwälzende politische Bedeutung der Planziele fixiert ist. So ist der angekündigte Wettlauf zwischen der Sowjetunion und den USA und der Kampf um die Verwirklichung des Zwanzigjahresplanes automatisch zu einer Frage auf Leben und Tod für das sowjetische System geworden. Für die Verwirklichung dieser Pläne ist der Fortbestand des Friedens Voraussetzung, andererseits aber sind leicht die Gefahren abzusehen, die sich daraus ergeben könnten, daß das sowjetische Regime bei Nichterfüllung der politisch so hoch eingestuften Wirtschaftspläne einzig in einer Verschärfung der internationalen Lage Möglichkeiten zur Abwälzung der Verantwortung für seine Mißerfolge sieht. Beides zusammen müßte genügen, um den ernsten Charakter der bereits in der UdSSR angebrochenen Entwicklung für den Westen und die ganze Welt zu begreifen.

Der Zwanzigjahresplan unterscheidet sich, ähnlich wie der 1959 angelaufene Siebenjahresplan, von ähnlichen Projekten der sowjetischen Kommunisten in der Vergangenheit dadurch, daß nicht die einfache Erfüllung verschiedener Produktionssolls, sondern Maflnahwen zu qualitativen Veränderungen in der Wirtschaft und in der Gesellschaft die Grundlage bilden. Die Summe dieser Maßnahme soll, wie es die sowjetischen Theoriker bezeichnen, die Schaffung der sogenannten materiell-technischen Basis des Kommunismus erreichen. Mikojan erklärte vor dem XXII. Parteitag: „Es handelt sich dabei nicht nur um ein umfangreiches Anwachsen der gesellschaftlichen Produktion, sondern darum, die Produktionskräfte unseres Landes auf eine qualitativ neue, höhere Stufe zu heben, die Produktivkräfte der kommunistischen Gesellschaft zu schaffen.“ An dieser Stelle wollen wir nicht auf Einzelheiten der Wandlung in der Sowjetunion eingehen. Es soll lediglich daran erinnert werden, daß gerade diese schwerwiegenden Probleme nicht nur den Hintergrund, sondern auch das Kernstück des XXII. Parteitages bildeten. Diese Tatsache muß man mehrmals wiederholen. Der XXII. Parteitag war von eindrucksvollen, suggestiven Momenten durchsetzt, die Ermordung der Generation der alten Bolschewiken wurde in Erinnerung gebracht, das zweite Begräbnis Stalins bildete den Höhepunkt dieses suggestiven Teils des Parteitages. Trotzdem wat das alles nur die äuflere Fassade. Von Chruschtschow bis zum unteren Funktionär verstehen die Kommunisten verschiedenes zu differenzieren und begreifen heute mehr als in der Vergangenheit, welche Bedeutung der Kampf um die Erfüllung der Wirtschaftspläne für das künftige Schicksal der Kommunisten in sich birgt.

Eine der wichtigsten Erfahrungen, welche die sowjetischen Kommunisten in den letzten drei Jahren nach den schweren Fehlschlägen gemacht haben, ist die immer stärkere Bewußtheit der Unzulänglichkeit der Parteidokrin — besonders ihrer Stalinschen Ausgabe. Wer eine präzise Antwort will, wo die sowjetischen Kommunisten-führer einen Ausweg suchen, für den lautet die Antwort: in der UdSSR ist man sich heute klar, daß die Wissenschaft die Grundlage für wirtschaftspolitische Entscheidungen bilden soll.

Während des XXL Parteitages war ein bedeutender Teil der Kritik an Stalin und dem Stalinismus die Folge dieses Umdenkens. Chruschtschow sagte in seinem Rechenschaftsbericht: „Wir müssen schneller und bis zum letzten alles ausnutzen, was Wissenschaft und Technik in unserem Lande schaffen, wir müssen kühner das beste von dem übernehmen, was sich im Ausland bewährt hat, wir müssen die Spezialisierung und Kooperierung umfassender entwickeln, das Tempo der Vollmechanisierung und der Automatisierung der Produktion erhöhen.“ An dieser Stelle wiederholte er, was bereits im Programm festgelegt ist: „Die Wissenschaft wird immer mehr zu einer technologischen Anwendung der modernen Wissenschaft.“

