In einem Aufsatz, den Ernst Jünger in den Jahren seiner politisch-ideologischen Aktivität vor dem Untergang der Weimarer Republik schrieb, findet sich ein bemerkenswerter Hinweis auf den Historiker, dem einmal die Aufgabe zufallen sollte, die politischen Ideen in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg zu erforschen. Wir lesen dort: „Dem künftigen Geschichtsschreiber dieser Jahre nach dem Kriege, die man dann hoffentlich die Jahre der deutschen Revolution nennen können wird, dürfte es nicht leicht fallen, ihren Bestand an Ideen so übersichtlich auszubreiten, wie es eine exakte historische Schilderung verlangt. Sicherlich aber wird er auf keinen Mangel an Ideen stoßen, wie man ihn heute zuweilen dieser Zeit vorzuwerfen pflegt — im Gegenteil, selbst die tollsten Momente der Konventsherrschaft reichen an diese Mannigfaltigkeit und Verstrickung der Bestrebungen nicht heran. Es scheint vielmehr so, daß, wenn das Leben in Unordnung gerät, es den Ideen am allerwenigsten Widerstand zu leisten vermag — daß es einer Art Überbefruchtung verfällt, einem hitzigen Kampfe ungeborener Zustände, der um Zukunft und Wirklichkeit geht.“
Ernst Jünger hatte damals selbst teil an den geistigen und politischen Anstrengungen nicht weniger deutscher Intellektueller, das aus dem ersten Weltkrieg als geschlagene Nation hervorgegangene Deutschland geistig und politisch zu erneuern, ihm die längst fällige Revolution zu bescheren. Zwanzig bis dreißig Jahre nach der Niederschrift der eben zitierten Bemerkungen sind in der Tat die Historiker dabei, den Bestand an Ideen zu ordnen, wie Jünger sagt, bzw. zu erforschen, inwieweit das Schicksal der Weimarer Republik sich in den politischen Ideen jener Zeit spiegelt.
Suche nach den Ursachen des Zusammenbruchs
Noch können wir, auch wo wir uns um die leidenschaftslose und kühle Sachlichkeit des Historikers bemühen, die Geschichte der Weimarer Republik nicht ohne den Blick auf die zwölfjährige Periode deutscher und europäischer Geschichte sehen, die auf sie gefolgt ist. Die vierzehn Jahre von Weimar stehen im dunklen Schatten der zwölf Jahre Hitlerherrschaft — und fast alle Betrachtungen über die Weimarer Republik gehen bewußt oder unbewußt von der Fragestellung aus: wie war es möglich?
Die Geschichtswissenschaft hat schon sehr früh einige der wesentlichen Faktoren herausgestellt und untersucht, die zum fatalen Scheitern der Weimarer Republik geführt haben. Die Suche geht noch immer weiter. Das historische Urteil, das zur Beantwortung dieser auch für unser gegenwärtiges politisches Bewußtsein bedeutsamen Frage gefordert wird, muß notwendigerweise komplex und differenziert ausfallen. Pauschalantworten gehen nicht mehr. Weder war es nur die Weltwirtschaftskrise, noch nur die Nachkriegspolitik der Ententemächte, noch allein das Versagen der Parteien, noch etwa die fragwürdige Haltung des Reichspräsidenten von Hindenburg in den Monaten vor Hitlers Betrauung mit dem Reichskanzleramt, die der Republik den Todesstoß versetzt haben. Auch die strukturellen Schwächen der Republik hätten als solche nicht ausgereicht, ihren Untergang unvermeidlich zu machen, wären sie nicht zusammengetroffen mit folgenschweren politischen Entscheidungen einzelner Männer, die aber nur darum so gravierend sind, weil sie den
Weg frei machten für die Diktatur Hitlers, von dem man 1933 ja kaum ahnen konnte, wie er zehn Jahre später Deutschlands unzeitgemäße Vormachtstellung blindwütig verspielen sollte.
Fast immer sind große historische Zäsuren das Ergebnis einer Verkettung von Umständen, persönlichen Entscheidungen, strukturellen Gegebenheiten — doch selten wächst das Geflecht der historischen Verkettungen zu solcher Dichte an wie beim Prozeß des Unterganges der Weimarer Republik. Die Vielzahl der Faktoren, die Deutschland in die Diktatur Hitlers führten, darum die Synopsis, die Zusammenschau aller beteiligten Phänomene durch den Historiker, noch immer schwierig. Auch sind wir noch längst nicht aus dem Stadium heraus, welches erst das abgerundete historische Urteil ermöglicht: aus der Phase der Detailforschung, die jeweils an bestimmten Stellen ansetzt, um den Anteil bestimmter Kräfte, Personen und Strukturgegebenheiten zu ermitteln. Hier soll nun von einem gesonderten Aspekt der angedeuteten Art berichtet werden, von der Rolle des antidemokratischen Denkens in der Weimarer Republik.
