Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Integration nationaler Flüchtlinge im Spiegel der Soziologie | APuZ 41-42/1961 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 41-42/1961 Fridtjof Nansen Zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages Ungelöste Probleme der Flüchtlingskonvention von 1951 Integration nationaler Flüchtlinge im Spiegel der Soziologie Massenzwangswanderungen in Europa seit 1912

Integration nationaler Flüchtlinge im Spiegel der Soziologie

Karl Valentin Muller

Der große Menschenfreund Nansen, der erfolgreiche Missionar und Pragmatiker der Menschenrechte, dessen hundertsten Geburtstag wir heute feiern, sah im Flüchtlingsproblem seinerzeit naturgemäß im wesentlichen das Emigrantenproblem: jene armen Schicksalsverfolgten, die ihr Vaterland um ihrer persönlichen Freiheit oder Existenz willen verlassen mußten, ohne regelrecht legal auswandern zu können, deren staatsbürgerliche Existenz nun durch den nach ihm genannten Nansen-Paß neu begründet wurde.

Seitdem haben wir förmliche Lawinen von Zwangs-und Notwanderungen verschiedenen Anlasses und verschiedener Art in allen Teilen der Welt erlebt, die vorWissenschaft und Praxis immer neuartige Aufgaben türmten: darunter, zahlenmäßig noch gewaltiger als das Heer der internationalen Flüchtlinge und heimatlosen Ausländer, die Millionenmassen der sogenannten nationalen Flüchtlinge und Heimat-vertriebenen. Der internationale Flüchtling wurde aus persönlichen oder politischen Ursachen aus seinem angestammten Staats-oder Volksverband durch sein Flüchtlingsschicksal herausgeschleudert, in eine staatlich und national fremde Welt, in der er sich behaupten mußte. Mit seinem Nansenpaß hatte er in gewissen Grenzen die Möglichkeit, sich ein ihm zusagendes Gastland zu wählen; er war zwar überall Fremdling, aber er hatte auch noch keine Bindungen. Er hatte die Wahl, sich entweder an eine schon vorhandene heimatliche Landsmannschaft anzuschließen und — bei aller sozialen Anpassung an das Gastvolk — mit seiner Familie in seiner nationalen Tradition zu bleiben oder aber sich dem Gastvolk zu assimilieren, in ihm aufzugehen, etwa durch Heirat oder Erziehung der Kinder in Sprache und Sitte des Gastvolkes. Ihm wurde noch auf jeden Fall ein bestimmter international verbürgter Schutz seiner Rechte zuteil. Bei aller Schwere seines Schicksals konnte der Staatenlose nunmehr, dank Nansens, doch als freier Mensch unter Freien leben.

Der nationale Flüchtling begegnet uns meist in der Gestalt des Heimatvertriebenen, des Zwangswanderers. Dieser verläßt unter Zwang und äußerer Nötigung, wider seinem Willen, Heim und Habe und wird dem Teil seiner eigenen Nation überstellt, der noch über sein Gebiet politisch verfügen kann. Eine andere Gestalt des nationalen Flüchtlings ist die des Notwanderers. Er ist gegenüber dem Heimat-vertriebenen, dem Opfer der Zwangswanderung, ein echter „. *Flüchtling In dieser Beziehung ist er dem Typ des internationalen Flüchtlings ähnlich, mit dem er die Motivationen wesentlich teilt: Denn er flieht aus der Heimat, weil er Verfolgung seitens einer Ordnung zu fürchten oder zu gewärtigen hat, die er ablehnt, der er feindselig gegenübersteht, der er die Anpassung verweigert. Es sei gestattet, beide Formen unter den gemeinsamen Begriff „nationaler Flüchtling“ zusammenzufassen.

Der nationale Flüchtling beider Formen wird nicht genötigt, in einer national fremden Umgebung zu existieren. Oft erlebt er sogar zum ersten Male in seinem Leben eine national völlig einheitliche Umgebung. Dennoch kommt er als soziologisch Fremder. Da er in Massen kommt, ist er bei den national gleichartigen Bewohnern des Aufnahmegebietes, also den Einheimischen, sogar oft minder erwünscht als der verhältnismäßig vereinzelt auftretende internationale Flüchtling. Er wird nach einer vorübergehenden Mitleidswelle als lästiger Eindringling empfunden, der die traute Geschlossenheit des stamm-liehen Lebens stört, die Geschlossenheit der Familie, des Hauses, der Wohnung durch seine Zwangseinweisung sprengt, der womöglich konfessionell, mundartlich, trachten-und sitten-mäßig das Bild der Heimat überfremdet, auf Schritt und Tritt Belastung und Belästigung bedeutet, der die Last seines, wenn auch unverschuldeten, Schicksals immerhin fühlbar auf den relativ schicksalsverschonten Teil der Nation überwälzt. Und das bis zu seiner Eingliederung.

Im Unterschied zum internationalen Flüchtling fühlt die Welt außerhalb seiner eigenen Nation im allgemeincii keine Verantwortung oder rechtliche Verpflichtung ihm gegenüber. Die Massenschicksale der Heimatvertriebenen, der nationalen Flüchtlinge, sind eine Hypothek lediglich auf den betroffenen nationalen Besitzstand — einerlei, welche politischen Ursachen für Auswanderung und Flucht maßgebend waren.

