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Der Generationsprotest der Jugendbewegung | APuZ 1-2/1962 | bpb.de

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APuZ 1-2/1962 Der Generationsprotest der Jugendbewegung

Der Generationsprotest der Jugendbewegung

KARL SEIDELMANN

Eine Betrachtung

Uns interessiert in dieser Untersuchung das Problem, wie weit die Jugendbewegung im Sinne katalysatorischer Wirkungen innerhalb eines epochalen Wandlungsprozesses tatsächlich als repräsentativ gelten kann. Es stellen sich uns hierbei drei ineinandergreifende Fragen: 1. Stimmt die vorgegebene idealtypische Schau: Jugendbewegung als Instrument eines revolutionär gestimmten „Weltgeistes", als auslösende oder als mitbeteiligte Kraft einer „Weltenwende“ mit der historischen Wirklichkeit überein oder mythisiert sie diese? Drückt sich in der Jugendbewegung tatsächlich ein Epochalprotest der jungen Generation aus? 2. Worin ist die etwaige Besonderheit, die „Klassizität" des Ereignisses begründet? Darf man ihm den Rang eines aktualitätsgeladenen Modellfalls zuerkennen, der über das historische Interesse hinaus Anteilnahme verdient? 3. Ist dieser Modellfall wiederholbar, nachvollziehbar oder gar mustergültig, — etwa deswegen weil er „im ewigen Wesen der Jugend“ angelegt, stets aufbruchbereit gelagert wäre?

Bevor wir diesen Fragen nachgehen, seien einige wenige sprachliche bzw. begriffliche Verständigungen vorbereitet. Die Klarstellung dessen, was mit „historischer Jugendbewegung“ hier gemeint und was in diesem Zusammenhang als „Jugend“ angesprochen ist, wird uns dann unmittelbar in unsere Thematik einführen.

Das geschichtliche Faktum Jugendbewegung sammelt in sich eine fast verwirrende Menge auffallender Aktivitätserscheinungen in der deutschen Jugend während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Sie sind durch rein vitalistische Merkmale ebenso charakterisiert wie durch geistige Kriterien, ergreifen zwar niemals die Gesamtheit der jeweiligen jungen Generation, wohl aber ihre regsamsten und meist auch ihre qualitativ wertvollsten Schichten und sind vor allem durch eine intensive Kultivierung des jugendlichen Gemeinschaftslebens in Gruppen und Bünden autonomen Ursprungs gekennzeichnet. Diese besondere Aktivität der jungen Generationsreihen zwischen 1900 und 1933 beginnt mit dem Auftreten des Wandervogels, erfährt in dem Fest auf dem Hohen Meißner 1913 einen Höhepunkt und überdauert im „Feldwandervogel" und in der „Freideutschen Jugend" trotz unverhältnismäßig hoher Menschenverluste den ersten Weltkrieg, um danach in ihrer zweiten, der „bündischen" Phase eine wiederholte Blüte zu erleben. Hierbei greift sie auf fast alle Orga-nisationen der Jugendpflege über, gewinnt einen begrenzten öffentlichen Einfluß und verbreitet sich auch zahlenmäßig sehr stark, bis sie imFrühscmmer 1933 durch den sogenannten Reichs-jugendführer des nationalsozialistischen Regimes gewaltsam aufgelöst und verboten wird. Damit findet sie ihr geschichtliches Ende; der verkrampfte Versuch, die Staatsjugendorganisationen des Dritten Reichs als „Jugendbewegung“ zu deklarieren, ist lediglich als primitive Geschichtsfälschung zur Kenntnis zu nehmen

Revolte einer Minderheit

Wenn in diesem Zusammenhang von „Jugend" gesprochen wird, so ist im wesentlichen die bürgerliche Jugend gemeint, insbesondere die des kleinen und mittleren Bürgertums. Zwar wirkt die Bewegung zeitweilig auch merklich auf die Arbeiterjugend ein. Im ganzen gesehen ist sie jedoch eine jungbürgerliche Revolte, und zwar die einer sehr kleinen Minderheit, einer Minorität allerdings, die sich fast stets und überall als Elite empfindet. Den maßgeblichen Einfluß üben Primaner und Studenten aus, also jene Altersgruppe der Adoleszenten, die gerade ihren „seelischen Kulminationspunkt“ zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr erlebt.

Von Anfang an greift sie aber auch aus auf die pubertierenden und die darunter liegenden Altersstufen. „Jugend" versteht sich dabei in idealisierender Weise als Einheit aller 12-bis 25-Jährigen. Diese Selbstauslegung des Begriffes Jugend ist charakteristisch für sämtliche Perioden der Jugendbewegung, allerdings mit zeit-bedingten, oft nicht unbeträchtlichen Akzentverschiebungen. Solche bemerkt man z. B. im Selbstverständnis der Freideutschen Jugend, wenn man es etwa mit dem der späteren bündischen Jungenschaften vergleicht. Unabhängig davon bewirkt aber diese Einstellung allenthalben ein bisher unbekanntes einheitliches Generationsbewußtsein, ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter dem Stigma Jugend, das sich in so neuartigen Bezeichnungen wie „autonome Jungen-schaft" oder in Begriffen wie jugendliches Eigenleben, Eigenständigkeit der jungen Generation u. a. niederschlägt. Sie tragen bei zum Entstehen einer eigenen jugendbewegten Terminologie und gipfeln etwa in Gustav Wynekens verstiegener These vom Selbstwert einer „Jugendkultur“, die freilich ihrerseits in Analogie zu gewissen reformpädagogischen Sprachregelungen zu setzen ist.

Immerhin bedeutet dieser Integrationsprozeß, der den Fluß der Generationsreihen manchmal nahezu zum Stocken zu bringen scheint, eine tatsächliche Überwindung der „Sperre, die vom Altersklassensystem (innerhalb des Ganzen der Jugend) gelegt wird“, wie Hans Blüher sagt Wenn es in einer Wandervogelzeitschrift vom Jahre 1920 heißt, der Wandervogel sei nicht eine Bewegung für die Jugend, sondern die Bewegung der Jugend selbst, so ist dabei ebenfalls dieser merkwürdige ganzheitliche Begriff Jugend zugrundegelegt, der sich mitunter sogar auf ein allgemeines psychisches Kriterium der „Jugendlichkeit" ausweitet und dann auch die noch innerlich jungen und älteren Jahrgänge mit einbegreift.

Das genuine Konstitutiv der Jugendbewegung ist ihre Selbsterfahrung als Jugend in der Form des Gemeinschaftserlebnisses, im „Erlebnis der Verlebendigung aller Lebensbeziehungen durch das Wiederauffinden von Urformen menschlichen Zusammenlebens.“ (Mau a. a. O.) Dabei glückt dem Wandervogel und seinen Nachfahren die frappierende Entdeckung, daß solche archetypischen Formen dem Jugendalter adäquat und von der Jugend nachvollziehbar, vielleicht nur von ihr realisierbar sind. Zugespitzt ausgedrückt: nicht nur das Leben in Horden, Sippen, Stämmen, Gauen und Bünden, sondern das in Bruderschaften schlechthin ist eine spezifisch jugendliche Lebensweise.

So wird es dann auch verwirklicht und zwar in Distanz, in grundsätzlicher Abseitsstellung von den Erwachsenen. Die „entscheidende Formel“, wie Blüher es nennt, in der Gründungssatzung des Wandervogels von 1901 lautet: „ohne Beteiligung der Lehrer“, später: „unter Ausschluß der Lehrer“. Dabei steht die Gattung Lehrer natürlich repräsentativ für die ältere Generation überhaupt.

