Epilog
Eine umfassende Analyse der Entwicklungen der kommunistischen Partei in der Sowjetunion nach dem Tod Stalins muß künftigen Historikern überlassen bleiben. Wir stehen den Ereignissen noch zu nahe und können ihre Bedeutung noch nicht genau genug erkennen; auch sind wir nicht in der Lage, zu beurteilen, welches Gewicht den eingetretenen Veränderungen zukommt, oder ob sie von Dauer sein werden. Es mag aber nützlich sein, eine Bestandsaufnahme der Hauptmerkmale zu machen, welche die Partei aufwies, als Stalin sie seinen Nachfolgern hin-terließ. Was diese aus der Erbschaft machen werden, kann nur die Zeit zeigen. Immerhin sind während der ersten fünf Jahre nach Stalins Tod gewisse Trends sichtbar geworden. Wie diese schließlich zu bewerten sein werden, muß sich erst noch erweisen; wir dürfen aber versuchen zu einem Urteil darüber zu gelangen, von welcher Bedeutung gewisse Merkmale sind, die die Partei zeigt, und auch darüber, was an ihr auf den Einfluß der Persönlichkeit Stalins zurückzuführen ist, und was das eigentliche Wesen des Parteiapparates ausmacht.
Charakterzüge der Partei im Jahre 1952
An der Partei, wie sie sich dem Beobachter 1952 darbot, können sechs Hauptzüge unterschieden werden. Zunächst einmal war sie eine Massenpartei geworden, ohne doch gleichzeitig auf eine Auswahl zu verzichten. Sie war nicht länger mehr wie zu Lenins Lebzeiten eine kleine Schar von Eiferern, sondern eine Versammlung der Elite der Nation aus allen Betätigungsfeldern. Sie suchte das Talent, wo es zu finden war, nachdem sie sich längst von der doktrinären Bevorzugung eines proletarischen Mitgliederstammes befreit hatte, dem sie theoretisch ihr Entstehen und tatsächlich geradezu ihre Daseinsberechtigung verdankte. Obwohl sie sich vermittels der Aufnahme von Arbeitern und Bauern darum bemühte, ihre Grundlage zu verbreitern, bestand sie doch hauptsächlich aus Personen, die irgendwo im Staat irgendwelche Ämter innehatten. Sie strebte danach, die große Mehrzahl der Männer und Frauen in den höch-sten Stellungen in ihre Reihen aufzunehmen. Es lag vielleicht an dieser Anschauung von der Funktion der Partei, daß die Russen im Vergleich zu einigen der nichtrussischen Einwohner der Sowjetunion so unangemessen stark in ihr vertreten waren. Solange man die Russen als verläßlicher und für die Ausführung von Verwaltungsausgaben geeigneter ansah, durften keine Rücksichten auf Gleichberechtigung bei der Repräsentation die nationale Zusammensetzung der Partei beeinflussen. Ähnliche Gründe mögen dafür maßgebend gewesen sein, daß die höchsten Verwaltungsposten noch in den Händen älterer und erfahrenerer Männer lagen.
Der zweite Zug war die Vorherrschaft des aus Funktionären und Sekretären bestehenden Apparates in der Partei, der eine kleine Minderheit von etwa 3 °/o ausmachte. Dank der Autorität, welche diese Funktionäre sich im Laufe der Jahre nicht ohne blutige Auseinandersetzungen zugelegt hatten, konnten sie die Wahlen, die Diskussionen und die Entscheidungen innerhalb aller Parteiorganisationen im ganzen Lande manipulieren. Die offenkundigen Anstrengungen, welche die Parteiführung von Zeit zu Zeit unternahm, um unter den Parteimitgliedern größere Demokratie anzuregen — seien diese Anstrengungen nun ehrlich gemeint gewesen oder nicht —, führten immer wieder zu nichts. Die Parteimitglieder hatten aus Erfahrung gelernt, daß der einzig sichere Kurs in der Befolgung der von oben herabgelangenen Fingerzeige lag: für die Liste zu stimmen, welche die Führer der Parteiorganisationen vorschlugen; nur jene zu kritisieren, die bereits von oben getadelt worden waren, dann aber heftig zu kritisieren; ohne weitere Fragen Vorschlägen und nur solchen Vorschlägen zuzustimmen, die von jenen ausgingen, die die Autorität besaßen. Die gewitzteren Mitglieder wußten, daß die Parteiführer in Moskau sich am allerwenigsten Parteigenossen wünschten, die selbständig dachten, ganz gleich welche Aufrufe zu größerer Demokratie und Initiative von Zeit zu Zeit ergehen mochten.
Der dritte Zug der Partei war die Zentralisierung des Apparates selbst. An der Spitze
= Heinz Gollwitzer = Staatsgesinnung und Nationalbewußtsein heute s. Seite 686der Hierarchie von Sekretären und Funktionären standen die Sekretäre des ZK, die durch die ihnen untergeordneten Funktionäre die verschiedenen Abteilungen des Sekretariats kontrollierten. Die Experimente der Delegierung administrativer Funktionen hatten sich jedesmal als kurzlebig erwiesen. Die Partei war immer wieder zu einer Verwaltungsform zurückgekehrt, welche die Fäden der Kontrolle fest in den Händen des zentralen Sekretariats beließ. In einigen Fällen, zum Beispiel bei der Kontrolle der Landwirtschaft, soweit diese durch die politischen Abteilungen der MTS ausgeübt wurde, griff die Zentrale unmittelbar durch ihre eigenen Abgesandten ein. Aber selbst dort, wo eine Delegierung der Parteiverwaltung auf das reguläre Netz untergeordneter Organisationen stattfand, wie im Falle der Industrie, fand es das zentrale Sekretariat immer noch nötig, einen Apparat für die tägliche Kontrolle aufrecht zu erhalten.
Die Zentralisierung des Apparates, wie sie zur Zeit von Stalins Tod bestand, war kein neuer Zug — ein großer Teil davon gründete sich vielmehr unmittelbar auf Lenins Vorstellungen von der Partei, selbst wenn zu Lenins Lebzeiten eine vollständige Zentralisierung nicht erreicht wurde. Aber der persönliche Aufstieg Stalins — der vierte Zug in der Reihenfolge derer, die hier betrachtet werden, seiner Wichtigkeit nach aber vielleicht der erste — gab den traditionellen Formen einen besonderen Charakter. Stalin war sehr viel mehr als der Führer der Partei. Er konnte durch die Partei oder auch ohne sie regieren, ganz wie es ihm beliebte. Die Sekretäre, welche den Apparat kontrollierten, führten seine Politik getreulich durch, wenn immer er es verlangte. Er war aber mächtig genug, auch anders als auf dem üblichen Weg, durch die Partei zu handeln, wenn er es für notwendig hielt. Er konnte die formalen Parteiorgane ignorieren, wenn er das wünschte, und er tat das auch: er berief mehr als dreizehn Jahre lang keinen Parteitag ein, gestattete nur selten Versammlungen des ZK und vermied es offensichtlich sogar, Vollsitzungen des Politbüros einzuberufen. Es scheint, daß die mächtigen Sicherheitskräfte unmittelbar seiner persönlichen Kontrolle durch seine Privatkanzlei unterstanden. Daß er andere dazu brauchte, seinen Willen durchzuführen, liegt auf der Hand, doch war er in der Lage, ohne förmliche Diskussion oder Beschlußfassung, in einer Atmosphäre der Intrige, der Konspiration und der Furcht jetzt einen seiner Helfer tätig werden zu lassen, dann wieder einen anderen.
Dieses persönliche Übergewicht Stalins über die Partei führte zu dem fünften Zug, der in den letzten Jahren seines Lebens erkennbar ist: ein entsprechendes Absinken des Einflusses der Partei. Der Grund für dieses Absinken war, daß der Parteiapparat sich der Konkurrenz des sich ausdehnenden Regierungsapparates gegenüber sah, einer Ausdehnung, die vorsätzlich im Interesse der Sicherheit gefördert wurde, um welche der Diktator sich durch die Verdoppelung seiner Kontrollinstrumente bemühte. Solange er selbst an der Spitze jeder Hierarchie stand und sich darüber hinaus im Bedarfsfall der Waffe der Sicherheitstruppen bedienen konnte, gab es für ihn wenig Grund, diesen erhöhten Status der Regierungsmaschine zu befürchten. Auf der untersten Ebene der Grundorganisationen der Partei war die Konkurrenz der beiden Verwaltungsnetze eine fruchtbare Quelle der Konflikte, die, wenn überhaupt, nur durch zunehmendes zentrales Eingreifen gelöst werden konnten: das Parteistatut gab den Grundorganisationen die , Kontroll‘-Befugnis und erwarte, daß sie diese wahrnahmen. Innerhalb der zentralen Regierungsbehörden war den Grund-organisationen der Partei jedoch die Kontrollbefugnis ausdrücklich vorenthalten worden: hier jedenfalls konnte der Verwaltungsapparat seine Aufgaben ungestört von täglichen Eingriffen ausführen — obwohl er selbstverständlich der Politik unterlag, die vom Politbüro oder vom Diktator in dessen Namen festgelegt wurde
Bis zu einem gewissen Grade wurde das Unbequeme dieses doppelten Verwaltungssystems überdies dadurch gemildert, daß ein gemeinsames Reservoir bestand, dem die Funktionäre für den Parteiapparat ebenso wie die für den Regierungsapparat entnommen wurden. Es geschah oft, ja sogar üblicherweise, daß Staats-funktionäre — wie zum Beispiel Minister der Republiken oder Vorsitzende der Exekutivkomitees der Sowjets auf den verschiedenen Ebenen der Verwaltungen — unter denen ausgewählt wurden, die im Parteiapparat gedient hatten. Zu einem geringeren Grad war dies auch umgekehrt der Fall: eine Anzahl von Parteifunktionären wurde unter denjenigen ausgesucht, die bis dahin im Staatsapparat tätig gewesen waren
Der sechste Zug der Partei zur Zeit von Stalins Tod war einer, der wenigstens seit den drei-ßiger Jahren schon fest verankert und fortschreitend entwickelt worden war: die Durchdringung aller Einrichtungen und Betätigungsfelder im Staat mit Parteimitgliedern. Der Prozeß, durch den man dies erreicht hatte, war ganz und gar nicht gleichförmig gewesen. In einer wichtigen Sphäre, der der Kollektivwirtschaften, war noch 1952 die Parteikontrolle schwach und etwas dem Zufall überlassen, da es auf einer Anzahl von Kolchosen nach wie vor keine Parteiorganisation gab. Dies war ein Zustand, den die Partei nicht gleichmütig hinnehmen konnte. Von der Furcht, daß landwirtschaftliche Einrichtungen eine gewisse Unabhängigkeit entwickeln und mit der politischen Ordnung, so wie sie von der Partei festgelegt war, in Konkurrenz treten könnten, waren die Parteiführer zu keiner Zeit in der Geschichte der Partei frei gewesen. Die Furcht vor der Konkurrenz der alten Dorfgemeinschaften mag einer der Faktoren gewesen sein, der zu dem Beschluß über die Einführung der beschleunigten Kollektivierung im Jahre 1929 geführt hatte
Neuverteilung der Macht
Dieses Bild etwa bot die Partei, als Stalins Tod am 5. März 1953 die Klammer, die alles zusammengehalten hatte, entfernte. Die erste und dringendste Sorge war es, diese Klammer in der Person von Malenkow wiederherzustellen. Die am 7. März bekanntgegebene Reorganisation von Partei und Regierung wünschte die Kontinuität der Führung und die Einigkeit zu sichern, um das zu verhindern, was als „Verwirrung und Panik" bezeichnet wurde. Die Führungsgremien von Partei und Regierung wurden verkleinert und auf größere Leistungsfähigkeit getrimmt. Dem Ministerrat sollte nun ebenfalls ein Präsidium vorstehen, das aus dem Vorsitzenden des Ministerrates, Malenkow, und vier Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden gebildet wurde — Berija, Molotow, Bulganin und Kaganowitsch. Berija wurde Innenminister, wobei in seinem Ministerium die inneren Angelegenheiten und die Sicherheitsstreitkräfte zusammengefaßt wurden, die bislang getrennten Ministerien unterstanden hatten. Molotow wurde Außenminister, Bulganin Verteidigungsminister.