Die Folgen dieser Umstellung lassen sich kaum absehen. Was die Wirtschaft anbelangt, so bedeutet das in erster Linie die Anerkennung der Notwendigkeit immer neuer Reformen als Vorbedingung für jeglichen Wirtschaftserfolg. Der XXII. Parteitag bekannte sich voll und ganz zu dieser Auffassung. Chruschtschow erklärte beispielsweise: „Das Leben selbst fordert von der Planung und der Leitung der Volkswirtschaft eine neue, wesentlich höhere Stufe der wissenschaftlichen Begründung und ökonomischen Berechnungen.“ Kossygin, ein anderer prominenter Kommunistenführer, äußerte sich: „Die Partei hat der Vervollkommnung der organisatorischen Methoden bei der Leitung der Volkswirtschaft stets große Bedeutung beigemessen . .. Wir müssen auch in Zukunft die Organisation der Produktion in unserer Industrie weiter vervollkommnen". Poljanskij, der Ministerratsvorsitzende der russischen SFSR, kündigte an: „Die Erfahrungen haben bekanntlich gezeigt, daß sich die Reorganisation der Leitung von Industrie und Bauwesen auf der Basis der Wirtschaftsverwaltungsgebiete vollauf bewährt hat. Die Reorganisation der Leitung ist jedoch noch nicht abgeschlossen.“

Auf diesem Hintergrund ist die Frage von besonderer Aktualität, wie die KPdSU diesen Übergang in der sowjetischen Gesellschaft so meistern will, daß ihre totalitäre Machtstellung ungefährdet bleibt. Im neuen Programm der KPdSU wurde, ähnlich wie in etlichen wichtigen Reden auf dem XXII. Parteitag, die neue Konzeption der sowjetischen Kommunisten zu dieser Frage deutlich umrissen. Sie läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Rolle der KPdSU muß in der Übergangsphase innerhalb der sowjetischen Gesellschaft erhöht werden. Die Partei verwandelt sich in ein Organ der permanenten ideologisch-politischen Erziehung der Sowjetbürger und stellt sich die Aufgabe, das politische Bewußtsein der Sowjetbürger auf „den Grad des Bewußtseins in der Partei zu bringen“. Deshalb beansprucht die KP in einer Zeit, da die Wissenschaft auf Konto bedeutender Einschränkungen der Parteidoktrin größeren Spielraum auf wirtschaftspolitischem Sektor erhält, ein Monopol auf die intensive ideologische Erziehung der Sowjetbürger. Gerade daraus läßt sich ersehen, wie anders der von den sowjetischen Kommunisten eingeschlagene Weg ist als ihn Marx und Engels vorgezeichnet haben. Für die echten Marxisten bedeutete die künftige klassenlose Gesellschaft „die eigentliche Geschichte des Menschen“, sie betrachteten den Sublimierungsprozeß des Menschen als Folge der Abschaffung jeglicher ökonomischen Unterdrückung und ständigen Vervollkommnung der Gesellschaftsverhältnisse. Für die sowjetischen Kommunisten aber bedeutet ein Übergang zur modernen Konsumgesellschaft die Aufhebung der Reglementierung der Konsumgüter bei gleichzeitiger verstärkter und permanenter Reglementierung der menschlichen Seele.

Wie der XXII. Parteitag bestätigte, begreifen die sowjetischen Kommunisten heute, daß sie diese messianische Rolle nur erfüllen können, wenn die Partei selbst reformiert wird. Das kam bei der bereits erwähnten Diskussion über den veralteten, für die heutigen Zeiten unbrauchbaren Arbeitsstil und Funktionärstyp alten Schlages zum Ausdruck. Während zu Lenins Zeiten eine kommunistische Persönlichkeit das Ideal war, während Stalin diesen Typ mit Hilfe blutiger Maßnahmen durch einen blind gehorsamen Apparatschik ersetzte, träumen die Chruschtschowisten von einem technisch durch und durch gebildeten Kommunisten, am besten mit Ingenieurdiplom. Für diese Umwandlung der heute 8 872 516 Mitglieder und 843 489 Kandidaten zählenden KPdSU sind folgende Worte Chruschtschows charakteristisch: „Ich-freue mich, Ihnen mitteilen zu können, daß in unserer Partei die Zahl der gebildeten Menschen immer größer wird. Gegenwärtig besitzt bei uns jedes dritte Parteimitglied Hoch-und Oberschulbildung. Es ist besonders wichtig festzustellen, daß gegenwärtig über 70 Prozent aller Mitglieder und Kandidaten der Partei in der materiellen Produktion arbeiten. Die Hauptmasse der Parteimitglieder arbeitet in entscheidenden Abschnitten: in der Industrie-und Landwirtschaftsproduktion.“ Die KPdSU steht vor einem für sie entscheidenden Problem — der massiven Werbung um Sympathien bei technischen Kadern und Ingenieuren. Da in der Etappe des technischen Fortschritts und der Automation gerade dieser sozialen Schicht gewisse größere Freiheiten eingeräumt werden mußten, versucht die Kommunistische Partei alles zu unternehmen,'um sich den entscheidenden Einfluß auf sie zu sichern. Die technischen Kader und Ingenieure werden bevorzugt in die Partei ausgenommen, Beeinflussung beginnt bereits in Schule und ihre Komsomol. Die Parteizugehörigkeit ist aber nur eine formelle Angelegenheit. Der Zukunft muß die Beantwortung der Frage überlassen werden, ob bei der Lösung praktischer Probleme die Instruktionen der Partei oder die Stimme der Wissenschaft für sie Gültigkeit haben wird.