Ideologische Prädispositionen
Es ist heute kaum mehr umstritten, daß bestimmte ideologische Prädispositionen im deutschen Denken ganz allgemein, konkret jedoch in der geistigen und politischen Situation der Weimarer Republik einen großen Teil der deutschen Wähler unter dieser Republik geneigt gemacht haben, die nationalsozialistische Bewegung für weniger problematisch zu halten, als sie dann tatsächlich werden sollte. Es ist auch kaum zweifelhaft, daß es der Weimarer Republik an innerem Zuspruch gebrach, das heißt, daß die Republik von sehr vielen nicht als ein Staat anerkannt wurde, in dem sie zu leben und für den sie sich einzusetzen wünschten. Man kann die in der Weimarer Zeit verbreiteten antidemokratischen politischen Ideolomacht gien und Sehnsüchte unter zweierlei Gesichtspunkten betrachten: einmal im Hinblick auf das nationalsozialistische Denken, zum anderen hinsichtlich ihrer Funktion im Rahmen der Republik selber. Beide Betrachtungsweisen sind bereits erprobt worden. Noch während der nationalsozialistischen Herrschaft haben einige ausländische Historiker, der bekannteste unter ihnen ist der französische Germanist Edmond Vermeil, die deutsche Geistesgeschichte nach Vorfahren nationalsozialistischen Denkens untersucht und dabei mitunter einen geistesgeschichtlichen Weg bis zurück zu Wolfram von Eschenbach und vor allem Martin Luther beschritten. Ohne das Vorhandensein gewisser Analogien des nationalsozialistischen Denkens mit bestimmten Ideen früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte ableugnen zu wollen, ist dies Verfahren doch weitgehend un-historisch und der tatsächlichen historischen Lage nicht angemessen. Es übersieht, daß der Nationalsozialismus trotz seiner Behauptung des Gegenteils über kein in sich geschlossenes ideologisches System verfügte und je nach Bedarf die Ideen für seine Zwecke manipulierte, und es macht die bloße äußerliche Identität nationalsozialistischer Gedanken mit Äußerungen früherer Epochen zum formalen Beweisstück, während man doch jeweils die historische Einbettung bestimmter Äußerungen zu untersuchen hätte. Nicht ganz ohne Grund hat mai, diesen Versuchen die Behauptung entgegengehalten, in der Literatur westlicher Länder ließen sich unschwer nach einem gleichartigen methodischen Verfahren Vorläufer für nationalsozialistisches Denken entdecken.
Unmittelbare Einflüsse
Heute werden derartige Versuche kaum mehr vorgetragen. Stattdessen häufen sich sowohl Einzelstudien wie größer angelegte Unternehmungen, bestimmte Gestalten und Gruppen der Weimarer und der vorausgehenden Wilhelminischen Zeit im Hinblick auf ihre geistigen Verlautbarungen zu politischen Fragen zu untersuchen. Auf diese Weise kommt man zwar nicht zu einer Klärung der nationalsozialistischen Ideologie, wohl aber zu einer Aufhellung des geistigen Vorfeldes, in dem — und zwar durch die Wirksamkeit bestimmter Personen und Kreise — der Nationalsozialismus erst einigermaßen hoffähig werden konnte. Im übrigen hat ja auch der Nationalsozialismus selbst weitgehend von Denkern wie Oswald Spengler, Moeller van den Bruck, Ernst Jünger u. a. profitiert, auch wenn er sie später ausdrücklich ablehnen und bekämpfen sollte. Auch hier ist es schwer, die Problematik allein auf die geringere oder größere Übereinstimmung mit dem nationalsozialistischen Gedankengut einengen zu wollen, denn es gibt eben keinen strengen Kanon nationalsozialistischen Denkens, an dem solche Übereinstimmung sinnfällig werden könnte. Deshalb hat man immer wieder das Un-systematische, Ungefüge der nationalsozialistischen Weltanschauung hervorgehoben, und ihr einen Vorwurf daraus gemacht, daß sie ein Konglomerat von Ideen darstelle. Immerhin war es gerade die mangelnde ideologische Fixierung, die den Nationalsozialismus in den letzten Jahren der Weimarer Republik zur Zuflucht jener vielen werden ließ, die von ihm eine Verbesserung der Verhältnisse in ihrem Sinne erhofften. Die mangelnde ideologische Festlegung, das, was ein Autor einmal den „Ideenbrei“ genannt hat, war geradezu eine Voraussetzung des politischen Erfolges der Nationalsozialisten.
Geistige Auszehrung der Demokratie
Aus diesen Gründen erscheint es für die historische Forschung auf dem Felde politischen Denkens sinnvoller, die Rolle zu untersuchen, die dieses Denken im Hinblick auf die Republik selbst gespielt hat. Antidemokratisches Denken ist darum nicht gleichbedeutend mit nationalsozialistischem Denken, sondern ist ein Denken, das auf die Ablösung der Weimarer Repu-blick durch andere politische Gestaltungsformen gerichtet ist. Indem es den bestehenden Staat geistig unterhöhlt und für einen anderen wie auch immer gearteten Staat eintritt, bewirkt es eine Art geistiger Auszehrung der Demokratie und vereitelt den Konsensus der Staatsbürger, auf dem die demokratische Verfassung eines Gemeinwesens beruhen muß, wenn es einigermaßen funktionieren soll.
Die Demokratie kennt das Prinzip der Opposition und billigt es, doch bedeutet Opposition nicht Widerstandshaltung gegen den Staat und seine verfassungsmäßigen Grundprinzipien, sondern Opposition gegen eine bestimmte Politik im Rahmen der gleichen, von allen gebilligten Prinzipien. Die Opposition in der Weimarer Republik war weitgehend eine Opposition gegen die Republik und die Demokratie als solche. Insofern war sie antidemokratisch. Der Historiker also, der sich mit dem antidemokratischen Denken in der Weimarer Republik beschäftigt, hat es zu tun mit den Ideen und kri-tischen Gedanken jener Männer und Kreise, die gegen die Weimarer Republik eingestellt waren und sie beseitigt sehen wollten. Es liegt auf der Hand, daß dieses Denken im Prozeß der nationalsozialistischen Machtergreifung eine Rolle spielt, weil es durch seine gegen den bestehenden Staat gerichtete Tendenz daran mitwirkte, den Raum freizumachen, in dem eine große oppositionelle Bewegung wie die nationalsozialistische Massenpartei sich entfalten konnte. Doch würden wir die bedeutsame Rolle, die dieser antidemokratischen Geisteshaltung im demokratischen Verfallsprozeß der Weimarer Zeit zukommt, nur gleichsam an einem Zipfel zu fassen bekommen, wenn wir allein von der in unserer Gegenwart noch immer als so wichtig erachteten Identifizierung mit dem Nationalsozialismus ausgingen.