Das Büro des Parteipräsidiums wurde nun abgeschafft (daß es seit dem Oktober 1952 überhaupt existierte, war geheim geblieben) und das Präsidium selbst verkleinert: seine Mitglieder waren in der veröffentlichten Reihenfolge, die sich weder nach dem Alphabet noch nach dem Dienstalter richtete; Malenkow, Berija, Molotow, Woroschilow, Chruschtschow, Bulganin, Kaganowitsch, Mikojan, Perwuchin und Saburow. Auch im Sekretariat gab es drei Veränderungen, darunter den Einzug von Schatalin in dieses entscheidende Organ, der viele Jahre lang Malenkows Stellvertreter bei der Leitung der Parteikader gewesen war. So verband Malenkow, ebenso wie Stalin, den Posten des ranghöchsten Sekretärs mit dem des Leiters des Regierungsapparates
Es stellte sich bald heraus, daß diese Ernennung eines neuen Stalin nur eine vorübergehende Maßnahme war. Am 14. März „erfüllte“ das ZK „die Bitte“ Malenkows und entließ ihn aus seinem Amt als Sekretär. Das Sekretariat bestand nun aus Chruschtschow, Suslow, Pospelow, Schatalin und Ignatjew, dem ehemaligen Minister für Staatssicherheit
Die nächsten Monate waren mit der Rückgängigmachung der „Ärzteverschwörung" und mit Konflikten zwischen den Parteiführern und dem Apparat der Polizei und des Sicherheitsdienstes ausgefüllt. Am 10. Juli 1953 wurde plötzlich die Verhaftung Berijas bekanntgegeben (er war schon etwa 14 Tage früher verhaftet worden, wozu wohl der Aufstand vom 17. Juni 1953 in Mitteldeutschland den willkommenen Vorwand geliefert haben mochte). Einige der gegen ihn vorgebrachten Beschuldigungen (einschließlich einer, die besagte, daß er seit mehr als dreißig Jahren im Dienste des britischen Geheimdienstes gestanden habe) waren ebensowenig glaubhaft wie die Beschuldigungen, die Berijas Untergebene in der Vergangenheit so oft gegen andere erdacht hatten. Die wirkliche Bedeutung des Sturzes von Berija wurde in einem Memorandum erkennbar, das von Seiten des Parteipräsidiums zu Informationszwecken unter den höheren Parteimitgliedern herumgereicht wurde. Darin wurde unter anderem angedeutet, daß Berija sich des Sicherheitsapparates bei dem Versuch bedient habe, sich eine Hausmacht zu schaffen, die gegebenenfalls auch gegen die anderen Mitglieder des Präsidiums vorgehen würde
Berijas Nachfolger gehörte nicht mehr dem Präsidium an, und der Status des Sicherheitsapparates wurde weiter dadurch vermindert, daß man ihn im März 1954 wiederum in ein Ministerium für innere Angelegenheiten und ein Komitee für Staatssicherheit aufteilte. Das Innenministerium wurde schrittweise seines riesigen Wirtschaftsreiches beraubt und die ehemals von ihm kontrollierten Unternehmungen der Leitung der normalen Wirtschaftsministerien unterstellt. Unter den höheren Funktionären des Sicherheitsdienstes fand eine Säuberung statt und in einigen wichtigen Fällen wurden Posten, die bis dahin durch Angehörige des Sicherheitsdienstes besetzt gewesen waren, an Militärpersonen vergeben. Auch eine Reihe von Parteifunktionären rückte in Schlüsselstellungen des Sicherheitsapparates ein. Der Sturz Berijas bot auch die Möglichkeit, die Verantwortung für frühere LInkorrektheiten diesem einen Mann aufzubürden und dabei Mitglieder des Präsi-diums von ihrer Verantwortung dafür zu entlasten, daß sie Stalin unterstützt hatten.
Innerhalb von vier Jahren war diese kollektive Oligarchie einem System gewichen, in welchem der Erste Sekretär der Partei (der Titel wurde Chruschtschow offiziell im September 1953 verliehen), wenn auch nicht ein Selbstherrscher wie Stalin, so doch jedenfalls unbestrittener Führer der Politik geworden war, nachdem er alle bis auf drei der ursprünglichen Mitglieder aus dem Präsidium verdrängt hatte. Warum das Experiment der Oligarchie sich nur als so kurzlebig erwies, kann im Augenblick nur vermutet werden. Zwischen Chruschtschow und den Rivalen, die er besiegte, bestanden ehrliche Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der politischen Linie, und es ist denkbar, daß er seinen Sieg über sie davontrug, weil seine Ansichten im Zentralkomitee wirkliche Unterstützung fanden. Man muß auch den persönlichen Ehrgeiz eines energischen Mannes und die Tatsache in Betracht ziehen, daß in einem System, in dem die Politik großenteils unabhängig von der öffentlichen Meinung festgelegt wird, und in dem wirklich repräsentative Organe zur Schlichtung von Meinungsverschiedenheiten zwischen mehreren Führern gleichen Ranges nicht vorhanden sind, die Diktatur eines einzigen Mannes den Vorteil der Leistungsfähigkeit und Bequemlichkeit bietet. Es ist aber ganz besonders wichtig, sich daran zu erinnern, daß der Sieg Chruschtschows über Gegner wie Malenkow nicht nur die Rüdegewinnung der Vorherrschaft der Partei über den Regierungsapparat, die sie unter Stalin bis zu einem gewissen Grade verloren hatte, symbolisierte, sondern daß er es auch tatsächlich war.
Meinungsverschiedenheiten im Präsidium
Im Laufe der ersten vier Jahre nach Stalins Tod gab es wenigstens vier große Fragen, über die, wie man den veröffentlichten Informationen entnehmen konnte, Meinungsverschiedenheiten unter den Mitgliedern des Präsidiums bestanden. Die erste war die immer wiederkehrende Frage der relativen Wichtigkeit, welche der Erzeugung von Produktionsmitteln und der Erzeugung von Konsumgütem beizulegen war. Malenkow hatte bei seinem Regierungsantritt versprochen, die Konsumgüterproduktion zu erhöhen. Dieses Versprechen wurde erfüllt, wenigstens insoweit, als die Zuwachsrate der Konsumgüterproduktion 1953 zum ersten Male in vielen Jahren größer war als die Zuwachsrate für die Schwerindustrie
Am 8. Februar 195 5 wurde Malenkow, angeblich auf eigenen Wunsch, auf einer Sitzung des Obersten Sowjets als Vorsitzender des Ministerrates durch Bulganin ersetzt. In einer Erklärung, die für ihn verlesen wurde (Malenkow war zwar anwesend, machte aber den Mund nicht auf), führte er seine Unerfahrenheit in der Verwaltung als Grund für seinen Rücktritt an und gestand seine Verantwortung für den unbefriedigenden Zustand der Landwirtschaft ein. Bulganins Nachfolger als Verteidigungsminister wurde der Kriegsheld Marschall Shukow, der nach Stalins Tod zum stellvertretenden Verteidigungsminister ernannt und bis dahin ziemlich im Hintergrund gehalten worden war. Dem Sturz Malenkows folgte unverzüglich die Ächtung eines seiner Anhänger, des Kultusministers Alexandrow, und der Untergang eines anderen Gefolgsmannes, Schatalin. Später erfolgten auch Veränderungen im regionalen Netz der Ersten Sekretäre, die sich zu gegebener Zeit an der Zusammensetzung des ZK erweisen sollten
Die neue Landwirtschaftspolitik
Der unbefriedigende Zustand der Landwirt-
eine Erbschaft des Stalinschen Regimes, schäft, war detailliert in einem Bericht vom September 1953 enthüllt worden, den Chruschtschow dem Plenum des ZK gab. Von da an wurde der Erste Sekretär zum Sprecher für die Landwirtschaftspolitik. Die von ihm entwickelten Pläne ließen erkennen, daß er mit größerem Realismus an die Aufgabe ging, aus der kollektivierten Landwirtschaft trotz des Widerstandes der Bauern einen Erfolg zu machen. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, daß seine Politik bei den konservativeren Parteiführern, einschließlich der älteren und starreren Kommunisten, die wie Kaganowitsch und Molotow aus Stalins Schule hervorgegangen waren, die Befürchtung erregte, die Kollektivwirtschaften könnten mächtig genug werden, die Regierung zu erpressen. Die Hauptzüge dieser Politik, wie sie sich nach und nach in den nächsten Jahren entwickelte, können folgendermaßen zusammengefaßt werden: erhebliche Steigerung des materiellen Anreizes zur Produktion für Kollektivbauern; eine Vereinfachung des vielfältigen Systems zentraler Kontrolle über die Kolchosen und eine Dezentralisierung der Produktionsplanung, um der örtlichen Initiative der einzelnen Bauern Spielraum zu lassen; und eine erhebliche Steigerung der Leistungsfähigkeit des Systems der Parteikontrolle über die Kolchosen, welche die Rolle der Partei auf Kosten der Regierungsstellen verstärken sollte. (Dieser Aspekt der neuen Landwirtschaftspolitik wird weiter unten noch erörtert.)
Darüber hinaus wurde im Frühjahr 1954 eine große Kampagne für den Anbau von Getreide in bis dahin jungfräulichen Gebieten Kasachstans und anderswo unternommen, und schließlich hörte die Öffentlichkeit im Frühjahr 1958 von dem revolutionären Vorschlag: die Maschinen-Traktoren-Stationen sollten aufgelöst und ihr Maschinenpark Eigentum der Kolchose werden. Die Tatsache, daß Chruschtschows Maßnahmen in hohem Maß Erfolg bei der Wiederbelebung des landwirtschaftlichen Wohlstandes hatten, trug zum Ansehen und der Macht des Ersten Sekretärs und folglich auch der Patei bei. Als Chruschtschow seinen Vorschlag für die Auflösung der MTS machte, konnte er behaupten, daß das Durchschnittseinkommen der Kolchosen, das 1949 111 OOO Rubel jährlich betragen hatte, nun 1 247 000 Rubel betrage. Indem er sein eigenes Geburtsdorf als Beispiel anführte, behauptete er, daß die dort ansässige Kolchose ihre Getreideproduktion seit 1953 vervierfacht und ihr Einkommen verneunfacht habe
Die Abnahme des Einflusses von Kaganowitsch, des erfahrensten der älteren Kommunisten in Fragen der Industrie, scheint gleichzeitig mit dem Niedergang Malenkows stattgefunden zu haben. Als einziger Erster Stellvertretender Vorsitzender ohne Geschäftsbereich im Ministerrat (so wie er nach Stalins Tod reorganisiert worden war) betätigte er sich als „Oberaufseher“ über die gesamte Industrieplanung. Aber im März 1955 wurden drei neue Stellen für Erste Stellvertretende Vorsitzende geschaffen — für Mikojan und die beiden Planungsfachleute Saburow und Perwuchin — und Kaganowitsch wurde bald darauf Vorsitzender des staatlichen Komitees für Arbeit und Löhne und, nach dem September 1956, Minister für die Baumaterialindustrie. Somit wurde er aus einer Stellung, in der er die Festlegung der politischen Linie mitbestimmt hatte, in die praktische Sphäre der täglichen Verwaltung verwiesen.
Als beherrschende Figur bei der Planung folgte ihm Perwuchin, aber Perwuchins Vorrangstellung war von kurzer Dauer. Beim XX. Parteitag im Februar 1956 wurden sehr ehrgeizige Ziele für die industrielle Planerfüllung bis 1960 festgesetzt. Der Höhepunkt von Perwuchins Einfluß war das Plenum des ZK im Dezember 1956. Aber zu diesem Zeitpunkt war das für die Investition verfügbare Kapital stark angespannt und es gab viele Anzeichen dafür, daß die vom XX. Parteitag vorgesehenen Plan-ziele in der Industrie nicht erreicht werden würden. (Tatsächlich ließ man sie 1957 stillschweigend fallen.)
Das Plenum suchte die Lösung des Problems in einer Verbesserung des zentralen Planungsmechanismus, während es gleichzeitig die traditionelle zentralisierte Kontrolle über die Industrie intakt hielt. Perwuchin wurde nun Vorsitzender einer erheblich verstärkten staatlichen Wirtschaftskommission — ein kurz zuvor geschaffenes Gremium, das vom Gosplan abgespalten worden war, um die laufende, zum Unterschied von der langfristigen Planung zu organisieren. Der Gosplan verlor entsprechend an Status. Daß man beabsichtigte, aus Perwuchin so etwas wie einen „Oberaufseher der Oberaufseher“ zu machen, ging aus der Tatsache hervor, daß beinahe alle vorhandenen Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden und Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates in die staatliche Wirtschaftskommission versetzt wurden. Allerdings gab es drei bemerkenswerte Ausnahmen:
Malenkow, einer der Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates seit seinem Rücktritt im Jahr 1955, und Molotow und Kaganowitsch, beide Erste Stellvertretende Vorsitzende. (Ein weiterer Stellvertretender Vorsitzender, der wahrscheinlich ebenfalls in Ungnade gefallen war, Tewosjan, wurde kurz darauf zum Gesandten in Tokio ernannt und so aus der Zentrale entfernt.)