4. Probleme des internationalen Kommunismus

Die Streitigkeiten zwischen kommunistischen Parteien nahmen auf dem XXII. Parteitag, hauptsächlich durch den Bruch zwischen der KPdSLI und der Partei der Arbeit Albaniens, einen dramatischen Charakter an. Eine Reihe von sowjetischen Kommunisten stellte das Sündenregister der albanischen Stalinisten zusammen. Diese betrachteten Stalin weiterhin als genialen Führer des Weltkommunismus, für sie ist nicht nur die Stalinsche Lehre, sondern auch der Arbeitsstil aus der Stalinzeit die Richtschnur. Mikojan illustrierte das plastisch anhand einer Äußerung des albanischen Kommunistenführers Mehmet Schehu auf dem IV. Parteiag der albanischen Partei der Arbeit: „Demjenigen, der mit der Führung in irgend etwas nicht einverstanden ist, soll ins Gesicht gespuckt, in die Fresse gehauen und, wenn es notwendig ist, eine Kugel durch den Kopf gejagt werden.“ Und die albanischen Stalinisten drohten nicht nur, sondern nehmen bis heute Verhaftungen und Liquidierungen ihnen mißliebiger Personen nach bewährtem Stalinschen Rezept vor. Entscheidend aber war, daß die albanischen Kommunisten ihre Differenzen mit den sowjetischen durch organisatorische Maßnahmen untermauerten. Sie veröffentlichten den Programmentwurf der KPdSU nicht, verboten Studenten ihres Landes und Spezialisten in der UdSSR zu studieren, wiesen sowjetische Ingenieure aus und trafen schließlich sogar Maßnahmen gegen die Beschlüsse des Warschauer Paktes.

So stellte sich heraus, daß nicht nur „Revisionisten“ — siehe Jugoslawien —, sondern auch Stalinisten zur organisatorischen Spaltung des internationalen Kontwunisntus führen können.

Wie bekannt, demonstrierte der Delegationsleiter der KP Chinas, Tschou En-lai, während seiner Grußansprache auf dem Parteitag seine Sympathien für die albanischen Kommunisten. Es ergibt sich also für die Sowjetunion keine einfache Lage, obgleich es Chruschtschow und seinen Anhängern schon auf dem XXII. Parteitag gelang, prominente Vertreter aus den Reihen ausländischer kommunistischer Parteien für ihren Standpunkt in der Albanienfrage zu gewinnen. Rückhaltlose Hilfestellung leisteten Chruschtschow fast alle Vertreter kommunistischer Parteien aus Lateinamerika mit dem Mitglied der Leitung der Vereinigten Revolutionären Organisationen Cubas, Blas Roca, an der Spitze. Die Auswertung der Reden lateinamerikanischer Parteitagsgäste ergibt ein Novum im internationalen Kommunismus. Sie demonstrieren nicht nur ihre Sympathien für Cuba, sondern betrachten die Ereignisse auf der Insel als beispielgebend für Theorie und Praxis der revolutionären Umwandlungen in Lateinamerika. Die im Westen verbreitete These, daß nämlich die kommunistischen Parteien in Lateinamerika der „Einflußsphäre der KP Chinas" angehören, erwies sich auf dem XXII. Parteitag als irrig. Neben Belgrad als Zentrum des „Revisionismus", neben Moskau als Zentrale der Anhänger des Chruschtschowschen Kurses und Peking als Zentrum des Stalinismus, zeichnet sich klar Havanna als Mittelpunkt einer vierten Strömung innerhalb des internationalen Kommunismus ab, die sich in wesentlichen Punkten der Theorie und Taktik von anderen kommunistischen Parteien unterscheidet. Der XXII. Parteitag bestätigte somit das Entstehen neuer Fronten in der kommunistischen Bewegung, das neue Probleme auf die Tagesordnung setzt, die uns bis jetzt nur als gewisse Gärungsprozesse erschienen.