Dafür ein Beispiel:
Der bekannte Publizist und Politiker Ernst Niekisch, der führende Mann der sogenannten nationalbolschewistischen Richtung in der Weimarer Zeit, veröffentlichte 1932 eine Broschüre mit dem Titel: Hitler — ein deutsches Verhängnis. Der Titel scheint die Schrift zu rechtfertigen, denn Hitler wurde in der Tat zum deutschen Verhängnis. Auch hat Niekisch in seiner demonstrativen Warnung vor dem Massendemagogen Hitler manches richtig gesehen. Dennoch ist die Schrift Niekischs in ihrem Kern weit eher das Produkt eines verrannten Utopismus als eines auf die Verteidigung der Weimarer Republik bedachten Demokraten.
Niekischs Hauptvorwurf ist nämlich, daß Hitler das deutsche Volk erst recht in die Sklaverei des Versailler Systems zwingen werde, anstatt es durch eine Hinwendung zu Rußland davon zu befreien. Niekisch wollte nicht weniger als Hitler die Weimarer Republik zertrümmern. Er hat durch den von ihm gegründeten soge-nannten „Widerstandskreis“ zwar dafür gesorgt, daß seine wenigen Anhänger sich nicht zur NSDAP bekannten, aber das nationalbolschewistische Programm dieses Kreises konnte seinem Inhalt nach niemand dazu bewegen, einen Finger für die durch den Nationalsozialismus bedrohte Republik zu rühren. Gegen Hitler gewesen zu sein, bedeutete also noch lange nicht, für das Bestehen der Weimarer Republik gekämpft zu haben.
Der Terminus antidemokratisches Denken ist somit nur eine Art Klammer, welche jene vielfältigen Gedankenrichtungen zusammenfaßt, die in den vierzehn Jahren der Republik sich entfalteten und insgesamt die Weimarer Demokratie ohne ausreichenden geistigen Zuspruch von Seiten der gebildeten Schichten ließen. Weil es soviele geistige Strömungen gab, die, wenn auch untereinander zerstritten, in der bestehenden Republik ihren Feind sahen und nicht den Gegenstand ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung, darum wirkte das antidemokratische Denken letztlich so negativ auf die Weimarer Republik. Viele von denen aber, die ihre Unzufriedenheit mit der bestehenden Staatsform und dem bestehenden Staat ständig durch antidemokratische Traktate und Pamphlete nährten, ohne daß sich fürs erste eine Möglichkeit der Realisierung ihrer Sehnsüchte kundtat, setzten schließlich auf die nationalsozialistische Massenbewegung. Sie taten es vielfach nicht, weil sie mit dem Gedankengut der Bewegung voll sympathisierten, sondern weil in Hitlers Partei die politische Kraft heranwuchs, der man mit einiger Hoffnung zutrauen durfte, daß sie die brüchige Weimarer Demokratie vollends zum Einsturz bringen könnte. Das antidemokratische Denken schuf somit auf der einen Seite die Voraussetzungen dafür, daß ein großer Teil seiner Anhänger schließlich für Hitler optierte, auch wenn die Identität der Weltanschauung nicht voll gegeben war, auf der anderen wirkte es auch dann noch negativ auf die Republik, wenn eine unmittelbare Gegnerschaft zwischen der antidemokratischen Gruppe und der Hitlerbew-gung bestand. Seine historische Bedeutung für die Republik wie für das, was nach ihr kam, tritt nur dann voll in den Blick, wenn man beide Seiten berücksichtigt.
Man muß dem eingangs zitierten Ernst Jünger zustimmen, wenn er meint, daß es nicht leicht sei, den Bestand antidemokratischer Ideen zu sichten und zu ordnen. Die Skala der Gesichtspunkte und Standorte ist sehr weit, da man schließlich ja von den verschiedenartigsten Standpunkten her zum Gegner einer schwachen demokratischen Republik werden kann. Im Sinne unserer Begriffsbestimmung des Antidemokratischen ist selbstverständlich auch das kommunistische Denken antidemokratisch — und, wie jedermann weiß, haben ja auch Kommunisten wie Nationalsozialisten daran mitgewirkt, die Weimarer Republik manövrierunfähig zu machen, obwohl gerade sie untereinander am ärgsten verfeindet waren und sich in Straßenkämpfen gegenseitig die Köpfe einschlu-gen.
In der nun folgenden Übersicht über die wesentlichen Inhalte der antidemokratischen Geistesbewegung der Weimarer Zeit wollen wir uns deshalb auf das antidemokratische Denken der nationalen Rechten beschränken. Der kommunistische Denktypus ist, abgesehen von den nationalbolschewistischen Varianten jener Tage, recht deutlich: Für den Kommunisten ist die Weimarer Republik eine bürgerliche Republik, in der die Arbeiterklasse durch das kapitalisti-sehe Bürgertum unterdrückt und ausgebeutet wird. Der Weg zur reinen Demokratie im kommunistischen Sinne führt über die Diktatur des Proletariats, das durch Revolution oder durch Anwendung evolutionärer Taktiken die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft unter Führung der kommunistischen Partei erstrebt.