Dezentralisierung der Industrie
Zwei Monate später, auf dem Plenum des ZK, das im Februar 1957 zusammentrat, wurde es klar, daß in bezug auf die Verbesserung der Lage in der Industrie ganz andere Ideen in der Luft lagen. Dem Beschluß des Plenums zufolge war es nun notwendig, „die Arbeit der staatlichen Wirtschaftskommission neu zu gestalten", die nicht mit dem Gosplan kollidieren sollte
Es ist gewiß, daß dieser revolutionäre Vorschlag auf starke Opposition stieß, von der ein großer Teil nicht offen zutage trat. Immerhin zeigte die öffentliche, wenn auch kontrollierte Diskussion, der die Thesen vom 30. März unterbreitet wurden, daß die Opposition gegen dieses Vorhaben hauptsächlich von den Fabrikdirektoren und den Industrieplanern ausging. Als die Thesen auf der Sitzung des Obersten Sowjets im Mai 1957 zur Diskussion kamen, beteiligte sich nicht einer der Direktoren oder Planer, die im Saal anwesend waren, an der Debatte: Wenn man ihnen nicht gestattete, zu opponieren, so waren sie doch auch nicht bereit, ihre Unterstützung zu leihen. Das neue Gesetz machte in der Form, in der es verabschiedet wurde, tatsächlich gewisse Konzessionen an die Kritik, die in der Pressediskussidn dagegen vorgebracht worden war. Zum Beispiel gestattete man acht All-Unions-Industrieministerien des Typs, der unter Chruschtschows ursprünglichem Vorschlag abgeschafft werden sollte (eine Zeit-lang), weiter zu bestehen — es waren in der Mehrzahl Ministerien, die mit der Landesverteidigung zusammenhingen. Immerhin wurden nicht weniger als zehn All-Unionsministerien und fünfzehn Unionsrepublikanische Ministerien wirtschaftlichen Charakters abgeschafft
So hatten Malenkow, Kaganowitsch und Molotow ebenso wie die Planer Perwuchin und Saburow im Frühjahr 1957 den größten Teil ihres Einflusses verloren. Molotows Stellung war auch dadurch erschüttert, daß er in Fragen der Außenpolitik zu Chruschtschow in Opposition stand; dieser Gegensatz hatte wegen der Beziehungen zu Jugoslawien einen Höhepunkt erreicht. Im Mai 1955 besuchte eine Delegation aus der Sowjetunion, der aber der Außenminister Molotow nicht angehörte, unter der Leitung von Chruschtschow Jugoslawien. (Wegen der Wiederaufnahme der 1948 abgebrochenen Beziehungen war schon etwas früher vorgefühlt worden.) Chruschtschow drückte „ehrliches Bedauern" über die in der Vergangenheit eingetretene Verschlechterung der Beziehungen aus und machte bequemerweise Berija für ihren 1948 erfolgten Abbruch verantwortlich. Diese Friedensmission schloß mit einer gemeinsamen Erklärung, in der unter anderem das Recht eines jeden Landes unterstrichen wurde, seinen eigenen Weg zum Sozialismus zu gehen. Dieser Canossagang war von Anfang an von Molotow bekämpft worden. Im Juli 1955 spitzten sich die Dinge jedoch zu. Molotows Standpunkt wurde dem Plenum des ZK zur Diskussion unterbreitet. Molotow fand keine Unterstützung und war gezwungen, seine Ansichten zu widerrufen
Chruschtschow als Praktiker
Chruschtschows Stellung sollte aber durch die Auswirkungen des denkwürdigen XX. Partei-tages, der vom 14. bis zum 25. Februar 1956 in Moskau zusammentrat, etwas ins Schwanken geraten. Das schrittweise Nachlassen der Spannung, das man nach Stalins Tod geduldet hatte, der Eindruck, den die teilweise Entmachtung der Sicherheitskräfte hinterließ, die auf Berijas Sturz gefolgt war, und die Tatsache, daß der Parteitag etwas früher als zum vorgesehenen Zeitpunkt zusammentrat — das alles gab den Vorgängen eine Atmosphäre gespannter Erwartung. Chruschtschows Hauptreferat, mit dem die Sitzung eröffnet wurde, brachte jedoch keine großen Überraschungen. Der Erste Sekretär war eher ein Mann der Praxis als der Theorie, und jene unter seinen Zuhörern, die erwarteten, daß als Resultat neuer Erfahrungen neues Licht auf die Grundlagen des Marxismus-Leninismus fallen würde, waren entweder zur Enttäuschung verurteilt oder mußten ihre eigene Interpretation in seine Ausführungen hineinlesen. Es war tatsächlich etwas von robustem, gesundem Menschenverstand in dieser Rede zu verspüren: die alten Formeln waren alle da, aber es wurde ganz deutlich, daß man Fragen der Doktrin nicht erlauben würde, der Lösung der praktischen Fragen, auf die es ankam, im Wege zu stehen — die Erhöhung der Produktion im Inland, und die Erhaltung und Ausdehnung der kommunistischen Macht im Ausland. In seiner kurzen Erwähnung der Ideologie betonte Chruschtschow immer wieder, daß Theorie ohne praktische Anwendung nutzlos sei; der nun im Gange befindliche Übergang zum Kommunismus sei keine Angelegenheit der Propaganda oder phantastischer Theorien, sondern verlange harte Arbeit, damit die Produktionskapazität fortgeschrittener Länder überholt werden könne. Er führte drei Hauptaufgaben auf ideologischem Gebiet auf: Erhaltung der Einheit und Autorität der Partei und vor allem des Grundsatzes der kollektiven Führung; das Hinlenken der anleitenden Tätigkeit der Partei auf praktische Aufgaben; eine Erhöhung der Wachsamkeit in der ideologischen Arbeit, um den Einfluß der bürgerlichen Ideologie zu überwinden.
Als Chruschtschow sich mit den Beziehungen der Sowjetunion zu fremden Ländern befaßte, geschah es, daß er zwei Behauptungen tat, die man in weiten Kreisen, und wahrscheinlich irrtümlich, als überraschende Änderung der sowjetischen Politik auslegte. Er behauptete erstens: zwar bedeute das Fortbestehen des Imperialismus auch das Fortbestehen des Risikos, daß die imperialistischen Mächte einen Angriffskrieg führten, doch sei es nicht länger mehr notwendig, einen Krieg zwischen den sozialistischen und den kapitalistischen Staaten als unvermeidlich anzusehen. In einigen Kreisen wurde das so ausgelegt, als sei die Sowjetunion bereit, wirklich friedliche Beziehungen zu den nichtkommunistischen Staaten zu unterhalten. Er führte dann aber seine Gründe für diese Beurteilung an: die „sozialen und politischen Kräfte“, die innerhalb der kapitalistischen Staaten den Frieden befürworten, seien nun stark genug, um die imperialistischen Mächte daran zu hindern, einen Angriffskrieg zu entfesseln. Dem ließ sich entnehmen, daß es Chruschtschows Gedanke war, ein rechtzeitiger Sieg des Kommunismus und der „ihn unterstützenden sozialen und polistischen Kräfte“ könnte einen Krieg verhindern, — mit anderen Worten, daß er nunmehr die Möglichkeit zu sehen schien, den universellen Sieg des Kommunismus mit friedlichen Mitteln zu erreichen, von dem man bislang geglaubt hatte, daß nur die Gewalt ihn herbeiführen könne. Er betonte auch, daß die Formen des Sozialismus unter verschiedenen Bedingungen verschieden seien und daß es keine einzelne, auf alle anwendbare Formel gebe, womit er sich ausdrücklich auf Jugoslawien bezog. Zweifellos legten einige der osteuropäischen Länder das so aus, als sei die Sowjetunion nun gewillt, den Wunsch nach Unabhängigkeit, der sich in ihren kommunistischen Parteien regte, stärker als bisher zu tolerieren. Es ist unwahrscheinlich, daß Chruschtschow die explosiven Folgen vorhersah, die diese Bemerkung haben sollte, davon, daß er sie etwa beabsichtigt habe, ganz zu schweigen
Anprangerung des Personenkults
Am dritten Tage des Parteitages elektrisierte Mikojans Rede mit ihrer offenen Kritik an Stalin die Anwesenden. Bis dahin hatte zwar die Lobpreisung Stalins erheblich nachgelassen und einige der Ereignisse, die sich unter seiner Herrschaft zugetragen hatten, waren versteckt getadelt worden (wobei Berija für sie verantwortlich gemacht wurde), aber noch niemand hatte öffentlich die Vollkommenheit des toten Führers in Frage gestellt. Mikojan behauptete nun ganz offen, daß es während der letzten zwanzig Jahre „tatsächlich keine kollektive Führung gegeben hat“, sondern einen „Personenkult", den Marx verurteilt habe. Er kritisierte dann weiter Stalins Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, ja sogar den Kurzen Lehrgang der Geschichte der Partei
In einer Atmosphäre, die, den Berichten nach, die zu jener Zeit von Korrespondenten ausländischer kommunistischer Parteizeitungen in Moskau in Umlauf gebracht wurden, voller Spannungen und Emotionen war, riß Chruschtschow dramatisch den Schleier herunter, mit dem Stalins Terrorherrschaft bislang hergebrachterweise bedeckt gewesen war. Mit einer längst aus dem Parteileben geschwundenen Offenheit skizzierte er Lenins Konflikt mit Stalin kurz vor Lenins Tod und erzählte von neuem die alte Geschichte des „Testaments“. Unter Anführung der Daten und Zahlen beschrieb er den Anschlag, der während Jeshows Amtszeit auf Parteimitglieder und Führer gemacht worden war, beschrieb, wie sie unter der Folter dazu gezwungen wurden, Verbrechen zu gestehen, die sie niemals begangen hatten. Chruschtschow erzählte nicht die ganze Geschichte — er wusch zum Beispiel weder Trotzki noch Bucharin rein, noch erwähnte er die Stürme, die über die Bauern in Gestalt des Krieges gegen die „Kulaken“ hereingebrochen waren. Er sagte auch nichts über die Rolle, die er selbst und die seine Kollegen gespielt hatten, die Stalins Anschläge überlebten.
Diese geheime Rede, die sehr schnell in weiten Kreisen bekannt wurde (der Wortlaut wurde den Kommunisten innerhalb und auch einigen außerhalb der UdSSR zugänglich gemacht), hatte eine enorme Wirkung. Für den außerhalb der kommunistischen Welt lebenden, aufmerksamen Beobachter des Kommunismus brachte sie nichts, was nicht bereits bekannt gewesen wäre und sei es nur aus den zahlreichen Berichten von Flüchtlingen aus der Sowjetunion. Aber bei Kommunisten, die alle derartigen Berichte als verlogen betrachtet hatten, führte das amtliche Eingeständnis, daß sie im wesentlichen der Wahrheit entsprachen, zunächst zu einer Einbuße an Vertrauen in ihre Führer. In vielen Parteien gab es ernstzunehmende Parteiaustritte. In zwei osteuropäischen Ländern, in Polen und Ungarn, entzündeten diese Enthüllungen das Feuer der Unzufriedenheit mit der harten Regierungsweise ihrer eigenen kommunistischen Führer, oder sie fachten es doch an. Sowohl die Versöhnung der UdSSR mit Jugoslawien als auch, was Chruschtschow öffentlich auf dem XX. Parteitag über die verschiedenen Wege zum Sozialismus gesagt hatte, trug dazu bei, unter einigen der Kommunisten Ost-europas die Hoffnung zu erwecken, daß sie nun jedenfalls imstande sein würden, einige der am meisten verhaßten, von Moskau eingesetzten Führer durch Führer ihrer eigenen Wahl zu ersetzen. In Ungarn führten diese Hoffnungen im Oktober 1956 zu einem nationalen Aufstan.
von Arbeitern und Studenten, den die sowjetische Armee gewaltsam niederschlug. In Polen wurde ein unsicherer Kompromiß dadurch erreicht, daß die UdSSR erheblichen Veränderungen in der Art des Regimes und der Entfernung der unbeliebten führenden Kommunisten zustimmte, unter denen sich auch der ehemalige Marschall der Sowjetunion, Rokossowski, befand. Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß der kommunistische Block sich im Oktober 1956 von der Auflösung bedroht sah.
Es läßt sich leicht einsehen, daß diese Drohung, die schwerste, der sich die kommunistische Herrschaft seit dem Aufstand von Kronstadt im Jahre 1921 gegenübersah, Chruschtschows Gegnern, die mit einiger Berechtigung darauf hinweisen konnten, daß er durch seine Enthüllungen auf dem XX. Parteitag das gesamte Regime in Gefahr gebracht habe, mächtige Waffen in die Hand gab. Die tiefgreifende wirtschaftliche Reorganisierung vom Mai 1957, die unter den mächtigen Klassen der sowjetischen Gesellschaft auf Widerstand stieß, verstärkte noch den Schock, den die Revolten in Ungarn und Polen hervorgerufen hatten. Es ist daher nicht überraschend, daß die endgültige Abrechnung zwischen Chruschtschow und seinen Gegnern im Präsidium im Juni 1957 stattfinden sollte. Es gelang Chruschtschow, der im Präsidium überstimmt und mit dem Ausschluß aus dem Sekretariat bedroht worden war, eine außerordentliche Voll-sitzung des ZK einzuberufen, in der er sich auf ausreichende Unterstützung verlassen konnte.