Rückwendung zum einfachen Leben

Die Lebensverwirklichung dieser Jugend in Bund und Gruppe führt wie von selbst in die fundamentalen Lebensweisen von Fahrt und Lager hinein und damit zu einer Rückverbindung mit der Natur, wie sie in den Zeiten der beginnenden Hochzivilisation schon beinahe verloren gewesen war. Die eben erwähnte Satzung des Urwandervogels gibt als seine Zielsetzung an: „Das Wandern unter den Schülern höherer Lehranstalten zu fördern, den Sinn für Naturschönheiten zu wecken und der Jugend Gelegenheit zu geben, Land und Leute aus eigener Erfahrung kennen zu lernen.“ Diese Rückwendung zum einfachen, natürlichen Leben, aus der schlichte Umgangsfähigkeit mit der Natur und ein Sein-können in der Natur folgt, ist ein nahezu ausschließlich deutscher Vorgang; er hat eine Fülle von Folgeerscheinungen im gesamten öffentlichen Leben nach sich gezogen. Man mag ihn als Rousseauismus ironisch abschätzen, doch ist er durch eine derartige Klassifizierung keineswegs erschöpfend interpretiert. Er besitzt Parallelen in der „Woodcraft“ -Bewegung des Amerikaners Thompson Seton und des ihm nachfolgenden Engländers John Hargrave. Beide sind aus dem Scoutismus, jener genialen Erfindung — nicht Entdeckung wie im Wandervogel! — Baden-Powell's hervorgegangen, bei deren Aufkommen die Gleichzeitigkeit mit den deutschen Ereignissen auffällt. Aber keiner dieser angelsächsischen Bewegungen hat auch nur entfernt die epochalgeschichtliche Bedeutung und die Integrationskraft der Jugendbewegung erlangt. Im Scoutismus sind die zivilisationsfeindlichen und kulturrevolutionären Momente sehr bald von einer dominanten gesellschaftlichen Anpassungstendenz überspielt worden, und die viel radikaler ansetzende „Waldverwandtschaft" des „Weißen Fuchses“ (Hargrave) 4a) hat sich rasch zu Ende gelebt, ohne größere Wirkungen zu hinterlassen. Der scharfe Gegensatz, in den die junge Generation zu den Zivilisationserscheinungen ihres Zeitalters gerät, muß doch als ein spezifisch deutsches Vorkommnis genommen werden. Denn sowohl in ihrem anti-zivilisatorischen Affekt wie in ihrer Entdeckung bündischer Lebensformen kommt eine entschlossene und allseitige Abwendung von den Fragwürdigkeiten spätbürgerlicher Lebenswirklichkeit zum Ausdruck, ganz ungeachtet des Grades der Bewußtheit, mit dem dieser Protest erlebt wird. Mit Recht sagt Hans Joachim Schoeps in einer der aufschlußreichsten autobiographischen Darstellungen der bündischen Jahre „Der jugendliche Überschuß, aus dem der Wandervogel lebte, ließ ihn oft geradezu rausch-haft und dionysisch Gemeinschaft erleben und Formen der Gemeinschaft erfahren, die der bürgerlichen Welt unbekannt waren und immer unbekannt bleiben werden. Dies, weil der Bürger ein auf Sicherung und Sicherheit bedachter Mensch ist und wir uns einfach hingegeben haben auf jede Gefahr hin, verpflichtet nur dem Kompaß unseres Gewissens, aber geöffnet dem Ruf der Stunde.“ (S. 33)

Zur Symbolfigur der Sezession aus der „bürgerlichen Welt“ wird sinngemäß eine ganz und gar un-oder gegenbürgerliche Gestalt: der „Pachant“, der „Scholar", der mittelalterliche fahrende Schüler; zum Abzeichen der dahinschwingende Zugvogel, ein Sinnbild übrigens, das sich die Steglitzer LIr-Wandervögel zufällig von einer Grabsteininschrift aufgelesen haben.

Eine „dionysische" Gemeinschaftserfahrung

An dieser Stelle des Rückblicks angelangt, wird man fragen wollen, was eigentlich zuerst da war: eben jene „dionysische" Gemeinschaftserfahrung oder der bewußte Protest gegen die Gesellschaft, bzw. was aus dem anderen folgte. Natürlich läßt sich eine präzis aufgereihte Kausalkette innerhalb von Ereignissen, die unablöslich ineinander verflochten und aufeinander bezogen sind, nicht konstruieren. Bei einer realistischen Nachbetrachtung der Verhältnisse kann man jedoch nicht bestreiten, daß die von den soziabilen Impulsen der Jugend provozierten Vitalerscheinungen vorangingen und erst sekundär von bewußtem Protestverhalten oder gar von Protestakten gefolgt wurden. Das läßt möglicherweise wichtige Rückschlüsse auf bestimmte Grundgesetzlichkeiten des Jugendalters zu, die bisher noch zu wenig beachtet worden sind, obwohl sie wertvolle pädagogische und soziologische Hinweise geben könnten. In der Jugendbewegung hat jedenfalls das „neue Leben" zunächst sich selbst gefunden, bevor es die Schärfe seiner Kontraste zum „Alten“ ins volle Bewußtsein hob und zu einem zivilisationsgegnerischen Widerstand entwickelte

„Fast mit Erstaunen hat der Urwandervogel zur Kenntnis genommen, was er mit seinen Gemeinschaften eigener Gesetzlichkeit und eigenen Wertes der bürgerlichen Welt entgegengesetzt hatte. Die Einsicht in die Fragwürdigkeit der herkömmlichen bürgerlichen Lebensbedingungen war die durchaus unvorhergesehene Folge, nicht der Anlaß seiner Unternehmungen. Die Opposition zur bürgerlichen Welt, dieses so wesentliche Merkmal jugendbewegter Haltung, ist Folge, nicht Ursache. Die Bewegung erlebt zu-nächst sich selbst und findet sich erst, als sie sich dessen bewußt wird, in einem starken Spannungsverhältnis zur Umwelt wieder. Sie bejaht dann allerdings sogleich diesen Gegensatz im Vollzug ihres neuen Fundes. Aber dieser ist ihr jenseits jeder Absicht, zumal jeder polemischen Absicht zugefallen." (Mau a. a. O.)

Natürlich ergeben sich besonders starke Spannungen vor allem gegenüber Elternhaus und Schule. Auf den unmittelbaren Lebensfeldern der Jugend stoßen die Gegensätze heftig aufeinander. Jugendbewegte Lebenssphäre und bürgerliches Erziehungsmilieu vertragen sich nicht miteinander, wie uns die Erinnerungen eines alten Wandervogels belegen mögen

„In dieses abgeerntete Feld erzieherischer Mächte brach der Wandervogel ein — 1911, als ich die Untersekunda besuchte. Mich ergriff diese jugendliche Gemeinschaft mit Leib und Seele, weniger als tippelnden Pachanten denn vom Geiste der Empörung her. Es ging um eine neue Lebensführung, um eine Umwertung der Erwachsenenmaßstäbe, um den Bund verschworener Gleichgesinnter, um das Verlangen, einen Lebensraum für so viel Gärendes, Unerfülltes, Unausgeglichenes zu finden: Ein Reich des jungen Menschen, das ihm selbst, nur ihm gehörte, wie die Natur und die Landschaft, die, jeden Sonntag und wochenlang in den Ferien erobert, uns zueigen wurde, . .. jenseits des faden Schulalltags, der leeren Kompromißwelt der Erwachsenen, ja bald im Kampf gegen sie, gegen Heuchelei und Getue, gegen Unnatur und Fassade und Bevormundung. Worte wie Gemeinschaft, Unbedingtheit, Eigenständigkeit, Erlebnis erhielten einen neuen Klang, einen verpflichtend revolutionären Sinn."

„Wir wollten nichts mit dieser Fassade auf schillernder Oberfläche zu tun haben, mit , herausgestellten'Namen, die angeblich die deutsche

Kulturwelt verkörperten. Von dieser lauten Öffentlichkeit fühlten wir uns nicht bestätigt. Erst dahinter vermuteten wir die eigentlichen Werte des alten Erbes. Das bedeutete die jungenhafte Flucht aus der Großstadt, den , Sprung aus der guten Stube der Eltern': die Fahrt. Die Landstraßen und die Wälder waren der Raum unserer Freiheit, unseres Selbstbewußtseins, der Raum einer . Könnensverwirklichung'.

Unser erster Zusammenstoß mit der Schule (ereignete sich, als wir) wider alle Vorschrift barhäuptig, ohne die stolze Pennälermütze gingen, als Konfirmierte kurze Hosen und . Schiller-kragen'trugen, überhaupt auf unser Gymnasiastendasein gar keinen Wert legten und (als) wir alle, einschließlich der Studenten, ja weniger junger Lehrer, , Du‘ zueinander sagten, alles was die Nadel mit dem silbernen Greifen auf blauem Grunde trug." „Die Enthaltsamkeit im Trinken und Rauchen (und selbstverständlich auch in geschlechtlichen Dingen) war einer unserer geheiligten Glaubenssätze. Beim Abitur festeten wir für uns mit einem großen Feuer, in das wir unter boshaften Sprüchen die Schulbücher warfen, dann mit einer mehrtägigen Brockenwanderung." (S. 7)

Recht bezeichnend erzählt Mitgau dann weiter davon, wie ihm sein Vater vorgeworfen habe, er würde „gesellschaftlich zu anspruchslos“. Solche und wohl auch noch feindseligere Reaktionen hat das für damalige Vorstellungen natürlich recht anstößige Verhalten bei den Erwachsenen häufig hervorgerufen, kein Wunder, wenn man etwa über Hans Wix, einen Marburger Studenten und Mitbegründer der dortigen jugendbewegten Studentenverbindung A. V. Marburg, liest: „Er trug kurze Hosen und erschien gelegentlich gar mit nackten Knien und in Sandalen in der Vorlesung."

Großer Aufbruch in ein neues Zeitalter?