Das nationale, antidemokratische Denken der Rechten hingegen ist geistig viel differenzierter und auch reicher. Es reicht von tiefgründiger philosophisch-politischer Spekulation bis hinunter zum primitiven antisemitischen Pamphlet. Die große Breitenwirkung, die es im geistigen Leben der Weimarer Republik entfaltet hat, ist nicht vorstellbar ohne den das ganze Leben ergreifenden geistigen und kulturellen Umformungsprozeß zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Die Bedeutung des Irrationalismus
Die geistige Umschichtung zu Beginn des Jahrhunderts, die in den heute so vielgerühmten zwanziger Jahren an ihren Höhepunkt kam, war gewiß nicht auf Deutschland allein beschränkt, hatte aber doch hierzulande ihre größte Wirkung. Sie läßt sich am allgemeinsten charakterisieren als eine Gegenbewegung gegen die auf den Ideen der Französischen Revolution und dem Liberalismus basierende bürgerliche Welt und ihre politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Formen. Philosophisch fand die neue Geisteslage ihren Ausdruck in der Lebensphilosophie, die durch die Entdeckung des Fließenden, Nicht-Berechenbaren und Irrationalen in allen Lebenserscheinungen zur Widersacherin des philosophischen Rationalismus und der mit Descartes eingeleiteten neuzeitlichen Wissenschaftsbewegung wurde. Künstlerisch fand diese Geistes-und Lebenshaltung ihren Ausdruck im expressionistischen Seelenschrei, politisch-ökonomisch im zunehmenden Widerstand gegen die politischen und ökonomischen Formen des Liberalismus, d. h. gegen den demokratischen Parlamentarismus und den Kapitalismus.
Der Irrationalismus ist ein durchgehender Grundzug des antidemokratischen Denkens der Rechten. Hatte die Lebensphilosophie in ihrer anspruchsvollen Gestalt einen echten und sinnvollen Reaktionscharakter gegen die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte Über-steigerung des Rationalen und die beginnende massive Technisierung des gesamten Lebens bedeutet, so schlug das Pendel durch die weitgehende Popularisierung und damit einhergehende Primitivierung dieses Denkens doch viel zu weit aus. Der Irrationalismus wurde nicht zur an sich notwendigen Korrektur eines dürr und lebensfeindlich gewordenen Rationalismus, sondern er wurde zu einer modischen Obsession, die nichts anderes mehr gelten lassen wollte. Ludwig Klages großangelegte polemische Untersuchung über den „Geist als Widersacher der Seele wurde in formelhafter Verkürzung zum Credo vieler deutscher Intellektueller, die als Intellektuelle nichts besseres zu tun wußten, als den Intellekt als kalt und lebenswidrig zu verhöhnen und durch die Verherrlichung des Lebens an sich, der Instinkte, des Blutes, der puren Vitalität, der Gebundenheit des Menschen an das Mütterlich-Erdhafte zu geistverachtenden „Geistesmenschen“ wurden.
All dies hätte noch hingehen mögen, wäre es bei einer Art philosophischem Irrationalismus geblieben, aber da sich das neue Lebensgefühl, wie es sich beispielsweise in der Jugendbewegung als Protesthaltung gegen die bürgerliche Gesellschaft des Wilheiminismus manifestierte, mit einem oft hektischen Tatwillen verband und sich keineswegs mit Kontemplationsübungen begnügte, wurde aus der populären Geistesströmung schließlich der Nährboden für politische und gesellschaftliche Utopien. Sie traten mit dem keineswegs geringen Anspruch auf, die leitenden Ideen des 20. Jahrhunderts zu sein, nachdem man sich schnell genug bereit erklärt hatte, die durch das Stichwort Liberalismus symbolisierten Ideen des 19. Jahrhunderts zum alten Eisen zu werfen. Diese Kombination von irrationaler Geistesströmung, Lebensgefühl und politischem Tatwillen ist die Geburtsstunde des antidemokratischen Denkens, wie es für die Weimarer Republik bezeichnend wurde.
Selbstverständlich besaß dieses Denken viele Anknüpfungspunkte an unsere Geistesgeschichte, insbesondere an die Ideen der Romantik, die ja ihrerseits eine Reaktion gegen den Über-schwang des Aufklärungszeitalters und seiner geistigen Tendenzen gewesen war. Doch hundert Jahre später wirkte die Mischung ungleich viel dynamischer und brisanter. Denn nun richteten sich die Ideen gegen eine weitgehend technisierte und verplante Umwelt, gegen den Status des Massendaseins, der dennoch nicht abwendbar war, gegen die dem modernen Industriezeitalter innewohnende Tendenz zur fortschreitenden Rationalisierung des Lebens, gegen den Prozeß der Entzauberung der Welt, den Max Weber als das Gesetz der Epoche gekennzeichnet hatte. Das Ergebnis war eine Art technisierter Romantik, um einen Ausdruck Thomas Manns zu gebrauchen. Das Problematische an dieser geistigen Entwicklung war nicht etwa die Entdeckung der Bedeutung des Mythos und des Symbolischen in Literatur und Kunst, nicht die verzückte Hinwendung zu den Urzeiten der Völker, oder das Interesse an den Lebensgewohnheiten anderer Kulturen, vorwiegend der asiatischen, sondern die Durchdringung politischer Ideen mit Elementen des irrationalen Tiefenkults. Thomas Mann hat die Popularisierung und Politisierung der neuen irrationalen Geistesströmung, die er in ihrer berechtigten Gestalt keineswegs ablehnte, einmal drastisch die „Verhunzung der Lebensphilosophie“ genannt und geäußert, es gebe kaum etwas Furchtbareres als die Popularisierung des Irrationalismus.
Andere Vorstellungen vom Staat
Die Anbetung des Lebens nämlich war gleichbedeutend mit der Verwerfung der kritischen Funktion des Geistes. Die Menschen, so wollten es die Popularphilosophen der Stunde, — die Os-wald Spengler, die Friedrich Georg Jünger, die Paul Krannhals, und so fort, — sollten nicht mit ihrem blutleeren Verstand, sondern mit der Kraft ihres Herzens, ihres Blutes ihre Entscheidungen fällen. Sie sollten nicht länger in künstlichen Gemeinschaften, die durch mechanische Wahlen ihre Führung ermitteln, dahinleben und als Masse vegetieren, sondern sich wieder in natürlicher Gemeinschaft als Volk sammeln und einen Führer küren, der sie in ein besseres Schicksal leite. Kurz: die Grundaxiome der Lebens-philosophie richteten sich in politischer Hinsicht gegen die parlamentarische Demokratie, gegen das sogenannte demokratische „System". Aus dem neuen geistigen Ansatz heraus wurden dann andere, zum Teil nur polemische Staatsvorstellungen formuliert, die den mechanischen demokratischen Staat mit seiner Parteienherrschaft und seiner unverantwortlichen Anonymität hinter sich lassen und Neues, Größeres ins Werk setzen sollten.