Am 29. Juni 1957 wurde ein Kommunique herausgegeben, in dem es hieß, daß eine aus Malenkow, Kaganowitsch und Molotow bestehende „parteifeindliche Gruppe“ mit Hilfe Schepilows versucht habe, in der Zusammensetzung der führenden Parteiorgane durch „parteifeindliche, fraktionelle Methoden“ Änderungen vorzunehmen (was vermutlich bedeutete, daß sie versucht hatten, Chruschtschows Aus-schließung zu erreichen); daß sie in einer Reihe von Fragen nicht mit der Parteilinie übereinstimmten, wozu die wirtschaftliche Reorganisation, die Landwirtschaftspolitik und die Versöhnung mit Jugoslawien gehörten; und daß sie auf Grund eines einstimmig vom Plenum des ZK gefaßten Beschlusses aus dem ZK (und damit auch automatisch aus dem Präsidium) ausgeschlossen worden seien, auf einer Plenarsitzung, an der die Mitglieder und die Kanditaten des ZK und die Mitglieder der zentralen Revisionskommission
Veränderungen in der Parteiführung
Der Zweck dieses raschen Überblicks über die bekannten Aspekte von Ereignissen, die selbst noch unklar sind, ist es, sie in Beziehung zu den Veränderungen zu setzen, die zwischen 1953 und 1957 in der Führung der Partei vorgingen. Bis zum Juni 1957 blieben die drei Gegner Chruschtschows Mitglieder des Präsidiums. In der Zusammensetzung, wie es vom XX. Parteitag gewählt worden war, und mit einigen späteren Neuaufnahmen, umfaßte es außerdem, von Chruschtschow abgesehen, Bulganin, Woroschilow, Kiritschenko, Perwuchin, Mikojan, Saburow und Suslow. So konnte man im Juni 1957 ziemlich sicher damit rechnen, daß von den elf Mitgliedern fünf — Malenkow, Kaganowitsch, Molotow und die beiden Planexperten, Saburow und Perwuchin — gegen Chruschtschow stimmen würden, und es bedurfte nur noch einer weiteren Stimme, nämlich der Bulganins, um das Gleichgewicht zu seinen Ungunsten zu verschieben. (Chruschtschow hatte wenigstens vier Anhänger unter den sieben Kandidaten, doch ist es nicht gewiß, daß ein Kandidat abstimmen darf, ausgenommen wahrscheinlich in der Abwesenheit eines Vollmitgliedes.) Nachdem Chruschtschow im Juni dieser Attacke standgehalten, ja, sie vielleicht sogar erfolgreich pro-voziert hatte, war er imstande, seinen Rückhalt im Präsidium zu stärken. Nach dem Juni 1957 bestand es aus fünfzehn Vollmitgliedern. Marschall Shukow, jetzt Verteidigungsminister, wurde eines der neuen Mitglieder (bis dahin war er nur Kandidat gewesen) und dasselbe geschah auch mit allen anderen fünf Kandidaten, ausgenommen den in Ungnade gefallenen Schepilow.
Chruschtschows Fleiß, den er dafür aufgewendet hatte, die Beförderung seiner Anhänger zu Kandidaten des Präsidiums zu erreichen, wurde belohnt: von den fünfzehn Mitgliedern waren außer ihm selbst sechs Sekretäre des ZK, d. h.seine unmittelbaren Untergebenen bei der täglichen Verwaltung der Parteiherrschaft
Weiterer Machtzuwachs
Die Lage im Dezember 1957 war im Präsidium daher folgende: von fünfzehn Vollmitgliedern waren neun (zehn, falls Beljajew seine Stellung in Moskau noch eine Zeitlang beibehielt) gleichzeitig hauptamtliche Sekretäre des ZK. Von den verbleibenden fünf Vollmitgliedern waren drei (Bulganin, Schwernik und Woroschilow) schwache und unbedeutende Persönlichkeiten und zwei (F. R. Koslow und Mikojan) verläßliche Anhänger von Chruschtschow. Die Planer waren nun höchstens noch durch einen Kandidaten, Perwuchin, vertreten, der auf der Liste der acht die unterste Stelle einnahm und noch dazu ein ausgeschiedener Planer war. Der Gegensatz zu dem im März 1953 gewählten Präsidium, in dem Chruschtschow der einzige Vertreter des zentralen Parteiapparates gewesen war und die Planer zwei Vollmitglieder gestellt hatten, war sehr auffallend. Das war selbstverständlich ein persönlicher Sieg für Chruschtschow, der sich auf diese Weise für alle Fälle mit einer sicheren Majorität umgeben hatte, da die ihm untergebenen Sekretäre, mit deren Laufbahnen er nach Gutdünken verfahren konnte, kaum geneigt sein würden, ihm Wider-stand entgegen zu setzen. Es war aber noch wichtiger, daß damit eine vollständige Ehren-rettung des Status der Partei in ihrem Verhältnis zum Regierungsapparat stattgefunden hatte. Denn die neun Sekretäre, die einer Gewohnheit aus den zwanziger Jahren folgend vermutlich täglich als Koordinierungsausschuß für die Verwaltungsbehörden des Sekretariats zusammen-traten, durch welche die gesamte Administration des Landes kontrolliert wurde, konnten nun auch das Präsidium in Fragen der Festlegung der Politik beherrschen. Der Regierungsapparat war als Folge der industriellen Reorganisierung außerordentlich geschwächt worden. Trotzdem übernahm Chruschtschow wenige Monate später neben dem Posten des Ersten Sekretärs auch noch den des Vorsitzenden des Ministerrates, womit er sowohl seinen persönlichen als auch den Sieg seines Parteiapparates vervollständigte. Man konnte ohne Übertreibung sagen, daß er innerhalb von fünf Jahren die am festesten gegründete Form bürokratischer Parteiherrschaft geschaffen hatte, die es je in der Geschichte des Landes gab.
Zusammensetzung der Partei
Die Zusammensetzung der Partei war während der ersten fünf Jahre nach Stalins Tod keinen großen Veränderungen unterworfen. Die Gesamtzahl der Mitglieder stieg zwischen dem XIX. und XX. Parteitag nur um 4, 8 % — von 6 882 145 auf 7 215 505 einschließlich der Kandidaten
Seit 1956 hat man jedoch größeren Nachdruck auf die Aufnahme von Arbeitern und Bauern gelögt und 1958 mag schon eine entsprechende Veränderung bemerkbar gewesen sein. In der Ukraine machten 1958 die Arbeiter 22, 5°/und Kollektivbauern fast 15. 5 % aller Mitglieder aus; es hieß, daß 1957 Arbeiter und Bauern 65 °/o aller Neueintretenden gestellt hätten. In der Moldauischen SSR waren 1956/57, wie es hieß, 78, 3 % der Neueintretenden Arbeiter und Bauern. In der Aserbeidschanischen SSR machten Arbeiter und Bauern zwischen 1956 und 1958 60, 6 % der Gesamtzahl der Neuaufnahmen aus, in Tadschikistan 49 % und in Turkmenistan 53, 2 %
Die führende Rolle der älteren Mitglieder
Ausführlichere Angaben gibt es über die Parteielite, wie sie sich in den ZKs der Union und der Republiken und in den Delegierten zu den Parteitagen darstellt. Die älteren und erfahreneren Parteimitglieder waren in der Elite nach wie vor in der Überzahl und für die jüngeren Mitglieder, die erst seit kürzerer Zeit in der Partei eine Rolle spielten, ging es mit der Beförderung verhältnismäßig langsam, jedenfalls was die höheren Posten anging. So waren 65 0/der Delegierten auf dem XX. Parteitag vor 1941 der Partei beigetreten und nur 13, 4* 7« nach dem Krieg
In welchem Maße die älteren und erfahreneren Mitglieder sich in einflußreichen Stellungen festgesetzt hatten, ermißt man am deutlichsten, wenn man das höchste Führungsgremium der Partei untersucht, das Präsidium. Eine Analyse des Vorlebens der zehn Vollmitglieder, der zehn vom Ersten Sekretär geführten Sekretäre, die im Dezember 1957 als die wirklichen Beherrscher des Landes hervorgetreten waren, ergibt, daß unter ihnen diejenigen vorherrschend waren, die hier früher „Neo-Stalinisten“ genannt worden sind, die Männer also, die unter Stalin und mit seiner Hilfe in die Prominenz aufgerückt waren. Von diesen zehn konnte man einen vermutlich ganz und gar unbeachtet lassen, Kuusinen, einen alten Mann von sechsundsiebzig Jahren, um so mehr, als seine Geistesgaben nicht darauf schließen ließen, daß er die „graue Eminenz" der Partei sei. Der dreiundsechzig Jahre alte Erste Sekretär, Parteimitglied seit 1918 und Mitglied des ZK seit 1934, war ein typischer Neo-Stalinist.
Von den verbleibenden acht vertraten zwei die jüngere Generation-, der Usbeke Muchitdinow, 1957 vierzig Jahre alt, war erst 1942 der Partei beigetreten. Furzewa, sieben Jahre älter und Parteimitglied seit 1930, begann erst 1950 in der Moskauer Parteiorganisation hervorzutreten, nachdem Chruschtschow nach Moskau zurückgekehrt war. Die anderen sechs waren alle in den Fünfzigern, alle der Partei zwischen 1921 und 1930 beigetreten, und alle nach den Säuberungen von 1937/38 und in deren Folge zur Prominenz aufgerückt. Sie waren die Creme der 500 000, von denen Stalin sich gerühmt hatte, sie als Folge der Jeshowschtschina befördert zu haben. Sie waren alle Männer, die in einer harten Schule gelernt hatten, daß selbstverständliche Unterordnung, Disziplin und Bedenkenlosigkeit Voraussetzungen für die Erhaltung ihrer Macht waren. Alle zehn stammten von Bauern oder Arbeitern ab
Beherrschende Stellung der Großrussen
Soweit Angaben über die Nationalität der Delegierten zu den Parteitagen der Republiken gemacht wurden, läßt sich ihnen entnehmen, daß die Großrussen immer noch eine ziemlich beherrschende Stellung einnahmen. Um die verschiedenen Parteitage der Republiken aus dem Jahr 1958 zu nennen: in Litauen machten die Litauer 79 %, die Großrussen 15% aus; auf dem Parteitag der Moldauischen SSR bildeten die großrussischen Delegierten fast ein Drittel. Auf dem kirgisischen Parteitag betrug der Anteil der Großrussen 29, 3 % gegenüber 50, 7 % Kirgisen; und auf dem turkmenischen Parteitag waren 26 % der Delegierten Großrussen und 62 % Turkmenen. (Der Rest wurde in jedem Fall von verschiedenen anderen Nationalitäten gestellt.) Wie gewöhnlich machten die Großrussen in der Elite der kaukasischen Parteien nur einen ganz geringen Teil aus. Wenn man die Namen allein als Hinweis nimmt (der aber nicht unbedingt verläßlich ist), dann betrug der Anteil der Großrussen in den ZKs der drei baltischen Republiken und der zentralasiatisdhen Republiken 1954 und 1956 etwa ein Drittel — ausgenommen in Kasachstan, wo es eine sehr große russische Bevölkerung gibt und der Anteil der Russen und der Ukrainer im ZK beinahe zwei Drittel ausmachte. Jedoch sank der Anteil der russischen Namen im 1958 gewählten ZK auffallend, und dies mag das Anzeichen für eine neue Tendenz gewesen sein. Aber außerhalb der Ukraine und der kaukasischen Republiken besetzten die Großrussen nach wie vor gewisse Schlüsselposten, besonders jenen des Vorsitzenden des Ausschusses für Staatssicherheit und entweder den des Ersten oder Zweiten Sekretärs des ZK
Betrachtet man die Zusammensetzung der ZK, dann bekommt man einen Eindruck von der Umsatzrate unter der Parteielite. So bestand das 1956 gewählte ZK der KPdSU zu fast einem Drittel aus neuen Vollmitgliedern, und mehr als die Hälfte der Kandidaten waren ebenfalls neu. Etwa ein Drittel der 1952 gewählten Vollmitglieder und Kandidaten waren spurlos verschwunden. Diese Zahlen stellen aber die Veränderungen dar, die in einem Zeitraum von drei und einem halben Jahr vorgingen. Die ZK der Republiken sind seit 1952 alle zwei Jahre neu gewählt worden. Ein Vergleich der 1958 gewählten ZK mit denen von 1956 zeigt, daß annähernd ein Fünftel bis ein Viertel der Mitglieder nicht wieder gewählt wurden. Der Umsatz scheint auf den niederen Rängen hoch geblieben zu sein, und das ZK der KPdSU kritisierte den Jahresumsatz von Parteisekretären mit 26 % in einem Gebiet als „zu hoch“
Der XX. Parteitag gab den Mitgliedern auch gewisse Auskünfte über die Parteifinanzen. Dem Statut zufolge stammt das Einkommen der Partei aus den Mitgliedsbeiträgen, Unternehmungen der Partei und aus weiteren, nicht aufgeführten Quellen
Parteigremien und Parteilinie
Es bleibt die Frage, welche Entwicklungen bei den Organen der Partei in dieser Periode stattgefunden haben. Der XX. Allunionsparteitag trat innerhalb der vom Statut festgelegten Vierjahresperiode zusammen. Parteitage der Republiken wurden regelmäßig in Abständen von zwei Jahren abgehalten. Das Statut von 1952 hatte eine Periode von achtzehn Monaten zwischen den Parteitagen der Republiken vorgesehen, doch wurde dies offenbar als unzweckmäßig gefunden und der Zwischenraum in aller Form vom XX. Parteitag auf zwei Jahre ausgedehnt
Das ZK der KPdSU trat ebenfalls viel öfter zu Plenarsitzungen zusammen, als das während vieler Jahre zu Lebzeiten Stalins üblich gewesen war. In den vier Jahren von 1954 bis 1957 versammelte sich das Plenum jährlich niemals weniger als zweimal und in einigen Jahren auch öfter; 1957 zum Beispiel fünfmal. Wichtige Änderungen in der Gesetzgebung wurden gemeinhin in Form einer gemeinsamen Verordnung des Ministerrates und des ZK vorgenommen. Es ist auch sehr wahrscheinlich, daß, abgesehen von förmlichen Sitzungen des Plenums, zwischen den ständigen Mitarbeitern des Sekretariats und örtlichen Funktionären und Vertretern der Partei informelle Beratungen stattfinden, ehe Verordnungen im Namen des ZK erlassen werden
Dadurch, daß nach Stalins Tod ein Präsidium hervortrat, in dem eine Zeitlang der Wille eines einzelnen Mitgliedes sich nicht mit Sicherheit durchsetzen konnte, erhob sich die Frage, ob, falls sich unter den Mitgliedern des Präsidiums Meinungsverschiedenheiten ergeben sollten, das ZK eine Art Appellationsgericht werden würde, dem solche Meinungsverschiedenheiten zur Schlichtung unterbreitet werden könnten. Man weiß von zwei Gelegenheiten, bei denen Fragen, die hier schon erwähnt worden sind, dem Präsidium weggenommen und dem ZK vorgelegt wurden: die Frage der in bezug auf Jugoslawien zwischen Molotow und anderen Mitgliedern des Präsidiums im Juli 1955 bestehenden Meinungsverschiedenheit und der Zusammenstoß, der sich aus dem im Juni 1957 offenbar unternommenen Versuch herleitete, den Ersten Sekretär von seinem Posten zu entfernen. In jedem der Fälle fand die vom Ersten Sekretär der Partei vertretene Ansicht die Billigung des ZK, und zwar die einstimmige Billigung, obwohl Molotow im Juni 1957 mit der Tradition brach und sich in der Frage seines eigenen Ausschlusses der Stimme enthielt. Einstimmige Verabschiedung von Beschlüssen sieht im ZK auf lange Tradition zurück und bedeutet nicht notwendigerweise, daß sich gegen die vom Ersten Sekretär geäußerten Ansichten während der Diskussion keine Stimme erhoben hätte.