Soweit wir also die Entstehung autonomer Gemeinschaften und die damit verbundenen Vorgänge einer eigenständigen Formgebung, Sittigung und Versittlichung des Lebens, seiner doch sehr wirksamen Ethisierung im Auge haben, können wir die Frage nach bewußten kultur-revolutionären Zielen der Jugendbewegung nur bedingt bejahen. Zwar provozieren die damaligen Konventionen mit besonderer Heftigkeit den Widerspruch der Jugend 8a), aber ihr Protest gegen die Eltern, gegen die brüchige Moral des wilhelminischen Bürgertums, gegen die Zwängnisse unjugendlicher, naturferner Lebensweisen hat möglicherweise an vielen Stellen nicht viel mehr bedeutet als die graduelle Potenzierung eines immer wiederkehrenden, zu allen Zeiten zu beobachtenden Gegensatzes zwisehen den Generationen, übertragen auf Lebensgefühl und Lebensgewohnheiten, aber im Grunde doch ohne das Pathos eines weltenwendenden Sendungswillens, das der Jugendbewegung zugesprochen wird. Auch der Widerstand des Wandervogels gegen Urbanisierung, Technisierung und Überzivilisation (wie die Lebens-erscheinungen eben damals empfunden wurden), die Flucht aus den Städten in die Wälder, braucht nicht überall und notwendig als Ausdruck jenes „großen Aufbruchs" in ein neues Zeitalter gedeutet zu werden, den man der Jugendbewegung bis heute so gern unterstellt. Ähnliche Erscheinungen ließen sich, wie bereits angedeutet, auch aus anderen Ländern und Zeiten nachweisen.

Immerhin führt die Erinnerung an die großen anti-zivilisatorischen Motive und Leidenschaften dieser jungen Generation doch schon an die Kernzone der ihr innewohnenden geistigen Gehalte und Impulse heran, unabhängig davon, bis zu welchem Grad der Bewußtheit die Jugendlichen vor dem ersten Weltkrieg die kritischen Zusammenhänge erlebt haben. Übrigens hielt diese kulturkritische Opposition über den ganzen Ablauf der Jugendbewegung hindurch an, jedoch in sehr ungleicher Stärke und auch mit bemerkenswerten inhaltlichen Akzentverschiebungen, im ganzen jedenfalls sich allmählich verdünnend und modifizierend. Diesbezüglich differenzierten sich z. B. die bündischen Ordnungsphasen der Bewegung (nach 1921) überaus deutlich von den lebensreformerischen Tendenzen der ersten eineinhalb Jahrzehnte. Die radikalen Abstinenzprogramme, die um 1908 im Gefolge der Anti-Alkohol-und Nikotinbewegung in den Wandervogel eindrangen, wurden später mehr und mehr preisgegeben. Das Natur-Aposteltum der Frühzeit verschwand; aus dem langmähnigen Scholaren im bunten Kuttenkittel wurde der fast soldatisch straffe Freischärler im Trachtenhemd seines Bundes. Anfangs der zwanziger Jahre kamen auch die kleineren und größeren Zeltlager auf. Sie verdrängten zwar die Formen des „Tippelns“ und „Klotzens“, also den eigentlichen Fahrtenstil keineswegs, ergänzten sie aber bedeutsam in Richtung geschlossenerer und strengerer Zuchtformen. Ganz aFgemein gesprochen: Das rauhbeinige Naturburschentum der Vorkriegsjahre verwandelte sich allmählich in einen gefaßteren und disziplinierteren Lebensstil, ohne indessen an Spontaneität zu verlieren. Lingemindert blieb auch der prinzipielle Widerspruch gegen die „bürgerliche Welt von gestern“ erhalten.

So ist alles in allem der jüngst erschienenen Darstellung eines Autors zuzustimmen, der — obwohl nicht selbst der Jugendbewegung entstammend — ihr mit beachtlicher Einfühlungsgabe und dank sorgfältiger Studien weithin gerecht wird und sich dadurch von manchem der zahlreichen Nachbetrachter der letzten Jahre vorteilhaft unterscheidet: „Der Wandervogel ist oft als . eine Revolution der Jugend gegen die drückende Macht der Altersgeneration'(Blüher, Der Charakter der Jugendbewegung, 1921) bezeichnet worden. Das ist eine Deutung, die zu sehr im Vordergründigen stehen bleibt und in dieser Ausschließlichkeit für die Aufbruchzeit nicht gilt. Es ist zweifellos richtig, daß ein wesentliches Merkmal dieser ersten Welle der deutschen Jugendbewegung das Streben nach Freiheit war. Dieses Streben war aber nicht in erster Linie aus Generationskollisionen entstanden, sondern aus einem ganz natürlichen neuen Solidaritätsgefühl erwachsen, das nach einer selbstgestalteten, intensiveren Gemeinschaft suchte und in Frage und Widerspruch die Festigkeit und Geschlossenheit der Welt der Väter prüfte. Was der Bewegung der jungen Generation in Deutschland um die Jahrhundertwende dennoch einen so einzigartigen Rang und Namen verlieh, war die Tatsache, daß sich hier mit diesem natürlichen Neuerungswillen der Jugend das . halb unbewußte Ahnen der Kulturkrise'(Viktor Engelhard) verband. Dieses tiefe Ungenügen an einer verkehrten Welt, mehr geahnt als gewußt, war es, was die jungen Menschen in die Natur und in die Vergangenheit trieb. Wollte die Jugend früherer Generationen trotz aller Worte und Taten des Widerspruchs nur das Werk der Väter ergänzen und verbessern, ohne sich der Grundrichtung und dem Rahmen der väterlichen Welt zu entziehen, so empfand die Jugend der Jahrhundertwende es als notwendig, völlig mit der Über-lieferung der Väter zu brechen und einer Zeit abzusagen, in der sie nur Erfüllung, Erstarrung und Schablone wähnte ... Hier entstand ein wertbetontes Selbstbewußtsein, das sich mit dem Glauben an die eigene Mächtigkeit und Höher-wertigkeit des jugendlichen Lebens verband. So wurde der , Wille zu einer autonomen Gestaltung ihre leitende Idee'(Arnold Bergsträßer, 1927)“ ... „Diese Bewegung hat sich so nur in Deutschland ereignet, und man kann sie nur verstehen, wenn man Zeitpunkt und Land ihres Aufbruchs betrachtet, . . . eine Bewegung, die, an der Schwelle eines neuen Zeitalters stehend, die Konsequenzen der heraufkommenden technisierten Arbeitswelt ahnt und sich dagegen sträubt — aus Angst und romantischem Beharrungsvermögen, das die Welt so umbiegen will, daß sie einem Idealbild entspricht, oder auch bei den Aufgeschlossensten ihrer Vertreter aus dem Gefühl, daß ein neues Zeitalter nur von einem neuen Menschen in einer neuen Gesellschaft geformt werden kann.“ (Felix Raabe).

Auch hier wird also die Ansicht vertreten, daß sich das Protestverhalten jener jungen Generation nicht auf den bisher geschilderten Bereich autonomer Gruppenbildung und lebensreformerischer Bestrebungen beschränkt, sondern in epochalrevolutionäre Haltungen vorstößt und damit das Kampffeld der großen geistigen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen betritt. „Bei aller Ablehnung der Welt, in die jene jungen und jugendbewußten Menschen hinein geboren waren, bei aller Freude an einer selbst-verantwortlichen Lebensgestaltung haben sie ihre eigene Zukunft als formende Kraft in dieser Gesellschaft nie ganz ableugnen wollen. Sie sind nicht desinteressiert an der Gesellschaft.“ (Charlotte Lütkens) Dem Heraufkommen neuer Wirklichkeiten auf fast allen Lebensgebieten liefert diese junge Generation einen höchst aktiven und einsatzbereiten Vortrupp leidenschaftlich ergriffener Kämpfernaturen.

Einwirkungsversuche älterer Menschen

Worauf ist nun diese ausgreifende Dimensionierung im Jugendprotest einer geschichtlichen Periode zurückzuführen, wie ist sie zu erklären? Eine Reihe von Ursachen und Gründen kann aufgezeigt werden, ungeachtet der zahlreichen Imponderabilien, die in solche Vorgänge stets miteinfließen und die begrifflich nicht zu fassen sind.