5. Die neue Parteiführung

Das auf dem XXII. Parteitag gewählte Zentralkomitee besteht aus 175 Mitgliedern und 155 Kandidaten. 82 Mitglieder oder 64, 8 Prozent ihrer Gesamtzahl wurden neugewählt, hinzu kommen 27 avancierte ehemalige Kandidaten. Bei den Kandidaten sind 121 neugewählt oder 78, 6 Prozent plus drei zu Kandidaten degradierte ehemalige Mitglieder. Von 63 Mitgliedern der Zentralen Revisionskommission (Stand von 1956) wurden jetzt nur 16 wiedergewählt; die Zahl der Mitglieder beträgt jetzt 65. Das Zentralkomitee charakterisiert sich nicht nur durch einen ziemlich hohen Prozentsatz der Erneuerung, sondern ist im Vergleich zum früheren Stand stärker besetzt (der XX. Parteitag wählte 133 Mitglieder und 122 Kandidaten; der XIX. Parteitag 125 Mitglieder und 111 Kandidaten). Für die Zusammensetzung des gegenwärtigen Zentralkomitees sind zwei Wellen von personellen Veränderungen ausschlaggebend. Die erste von ihnen betrifft die Ereignisse um das Juniplenum von 1957, auf Grund derer sich eine Reihe von Kommunistenführern, die in die „parteifeindliche Gruppe“ verwickelt waren, sich nicht mehr im ZK befindet. Noch wichtiger war jedoch die zweite Säuberungswelle, die dem Januarplenum des ZK der KPdSLI von 1961 entsprang und in deren Verlauf viele „moralisch zersetzte“ Funktionäre ihres Postens enthoben wurden. Die Neuzugänge im heutigen ZK betreffen Personen, die im großen Revirement des letzten dreiviertel Jahres aufgestiegen sind. Diese Tatsache widerspiegelt einerseits die Bemühungen der Chruschtschow-Anhänger, mögliehst rasch eine Erneuerung der Parteikader durchzuführen, bietet andererseits aber keine Gewähr für eine Stabilisierung des neuen Zentralkomitees. Nach den turbulenten Veränderungen, die dem XX. Parteitag folgten, bestand das Präsidium des Zentralkomitees aus 13 Mitgliedern, von denen jetzt 10 wiedergewählt wurden, zum 11. avancierte Woronow, der neben Chruschtschow als einziger Landwirtschaftsspezialist im Präsidium gilt. Nicht wiedergewählt wurden Aristow (jetziger Sowjetbotschafter in Warschau), Frau Furzewa (Kultusminister) und Ignatow (stellvertretender Ministerratsvorsitzender der UdSSR). Unter den fünf Kandidaten zum Präsidium sind Grischin, Masurow und Mshawanadse wiedergewählt worden; neu hinzugekommen sind Raschidow und Schtscherbizkyj; ausgebootet wurden Kalnbersin, Kirilenko, Perwuchin und Pospelow. Das Präsidium besteht aus sieben Russen, zwei Ukrainern und einem Armenier als Mitglieder und einem Russen, je einem Belorussen, Georgier, Usbeken und Ukrainer als Kandidaten.