Einfluß des Ersten Sekretärs
Aber der Einfluß, den der Erste Sekretär auf die im ZK gefaßten Beschlüsse ausüben kann, ist erheblich. Zunächst einmal ist es wahrscheinlich, daß, obwohl nach dem Parteistatut der Mitgliederbestand des ZK nur durch Abstimmung des Parteitages (abgesehen von Fällen formaler Abstimmung über den Ausschluß von Mitgliedern) geändert werden darf, der Erste Sekretär diesen Mitgliederbestand zwischen den Parteitagen jedenfalls dadurch beeinflussen kann, daß er Mitglieder aus jenen Ämtern entfernt, die ihnen einen Anspruch auf den Sitz im ZK geben. Dies scheint sich zwischen dem November 1953 und dem Februar 1954 ereignet zu haben, als zehn Erste Sekretäre von regionalen Komitees, die alle Mitglieder des ZK waren, abgelöst und in einem Fall, Andrianow von Leningrad, öffentlich durch persönliches Eingreifen von Chruschtschow geächtet wurden. Keiner dieser zehn Sekretäre wurde 1956 von neuem ins ZK gewählt. In der Liste der Abgeordneten zum Parteitag erschienen sie auch nicht und soweit bekannt ist, erhielten sie keine andere Stellung. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sie bereits längst vor dem Jahre 1956 nicht mehr im ZK saßen. Da diese Männer auf diese entscheidenden Stellungen im Parteiapparat zu einer Zeit gestellt worden waren, als Malenkow die Ernennungsmaschine im Sekretariat kontrollierte, ist es nicht unwahrscheinlich, daß diese Gruppe wichtiger Funktionäre potentielle Parteigänger Malenkows im ZK darstellten, die dann von Chruschtschow beim Kampf geven seinen Rivalen entfernt wurden.
So wie das ZK vom XX. Parteitag nach der Niederlage Malenkows gewählt worden war, gehörten ihm eine große Anzahl von Parteifunktionären an, deren Laufbahn vom Ersten Sekretär abhing und von denen daher zu erwarten war, daß sie ihn unterstützten: 53% aller Vollmitglieder, 31 % der Kandidaten und 40 % der Mitglieder der zentralen Revisionskommission gehörten dazu. (Es ist wichtig, alle drei Kategorien zu erwähnen, da im Fall einer Abstimmung zum Zweck der Ausschließung eines Mitgliedes des ZK — ein Fall, der im Juni 1957 eintrat —, alle drei Gruppen in Übereinstimmung mit der auf dem X. Parteitag 1921 niedergelegten Bestimmung das Recht der Abstimmung ausüben und eine ZweidrittelMehrheit vorgeschrieben ist
Unveränderte Struktur des Zentralapparats
Die Veränderungen, denen der Zentralapparat der ständigen Mitarbeiter der Partei während dieser Periode unterworfen war, scheinen eher von detaillierten Sachgesichtspunkten als von Grundsatzfragen bestimmt gewesen zu sein; insbesondere blieb das System der Arbeitsteilung nach „Produktionszweigen" innerhalb der Abteilungen unverändert. In einem Interview mit einem sehr hohen Mitglied des zentralen Stabes der Partei wurde eine Gruppe italienischer kommunistischer Besucher 1957 das vollständigste Bild des zentralen Parteistabs gegeben, das in vielen Jahren veröffentlicht wurde. In der Zentrale gab es 1957 jedenfalls vierzehn Abteilungen: die Abteilung für Parteiorgane, die an die Stelle der Abteilung für Angelegenheiten der Partei, des Kom sow o I und der Gewerkschaften getreten war; für Agitation und Propaganda; für Kultur und Wissenschaft; für Hochschul-und Schulwesen; für Landwirtschaft; für Transport-und Nachrichtenwesen; vier Abteilungen für die Hauptzweige der Industrie; eine Abteilung für Verwaltungsorgane; für Planung, Finanzen und Handel; für Äußere Angelegenheiten; und eine Abteilung für allgemeine Geschäftsführung. Zu diesen Abteilungen läßt sich nicht viel ausführen, da die Verteilung der Funktionen unter ihnen sich nicht wesentlich von der nach 1948 eingetretenen Lage unterscheidet. Das Fehlen einer geheimen Abteilung muß jedoch festgestellt werden. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß entweder diese Abteilung oder irgendeine andere Abteilung, die Stalins Privatkanzlei ähnlich gewesen wäre, nach seinem Tod wieder erstanden ist. Vermutlich wird die Parteikontrolle über die Sicherheitsorgane durch die Abteilung für Verwaltungsorgane ausgeübt. Die Abteilung für Parteiorgane unterhält die allgemeine Aufsicht über untergeordnete Parteiorganisationen einschließlich der Zuweisung von Kadern und der Kontrolle bei der Ernennung von Funktionären. Zu diesem Zweck ist sie in vier territoriale Sektionen, von denen jede einer Anzahl von Republiken entspricht (ausschließlich der RSFSR), und in vier funktionelle Untersektionen gegliedert: für Mitgliedsbücher, für Kader, für Fragen der Organisation und des Statuts, und für Gewerkschaften, Komsomol und Sowjets
Die Gesamtzahl besoldeter Parteifunktionäre kann für 1957-58 ziemlich genau auf etwa 240 000 geschätzt werden, wenn man die 25prozentige Reduzierung von Mitarbeitern berücksichtigt, die entweder in der Zentrale, in den Gebieten und in den Republiken tatsächlich erfolgte oder beabsichtigt wurde, und wenn man die Anzahl der besoldeten Sekretäre der Grund-Organisationen der Partei mit 29 000 annimmt, der Zahl, die man der italienischen Delegation genannt hatte
Enge Grenzen der Dezentralisierung der Parteiverwaltung
Ein neuer Zug im Verwaltungsapparat der Partei ist die Einführung eines gewissen Ausmaßes von Dezentralisation gewesen, die durch die Schaffung eigener Abteilungen für die RSFSR und die Unionsrepubliken eingetreten ist. Dieser Prozeß, der schon vor 1956 begann, wurde 1956 mit der Errichtung eines sogenannten Büros der RSFSR regularisiert, durch die zum erstenmal in der Geschichte der Partei eine getrennte Parteiverwaltung für die RSFSR geschaffen wurde. Die Verordnung, durch die dieses Büro errichtet wurde, führte die Abteilungen auf, durch die es tätig werden sollte. Diese mögen durchaus den schon beim ZK bestehenden Abteilungen für die RSFSR entsprochen haben, die nun koordiniert werden sollten: für Parteiorgane; für Agitation und Propaganda; für Wissenschaft, Schulen und Kultur; für Industrie und Transport; für Verwaltung; und eine Abteilung für Handels-und Finanzorgane
Der Haushaltsplan der Partei blieb ebenfalls zentralisiert, obwohl die Befugnisse der ZK der Republiken im August 1957, besonders in Dingen der Propaganda und Parteischulung, erheblich erweitert wurden
Bescheidener Demokratisierungsprozeß
Die Neuordnung des gesamten Parteiapparates und das Wiederaufleben des Funktionierens der normalen Parteiorgane führten innerhalb der Partei zu einer leichten Entwicklung des demokratischen Prozesses, der viele Jahre lang stagniert hatte und niemals sehr stark gewesen war. Den radikalen Reformen der Industrie und der Landwirtschaft, auf die schon hingewiesen worden ist, ging eine öffentliche Diskussion voraus, die immerhin die Formulierung wichtiger Einzelheiten beeinflußte, wenn im Prinzip die Annahme des von oben herunter-gelangenden Vorschlages auch von Anfang an feststand. Die Parteipresse und öffentliche Verlautbarungen forderten die Parteiorgane und die Parteimitglieder immer wieder dazu auf, den demokratischen Prozeß auf alle Ebenen auszudehnen: Mitglieder und Funktionäre örtlicher Organisationen unbesorgt zu wählen, Kritik und Debatten rückhaltloser zu führen und die Büros — das Gegenstück zum ZK der Union und den ZK der Republiken auf Stadt-und Bezirksebene — zu größerer Teilnahme am Parteileben anzuregen.
Die Parteiführung bemühte sich zweifellos ehrlich darum, die Parteimitglieder aus ihrer disziplinierten Lethargie aufzurütteln, in die sie unter Stalins schreckenerregender Herrschaft gestürzt worden waren. Aber die traditionelle Angst vor der Spontaneität und der Respekt vor der Autorität starben nur langsam ab, und es scheint, als sei die Entwicklung, die in Richtung auf Demokratie stattfand, sehr bescheiden gewesen. Ein in einer autoritativen, zentralen Parteizeitschrift erschienener Artikel über die Bedeutung der Freiheit zur Kritik gibt ein Bild der Schwierigkeiten, denen sich das gewöhnliche Parteimitglied gegenübersieht, wenn es entscheiden soll, was bei einer Debatte passend und unbesorgt vorgebracht werden kann. Es heißt dort, daß der Freiheit zur Kritik gewisse Grenzen gezogen seien. Ein Parteimitglied habe das Recht auf eigene Meinung und auch ein Recht, diese Meinung auszudrücken. Lenin wird als Autorität für die Ansicht angeführt, daß jede Unterdrükkungsmaßnahme „unzulässig" ist, die gegen Parteimitglieder ergriffen wird, weil deren Ansichten von denen abweichen, die die Partei ge-faßt hat. Die Kritik dürfe jedoch nicht die „Unterminierung der Grundlagen" der Partei oder ihrer Beschlüsse bezwecken. Es dürfte niemals „Kritik um der Kritik willen" geübt werden, sondern sie müsse „im Charakter schlicht“ und „durchdrungen von der Sorge um Verbesserung“ sein
Ein weiterer derartiger Artikel zeigt, daß die Lage bei der Wahl von Parteiorganen und Funktionären sehr ähnlich ist. Nach dem Statut wird in geheimer Abstimmung gewählt, in welcher jedes Mitglied der betreffenden Organisation für eine Kandidatenliste stimmt. Der Wahl geht eine offene Diskussion über die auf der Liste enthaltenen Kandidaturen voraus, und das Parteistatut unterstreicht das Recht eines jeden Mitgliedes, alle auf die Liste gesetzten Kandidaten zu kritisieren und jeden auf der Liste vorgeschlagenen Namen zu streichen, wenn es sich dafür entscheidet. Es herrscht die unveränderliche Praxis, daß bei dieser Diskussion ein Vertreter der nächst höheren Parteiorganisation anwesend ist (gewöhnlich einer ihrer Sekretäre). Von diesem wird gefordert, einerseits niemals seine Kandidatenliste der Versammlung der untergeordneten Organisation „aufdrängen“, während er doch gleichzeitig die Wahl „leiten“ muß, da „Demokratie nichts mit Spontaneität zu tun hat, bei der jedes zufällige Resultat zum Vorschein kommen kann“. Diese Anleitung durch den Abgesandten der höheren Parteiorganisation geht in der Form vor sich, daß er der Versammlung dabei hilft, die Kandidatenliste zusammenzustellen. Daß seine Hilfe praktisch von Erfolg gekrönt wird, geht aus der Tatsache hervor, daß in der „großen Mehrzahl“ der Wahlen die Anzahl der Kandidaten, die auf die unter seiner Leitung vorbereiteten Listen kommen, der Anzahl der zu besetzenden Stellen entspricht
Die für die Partei während dieser Periode bedeutendste Entwicklung bestand in der Veränderung ihrer Beziehungen zur Regierung, zur Landwirtschaft und zur Industrie. Die Rivalität zwischen Chruschtschow und Malenkow, die mit dem Sieg Chruschtschows endete, ist schon beschrieben worden.