Zunächst einmal ist auf die wiederholte Einflußnahme oder auf Einwirkungsversuche älterer Menschen jener Zeit hinzuweisen. Literaten, Lebenserneuerer, Kulturapostel verschiedener Konvenienz haben mit der Jugendbewegung sympathisiert und sich ihr genähert. Indem sie ihre teils berechtigte, teils übersteigerte Zeitkritik in die Jugend auf mancherlei Wegen einströmen ließen, haben sie zweifellos deren revolutionäres Pathos verstärkt und inhaltlich ausrichten geholfen. Das gilt vor allem für Gustav Wyneken, den Begründer der „Freien Schulgemeinde“ Wickersdorf, der in seinen Zeitschriften „Anfang“ bzw. „Aufbruch“ die Idee einer „Jugendkultur" den abgelebten Erscheinungsformen der Erwachsenenwelt gegenüberstellte und der auch mehrere Male in persönlichem Auftreten versucht hat, die Jugend unter seine geistige Führung zu bringen. In einem Aufruf zum Hohen Meißner-Fest, bei dem er selbst zugegen war und gesprochen hat, formuliert er seine Thesen folgendermaßen: „Die Jugend, bisher nur ein Anhängsel der alten Generation, aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet, angewiesen auf die passive Rolle des Lernens, auf eine spielerisch-nichtige Geselligkeit, beginnt sich auf sich selbst zu besinnen. Sie versucht sich selbst ihr Leben zu gestalten, unabhängig von den trägen Gewohnheiten des Alten und von den Geboten einer häßlichen Konvention. Sie strebt nach einer Lebensführung, die jugendlichem Wesen entspricht, die es ihr aber zugleich ermöglicht, sich selbst und ihr Tun ernst zu nehmen und sich als einen besonderen Faktor in die allgemeine Kulturarbeit einzugliedern. Uns allen schwebt als gemeinsames Ziel vor: die Erarbeitung einer neuen, edlen Jugendkultur.“

Eine weit stärkere Wirkung als Wynekens Appelle übten die zahlreichen Schriften Hans Blüher’s aus. Deren leitendes Gedankengut finden wir, nachträglich zusammengefaßt, in dem Kapitel „Wandervogel“ seiner späteren Autobiographie wieder Dort lesen wir etwa: „Die politische Revolution, in deren Zeichen das ausgehende wilhelminische Zeitalter stand, war nur ein Sonderfall innerhalb eines allgemeinen revolutionären Vorganges, in dem die Welt, ja die Natur selber sich befand und der auf allen Gebieten des Lebens sichtbar wurde. .. . Revolution gab es in der Dichtung, sogar in der höheren Prosa, Revolution in der Malerei, Revolution in der Pädagogik (die Berthold Otto-Schule, die Bewegung , vom Kinde her', Wynekens . Freie Schulgemeinde'), Revolution in der Musik, und sogar die physikalische Weltanschauung durchlebte revolutionäre Phasen, die noch heute nicht abgeschlossen sind. Und so gab es auch folgerichtig eine . Revolution der Jugend', die zuerst den Namen Wandervogel, später Jugendbewegung (trug). . ..“ „Der Wandervogel ist eine revolutionäre Jugendbewegung, die sich gegen die Väterkultur und gegen den Geist des Zeitalters zugunsten eines freien Standes der Jugend richtet. ... Diese Betrachtungsweise war völlig neu. ... Niemand kann leugnen, daß erst durch die Geschichte des Wandervogels und keinen Augenblick früher das Selbstbewußtsein der Jugend-bewegung und damit diese selbst erzeugt worden ist.“

Besorgt um unabhängiges Denken

Über die tatsächliche Dauer-und Tiefenwirkung solcher literarischer Infiltrationen, für die natürlich noch viele andere Namen jener Zeit stehen könnten, soll man sich indessen keiner Täuschung hingeben. Sie stießen mindestens ebensooft auf Abwehr wie auf Gefolgschaft. Wenn auch das zeitkritische Problembewußtsein der jungen Generation durch das weit verbreitete Schrifttum dieser Art unzweifelhaft geschärft worden ist, so hat doch keiner unter den Jugendbewegungsliteraten eine wirklich maßgebliche Führungsrolle erreichen können. Die Wandervogel-Blätter jener Jahre, die — übrigens geistig sehr anspruchsvollen — Älterenzeitschriften der Bewegung wie etwa die „Freideutsche Jugend“ (Monatsschrift der Frei-deutschen Jugend) oder „Der Weiße Ritter“ (1920— 1925), die dann von der „Deutsche Frei-schar“, der Führerzeitschrift des gleichnamigen Bundes abgelöst wurde, bekunden an vielen Stellen, wie kritisch und vorurteilsfrei die Meinungsbildung in der damaligen Jugend vor sich ging, wie sehr sie, gemäß einem ihrer Grundsätze, um unabhängiges Denken, um „Unbedingtheit“ und „innere Wahrhaftigkeit" besorgt geblieben ist. Übrigens ist auch die Einstellung zu Elternhaus und Schule niemals so extrem ablehnend geworden wie es diese oder jene außenseitige Programmliteratur zu demonstrieren suchte, und das oft betont zur Schau gestellte „Heidentum“ der Jugendbewegung hat sich nicht nur mit ausgesprochen christlichen Elementen, sondern auch mit Erneuerungswirkungen in beiden Konfessionskirchen ausgezeichnet vertragen. Charakteristisch für die in der Jugendbewegung vorhandenen Abwehrinstinkte gegenüber derartigen Verfremdungsversuchen ist eine Bemerkung aus einem Bericht, den K. Ulrich, ein Freund Adolf Reichweins, über den aus dem Wandervogel hervorgegangenen bekannten Pädagogen und Widerstandskämpfer abgibt „Er lehnte ganz bewußt alle exzentrischen Reformpläne, die an die Jugendbewegung von älteren, einseitigen Aposteln herangetragen wurden, ab. Was bedeuteten auch lang gewachsene Haare, Geldreform nach Silvio Gesell, altdeutsche Kittel und Reformkleider, Bodenreform (Damaschke) und . Zurück zur Natur’‘-Ideen mit Nacktkultur (der Autor hieß Ungewitter), Reformsandalen und ähnliche Problemchen gegen die ein-fache klare Gesinnung einer Jugend, die wanderte, um sie selbst sein zu können.“ (Geschrieben 1917)

Aus einem seiner Tagebuchblätter vom Jahre 1923, das Hans Joachim Schoeps vorlegt, sei folgende Bemerkung angeführt: Einer sagt: „Von allen Seiten werden Ansprüche an uns gestellt. Wir aber können uns nicht vor der Zeit binden. Wir stehen außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, außerhalb von Kirchen und Parteien. Auf den Altar, der dem unbekannten Gott errichtet ist, lassen wir uns keine Götzen stellen. Freideutsch sein heißt wahrhaftig sein bis zur Selbstpreisgabe. Wir können kein Programm haben. Die Wahrhaftigkeit ist unser Programm." (a. a. O. S. 35)

In engem Kontakt mit den großen Geistern der Nation

Gerade dieses Selbstzeugnis läßt uns an einem exemplarischen Fall erkennen, wo einer der Hauptgründe für die auffallend starke kritische Bewegtheit der damaligen Generationsreihen zu suchen ist. Sie liegen nicht so sehr in von außen einflutenden literarischen Motiven als in der Einwanderung einer besonders wachen geistigen Ausleseschicht der seinerzeitigen „Jungmannschaft", d. h. in erster Linie von Primanern und Studenten, aber auch von nicht„akademischer" Jugend in die Reihen der Jugendbewegung. Viele von ihnen kamen aus der Schule der besten Universitätslehrer der Zeit. Die Akademische Vereinigung Marburg pflegte nahen Umgang mit Natorp, Cohen, Heidegger und anderen die Berliner Neupfadpfinder mit Spranger, die Göttinger Freideutschen mit Nohl, die Schlesische Jungmannschaft mit Rosenstock, um nur einige Beispiele zu nennen.

Es ist höchst eindrucksvoll, berichtet zu bekommen, in welch dichtem Lehrer-Schüler-Verhältnis sich das akademische Leben jener Epoche doch noch an manchen Stellen entfaltete und mit welchem Verständnis sich etliche der hohen Geister der Nation den kritischen Begabungen der Jugend ihrer Zeit zu öffnen wußten. Das Suchen nach neuen Werten und Inhalten ergriff eben die Besten unseres Volkes quer durch die Altersgruppen und verband manchmal alt und jung zu einem Meister-Jünger-Bund. Die Ausstrahlungen auf das geistige Leben der Jugend-bewegung waren in solchen Fällen beträchtlich.

Umgekehrt läßt sich aber auch ein reges wissenschaftliches Interesse einiger namhafter Gelehrten an dem Phänomen Jugendbewegung nachweisen, wofür stellvertretend die Namen Hermann Nohl und Eduard Spranger genannt seien.