Der wahre Staat z. B., den der einflußreiche Soziologe Othmar Spann verkündete, sollte wieder ein organischer, und das hieß, hierarchisch gestufter Staat sein, die bloß formale Demokratie überwunden werden durch völkische Demokratie, der Mechanismus des gesellschaftlichen Lebens verändert durch den belebenden Odem neuer, intensiver Gemeinschaftsbildungen, der anonyme bürokratische Herrschaftsapparat aufgelöst zugunsten der persönlichen Verantwortung vom Schicksal und durch ihr Charisma ausersehener Führer, die Asphalt-kultur der Städte beseitigt durch das Wachsen und Gedeihen bodenständiger menschlicher Siedlungen, die Zivilisation überhöht durch das Aufblühen einer echten Volkskultur.
Alle diese Gegenüberstellungen verraten die Herkunft des neuen politischen Vokabulars aus dem Gedankenkreis der vulgären Lebensphilosophie der zwanziger Jahre. Der Soziologe Helmuth Plessner hat den Prozeß der Niveau-minderung der lebensphilosophischen Konzeption und die dadurch ermöglichte Politisierung des Irrationalismus mit folgenden Worten beschrieben: „Die Frucht der Lebensphilosophie mußte einmal reifen. Jeder große Gedanke, welcher die Massen ergreift, formt ihre Erwartungen und wächst an ihnen zur Tat. Er verliert seine Feinheit und Tiefe, seine Unbestimmtheiten und Fragwürdigkeiten, seine Offenheit und Bildsamkeit. Aber noch in dieser von den Bedürfnissen der Massenpropaganda erzwungenen Roheit bewahrt er den Zusammenhang mit seiner geistes-geschichtlichen und ideologischen Herkunft."
Das antidemokratische Denken ist Ausfluß einer polemischen Haltung. Es zielt auf die Überwindung der liberalen Demokratie, und richtet sich darum zunächst kritisch gegen ihre Erscheinungsformen und den sie bestimmenden Geist. Auf diese Weise konnte es vielen Deutschen die demokratische Republik verekeln. Im Hintergrund solcher Polemik stand jedoch je-weils ein neues, anders geartetes Staatsbild, das in vielen Varianten propagiert wurde als autoritär oder totaler Staat, als Ständestaat, als deutscher Volksstaat, als völkisches Gemeinwesen. Die umfassendste Formel, mit der man polemisch der Weimarer Republik und ihrer Verfassung entgegentrat, war die Behauptung, daß dieser Staat ein Produkt westlichen Staatsdenkens sei. AIs westliche Demokratie jedoch könnte sie für das Land der Mitte, für Deutschland, niemals die geeignete Staatsform darstellen, vielmehr sei es die Aufgabe der Deutschen, ihre eigene Staatlichkeit zu finden, sich vom, wie man es verächtlich nannte, „faulen West-lertum", loszusagen und aus der Kraft deutschen Volkstums, aus den Quellen deutschen Blutes und den besonderen Bedingungen der deutschen Lage ein eigenständiges Staatsgebilde zu schaffen. Die Anpassung an die westliche Demokratie und ihren Liberalismus bedeute nichts anderes als den fortschreitenden Untergang Deutschlands, seinen Verzicht auf die Idee des Reiches als der ihm gemäßen staatlichen Form, die Preisgabe der Kultur an die Zivilisation. Spengler vertrat in geradezu wütenden Artikeln die Meinung, daß jedes Land seine eigene staatliche Form finden müsse — nichts sei darum törichter als die Nachahmung fremder Vorbilder. England wisse sehr wohl, warum es den Ländern seinen Parlamentarismus empfehle, denn er sei für die fremden Völker wie ein Gift.
Ausbreitung zersetzender Antithetik
Die kritische Einstellung gegenüber dem westlichen Denken fand in anderen polemischen Antithesen ihren Niederschlag. Dem westlichen Demokratismus wurde die Idee eines deutschen, volkhaft gegliederten Gemeinwesens gegenübergestellt, der Idee der Gleichheit, die Forderung nach Hierarchie und Wertigkeit, dem Individualismus der Universalismus. Othmar Spann z. B. sah das ganze Weltgeschehen eingespannt in die unausweichliche Polarität von Individualismus und Universalismus. Er plädierte für den Uni-Versalismus, sah im Individualismus das blanke Verderben und verhieß als Rettung vor der Anarchie und der vollständigen Atomisierung der Gesellschaft den Ständestaat, der nicht mehr demokratisch war, weil er das Prinzip der Gleichheit verurteilte. Andere gebrauchten mit Vorliebe die Antithese Individualismus — Sozialismus. Doch der Sozialismus dieses Typs war nicht identisch mit dem internationalen Sozialismus aus der Schule von Karl Marx, den man dem liberalen Denken zurechnete, sondern war ein Sozialismus der Gemeinschaft. Der darin enthaltene Gemeinschaftsgedanke war gleichfalls ein modischer Begriff jener Jahre und bezog seinen polemischen Gehalt durch die Antithese zur Gesellschaft. Wenn der Soziologe Ferdinand Toennies in seinem berühmten Buch über Gemeinschaft und Gesellschaft die Gemeinschaft als ein schon der Vergangenheit zugehöriges soziales Modell bezeichnete, wenn auch mit leiser Wehmut, daß es so gekommen war, so wollten die massenhaft auftretenden Ideologen des Gemeinschaftsgedankens die Massengesellschaft wieder in organische Gemeinschaften zurückverwandein, die Städte entvölkern und die ländlichen und hündischen Formen des Zusammenlebens auch politisch zur alleinigen Richtschnur machen. Die Idee eines deutschen oder nationalen Sozialismus war letztlich synonym mit der Idee der Volksgemeinschaft, die das Endziel der Erneuerungsbewegung war. Volkhaft zu denken war denn auch für die Antidemokraten das Gebot der Stunde. Doch die Begriffe berührten sich sehr schnell. Volkhaft denken war vielen gleichbedeutend mit deutsch denken, deutsch war aber für die sogenannten Völkischen in erster Linie das Nichtjüdische, so daß die Idee des Völkischen in vielen Gruppen und Zirkeln zu einer primitiven antisemitischen Ideologie gerann, die in dieser barbarischen Form auch den Nationalsozialismus beherrschte.