Vorrang der Partei
Aber in gewissem Sinne war dieser Konflikt ebenso ein Konflikt zwischen dem Parteiapparat und dem Regierungsapparat, in welchem der Parteiapparat den Sieg davontrug. Die 1957 erreichte Vorherrschaft der Parteisekretäre in dem höchsten Gremium der Partei, dem die Politik festlegenden Präsidium, war ein Symbol für die Tatsache, daß die Partei nun ihren Vorrang durchgesetzt hatte und rivalisierende Ratgeber nicht dulden würde. Der Autoritätsverlust des Ministerrates und die Übernahme des Postens des Vorsitzenden des Rumpfministerrates durch den Ersten Sekretär waren nichts weiter als die letzten Verzierungen an einem bereits vollendeten Gebäude. 55
Die Verfassungstheoretiker der Partei hielten mit den praktischen Entwicklungen Schritt. In einem im Dezember 1955 amtlich gebilligten Textbuch des Verfassungsrechtes heißt es, daß eine der Funktionen der höchsten Parteiorgane die sei, den Regierungsorganen bei der Ausarbeitung gesetzgeberischer Vorschläge Anleitungen zu erteilen. Eine Form dieser Anleitung durch die Partei, heißt es da, sei die gemeinsame Verordnung des ZK und des Ministerrates. Durch diese Methode stellte die „unanfechtbare“ Autorität der Partei sicher, daß die Verordnung die „breite Unterstützung des sowjetischen Volkes" finde
Aufsichtsfunktion der Partei
Die erhöhte Rolle der Partei wurde besonders deutlich durch die weitreichenden Reformen in Landwirtschaft und Industrie, auf die schon hingewiesen wurde. Im Fall der Landwirtschaft war es das Hauptziel der neuen Politik, die Agrarproduktion dadurch zu erhöhen, daß man den einzelnen Wirtschaften einen Anreiz zu größerer Produktion in Gestalt größerer Profite gab. In der Industrie war das Ziel ähnlich: der örtlichen Initiative sollte größerer Spielraum gegeben werden, um die Begeisterung und die schöpferischen Talente sich frei entfalten zu lassen, die durch die bürokratische Untüchtigkeit eines ins Absurde überzentralisierten Systems der Betriebsleitung gehemmt gewesen waren. Aber wo alle Produktion einer Gesamtplanung unterliegt, besteht immer das Risiko, daß örtliche Profitmotive oder Anreize mit dem Gesamtplan kollidieren: zum Beispiel mag eine Kolchose in Usbekistan den Wunsch haben, ihre Lebensmittelproduktion für den örtlichen Verkauf zu lochenden Marktpreisen lieber zu erhöhen als sich ausschließlich auf die Baumwollernte zu konzentrieren, welche der Plan von ihr verlangt; ebenso mag ein nationaler Wirtschaftsrat aus einem Gefühl des Lokalpatriotismus oder der wirtschaftlichen „Autarkie" heraus den Wunsch verspüren, der Belieferung der eigenen örtlichen Industrien auf Kosten von Industrien den Vorrang zu geben, die sich im Bereich eines anderen nationalen Wirtschaftsrates befinden, und die zu beliefern der Plan verlangt. Die Partei, die zentralisiert bleibt und wenigstens theoretisch auf allen Ebenen nur eine Stimme hat, kann das Interesse der gesamten nationalen Politik zum Ausdruck bringen und hat daher die wichtige Funktion, diese Tendenzen zu korrigieren und dafür zu sorgen, daß die örtliche Initiative innerhalb strenger Grenzen bleibt.
Die landwirtschaftlichen Reformen wurden begleitet von der schrittweisen Entwicklung jener Art von Normalisierung der Parteikontrolle über die Kolchosen, für die Chruschtschow zu Stalins Lebzeiten die Grundlage legte, als er die Kolchosen zu größeren Einheiten verschmolz. Normalisierung der Parteikontrolle über die Kolchose bringt die Kontrolle durch die territorialen Parteiorganisationen mit sich, die aber innerhalb jeder Kollektivwirtschaft durch eine angemessene Grundorganisation der Partei tätig wird, die ihrerseits ihren Einfluß über den Rest der Mitglieder der Kollektivwirtschaft ausdehnen kann. 1956 waren noch mehr als 7000 der 87 500 Kolchosen ohne Grundorganisationen der Partei, und in mehr als 10 000 Kolchosen waren die Grundorganisationen nur drei bis fünf Mitglieder stark
Kollektivwirtschaften hatten nun Grundorganisationen
Kontrolle der Kollektivwirtschaften
Die Entscheidung, die es den Kolchosen erlaubte, über ihren eigenen Maschinenpark zu disponieren, war nicht nur von enormer wirtschaftlicher und politischer Bedeutung (man wird sich erinnern, daß Stalin 1952 von dieser vorgeschlagenen Veränderung sagte, sie sei „eher ein Schritt vom Kommunismus weg als zu ihm hin
Es ist möglich, daß dieses Kontrollsystem, das so stark von den MTS abhängig war, nur als ein vorübergehendes gedacht war, bis die Parteiorganisationen innerhalb der Wirtschaften verbessert werden konnten. Wie dem auch sei, über die Anstrengungen hinaus, die sich auf die Stärkung der Grundorganisationen der Partei innerhalb der Kolchosen richteten, wurden viele Tausende von Parteimitgliedern, meist aus den Städten (30 000 im Jahr 1955), ausgesandt, um den Posten eines Vorsitzenden der Kollektiv-wirtschaften zu übernehmen. Im selben Maße, in dem sich die Organisation an Ort und Stelle verbesserte, wurde auch eine größere Dezentralisierung gestattet: die Funktionen der örtlichen Parteifunktionäre nahmen im selben Maß zu, in dem jene der zentralen Funktionäre abnahmen, während man es von 1955 an den MTS und Kollektivwirtschaften erlaubte, ihre eigenen detaillierten Produktionspläne aufzustellen und zur Genehmigung und Koordinierung der Zentrale vorzulegen, anstatt ihnen wie bisher Anweisungen von der Zentrale zu erteilen, die auch die geringsten Einzelheiten umfaßten. Das letzte Stadium des Prozesses wurde 1958 mit dem Beschluß erreicht, die MTS aufzulösen. Das Resultat davon war, daß die Wirtschaften eine unabhängige Planungseinheit werden sollten, wobei der Bezirksparteisekretär als Sammelpunkt der Parteikontrolle und Wachhund zu dienen hatte, der die Bestrebungen der einzelnen Wirtschaften den Interessen des gesamten nationalen Produktionsplanes angleichen sollte. Es ist noch zu früh, um eine Voraussage über die wahrscheinlichen Ergebnisse dieser radikalen Veränderung zu machen. Daß diese Veränderung aber überhaupt vorgenommen wurde, beweist, daß man glaubte, die Entwicklung der Parteiorganisationen auf den Kolchosen sei weit genug fortgeschritten und die örtlichen Parteiorganisationen könnten im Zusammenwirken mit den vertrauenswürdigen Vorsitzenden der Kollektivwirtschaften und den verstärkten Grundorganisationen der Partei jene Kontrolle ausüben, die mehr als zwanzig Jahre lang den MTS als den proletarischen Vorposten im immer verdächtigen landwirtschaftlichen Hinterland oblegen hatte.
Kontrolle der Industrie
Die Reorganisation der Industrie, die zu so ernsten Konflikten unter den Parteiführern geführt hatte, bewirkte ebenfalls eine Stärkung und Ordnung des Systems der Parteikontrolle. Auf der untersten Ebene blieben die Befugnisse der Grundorganisationen in der Industrie unverändert. Aber allein die Tatsache, daß die Erhöhung der Anzahl vollbezahlter Sekretäre 1957 die Behörden beunruhigte, war ein Zeichen dafür, daß der erhöhte Status der Partei eine verstärkte Tätigkeit zur Folge hatte. Es gab keine Anzeichen dafür, daß die ständigen Konflikte, die aus dem Vorhandensein doppelter Autorität rührten, behoben waren, obwohl die wachsende Zahl von Parteimitgliedern mit technischer Ausbildung es ermöglichte, in einer steigenden Zahl von Fällen sicherzustellen, daß der verantwortliche Parteifunktionär über eine gewisse Kenntnis der Fähigkeiten jener gebot, die er kontrollierte. Auf den höheren Ebenen führte die Verkleinerung und Delegierung der Autorität des Ministerrates der Union zu einem entsprechenden Anwachsen des Einflusses der Partei
Man könnte also sagen, daß der vorherrschende Trend jener fünf Jahre von 1953 bis 1957 auf eine starke Ausweitung der Autorität der Partei zielte, und daß diese Ausweitung durch ein gewisses Maß an Dezentralisierung und durch starke Rationalisierung der Kontrollmethoden erreicht wurde. Der persönliche, willkürliche und überzentralisierte Despotismus und die endlosen Autoritätskonflikte, die Stalins Herrschaft charakterisiert hatten, wurden nach und nach durch ein System ersetzt, in welchem der Regierungsapparat der Partei untergeordnet war. Wenn das Geschäft der Verwaltung im großen und ganzen dem Staatsapparat überlassen wurde, so gab es andererseits keinen Zweifel daran, daß die Leitung der Politik, der Schutz des zentralen Planes vor dem Übergreifen örtlicher Interessen und die tägliche Kon-trolle der Art und Weise, in welcher Regierungsorgane und Wirtschaftsunternehmungen ihre Arbeit ausführten, auf die Schultern der Partei fielen. Am höchsten Punkt des Systems standen die Sekretäre des ZK, die nach 1957, wenn nicht schon vorher, im Parteipräsidium die Formulierung aller Politik auf höchster Ebene kontrollieren konnten und deren Führer, der Erste Sekretär, nach dem April 1958 auch formal die Führung des Regierungsapparates übernommen hatte. Wenn das Vorhandensein dieses zweigleisigen Systems der Verwaltungskontrolle auch immer noch Anlaß zu Konflikten bot, dann war es doch klar, daß die Partei das letzte Wort zu sprechen hatte.
Veränderung der Beziehungen zur Bevölkerung
Es sind nun noch die Veränderungen zu betrachten, die sich in der Beziehung der Partei zur Bevölkerung ereigneten. Die Führer der Partei hatten ihre eigene Anschauung von den Gefühlen, welche die Bevölkerung der Partei entgegenbrachte, treffend ausgedrückt, als sie unmittelbar nach Stalins Tod von der Notwendigkeit sprachen, Maßnahmen zur Verhinderung von „Verwirrung und Panik“ zu ergreifen. Offenbar glaubten sie, sich nicht allzu vertrauensvoll darauf verlassen zu sollen, daß die Bevölkerung sich um die überlebenden Helfer des toten Führers scharen werde, nachdem einmal die strenge Hand Stalins erkaltet war. Zweifellos herrschte auch Ungewißheit darüber, welcher dieser Gehilfen nun darauf hoffen konnte, über die Loyalität des Parteiapparates zu gebieten. Wie schon in einer vorangegangenen Periode der Krise, im Jahr 1921, machte sich die Partei daran, die LInterstützung der Bevölkerung durch eine Politik der Zugeständnisse und durch eine entschlossene Anstrengung zu gewinnen, die materiellen Verhältnisse zu verbessern. Die Geschichte der nächsten fünf Jahre verzeichnete Maßnahmen zur Verbesserung des Loses der Bauern und Arbeiter und zur Vergrößerung des Angebotes an Konsumgütern, um die Kaufkraft der privilegierten Mitglieder der Gesellschaft zu absorbieren. Die Partei hat zweifellos zu einer anhaltenden Anstrengung aufgerufen, die Produktion auf allen Gebieten zu erhöhen. Aber im Gegensatz zu dem, was unter Stalin geschah, hat sie auch dafür gesorgt, daß diese Anstrengungen materiell nicht ungelohnt blieben und darüber hinaus zu erreichen gesucht, daß die vorhandenen materiellen Güter einem weiteren Kreis der Bevölkerung zugute kommen, als das viele Jahre lang der Fall gewesen ist.
Eine der wichtigsten Maßnahmen, die von der Partei im Laufe der Herstellung der Ordnung nach Stalins Tod ergriffen wurden, bestand darin, eine strengere Beachtung der Gesetze zu erzwingen. Die gänzliche Mißachtung gesetzlicher Schutzbestimmungen und die willkürliche und beinahe uneingeschränkte Anwendung von Terror unter/Stalin wurden nun offen eingestanden, obwohl man die Verantwortung dafür sorgfältig auf solche Individuen wie Berija und auf den „Personenkult" abwälzte, von dem es hieß, daß Stalin ihn in seinen späteren Jahren unzulässigerweise ermutigt habe. Jede Andeutung, daß diese Ungesetzlichkeit das Resultat der privilegierten Stellung über dem Gesetz gewesen sein könnte, die die Partei immer für sich in Anspruch genommen hatte, und daß auch das Fehlen eines unabhängigen Justizwesens dazu beigetragen haben könnte, wurde streng zum Schweigen gebracht. Was immer in der Vergangenheit auch falsch gewesen sein mochte, die Partei war dafür nicht zu tadeln; und die Tatsache, daß die Partei sich nun bemühte, das Unrecht gut zu machen, bewies, den Parteiführern zufolge, daß es nicht die Partei gewesen war, die in der Vergangenheit Fehler begangen hatte.