Da man sich in den so bewegten Kreisen der älteren Jugend stets und überall bemühte, den Tiefenfragen der menschlichen Existenz nachzuspüren, füllte das „Probleme-Wälzen“ die Gespräche auf Fahrt und am Feuer, in den Tisch-runden und während der Heimabende, soweit die Bedürfnisse des „einfachen Lebens" und seines ausgebreiteten musischen Beiwerks nur immer dazu Zeit ließen. Schoeps erzählt hiervon sehr launig: „Das unvermeidliche Problematisieren war im Gange. Probleme gab es wie Sand am Meer, und weil sie alle gelöst werden mußten, ging es uns mitunter wie dem heiligen Franziskus, der in seine Gedanken so versunken war, daß er den See nicht mehr bemerkte, an dem er schon seit Stunden entlang ritt." (a. a. O. S. 42)

Die Beteiligten pflegten solche Aussprachen zu führen, „als ob Deutschlands, ja der ganzen Welt Schicksal von ihnen abhinge" (Schoeps). Sie hielten sich für „Vorweggenommene, die stellvertretend für die Nation geistige Schlachten schlugen,“ und glaubten heiligen Ernstes, daß sie dem Kommenden den Weg bereiteten und daß ihr eigenes Ringen für Deutschlands und der Welt Zukunft wesentlich und hilfreich sei.

Diskutierer und Problematiker

Die Diskutierer und Problematiker waren zu allen Zeiten ein häufiger Typ unter den Jugend-bewegten; während der Frühphase fanden sie sich besonders zahlreich in der „Freideutschen Jugend", einer losen Vereinigung älterer Jugendlicher, „die den alten Wandervögeln von Anfang an verdächtig, ja ärgerlich war. Dieser (Freideutschen Jugend) ging es sehr bewußt um Protest und um chiliastische Vorstellungen einer kulturellen wie politischen Sendung. So lebendig in freideutschen Kreisen Fragen der Kultur-kritik, der Gegenwartspolitik, des Volkstums, des Studententums wie der Völkerversöhnung, der sozialen Erneuerung wie der Gesundung im Sinne der . Lebensreform* in geradezu erstaunlicher Wiederholung besprochen wurden, so ist von hier kein eigentlich wissenschaftlicher Anstoß ausgegangen." So beschreibt Hermann Mit-gau die Vorkriegs-Situation großer Teile der Jugendbewegung, (a. a. O. S. 10/11)

Für die inneren Veränderungen nach 1920 ist ein Selbstzeugnis typisch, das Schoeps in dem dokumentarischen Anhang seines Buches vorlegt. Es ist überschrieben: „Wesen und Aufgabe freideutscher Jungmannschaft“ (1927) und enthält folgende Sätze:

„Die . Freideutsche Jugend'war der Ausdruck einer ganz bestimmten Zeitsituation. Soweit ihr bewußtes Wollen nach außen hin programmatische Form fand, wie in der Meißner Formel, handelte es sich um Abwehr und Protest.... Sie mußte Sturm laufen gegen den Geist des Bürgertums, gegen den sie protestierte. Das hat sie getan.... Es gibt keinen größeren Gegensatz als den des freideutschen Menschen, der in ständiger Revolution des Geistes und des Gewissens nach allen Seiten hin in der Welt steht, zum bürgerlichen Menschen, der in der , Burg‘ seiner Geschäfte und Interessen von der Welt sich abkapselt. Diese Polarität spürte die nachfolgende Generation bereits nicht mehr. Die Nachkriegsgeneration war anders geartet, ihre ganze äußere Lage war eine andere, denn ihrem Freiheitswillen standen kaum noch Widerstände von Seiten des Elternhauses oder der Schule entgegen; sie hatte infolgedessen nicht die gleiche Haltung und dieselbe Spannung, ganz andere Interessen füllten sie aus, und ihre Problematik wie ihr Ringen waren von dem der Älteren ganz verschieden.

Freideutsch sein heißt, sich dauernd herausgefordert zu wissen, niemals geistige Ruhe und seelische Zufriedenheit zu haben und sich in ewiger Proteststellung zu den Menschen und Ordnungen der Welt zu wissen, soweit und solange diese nicht seinen Forderungen der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit entsprechen.“ (a. a. O. S. 179 ff.)

Etwas später fährt Schoeps dann fort: „Anstelle bisweilen überspitzter Autonomieforderungen tritt heute ein stärkeres Hören auf die Stimme der ewigen Autoritäten, denen man in seinem Leben Raum zu geben gewillt ist. Der Inhalt der neuen Freiheit besteht nicht mehr in der Loslösung von allen überkommenen Bindungen, nicht mehr in der Verwerfung jeglicher Autorität, sondern in der freiwillig einzugehen-den Bindung an ewige Mächte und höhere Werte, in dem Beugen unter die göttliche Autorität, wo immer sie dem Suchenden entgegentreten mag. Hier darf nur mehr aussagen wollen, wer ein spezifisch religiöses Anliegen hat.“ „(Was) als Haltung des geistig revolutionären Menschen schlechthin bezeichnet werden kann, ist heute nicht mehr wie etwa 1913 geschichtlich notwendig. . . . Aber sie ist übergeschichtlich, metaphysisch von einem ganz bestimmten Menschentypus gefordert, der wenngleich zahlenmäßig schwach, in jeder, wenn auch noch so unrevolutionären Generation vorkommt. Um die Sammlung dieser Jungen aus der Nachkriegsgeneration geht unser Bemühen. Hierbei bereitet allerdings das Fehlen aller äußeren Anlässe, die die Notwendigkeit einer revolutio- nären und protestierenden Haltung auch dem jüngsten Buben selbstverständlich machen könnten, die größte Schwierigkeit. Denn es ist sehr schwer, diese Haltung sichtbar für jedermann zu realisieren." (a. a. O. S. 184)

Bei der Deutung solcher Texte ist freilich stets zu bedenken, daß diese Versuche einer Selbstinterpretation schon aus alterspsychologischen Gründen anders zu beurteilen sind „als Selbstdeutungen und Programme, die von einem geistigen oder politischen Willen an die Öffentlichkeit getragen werden, der in irgendeinem Grade reif und zu vorläufigem Abschluß gekommen ist. Das Alter, in dem sich die Ereignisse der Jugendbewegung abspielen, arbeitet erst an dem Aufbau von Leben und Geist, Wert und Erfahrung, der ermöglichen würde, von sich Rechenschaft abzulegen und das eigene Dasein in hinreichend zutreffenden Maßen auf die äußere Welt zu beziehen. Das Erlebnis ist zu überschwemmend, um geistig beherrscht zu werden und zugleich zu zart und konturlos, als daß es auch nur dem eigenen Denken und Sagen preisgegeben sein möchte. Das Wesentliche wird verschwiegen: was gesagt, noch mehr, was geschrieben wird, ist mit Ausnahmekampfbestimmter Auseinandersetzungen oft und dabei vielfach unbewußt der phantasiemäßigen Überhöhung und Erweiterung des inneren Lebens gewidmet.“

Eine Fülle von Gegensätzlichkeiten

Wieviel aber auch mit nur unzulänglicher Stimme laut geworden sein mag, so künden doch alle diese Bekenntnisse von einer geradezu verwirrenden Fülle der Inhalte, die in der Vorstellung, in der Gefühls-und Willenswelt der Jugendbewegung beheimatet sind. Die Vielfalt dieses inneren Lebens ist schlechterdings auf keinen einheitlichen Nenner zu bringen, wenn man nicht Intensität und Dynamik des geistigen Erfahrens als einen solchen anerkennen will. Es bringt eine Menge von Gegensätzlichkeiten hervor, die schwer oder gar nicht zu vereinbaren sind, ja oft von Paradoxien, die dem Außenstehenden die Auslegung des Phänomens Jugendbewegung nahezu unmöglich erscheinen lassen bzw. zu einer Unzahl von Fehldeutungen Anlaß geben konnten und heute noch geben. Solche Gegensätze sind beispielsweise bereits auf dem Hohen Meißner zutage getreten, wo dann hinterher „eine starke Strömung entsteht, allen Älterenbünden, die für irgendwelche lebensreformerischen, politischen oder sozialen Ziele werben, den Austritt nahezulegen."

Aber so wenig diese „Strömung" ernstlich zum Tragen gekommen ist, so wenig hat das durchweg vorhandene Bewußtsein gedanklicher Divergenzen das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bewegung im ganzen zu stören vermocht. Im politischen Feld reicht es bis in die äußersten Radikalitäten von links und von rechts. Es umschließt Christen und Juden, Katholiken und Protestanten und Heiden. „Erlebnis und Gefühl sind das Verbindende, Bewegung-Zeugende, nicht Erkenntnis und Gedanke.“ (Mau a. a. O.) Für seinesgleichen besitzt der Jugendbewegte einen untrüglichen Instinkt und erkennt ihn an. Ebenso untrüglich scheidet er von sich ab, was nicht gleich ihm dem Gesetz der inneren Wahrhaftigkeit und Freiheit unterworfen ist. Auch dies mag als Kriterium eines Protestes in Permanenz genommen werden, wodurch die Jugend-bewegung gekennzeichnet ist.