Brachte man nun noch diese polemischen Antithesen mit den Vokabeln der Lebensphilosophie in Verbindung, so ergab sich eine außerordentlich suggestive Wirkung. Die vulgäre Lebensphilosophie arbeitete mit Begriffen wie kalt, starr, tot, im Gegensatz zu lebendig, organisch, blühend. Die politisierte Lebensphilosophie übertrug nun solche Adjektiva auf die politischen und sozialen Phänomene der Zeit. Die demokratische Regierungsform galt als mechanisch oder mechanistisch, weil sie auf dem Prinzip der gleichen, mechanisch vorgenommenen freien Wahl beruhte, das Parlament als eine Abstimmungsmaschinerie ohne wirkliche Beziehung zum Volke, in der Regierung sah man eine weitgehend anonyme verantwortungslose Herrschaftsapparatur — das ganze sogenannte System galt als starr, unorganisch, mechanistisch. Die Menschen, die unter ihm lebten, waren angeblich in individualistische Atome zerspalten ohne jegliche Bindung an ein übergreifendes Ganzes, ohne die Einbettung in eine von einheitlichem Willen erfüllte Volksgemeinschaft.
So sahen die antidemokratischen Ideologen ihre Umwelt, und sie zögerten nicht, alle ihnen verhaßten Erscheinungen mit den Etiketten lebensfeindlich, starr, mechanistisch usw. zu versehen, während sie ihre eigenen politischen Utopien optimistisch mit dem Lebensgedanken verknüpften. Es war eine ziemlich unfaire Anti-thetik, denn ist nicht das Leben von vorneherein schöner als Tod und Erstarrung, weckt nicht das Organische mehr Sympathien als das Mechanische, hat nicht die Inanspruchnahme der schöpferischen Qualität größere Verheißung als die simple Quantität?
Es war diese Mischung von Lebensphilosophie und politischer Ideologie, die die bestehende Staatsform so verächtlich, nichtswürdig und untauglich erscheinen ließ, während die eigenen, noch so unwirklichen Staatsbilder mit dem Glanz des Lebendigen und Vollkommenen sich schmückten. Wenn aber das Leben das Erste und Letzte war, wie Spengler einmal sagte, und die bloße Vitalität und Kraft zum Maßstab seiner Fülle und seines Wertes wurde, dann war die äußerste, im Nationalsozialismus zu grausiger Realisierung kommende Konsequenz, jene Vernichtung lebensunwerten Lebens im Namen des Volkes.
Dankbarste Zielscheibe: das Parteiensystem
Wir haben bisher nur ganz summarisch einige der zentralen Ideen und Begriffe des antidemokratischen Denkens behandelt. Seine wirksamste Polemik entfaltete es zweifellos im Bereich der durch die Weimarer Verfassung gegebenen politischen Institutionen. Die beständigste und dankbarste Zielscheibe antidemokratischer Kritik waren der Parlamentarismus und das Parteien-system. Die Überzeugung war weitverbreitet, daß das parlamentarische System an seinem Ende angelangt sei, daß es für das 20. Jahrhundert nicht mehr die gemäße demokratische Regierungsform darstelle. Carl Schmitt zeigte in sehr wirkungsvollen Analysen der verfassungspolitischen Situation, daß der moderne Parlamentarismus seine geistige Grundlage verloren habe und plädierte, gefolgt von vielen anderen, für eine totale Demokratie, in der es keine liberalen Prinzipien mehr geben sollte. Demokratie und Diktatur erschienen nun plötzlich nicht mehr als Gegensatz, sondern als durchaus miteinander vereinbar, weil es ja der Wille des akklamierenden Volkes sein könne, einen Diktator zu haben. Der völkische Führerstaat des Dritten Reiches lag dann auch durchaus in der Richtung dieser sich als echt demokratisch ausgehenden Vorstellungen.
Geschmäht wurden auch die Parteien der Weimarer Republik, ja die Tatsache des Parteiensystems überhaupt. Gewiß hatte dieses System in der Weimarer Zeit seine übergroßen Schwächen, aber die Polemik gegen die Parteien war so affektiv, daß man die Parteien in äußerster Zuspitzung als Schädlinge des Volkes sah, als Fremdkörper, die nur ihren Privatinteressen dienen, nicht aber das Interesse des Ganzen im Auge haben. Spengler sprach von der Weimarer Republik zynisch als von einer Firma. In ihren Satzungen sei nicht vom Volk die Rede, sondern von Parteien, nicht von Macht und Ehre und Größe, sondern von Parteien, es gebe kein Ziel und keine Zukunft mehr für Deutschland, sondern nur die Interessen von Parteien.
Der deutsche Parlamentarismus habe in fünf Jahren keinen Entschluß und keinen Gedanken zustande gebracht, nicht einmal eine Haltung gezeigt.
Was verschlug’s, daß es in der Weimarer Verfassung bedauerlicherweise an einem Hinweis auf die Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung fehlte, obwohl Spengler das Gegenteil behauptete — die Parteien als die Organisationen des politischen Machtkampfes gehörten zu den bestgehaßten Institutionen der Republik. Nicht von ungefähr bestand Hitler auf der Idee der nationalsozialistischen Bewegung im Gegensatz zu einer politischen Partei wie andere, und nicht wenige Deutsche hatten auch die Überzeugung, ihre Entscheidung für die NSDAP gelte einer politischen Bewegung, die eben nicht sei wie die anderen Parteien, zumal sie auch versprochen hatte, und es prompt hielt, daß sie mit dem Parteiunwesen in Deutschland aufräumen würde, sobald sie an die Macht gelangt sei.