Revision des Zwangsarbeitssystems
Tatsächlich waren die praktischen Maßnahmen, die man ergriff, um eine strengere Beachtung der Gesetze zu erzielen und früheres Unrecht zu beseitigen, von erheblicher Bedeutung. Es fanden mehrere Amnestien statt, dazu eine umfängliche Überprüfung der in Zwangsarbeitslagern festgehaltenen Personen, und viele wurden entlassen. Eine Anzahl prominenter Kommunisten, die in der Vergangenheit als Verräter irgendeiner Spielart verurteilt oder beseitigt worden waren, wurde rehabilitiert, die meisten von ihnen posthum. (Unter jenen, die so reha-bilitiert wurden, befand sich der ehemalige stell-vertretende Volkskommissar für die Justiz, Paschukanis, von dem es jetzt hieß, daß er zwar fehlerhafte Ansichten vertreten habe, aber zu Unrecht des Verrats beschuldigt worden sei.) Eine ausgedehnte Reorganisierung des Systems der Zwangsarbeit wurde in Angriff genommen. Eine Anzahl von Unruhen, die sich nach Stalins Tod in den Lagern ereignet hatten (und über die außerhalb der UdSSR durch ehemalige Insassen berichtet worden war), mag zur Beschleunigung der Reform beigetragen haben. Das MWD verlor nach und nach seine ausgedehnten Wirtschaftsunternehmungen, die nun der Kontrolle der zuständigen Industrieministerien unterstellt wurden. Die Lebens-und Arbeitsbedingungen der Strafarbeiter, von denen es nun viel weniger gab, wurden erheblich verbessert. Man beschloß, alle Lager in „Kolonien" umzuwandeln, und die neu gebildeten Kolonien wurden ebenso wie die noch bestehenden Lager der gemeinsamen Zuständigkeit des MWD und der örtlichen Sowjets unterstellt. Sowohl die örtlichen Sowjets als auch die Staatsanwälte waren nun für die Überwachung der Zustände in den Lagern oder Kolonien verantwortlich. Es hieß, daß eine Verordnung vom 5. November 1934, durch die das Volkskommissariat für das Innere ermächtigt worden war, auf administrativem Wege Personen zur Verschickung zu verurteilen, die als „gesellschaftlich gefährlich" betrachtet wurden, außer Kraft gesetzt worden sei — obwohl diese außerkraftsetzende Verordnung nicht veröffentlicht worden ist
Verbesserungen im Rechtswesen
Obwohl man nicht mit Sicherheit behaupten kann, daß diese Vorschriften tatsächlich befolgt wurden
Bleibender Argwohn gegenüber den Intellektuellen
Dieser neue Geist fing an, sich auch unter den Intellektuellen zu rühren. Unter den Schriftstellern (viele von ihnen Parteimitglieder) erhoben sich vorsichtige, gelegentlich auch kühneStimmen, die nach Aufrichtigkeit in der Literatur verlangten, für den Künstler die Freiheit forderten, zu beschreiben, was er sah und nicht, was von ihm verlangt wurde, Stimmen, die in einigen Fällen sogar die Zwangsjacke der Partei tadelten. Ähnliches war seit den frühen dreißiger Jahren nicht mehr vernommen worden. Die Parteiführer reagierten auf diese neue Stimmung mit einem Argwohn, der nach dem ungarischen Aufstandsversuch vom Oktober 1956, bei dem Schriftsteller und Intellektuelle eine führende Rolle gespielt hatten, noch stärker wurde. Soweit bekannt ist, kehrte man nicht zu den Terrormethoden zurück, die Stalin niemals anzuwenden gezögert hatte, wenn er seine Kritiker zum Schweigen bringen wollte. Aber die Partei warnte, überredete und kritisierte. Da sie den Schriftstellerverband kontrollierte, auf den jeder Schriftsteller für die Genehmigung zur Veröffentlichung seiner Werke angewiesen war, konnte die Partei letzten Endes die kühneren Geister wirkungsvoll durch ökonomischen Druck beeinflussen. Die Partei entmutigte weder jegliche Kritik, noch verlangte sie, daß nichts anderes geschrieben werden solle als Lobeshymnen auf ihre Errungenschaften. Sie bestand aber auf zwei Dingen: Erstens müsse jede schöpferische Kunst bewußt der Förderung der von der Partei vertretenen Ziele dienen — „Kunst um der Kunst willen" sei nicht erlaubt. Zweitens dürfe sich die Kritik zwar gegen einzelne Mißbräuche innerhalb des Systems richten, nicht aber gegen das System selbst, und bestehende Spannungen in der Gesellschaft dürften nicht verschärft werden. Loyalität gegenüber der Parteipolitik und der Parteikontrolle müsse immer unmißverständlich zum Ausdrude kommen.
Neue Legenden für die Parteigeschichte
Auch in anderen Bereichen des intellektuellen Lebens wurde mehr Freiheit zugestanden. Besonders die wissenschaftliche Forschung war nicht länger mehr Stalins persönlichen Launen und seinem Fanatismus unterworfen und machte daher bemerkenswerte Fortschritte. Auf einem Gebiet jedoch hatte jede Forschung nach wie vor mit der größten Empfindlichkeit der Partei zu rechnen, nämlich auf dem Gebiet der Parteigeschichte. Mikojans Anspielungen auf den Kurzen Lehrgang auf dem XX. Parteitag öffneten nicht den Weg zu objektiver Bewertung vergangener Ereignisse. Chruschtschow hatte in seiner an die nichtöffentliche Sitzung des XX. Parteitages gerichteten Ansprache nachdrücklich betont, daß seine Bemerkungen über Stalin sich nur auf dessen letzte Lebensjahre bezögen; Stalins Kampf gegen die Anhänger Trotzkis und gegen die rechte Opposition sei im Grunde ganz korrekt gewesen, wenn es in der Praxis auch Übertreibungen gegeben habe. Die Parteiführer bemühten sich nun darum, die Autorisierung ihrer eigenen Politik in einer Neuauslegung von Lenins Gedanken und Handlungen zu finden. Das führte dazu, daß den Legenden, mit denen die Periode der Herrschaft Lenins bereits verschleiert war, noch weitere hinzugefügt wurden. Ein Artikel über diese weit zurückliegende Vergangenheit, der sich mit der bolschewistischen Politik vom März und April 1917, vor Lenins Ankunft in Petrograd, befaßte, und in dem zum erstenmal seit Jahren die Tatsachen mit einer gewissen Objektivität dargestellt wurde, führte zur Auflösung des Herausgeberkreises von Woprossy Istorii (Probleme der Geschichte), der Entlassung des ersten Stellvertreters des Herausgebers und Autors des Artikels und zu einem Tadel für die Herausgeberin Pankratowa
Alle diese Veränderungen stellten in gewissem Maße Zugeständnisse an die Öffentlichkeit dar; man hatte wohl auch begriffen, daß die einzige Alternative zum Terror in der Gewinnung eines größeren Rückhaltes in der Bevölkerung bestand. Obwohl die Frage der auswärtigen Beziehungen der Sowjetunion nach Stalins Tod hier nicht behandelt werden kann, soll doch darauf hingewiesen werden, daß sich die Bemühungen um die Zustimmung der Öffentlichkeit in einem Fall auch in der Außenpolitik niederschlugen. In seinen Beziehungen zur nichtkommunistischen Welt hatte Stalin nicht gezögert, die Sowjetunion an den Rand des Krieges zu führen; zur Zeit seines Todes wurden fruchtlose Verhandlungen zur Beendigung der Feindseligkeiten in Korea in die Länge gezogen, und die von ihm in seinen letzten Lebensjahren betriebene Politik hatte das Entstehen eines bewaffneten Bündnisses von Staaten bewirkt, die für ihre eigene Unabhängigkeit fürchteten. Obwohl es für sowjetische Führer ungewöhnlich war, diese Möglichkeit zuzugeben (die deutlich vom messianischen Charakter der marxistischen Geschichtsbetrachtung abweicht), machte es die Entwicklung der Atomwaffen immer wahrscheinlicher, daß jeder Krieg zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten beide Kriegführende vernichtend treffen müßte. Die Außenpolitik der Sowjetunion war also, ähnlich wie ihre Innenpolitik, Zeugnis dafür, daß die Führer die Notwendigkeit erkannt hatten, der Bevölkerung, die einen neuen Krieg fürchtete, die Gewißheit zu geben, daß ihre Führer den Frieden bewahren würden. Die Zustimmung zu einem Waffenstillstand in Korea bald nach Stalins Tod war vermutlich auf derartige Überlegungen zurückzuführen.
Indessen suchten die Parteiführer nicht das Vertrauen ihrer Untertanen mit einer Politik diplomatischer Kompromisse, mit begrenzten Vereinbarungen über Abrüstung, internationale Inspektion oder Schiedssprüche zu gewinnen — eine solche Politik hätte denn auch den vollständigen Bruch mit den Traditionen bezeichnet, die in vielen Jahren entstanden waren. Der Grundton der neuen Politik wurde vom Ersten Sekretär dem XX. Parteitag gegenüber sehr gut getroffen, als er hervorhob, daß Kriege zwischen den sozialistischen und den nichtsozialistischen Mächten nicht länger mehr als unvermeidlich angesehen werden müßten, da die „Kräfte des Friedens“ innerhalb der nichtsozialistischen Länder mobilisiert werden könnten, um die Regierungen der imperialistischen Mächte an der Entfesselung eines weiteren Krieges zu hindern.
Konkreter ausgedrückt bedeutete dies die Verstärkung einer energischen Kampagne, welche die Sowjetunion als die Vorkämpferin des Friedens und die nichtkommunistischen Länder als Anhänger des Krieges hinstellen sollte. Dieser Appell richtete sich nicht nur an jene Bewohner nichtkommunistischer Länder, die mit den Kommunisten sympathisierten, sondern hauptsächlich an die breite Öffentlichkeit, die man davon zu überzeugen hoffte, daß das einzige Hindernis vor dem Frieden die Halsstarrigkeit sei, mit welcher die Regierungen der nichtkommunistischen Länder sich weigerten, mit der Sowjetunion zu einer Vereinbarung zu gelangen. Diese Politik unterschied sich sehr von der ehemals von der Komintern betriebenen Politik. Hier handelte es sich um einen Appell an ein viel größeres Publikum, als es die kom-munistischen Parteien, jedenfalls in Westeuropa oder den Vereinigten Staaten, jemals für sich hatten gewinnen können. Tatsächlich zeigte sich die Sowjetunion in einigen Fällen sehr wohl bereit, eine kommunistische Partei zu übergehen oder fallen zu lassen, wenn sie sich davon größere Aussichten bei der Gewinnung von Anhängern versprach, die von der traditionellen kommunistischen Partei abgeschreckt worden wären. Diese Politik, sich um größeren Anhang zu bemühen, als man ihn durch die bloße Propagierung des Kommunismus zu gewinnen hoffen konnte, wurde mit besonderer Entschlossenheit in den ehemaligen afrikanischen und asiatischen Kolonialgebieten betrieben, wo die Sowjetunion den wachsenden Nationalismus und die Unbeliebtheit der Westmächte ausnutzen zu können hoffte.
Kein Zweifel am Triumph des Kommunismus
Daß das Ziel dieser Politik der endgültige Triumph des Kommunismus im Weltmaßstab ist, wurde zu keinem Zeitpunkt bestritten. Dies zu bestreiten wäre denn tatsächlich auch unvereinbar mit der fundamentalen marxistischen Anschauung von der Geschichte gewesen. Man bestritt nur nachdrücklich und wiederholt, daß die sowjetische Partei die Absicht habe, dem unvermeidlichen Prozeß der Geschichte durch Wühlarbeit oder Gewalt nachzuhelfen. Auf dem XX. Parteitag betonte der Erste Sekretär nicht nur, daß jedes Land seinen eigenen Weg zum Sozialismus verfolgen solle, sondern auch, daß es in einigen Fällen möglich sei, den Übergang zum Sozialismus ohne Bürgerkrieg oder Gewaltanwendung zu vollziehen. Andere Sprecher, besonders Mikojan, ließen dann allerdings erkennen, wie man sich einen solchen friedlichen Übergang zum Sozialismus vorstellte, indem sie auf praktische Beispiele verwiesen, — nämlich auf die baltischen Staaten und die osteuropäischen Staaten. In allen diesen Fällen war der Kommunismus jedoch entweder als Folge eines von Moskau organisierten Umsturzes und direkter Bedrohung mit militärischer Aktion durch die Sowjetunion, oder als Folge der Anwesenheit sowjetischer Truppen zur Macht gelangt. Augenscheinlich war nach Auffassung der Partei eine von der Sowjetunion einem kommunistischen Staatsstreich gewährte Unterstützung dieser Art weder als Subversion noch als Gewaltanwendung anzusehen.