Vielleicht darf es als eine Folge davon erklärt werden, wenn die jugendbewegten Menschen aus einem Zustand ständiger Bereitschaft nicht herausfinden wollten und konnten. „Bereit sein ist alles!" hieß eine oft gehörte Parole der bündischen Jahre. So willig man sich den neu ent-deckten sozialen Prinzipien hingab, so wenig war man geneigt, sich endgültigen geistigen Formungskategorien zu unterwerfen. Was nur entfernt die Verlockung zu Programm und

System in sich barg, begegnete äußerstem Mißtrauen. Es sei eben alles Gefühl geblieben, was Gedanke hätte werden müssen, um geschichtswirksam zu sein, meint Hermann Mau (a. a. O.).

Es bleibe dahingestellt, ob ein so summarisches LIrteil einer kritischen Analyse standhält. Sicher ist, daß die Jugendbewegung in allen ihren Phasen durch eine sorgfältig kultivierte Erwartenshaltung auffällt, die sich zwar dem Zeitenwechsel entsprechend mehrmals inhaltlich bedeutsam abwandelt, die aber tatsächlich „einem Zustand vergleichbar ist, in dem sich religiöse Urerlebnisse abspielen“ (Mau). So sind ihr phantasieüberladene politische Zielbilder, wie sie etwa der „Hochbund" -Gedanke einiger Bünde oder die Idee der Neupfadfinder vom „Neuen Reich“ darstellen, ebensowenig fremd gewesen wie messianische oder chiliastische Träume. Aber obgleich in ihr mitunter prophetische Gestalten von hoher visionärer Mächtigkeit anzutreffen waren, so blieb doch das eigentliche Pfingstwunder aus

Versuch einer Überwindung des 19. Jahrhunderts

Angesichts solcher Betrachtungen tritt nun deutlich die dritte und wohl entscheidende Kausalkette hervor, die die Jugendbewegung als geistige Bewegung fundiert: die ungewöhnliche und stete Herausforderung durch den epochalen Umbruchcharakter der geschichtlichen Verhältnisse, in die sie sich hi Jahrhunderts

Angesichts solcher Betrachtungen tritt nun deutlich die dritte und wohl entscheidende Kausalkette hervor, die die Jugendbewegung als geistige Bewegung fundiert: die ungewöhnliche und stete Herausforderung durch den epochalen Umbruchcharakter der geschichtlichen Verhältnisse, in die sie sich hineingestellt findet. Arnold Bergsträßer äußert schon 1927: Sobald die Jugendlichen sich selbst Rechenschaft zu geben suchten, von welchen Kräften sie eigentlich getrieben seien, „da hatten sie kaum etwas anderes zu sagen, als eine leidenschaftliche und eindringliche Kritik an fast allem, was in ihrer Umgebung als groß und bedeutend und wertvoll galt.“ Es ging ihnen um eine radikale religiöse, politische und soziale Erneuerung, um die Über-windung der Schlacken, die das 19. Jahrhundert hinterlassen hatte, seines Materialismus, Intellektualismus und all jener anderen Ismen und ähnlichen Gebilden, gegen die bereits Nietzsche und die übrigen Kulturkritiker aufgestanden waren. Indem sich die Jugend in den großen Reigen der totalen Erneuerungsaktionen der Jahrhundertwende einreihte, wurde ihre Bewegung selbst zu einer besonders nachhaltigen „humanen Erneuerungsbewegung" 18). Das potenzierte Engagement der jungen Generation hierbei erklärt sich wohl daraus, daß die Jugend „noch unmittelbarer und schmerzlicher als viele Erwachsene den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit erfuhr" (Felix Raabe a. a. O. S. 19)

Erkennt man diese Auslegungen als untergründige geschichtliche Wahrheit an, so wird vollends offenbar, in welchem Maße die Jugend-bewegung vom allgemeinen Widerspruchscharakter ihrer Epoche erfüllt gewesen ist und wie kräftig sie ihn selbst mitgetragen hat. Sie hat den großen historischen Protest ihres Zeitalters in sich ausgenommen und fortentwickelt, sie hat dabei klassische Formen ausgebildet und ist dadurch selbst in den Rang der Klassizität aufgerückt.

Gibt es ein aktualisierbares Vermächtnis?

Aber ist sie damit zum überzeitlich gültigen Modellfall geworden? Besitzt ihr Klassisches aktualitätshaltiges Erbe, aktualisierbare Vermächtniskräfte? Die Frage nach der Mustergültigkeit der Jugendbewegung läßt sich nicht vorschnell mit einem glatten Ja oder Nein beantworten. In einem vor einem halben Menschenalter geschriebenen Aufsatz finden wir folgende Bemerkung 19): „Der Ablauf der Geschichte kennt Zeiten der Erstarrung mit nachfolgender revolutionärer Veränderung der Kulturziele. In den Epochen klassischer Vollendung ist Jugendbewegung unmög-lich. Die Kulturwerte sind gegeben. Es sind die Werte, die die erwachsene Generation vertritt. In der klassischen Epoche hat die Jugend eine einzige Aufgabe: hineinzuwachsen in die gegebenen Werte der Zeit... Die Väter sind Wegbereiter der Söhne. Die Söhne vollenden das väterliche Ideal. Eine . Kulturbewegung'ist vorhanden, von einer Jugendbewegung'aber kann man nicht sprechen, weil keine nur der jungen Generation eigentümlichen Werte ausgebildet werden. Väter und Söhne stehen im selben Kulturstrom.... Bleibt für die Jugendbewegung nur die Übergangszeit. Der Charakter der Übergangszeit ist durch das unsichere . zwischen gestern und morgen'gegeben. Das Alte ist noch — aber ist wertlos geworden. Das Neue ist noch nicht — aber es ist geistig, als Sehnsucht lebendig."

Vielleicht enthalten diese Sätze einen Schlüssel zum Verständnis der auf-und niedersteigenden Effizienzen solcher Protest-und Ablösungsbewegungen, ähnlich wie uns auch das Bild von Ebbe und Flut oder vom Auf und Nieder der Wellen manche phasenhaft auftretenden Blüte-bzw. Ermattungserscheinungen erklären kann. Sicherlich gibt es derartige Rhythmen in der Kulturgeschichte hochentwickelter Völker, sicherlich hat auch der Stand der Gezeiten die ungewöhnliche Erregbarkeit der Jugendreihen in den ersten dreißig Jahren unseres Jahrhunderts stark begünstigt.

Aber das alles sind vorläufige Antworten. Gewiß, dank ihres elementaren Wesens war die Jugendbewegung ein Teil, und nicht der geringste, der allgemeinen und großen „Bewegung des Lebens selbst, und sofern man die Bewältigung des Lebens selbst in unserer Zeit als Leistung gelten lassen will, so kann die Jugend-bewegung sie für sich in Anspruch nehmen.“ (Hermann Mau, a. a. O.) Dieser Auftrag ist indessen jeder Jugend gestellt, und er ist mehr als einmal geglückt.

Allerdings ist die Not des Menschseins in jener Epoche besonders groß gewesen. Sind nun die Bedrängnisse inzwischen geringer geworden, und stieß die Jugendbewegung vielleicht gar nicht nur auf die Not weniger Jahrzehnte, sondern auf die eines Jahrhunderts? Ist nicht die komplexe und andauernde soziale Problematik unseres Zeitalters auch zum Schicksal der Jugendbewegung geworden, und hat sie nicht durch sich selbst eine Antwort darauf erteilt?

Sie tat es, indem sie ihren Menschen zu lebendiger Gemeinschaft verhalf. In den Entdekkungen von Bund und Gruppe ist sie mustergültig geworden. Die Alternative im Jugendleben unserer Zeit lautet ja keineswegs: Anpassung im Rollenspiel der erwachsenen Massengesellschaft oder Zellenbildung menschlicher Gemeinschaften, sondern Denaturierung oder Humanisierung, Sinnentleerung oder Sinnerfüllung, Verflachung bis zur Langweile des Taedium vitae oder seelische Substanzanreicherung innerhalb des mitmenschlichen Daseins. So gesehen, läßt sich wirklich die Überzeugung Hermann Mau’s teilen, daß das latente Zielbild der Jugendbewegung „noch immer und heute mehr denn je von höchster Aktualität" sei.

Die Formel von der „Echtheit”

Was heißt aber schließlich: lebendige Gemeinschaft, und welches sind die Kriterien dieser Lebendigkeit, der soviel geheime Kraft zugetraut wird? Wir dürfen sie wiederum nur aus der existenziellen Wirklichkeit ablesen, wenn wir uns nicht selber betrügen wollen. Diese Kriterien sind jedoch sogar innerhalb des so schwer durchschaubaren inneren Wirrwarrs der jugend-bewegten Gruppierungen erkennbar.