Immerhin bedurfte es auch in der Weimarer Republik des parteimäßigen Zusammenschlusses, um politisch etwas zu erreichen. Und es war ja fast von Anfang an die politische Misere der Republik, daß die in ihr wirkenden Parteien zu einem Teil die demokratische Republik gar nicht stützten, sondern in ihren Zielen selber antidemokratisch waren. Das gilt für die extremen Flügelparteien, aber auch für die Deutschnationalen und bis zu einem gewissen Grade für die Deutsche Volkspartei und andere Splitterparteien. In ihnen selbst kam antidemokratisches Denken zur Wirkung.
Alter und neuer Nationalismus
Überblickt man die antidemokratischen Ideen der Weimarer Republik, so kann man, wie das auch zur Weimarer Zeit selbst getan wurde, zwei Hauptrichtungen unterscheiden, sofern wir die antidemokratische Aktivität der Linken aus dem Spiele lassen: und zwar einen alten und einen neuen Nationalismus. Der alte Nationalismus war politisch gruppiert um die Deutsch-nationalen, die ehemaligen Konservativen, die in der Weimarer Republik restaurativ, wenn nicht reaktionär ausgerichtet waren. Ihnen schwebte die Wilhelminische Reichesherrlichkeit als eine den politischen Impuls belebende Erinnerung an die große alte Zeit des Bismarck-reiches vor Augen. Der in viele Zirkel und Richtungen aufgesplitterte neue Nationalismus hingegen hielt wenig von einer Restauration der Monarchie, sondern empfand mit der Jugendbewegung durchaus das Brüchige und Abgestandene des Wilheiminismus, den er revolutionär zu überwinden trachtete. Obwohl die Weimarer Republik doch soziologisch wie politisch eine starke Umschichtung der Verhältnisse bewirkt hatte, empfanden die jungen Nationalisten sie in vielem als eine unberechtigte Fortsetzung des Alten, und wirkten mit allen Kräften darauf hin, Deutschland geistig wie politisch zu revolutionieren. Hier hatte das antidemokratische Denken seine fruchtbarsten und wirkungsvollsten Ansätze, und es gab Hunderte von verschiedenen Gruppen, die in der einen oder anderen Richtung — sei es national-revolutionär, oder national-bolschewistisch, jungkonservativ oder jungnational — das Weimarer Staatsgebilde zu reformieren und zu überwinden trachteten. Der neue Nationalismus empfing einen starken Impuls durch das sogenannte Kriegserlebnis, das auf der einen Seite das harte, militante Vokabular dieses Denkens erklärt, andererseits aber auch als Vorform der zu schaffenden Volksgemeinschaft und der heroischen Lebensauffassung der neuen Zeit begriffen wurde. Die junge antidemokratische Rechte wollte aus einem liberalen Volk von Krämern eine Volksgemeinschaft kriegerischer Menschen schmieden, aus den Bürgern sollten nach Ernst Jüngers berühmtem Buch über den „Arbeiter“ Soldaten und Arbeiter werden.
Kein Zweifel, daß gerade das Denken der jungnationalen Rechten — maßgeblich bestimmt durch Autoren wie Wilhelm Stapel, Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck, Ernst und Friedrich Georg Jünger, Ernst Niekisch, Edgar Jung, August Winnig und viele andere — das geistige Vorfeld für das Wachsen des Nationalsozialismus bereitet hat. Die konservative Revolution, die sie in die Wege leiten wollte, kam der Massenbewegung des Nationalsozialismus zugute, zumal der neue Nationalismus über keine wirksame politische Vertretung verfügte — im Gegensatz zum alten Nationalismus, der in Hugenbergs Deutschnationaler Volkspartei seine Heimat hatte. Die paradoxe Ver-bindung der Idee des Erhaltenden und des Umstürzenden im Begriff der Konservativen Revolution war keine bloße Gedankenlosigkeit, sollte doch durch die revolutionäre Erneuerung des deutschen Volkes und seiner Staatlichkeit ein konservatives Wertsystem, das man als ewig ausgab, wieder in sein Recht eingesetzt werden. Konservative Revolution bedeutete also Revolution um der Erhaltung der gefährdeten konservativen Werte willen. Der neue Staat, auf den man hinarbeitete, sollte wieder in Verbindung sein mit dem volkhaften Lebensgrunde, er sollte die seelische Form des Deutschtums bewahren und dieses nicht fremden Institutionen und gewissenlosen Parteidemagogen anheim-fallen lassen. Die konservativen Revolutionäre freilich hielten an der Weimarer Demokratie kaum etwas für bewahrenswert.
Handlanger des Nationalsozialismus
Die Revolution kam — in Gestalt des Nationalsozialismus. Nicht alle, die auf die Umwälzung gehofft und im Kampf gegen Weimar pathetische und aggressive Federn geführt hatten, waren mit der dann kommenden nationalsozialistischen Form des deutschen Volksstaates einverstanden, und wenigen verwirklichte sich der schöne Traum von einem vollkommenen Reiche der Deutschen. Einige unter den konservativen Revolutionären wurden gar zu ausgesprochenen Gegnern des Regimes und bezahlten ihren Widerstand mit dem Leben. Doch der Nationalsozialismus als politische Massenbewegrng hatte sich die durch die antidemokratische Geistesbewegung mitbewirkte feindliche Stimmung gegen die Republik zunutze machen können und hatte, auch wenn er selbst dies nicht zugab, eine starke Stütze an ihr.