Viel schwerwiegendere Veränderungen sind im Sekretariat des ZK festzustellen. Von den jetzigen neun Sekretären wurden Chruschtschow, Koslow, Kuusinen und Suslow wiedergewählt; neu hinzugekommen sind der Moskauer Parteichef Demitschew, der Leiter der Abteilung für Propaganda und Agitation beim ZK der KPdSU, Iljitschew, der Leiter der Abteilung für internationale Verbindungen, Ponomarjow, der ehemalige Chef des Komitees für Staatssicherheit. Schelepin, und der Leiter der Leningrader Parteiorganisation, Spiridonow. Zur Zeit muß man Koslow als unmittelbaren Vertreter Chruschtschows im Sekretariat betrachten; Kuusinen ist zusammen mit Ponomarjow für auswärtige Kontakte zuständig; Suslow und Iljitschew sind für Ideologie und Propaganda verantwortlich. Es scheint, daß der ehemalige KGB-Vorsitzende Schelepin für die Parteikader auf gesamtsowjetischer Ebene verantwortlich wird und ihm verschiedene wichtige Abteilungen des Zentral-komitees unterstellt worden sind. Die Bedeutung der Leningrader und Moskauer Parteiorganisation für die laufende Parteitätigkeit demonstriert die Ernennung der beiden Leiter zu ZK-Sekretären. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß Demitschew wie auch Spiridonow in naher Zukunft von ihren bisherigen Funktionen befreit werden. Von den neun Sekretären haben nur Chruschtschow und Kuusinen irgendwelche Verbindungen zu den Säuberungen Stalins während der dreißiger Jahre, Koslow und Suslow spielten eine gewisse Rolle bei den Säuberungen nach 1945, die anderen fünf Sekretäre sind jedoch mit der Vergangenheit der Stalinzeit unbelastet. * * * Der XXII. Parteitag ist also aus verschiedenen Gründen ein wichtiges historisches Ereignis. Was die innerpolitische Entwicklung anbelangt, so lassen sich die Folgen des Kongresses schwer absehen. Chruschtschow und seine Anhänger waren gezwungen, viele neue Ventile zu öffnen. Der Charakter der antistalinistischen Welle während des XXII. Parteitages war, wie mehrfach betont, rein zweckgebunden, dennoch bedeutete sie einen wesentlichen Schritt voran im Vergleich zu alledem, was bis jetzt auf diesem Gebiet geschehen war. Die Namen zweier Helfer Stalins und mit ihnen automatisch ganze Abschnitte der sowjetischen Vergangenheit wurden angeprangert. So nahm A. N. Schelepin, die bekannte Kreatur Stalins aus den „Moskauer Prozessen“, Wyschinskij aufs Korn. Noch wichtiger sind die Berichte der Altbolschewikin Lasurkina, Mitglied der KP der Sowjetunion seit 1902, aus Leningrad, die 17 lange Jahre in sowjetischen Konzentrationslagern verbracht hat. Es stellte sich eindeutig heraus, daß sich Shdanow persönlich an Säuberungen und Liquidierungen in den dreißiger Jahren in der Zeit der Jeshowschtschina beteiligt hat. Die fatale Rolle dieses Kommunistenführers war bis vor kurzem tabu, sogar jene ideologische Vorbereitung der Stalinschen Säuberungen nach 1945, die als „Shdanowschtschina“ in die Geschichte der Sowjetunion eingegangen ist, hieß noch in neueren sowjetischen Quellen „notwendig“ und „normal“. Chruschtschow und seine Anhänger haben vielleicht noch nicht in voller Tragweite erkannt, welche Kettenreaktionen ausgelöst werden durch all das, was sie aufzurollen gezwungen waren.

Im Zusammenhang damit entstehen verschiedene neue Probleme, bahnt sich in der sowjetischen Gesellschaft etwas an, was wir als „öffentliche Meinung“ zu bezeichnen pflegen. Wie weit dieser Faktor Einfluß auf die Entwicklung zu nehmen vermag, wird erst die Zukunft erweisen müssen.

Wieder andere Probleme ergeben sich aus der allgemeinen Übergangssituation, über die bereits berichtet worden ist. Für viele soziale Schichten bringt die neue Entwicklung keine Änderung. Das bezieht sich in erster Linie auf die Intellektuellen, die in der sowjetischen Gesellschaft, ähnlich wie in anderen modernen Industriegesellschaften, nicht wesentlich an Bedeutung gewinnen. Zentralproblem bleiben jedoch die Beziehungen zwischen der Partei und den technischen Kadern. Die Zugeständnisse an die technische Intelligenz und hochqualifizierte Arbeiter sind die Folge einer Zwangslage, in der sich die KPdSU befindet. Unsere Aufgabe im Westen müßte es sein, die Grenzen und Möglichkeiten dieser gesellschaftlichen Transformation genau zu beobachten.

Fussnoten

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Anmerkung: Borys Lewytzkyj, München, freier Journalist, Autor des Buches »Vom roten Terror zur sozialistischen Gesetzlichkeit — Der sowjetische Sicherheitsdienst“.