Sie sind zu entschlüsseln aus der Wahrheits-, besser gesagt der Wahrhaftigkeitsfrage, von der alles Sein in der Jugendbewegung unabdinglich gerichtet war. Häufig ist sie unter der Formel der „Echtheit“ aufgetreten. Im Alltag der Horden suchte man nach „echten“ Kerlen, die man für sich gewinnen wollte. Das Leben in Wald und Heide hielt man für „echt" gegenüber der Unnatur in den „Asphaltwüsten''der Städte. Das Volkslied galt für „echt“, und darum sang man es, ebenso die Volkstänze und Hans Sachs-Spiele. Die gotischen Dome, die Ritterburgen und Patrizierhäuser der Vergangenheit nahm man als „echten" Ausdruck des jeweiligen Zeit-gefühls, darum bewunderte man sie. Die Formel von der Echtheit besaß paradigmatische Bedeutung. Sie barg unüberhörbar in sich den Anspruch auf Lauterkeit, auf Übereinstimmung des Innen mit dem Außen, auf geistige Redlichkeit und Wertbeständigkeit, auf „innere Wahrhaftigkeit“. Mit diesem Terminus taucht sie in dem Bekenntnis vom Hohen Meißner auf, das trotz seiner inhaltlichen Schwächen mit Recht bis auf den heutigen Tag als eine Art Wahrwort der Jugendbewegung gilt. Auch dort sind die Forderungen der „eigenen Verantwortung“ und der „inneren Wahrhaftigkeit" mit sittlichen Postulaten, mit geistigen Ordnungsvorstellungen, die an die Kategorien des Ursprünglichen und des Einfachen geknüpft waren, unüberhörbar koordiniert gewesen. Was sie bedeuteten, und welche Gesinnung ihnen letztlich zugrunde lag, dürfen wir mit den Worten von H. J. Schoeps wiedergeben: „Die Wahrhaftigkeit, die mit dieser Autonomieformel gemeint war, war mehr als eine Wahrhaftigkeit im normalen Sinne, nämlich eine metaphysische Wahrhaftigkeit, die so viel Unbedingtheit hat, daß sie den Mut aufbringt, allen Wirklichkeiten der Welt — auch den tragischen — ins Auge zu sehen. Das bedeutete für uns, stets frei auf den Anruf des Gewissens zu reagieren und mit allem, was uns begegnete, verantwortliche Auseinandersetzung vorzunehmen mit den sich ergebenden Konsequenzen des praktischen Eingreifens. Insbesonders ist das moralische Gewissen geschärft worden, überall dort einzutreten, wo sich Ungerechtigkeit und Unterdrückung im Zusammenleben der Menschen und Völker zeigten. Dieser ungebrochene ethische Idealismus gab dieser Jugend ihre Jugendlichkeit; keine spätere Jugendgeneration ist mehr so positiv gestimmt gewesen.“ (a. a. O. S. 34)

Zeitlos wirksame Grundkräfte

Nun sind wir unversehens an unsere Schlußfrage geraten: Liegt die höchste Aktualität der Jugendbewegung, von der H. Mau spricht, etwa darin beschlossen, daß wir gewisse überzeitliche Strukturen in ihr aufzudecken vermögen, perennierende Gehalte oder Funktionen sozialer oder psychologischer oder ähnlicher Art? Gibt es solche Kriterien, oder ist die Jugendbewegung rund herum und bis in ihr Letztes hinein ein historisches Ereignis, das 1933 ein für allemal ein gewaltsames Ende gefunden hat?

Sicherlich gehört sie der Geschichte an und ist wie alles geschichtlich Gewordene in gleicher Weise nicht wiederholbar. Unter historischen Aspekten betrachtet ist alles Bemühen, jugend-bewegtes Leben in alten Formen und Gehalten nachzuvollziehen, eitel Epigonentum.

Aber die Antwort, die der Historiker hier erteilen muß, ist nicht das letzte Wort in dieser Sache. Der Verdacht, daß sich hinter und neben den spezifisch zeitgeschichtlichen Phänomenen eben doch bestimmte Grundfakten, Grundkräfte und Grundbedürfnisse von überzeitlicher Art und Bedeutung erschließen lassen, ist nicht unbegründet. Wir haben bereits erkannt, daß in dem elementaren Drang der Jugendbewegung zur Gemeinschaftsbildung ein solches säkulares Bedürfnis zum Ausdruck kommt, mag es sich auch in stets wechselnden Formen kundtun. Es darf als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis gelten, daß die Gruppen-und Hordenbildung ein allgemein verbreitetes Urphänomen des Jugendalters ist, das die menschlichen Reifejahre, wenn auch in unterschiedlicher Stärke und Aktualisierung, durchweg beherrscht. Die Jugendbewegung hat diese Erscheinung wieder erinnert, hat sie aus einem elementaren Naturstatus in die Ebene kultivierter, nicht bloß organisierter Formen erhoben und damit den nachrückenden Jugend-generationen ein bleibendes, wenn auch wandelbares und wandlungsbedürftiges Erbe hinterlassen. Auch das elitäre Moment, das die Jugendbewegung betont darzuleben trachtete, und nach dem sie sich in natürlicher Hierarchie zu ordnen und zu gliedern wußte, die Tatsache, daß sich ihre Menschen als abgesondert von der großen Masse, als verschworene und besonders eingepflichtete Auserlesene betrachteten, als „geistige Garde“ (Reichwein), entspricht psychischen Voraussetzungen, die nicht nur zeitbedingt sind. Eben jenes elitäre Prinzip, das die Jugendbewegung durchwaltete, erklärt ja auch vieles in dem oft abrupten Protestverhalten dieser jungen Menschen. Hölderlin, Kleist und Stefan George zählten zu ihren heimlichen Dichterkönigen.

Man mag schließlich auch mutmaßen, daß jener allgemeine anti-bürgerliche Affekt, von dem das jugendbewegte Leben getragen war, mit dem Abschluß der damaligen Geschichtsperiode nur scheinbar ausgeklungen ist. Als Hermann Mau im Jahre 1947 seinen wiederholt zitierten Aufsatz schrieb, meinte er zwar, das bürgerliche Bewußtsein sei heute zu zersetzt, als daß es noch Gegenpol einer neuen sozialen Gattung sein könne. Die alten „Medien" der Jugendbewegung müßten heute ihre auslösende Funktion versagen, weil sie nicht mehr den einst so wesentlichen Gegensatzeffekt zum bürgerlichen Dasein hervorzurufen vermöchten. Aber in den Zwischenjahren der westdeutschen Entwicklung hat sich doch so vieles an bürgerlichen Verwirklichkeitsformen und Bewußtseinsgehalten frisch fröhlich restauriert, das sich sehr wohl wieder ein „Gegensatzeffekt" und eine daraus resultierende Protesthaltung der Jugend denken ließe.

Sehnsucht nach ungebrochener Existenz

Entscheidend ist jedoch, daß in der Jugendbewegung eine ganz bestimmte Grundkraft und ein mit ihr korrespondierendes Grundbedürfnis jugendlichen Menschentums in hohem Maße aktualisiert worden ist, nämlich ihre Sehnsucht und ihr Wille zu ungebrochener menschlicher Existenz, zur Abwehr gegen jede Segmentierung auf beruflichem oder auf anderem Gebiet, zur unbedingten Einheit des „Lebganzen" (Fröbel) und damit eben gerade zur Ausbildung innerer Gegenpositionen gegen den übermächtig gewordenen zerspaltenden Rollenzwang des heutigen Daseins. „Es ist wohl das wesentlichste Erlebnis dieser Jugend, daß sie die Einheit ihres Denkens und Lebensgefühls, ihres Wollens und Wirkens zu verwirklichen suchte. Den Dualismus, der noch in allen Philosophien steckt, und der sich am deutlichsten darin manifestiert, daß die linke Hand nicht wissen durfte, was die rechte tut, mußte diese Jugend zu überwinden suchen. Sie erlebte ja auch nicht Natur und Geist, sondern die durchgeistigte Natur. Das war überhaupt das Neue, das die Jugendbewegung in sich trug. Diese Jugend empfand sich als ein Teil der Welt und reflektierte dann wieder die ganze Welt aus ihrem eigenen Herzen. So konnte es keine Teil-probleme geben, keine Einzelwertung, sondern die innere und äußere Schau auf die Einheit, auf ein Ganzes." (K. Ulrich, ein aus der Jugendbewegung hervorragender Freund Reichweins; in: Henderson a. a. O., S. 31).