Wenn wir heute mit den Schriften, Aufsätzen, Pamphleten konfrontiert werden, die in den Jahren der Weimarer Republik gegen diesen Staat verfaßt wurden, so erscheint uns Heutigen manches unverständlich und verblendet. Ein tiefer Blick in die geistespolitische Situation der Zeit zeigt jedoch, daß die antidemokratischen Ideen weit verbreitet waren. Die Unterwerfung eines großen Teiles des geistigen Deutschland unter die dann zur Staatsreligion erhobene nationalsozialistische Weltanschauung ist nicht gut denkbar ohne die vorausgegangene antidemokratische Geistesbewegung. Sie hatte in ihrer Verachtung alles Liberalen die Geister stumpf werden lassen gegenüber den unverletzbaren Rechten des Individuums und der Wahrung menschlicher Würde. Sie hatte die Idee der Humanität geopfert, weil ihr heroischer Sinn sie als Schwäche empfand; sie hatte den Freiheitssinn gelähmt, weil sie die Bindung an ein Ganzes für das Primäre und Wesentliche hielt.
Die antidemokratische Geistesbewegung der Rechten war eine bürgerliche Bewegung, doch sie verachtete das Bürgerliche und seine politischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. Aus der ursprünglichen Politikfremdheit des deutschen Bürgers, für die Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen" einst ein groß-artiges Plädoyer waren, wurde in hektischer Umkehrung der Verhältnisse das wütende Hin-einstürzen in die Politik, das romantische Abenteuer mit einer Sphäre, von der man nicht allzu-viel wußte. Reich an Ideen, kraftvoll an geistiger Energie wurde die Konservative Revolution schließlich doch kaum mehr als ein Handlanger des Nationalsozialismus, weil sie über dem Schwelgen in Ideen, und beschäftigt mit wilder Polemik gegen den liberalen Verfassungsstaat, es versäumt hatte, sich der Realitäten des politischen Lebens und des Menschen in der Gesellschaft genauer anzunehmen. Ernst Jünger schrieb einmal, es sei ein hoher Genuß, am Hochverrat des Geistes gegen den Geist beteiligt zu sein. Die Quittung für diese Haltung war schließlich die weitgehende Ohnmacht des Geistes gegenüber der Macht des im Nationalsozialismus triumphierenden Ungeistes.
Gewiß müßte man erwähnen, daß die Republik glanzlos war, ohne Attraktivität, daß sie schwach und uneinig dastand, daß ihr also nahezu alles fehlte, was junge Menschen zu begeistern und einsatzwillig zu machen vermag. Aber war nicht ihr Elend auch Grund, die Idee mit der Wirklichkeit zu versöhnen? Hätte man ihr nicht auch geistig helfend beispringen können, anstatt sie fortgesetzt zu verteufeln und damit geistig immer wehrloser zu machen?
Es gab wenige Intellektuelle im damaligen Deutschland, die zu solcher Haltung bereit waren, jedenfalls zu wenige. Die intellektuelle Linke war zwar republikanisch in ihrer Gesinnung, aber stand kaum weniger kritisch zum bestehenden Weimarer Staat als die Rechte. Diese wähnte sich im Besitz der Leitideen des zwanzigsten Jahrhunderts und träumte von einer Sondermission Deutschlands für die Welt. Ihre entscheidende Schwäche, die auch der beste Wille nicht wettzumachen vermochte, war ihr Irrationalismus. Nichts ist problematischer im politischen Leben als die Preisgabe der Vernunft. Der Geist qua Vernunft muß die kontrollierende und regulierende Instanz des Lebens bleiben. Die antidemokratischen Intellektuellen der Weimarer Zeit verrieten den Geist an das Leben — sie verachteten die Vernunft und fanden mehr Wahrheit im Mythos oder im Rauschen der Ströme ihres Blutes. Die antidemokratische Wirklichkeit ist in jedem Falle weniger suggestiv und betörend als manche der antidemokratischen Ideen. Mit etwas mehr Vernunft, etwas mehr Aufklärung hätten jene Intellektuellen vielleicht besser erkennen können, wohin ihr Eifer sie und ihr Volk führte.
Blicken wir zurück auf diese Ideenwelt, so erscheint sie mit all ihrer Kraft und Intensität wie ein — politisch freilich verhängnisvoller — Weg in die Irre. Nach 1945 mußten wir zurückkehren zur liberaldemokratischen Verfassung, und Thomas Mann hatte vollkommen recht, wenn er noch vor der Machtergreifung den Satz schrieb: „Die antidemokratisch-nationalistische Bewegung beurteilt das Jahrhundert vollkommen falsch, wenn sie es allein durch ihre eigenen Tendenzen bestimmt glaubt. Denn sie übersieht, daß die jetzt von ihr verachteten und verpönten Strebungen für dieses Jahrhundert mindestens so lebenswichtig bleiben wie sie, und daß ohne die seelisch-sittlichen Inhalte, die das Wort Freiheit birgt, der Mensch nicht Mensch ist und nicht auf menschliche Art zu leben vermag.“
Politik und Zeitgeschichte
AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:
Theodor Arnold: „Der revolutionäre Krieg"
Joseph M. Bochenski: „Sowjetologie"
R. Bogatsch: „Hitler und die Kriegführung im Mittelmeerraum"
J. W. Fulbright: „Ein Konzert freier Nationen"
Heinz Gollwitzer: „Staatsgesinnung und Nationalbewußtsein heute"
Jens Hacker: „Osteuropa-Forschung in der Schweiz"
Frederic Lilge: „Makarenko"
Johannes Maas: „Die Entwicklungshilfe des Ostblocks"
Leonhard Schapiro: „Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion"
Fritz Schatten: „Afrika — schwarz oder rot?"
Karl Seidelmann: „Der Generationsprotestder Jugend-bewegung in gegenwärtiger Betrachtung"
Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"
Egmont Zechlin: „Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche" (IV. Teil)