Aber wenn die Parteiführer auch noch so sehr darum besorgt waren, ihre Anhänger innerhalb und außerhalb der Partei davon zu überzeugen, daß sie eine Politik des Friedens befolgten, so scheuten sie doch nicht vor der Anwendung von Gewalt zurück, wenn es galt, die kommunistische Herrschaft in jenen Ländern zu sichern, deren Parteien sich, als Ergebnis des Vormarsches der Roten Armee, an der Macht eingerichtet hatten. Im Juni 1953 wurden sowjetische Truppen in Mitteldeutschland eingesetzt, im Oktober 1956, in noch größerem Maßstab, in Ungarn. In beiden Fällen galt es, die kommunistische Herrschaft gegen einen Aufstand zu verteidigen, der zwar von der Sowjetunion als „Konterrevolution“ bezeichnet wurde, einem unabhängigen Beobachter (im Fall Un-garns einer Kommission der Vereinten Nationen) jedoch als ein Volksaufstand gegen die kommunistische Herrschaft, nicht aber als ein Versuch zur Wiederherstellung einer reaktionären Regierungsform erschien. Ganz offenbar hielt man den Zusammenbruch auch nur einer kommunistischen Regierung für gefährlicher als einen gewissen Prestigeverlust oder auch das Risiko, an Glaubwürdigkeit zu verlieren, wenn man Beteuerungen der Friedensliebe mit militärischen Aktionen gegen Arbeiter und Studenten verband.
Die Entspannung nach Stalins Tod führte zu einer Gärung und einer Ungeduld mit den alten Methoden der Parteikontrolle sowohl innerhalb der UdSSR als auch in den kommunistisch kontrollierten Ländern außerhalb der Sowjetunion. Dies machte den Parteiführern in Moskau ernste Sorge. Wohl mehr der Einfachheit wegen als mit Anspruch auf historische Genauigkeit verurteilten die Parteiideologen diese Ungeduld unter der zusammenfassenden Bezeichnung „Revisionismus“ — womit sie sie jenen Theorien gleichsetzten, die Bernstein 1899 entwickelt hatte. (Diese Theorien Bernsteins standen im Gegensatz zu der Behauptung von Marx und Engels, daß der Sozialismus erst nach einer gewaltsam vollzogenen Revolution erreicht werden könne
Kontrolle, aber kein Terror
Die Partei blieb also nach wie vor entschlossen, den Griff, mit dem sie die Bevölkerung umklammert hielt, nicht zu lockern: sie mochte mehr als zuvor auf die Stimme der „Massen“ achten, doch hielt sie an der Überzeugung fest, daß es ihre Aufgabe sei, die Massen zu führen und ihnen, wo immer notwendig, ihren Willen aufzuzwingen. Immerhin war aber fünf Jahre nach Stalins Tod ein tiefgehender Unterschied in den Beziehungen zwischen Partei und Bevölkerung festzustellen. Nach außen hin mag es so geschienen haben, als sei die Bevölkerung unverändert gehorsam geblieben una sich der Möglichkeit, irgendwelche Kontrolle über ihre Herrscher auszuüben, ebensowenig bewußt wie während der vorangegangenen siebenhundert Jahre. Doch war sie nicht länger mehr durch den Terror geknebelt, der lange Perioden der Stalinschen Herrschaft gekennzeichnet hatte. Zwar konnte niemand mit Gewißheit die Rückkehr des Terrors ausschließen, und auch ohne den Terror wirkte die Strenge der Gesetze zusammen mit der Ermessensfreiheit der Gerichte bei ihrer Anwendung noch abschreckend genug auf potentielle Rebellen — aber eine Bevölkerung, die den Sturz Berijas mit angesehen und wenigstens aus zweiter Hand von Chruschtschows vernichtender Kritik an Stalin gehört hatte, mußte das Gefühl bekommen haben, daß wenigstens einiges von der magischen Macht, die Stalin umgeben hatte, geschwunden war.
Es ist anzunehmen, daß dem gewöhnlichen Bürger die Partei mit ihren kühnen Parolen und ihrer amtlich festgelegten Sprachregelung ebenso fremd blieb wie zuvor. Es gibt genügend Beweise für die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber Fragen der Parteidoktrin, eine Gleichgültigkeit, von der nicht nur diejenigen befallen sind, die außerhalb der Partei stehen, sondern auch die gewöhnlichen Parteimitglieder; die große Zahl derjenigen, die sich Jahr für Jahr vom Komsomol lösen, deutet darauf hin, daß diese Gleichgültigkeit sogar unter der jüngeren Generation zu finden ist, von der man doch annehmen könnte, daß sie für die Massenbegeisterung besonders anfällig sei. Für den gewöhnlichen Menschen blieb die Partei der unbequeme An-treiber, der Stachel für die Indolenten, das strenge Gewissen für die Schwankenden. Man schreckte auch nicht länger mehr so davor zurück, Empfindungen auszusprechen, die man unter Stalin jedenfalls verschwiegen hätte; dieser Schluß drängt sich auf, wenn man die in den letzten Jahren erschienenen, offenherzigeren literarischen Arbeiten als verläßliches Zeichen betrachtet. Zwar waren einige der tieferen Ursachen noch nicht beseitigt, die zur Errichtung von Schranken zwischen Partei und Bevölkerung und zwischen Parteielite und Parteigefolgschaft geführt hatten, doch läßt sich sagen, daß die Parteiführer nicht einzig mehr durch heuchlerische Ermahnungen versuchten, diesem Zustand abzuhelfen. Das Ansteigen des Lebensstandards gab Anlaß zu der Erwartung, daß die Partei nun doch noch all jene Wohltaten austeilen werde, die sie so lange als Belohnung für die zahllosen Entbehrungen in Aussicht gestellt hatte, die sie forderte. Der Preis, der den Privilegierten winkte, mochte noch ebenso herausfordernd hoch sein wie zuvor, aber es verbreitete sich doch das Gefühl, ab sei die Chance, diesen Preis zu erringen, gerechter verteilt als bisher. Den Führern mußte eine weitere Streuung von Privilegien geradezu als ein Vorteil erscheinen, denn auf diese Weise entstand eine größere Gruppe von Personen, die in der Erkenntnis, daß ihre eigenen Privilegien vom Fortbestehen und der Stärke des Parteiapparates abhingen, jede Kritik zurückhielten. Fünf Jahre nach Stalins Tod befand sich die sowjetische Gesellschaft in einem fließenden, veränderlichen Zustand. Der Terror, auf den die Herrschaft der Partei sich viele Jahre lang in der Hauptsache gestützt hatte, war abgeschüttelt, der Mythos der Unfehlbarkeit war in Zweifel gezogen worden. Aber die starke Bindung der begeisterten „Massen“ an ihre „vergötterten“ Führer, von der in der Propaganda so viel die Rede war, mußte zum größten Teil erst noch geschaffen werden. Die Führer hatten damit bereits begonnen, indem sie sich in der Innen-und Außenpolitik eine gewisse Mäßigung auferlegten. Die Mission, die ihnen als Führern auferlegt war, hatten sie nicht abgeworfen, doch hatten sie gelernt, daß der Führer auf das Maß Rücksicht nehmen muß, in dem der Geführte fähig ist, Leiden zu ertragen. Nur die Zeit kann zeigen, welche neue Faktoren in den Beziehungen zwischen Partei und Bevölkerung diese neuen Bedingungen hervorbringen werden.
Die Partei als Machtbasis Chruschtschows
Wir beschäftigen uns jedoch mit der Partei selbst als einem Instrument der Kontrolle. Was blieb übrig von den sechs Zügen, die zu Anfang aufgezählt wurden? In der Hauptsache scheinen alle bis auf zwei den Mann überlebt zu haben, der so viel dazu beigetragen hat, sie der Partei aufzuprägen, die er so lange beherrschte. Sie blieb eine Massenpartei, die zwar bei der Aufnahme von Mitgliedern eine Auswahl traf, gleichzeitig aber bestrebt war, ihre Basis in allen Klassen der Gesellschaft zu verbreitern. Die Vorherrschaft der Funktionäre und Sekretäre in ihr hatte nur wenig — wenn überhaupt — abgenommen. Im Parteiapparat hatten behutsame Versuche einer Dezentralisation stattgefunden, doch die Partei blieb im wesentlichen hochzentralisiert und unverändert unter der Kontrolle des Sekretariats in Moskau. Sie bewachte so eifersüchtig wie je ihr Machtmonopol und war nach wie vor darauf bedacht, jede erdenkliche Einrichtung im Lande mit ihren Mitgliedern zu durchsetzen. Aber zwei Züge, die der unmittelbare Ausfluß von Stalins machtvoller Persönlichkeit gewesen waren, konnte man 1958 nicht mehr feststellen. Die Partei hatte ganz offen ihren Vorrang im Staat wieder durchgesetzt. Sie war nicht länger mehr ein alternatives Herrschaftsinstrument, dessen der Diktator sich jederzeit bedienen konnte, wenn er nicht dazu aufgelegt war, durch den Regierungsapparat oder den Sicherheitsapparat zu handeln. Zweitens regierte Stalins Nachfolger an der Spitze der Partei trotz aller seiner großen Macht durch die Partei und mit der Partei, und nicht wie Stalin vor ihm über ihren Kopf hinweg. Chruschtschows Macht war ihm von der Partei verliehen: er war mächtig, weil ei in der Hierarchie der Partei, die selbst an allererster Stelle stand, den obersten Platz einnahm. 1902 hatte Lenin zum Nutzen der unterirdisch in Rußland arbeitenden Sozialdemokraten seine Ansiciten über die Form, welche die Partei annehmen sollte, die er aufzubauen versuchte, schriftlich skizziert: „Die Bewegung leiten muß eine möglichst kleine Anzahl möglichst gleichartiger Gruppen erfahrener und erprobter Berufs-revolutionäre. An der Bewegung teilnehmen muß eine möglichst große Anzahl möglichst verschiedenartiger und mannigfaltiger Gruppen aus den verschiedensten Schichten des Proletariats (und anderer Volksmassen). Die zentrale Partei-stelle muß von jeder einzelnen dieser Gruppen nicht nur genaue Angaben über ihre Tätigkeit, sondern auch möglichst vollständige Angaben über ihre Zusammensetzung in Händen haben. Wir müssen die Leitung der Bewegung zentralisieren. Wir müssen auch ... die 'Verantwortlichkeit jedes einzelnen Parteimitgliedes ...der Partei gegenüber möglichst stark dezentralisieren... Damit die Zentralstelle nicht nur (wie es bisher der Fall war) beraten, überreden, diskutieren, sondern das Orchester wirklich dirigieren kann, ist es erforderlich, daß man genau weiß, wer wo welche Geige spielt, wo und wie er welches Instrument spielen gelernt hat oder lernt, wer wo und warum falsch spielt (wenn die Musik in den Ohren kratzt) und wen man, wie und wohin, zur Beseitigung des Mißklangs versetzen muß usw.
Lenin beabsichtigte eine konspirative Partei aufzubauen, die in einem Agrarland, dessen Arbeiterklasse klein, ungeschult und unerfahren vierzig Jahre nach der Machtergreifung, nach einer industriellen Revolution und einer Umbildung des Erziehungswesens zeigte die kommunistische Partei der Sowjetunion immer noch alle jene Züge, die Lenin im Jahre 1902 für notwendig erachtet hatte. 1902 befürchtete Lenin vor allem, daß die Massen unfähig sein würden, ihre eigenen Interessen zu erkennen, wenn die Parteiführer ihnen nicht sagten, was sie zu tun hatten. 1958 sagte der Führer der Partei immer noch das gleiche: „Die Spontaneität, Genossen, ist der tödlichste Feind von allen
Hoffnung auf die jüngere Generation ?
Bedeutet das nun, daß die Partei, solange sie an der Macht bleibt, dazu verurteilt ist, zentralisiert, diktatorisch und undemokratisch zu sein? Das Geschäft des Propheten, ein undankbares Geschäft, wie man weiß, ist zum Glück nicht Sache des Historikers. Jenen aber, die geneigt sind, sich auf dieses Gebiet zu wagen, möchte ich eine Mahnung zu Vorsicht mit auf den Weg geben. Die sowjetische Kommunistische Partei hängt mehr als irgendeine der Geschichte bekannte zivile Organisation von den Persönlichkeiten ab, die sie von oben her beherrschen. Die Männer, die im Augenblick über sie herrschen, gehören in der Hauptsache einer älteren Generation an als jene, die die Mehrheit der Mitglieder bilden. Ihre obere Schicht besteht aus Neo-Stalinisten, die von der Teilnahme an Stalins Ausschreitungen gezeichnet sind. Im Lauf der Zeit müssen ihnen jüngere Menschen folgen, die während des Krieges und in den Nachkriegs-jährenzur Reife gelangt sind. Diese jüngeren Menschen haben eine bessere Bildung genossen als die älteren. Sie sind nicht in der Atmosphäre der Stalinschen Wirbelstürme ausgewachsen, sondern in der heldenhaften Verteidigung ihres Landes und beim begeisterten Wiederaufbau der vom Feinde hinterlassenen Ruinen. Auf sie fällt nicht die Schuld, Stalin an der Macht gehalten und alles das geduldet zu haben, was Stalins Regime bedeutete. Viele von ihnen sind mittelbar oder unmittelbar in der Lage gewesen, ihre brennende Neugierde in bezug auf die Welt draußen zu befriedigen, jene Welt, die unter Stalin nur in der Verzerrung durch die Parteilinie zu sehen war. Wird ihr politischer Horizont immer noch durch jene Regeln eingeengt sein, die Lenin einstmals für eine unterirdische Verschwörung aufstellte, wenn und falls sie an die Reihe kommen werden, durch das Mittel der Partei zu herrschen?