Dem jugendlichen Menschen ist das Ganze wohl allezeit wichtiger als seine Teile, das Allgemeine, Zusammenschließende, Übergreifende bedeutsamer als das Spezielle. Der Integrationsbedarf des jugendlichen Menschen ist ein permanentes anthropologisches Phänomen, nicht nur ein zeitgeschichtliches. Aus ihm heraus stammt der „ewige“ jugendliche Protest gegen die allzu zerstückelte Welt. Wir lesen ihn auch ab an den typischen Leitbildern und Symbolgegestalten der Jugendbewegung: der Ritter, der Soldat, der bäuerliche Siedler, der Ordensbruder — lauter Menschenbilder, in denen die berufliche oder sonstige Zerteilung menschlicher Lebensführung aufgehoben erscheint zugunsten eines allseitig und allheitlich durchgeformten Menschentums. Sowohl in der Zone des männlichen wie im Gegenbereich des weiblichen wird stets das Ganze gesucht.

Ein Beispiel menschlicher Erneuerung

Dieses Grundanliegen trifft im Zeitalter der Jugendbewegung auf einen Zustand zunehmender Differenzierung des Menschenlebens auf allen Gebieten. Dagegen wehrt sich die Bewegung mit doppelter Energie, und in der Abwehr solcher Disproportionierungen entwickelt sie neben dem Protest auch Gegenkräfte von erstaunlichem Außmaß. Mit ihnen hat sie „ein Beispiel für die Möglichkeit menschlicher Erneuerung von unten her, aus der Zelle der Gemeinschaft gegeben.“ (Schoeps) Sie hat in der Jugend den Willen und die Kraft zur Selbsterziehung entbunden und damit den oppositionellen Elan in ein produktives Energiefeld transformiert. Im Protest gegen das Seiende hat sie das Werdende mitzubestimmen und mitzugestalten gewußt, indem sie die ihr verfallenen Menschen für ihr ganzes Leben geprägt hat. Sie hat ihnen „einen anderen Blick, eine andere Weise des Umgangs und der Behandlung von Menschen gegeben — überhaupt eine andere Art des In-der-Welt-seins", wie Schoeps sagt.

Man kann fragen, ob das Erlernen einer solchen anderen Weise des In-der-Welt-seins mittlerweise unnötig geworden ist, ob die Jugend-bewegung ihre einstigen sozialen und pädagogischen, ihre allgemein humanen Aufgaben ein für allemal erfüllt hat, — oder ob hier nicht ein Dauerauftrag der Selbst-und der Fremdenerziehung im Menschengeschlecht aller Zeiten vorliegt.

Wenn dem letzteren so ist, dann könnten die Strukturen, die die Jugendbewegung in den ihrigen zu entwickeln verstanden hat, beispielhaft und hilfreich bleiben auch über ihre begrenzte historische Existenz hinaus.

Das unerbittliche Bestehen auf dem, was sie Wahrhaftigkeit genannt hat, der Instinkt für das Echte und die tief angelegte Willigkeit, dem Leben sein „Ganzes“ zu bewahren, eine unzerstückelte Kernzone des Humanen durch die des-integrierenden Angriffe des Zeitalters hindurch zu retten, nicht zu vergessen schließlich die unausrottbar eingeborene Lust an der inneren Freiheit, an der Unabhängigkeit eines autonom gesetzten Verantwortungsbewußtseins, — dies alles schichtet sich zu einem Nachlaß der Jugendbewegung, der auch inmitten gewandelter Wirklichkeiten schöpferischem Leben dienen könne.

Der neue Mensch, den die Jugendbewegung mit Inbrunst gesucht hat, ist ihr nur im Bilde erschienen. Wir sind immer noch und wohl immer-dar auf dem Wege zu ihm. Aber sollen seine Spuren, die die Jugend einst aufgefunden hat, im Sande verwehen? Sie war sich doch der Untrüglichkeit dieser Fährten im tiefsten Inneren gewiß.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe hierzu das Buch des Vers.: Bund und Gruppe als Lebensformen deutscher Jugend. Versuch einer Erscheinungskunde des deutschen Jugendlebens in der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts (München 1955).

  2. Über die geschichtliche Entwicklung der Jugendbewegung unterrichten u. a. folgende Veröffentlichungen: Ahrens Heinrich: Die deutsche Wandervogelbewegung von den Anfängen bis zum Weltkrieg (Hamburg 1939).
    Almanach der Weißen Lilie, hrsg. v. F. L. Habbel (München 1961).
    Blüher Hans: Wandervogel, Geschichte einer Jugendbewegung (Prien 1922).
    Borinski Fritz und Milch Werner: Jugendbewe gung, the story of German Youth 1896—1933 (London 1945).
    Copalle-Ahrens: Chronik der freien deutschen Jugendbewegung. Bd. 1. Die Wandervogelbünde von der Gründung bis zum ersten Weltkrieg (Bad Godesberg 1954).
    Fick Luise: Die deutsche Jugendbewegung (Jena 1939).
    Helwig Werner: Die blaue Blume des Wandervogels (Gütersloh 1960).
    Lütkens Charlotte: Die deutsche Jugendbewegung, ein soziologischer Versuch (Frankfurt 1925).
    Mau Hermann: Die deutsche Jugendbewegung, Rückblick und Ausblick — in: Pädagogik, Beiträge zur Erziehungswissenschaft. 2. Jg. H. 7 (1947), dgl.: Die deutsche Jugendbewegung von 1901— 1933 — in: Jahrbuch der Jugendarbeit (München o. J.).
    Paetel Karl Otto: Jugendbewegung und Politik (Bad Godesberg 1961).
    Raabe Felix: Die bündische Jugend (Stuttgart 1961).
    Siemering Hertha: Die deutschen Jugendverbände (Berlin 1931).

  3. Hans Blüher: Werke und Tage (Berlin 1953). Siehe hierzu auch seine in Anmerkung 2 genannte Geschichte des Wandervogels, die er 1912 als 22-jähriger erscheinen ließ.

  4. Die von Herm. Mau stammenden Zitate sind durchweg dem zweiten seiner beiden in Anmerkung 2 genannten Aufsätze entnommen.

  5. Hans Joachim Schoeps, Die letzten dreißig Jahre (Stuttgart 1956).

  6. Die Gegenübersetzung von Kultur und Zivilisation war ein gängiges Vorstellungsmuster jeder deutschen Selbstbetrachtung während der ersten Jahrhunderthälfte. Es ist widersinnig, aus der späteren Auflösung dieser Antithetik eine Hinterher-Kritik an ihr und ihrer Verwendung abzuleiten und so die große einstmalige Bedeutung einer der wichtigsten kulturhistorischen Formeln der jüngeren Vergangenheit mißzuverstehen.

  7. Hermann Mitgau: Einbruch der Jugendbewegung in die Vorkriegszeit — in: Festgabe für Otto Haase zum 60. Geburtstag (Göttingen 1953).

  8. Wolfgang Kroug: Sein zum Tode. Lebensbilder im Kampf gebliebener Mitglieder der Akademischen Vereinigung Marburg (Godesberg 1955). 8a) Manche aufschlußreiche Aussage zu diesem Thema bringt Charlotte Lütkens in ihrem Aufsatz: Bemerkungen zu Helmuth Schelsky, «die skeptische Generation'; enthalten in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1961/Heft 1.

  9. Gustav Wyneken in: Freideutsche Jugend. Festschrift zur Jahrhundertfeier (Jena 1913).

  10. Siehe Anmerkung 3.

  11. So interpretiert, ebenfalls in starker Selbstüberschätzung und keineswegs der geschichtlichen Wahrheit entsprechend, Blüher in „Werke und Tage” die angeblichen Wirkungen, die von der Veröffentlichung seiner Wandervogel-Geschichte «usgegangen sind.

  12. Siehe z. B.den Aufsatz „Kritik der Gemeinschaft" im 3. Jahresband dieser Zeitschrift (1920/21), wo sich der ungenannt bleibende Verfasser mit der Blüher'schen Theorie von Staat und Männerbund auseinandersetzt

  13. Enthalten in: James Henderson, Adolf Reich-wein (Stuttgart 1958).

  14. Siehe hierzu z. B. das in Anmerkung 8 erwähnte Buch von W. Kroug.

  15. Arnold Bergsträßer und Hermann Platz: Jugendbewegung und Universität (1927).

  16. Karl Otto Paetel in: Jugendbewegung und Politik (Bad Godesberg 1961), Seite 34.

  17. Enthalten im 5. Jahresband (1924) der Zeitschrift . Der Weiße Ritter", Seite 1.

  18. Viktor Engelhard, Uber die Grundlagen und die Entwicklung der deutschen Jugendbewegung, in: Forschungen zur Völkerpsychologie und Soziologie, Band 17 (Leipzig 1927).

Weitere Inhalte

Anmerkung: Karl Wilhelm Seidelmann, Professor für Praktische Pädagogik, geb. am 9. Juli 1899 in Augsburg.