Dieses Schicksal des nationalen Flüchtlings wird psychologisch und soziologisch nach zweierlei Hinsicht zu unterscheiden sein und sich psychologisch wie soziologisch anders gestalten, einmal, wie schon gesagt, nach dem Unterschied von Zwangs-und Notwanderung, sodann nach dem gesellschaftlichen Zustand des Heimat-und des Aufnahmegebietes.

Im allgemeinen handelt es sich um das Gegeneinanderstehen von verschiedenen gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und religiösen Ordnungen, deren Bestehen oder Nicht-bestehen dem Betroffenen zum wesentlichen Lebensinhalt gehört. Es lassen sich demnach theoretisch vier Grundsituationen unterscheiden, die sich, vielfältig verlierend, mit den geschichtlichen Gegebenheiten zur Deckung bringen lassen.

Fall A: Notwanderung trotz Gleichheit der geltenden Ordnungssysteme, d. h. es bleibt freigestellt, in der Heimat bei Wahrung aller wesentlichen Rechte vielleicht infolge Änderung der Staatsgrenzen als nationale (oder rassische oder religiöse) Minderheit zu bleiben; der Optant zieht jedoch die Übersiedlung in den nationalen Restbereich vor. Ein Beispiel hierfür sind die Deutschen, die nach 1919 die ehemaligen Provinzen Posen und Westpreußen verließen, soweit sie nicht als Volksdeutsche in Polen blieben. Ein anderes Beispiel sind die Südtiroler nach dem Hitler-Mussolini-Abkommen.

Das Verbleiben in dem neuen Staatsgebilde bedeutet nicht einen Bruch mit der bisher gelebten Gesellschafts-und Sittenordnung, die in beiden zur Wahl stehenden Gemeinwesen verfassungsmäßig und tatsächlich gilt. Nicht einmal der eigentliche Differentialwert, etwa das Volkstum, ist beim Verbleiben in der alten Heimat in Frage gestellt — nur daß es im staatlich-gesellschaftlichen Gesamtgefüge hier und dort einen anderen Akzent erhielt: Hier geduldet auf Grund eines umstrittenen und ziemlich machtlosen Minderheitenrechts, dort für das Gemeinwesen selbstverständlich und bevorrechtet. Der Nonkonformist, der Optant, stellt sein Volkstumsbekenntnis in der Rangordnung seiner persönlichen Werte so hoch, daß er selbst die Unbilden des Verlustes der engeren Heimat dafür in Kauf nimmt.

Fall B: Notwanderung bei ungleichen gesellschaftspolitischen Ordnungen im Heimat-und im nationalen Zielgebiet. Mit der Änderung der Machtbereiche in dem strittigen Heimatgebiet ist zugleich eine einschneidende Änderung der geltenden politischen, gesellschaftlichen, religiösen oder sittlichen Normen verbunden. Der in der Heimat Verbleibende muß um die künftige Sicherung des Besitzes, des Lebensstils, der religiösen und der Gewissensfreiheit, kurz des Lebensvollzuges unter den bisher für ihn geltenden und von ihm anerkannten oder verehrten Normen fürchten. Das Verbleiben in der Heimat wird ihm damit unendlich erschwert. So zogen z. B. alle 425 000 Karelier aus ihrer Heimat nach dem freien Finnland, und wollten nicht in der alten Heimat Bürger der Sozialistischen Sowjetrepublik Karelien werden. Die Gesinnungs-, nicht die Staats-grenze war hier für das „freiwillige" Verlassen der Heimat maßgebend. Fast alle Volksdeutschen im Baltenland, in Wolhynien, Galizien und Bessarabien fügten sich der angebotenen Umsiedlung „Heim-ins-Reich", um nicht unter den Normen des Sowjetregimes leben zu müssen. Hierzu müssen wir auch die 2, 6 Millionen Flüchtlinge aus der Sowjetzone zählen, die in der Bundesrepublik ihre Notaufnahme beantragten. Fall C: ZwangsWanderung bei gleichen Ordnungssystemen in der alten Heimat und im Aufnahmegebiet. Das bedeutet also: unfreiwilliges Verlassen des Heimatraumes nach äußerem Diktat, ohne daß ein entscheidender innerer, gesellschaftspolitischer Grund gegeben wäre. Ohne jenen Willkürakt hätten die Zwangs-wanderer unter denselben Rechts-und Gesellschaftsverhältnissen, unter denselben religiös-sittlichen Normen, bei mindestens minderheiten-rechtlicher Wahrung ihres Volkstums und ihrer Sprache wie bisher in ihrer Heimat bleiben können. Als Beispiele können viele jener großen Zwangswanderungen der Zeit zwischen den beiden Kriegen und nach dem Kriege herangezogen werden, die innerhalb der westlichen Ordnungswelt vor sich gingen, etwa der zwangsweise Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland nach dem griechisch-türkischen Krieg.

Fall D: Zwangswanderungen bei deutlichem Gefälle der Gesellschaftsnormen zwischen Ausweisungs-und Aufnahmeland. Als Beispiel wäre hier die Vertreibung der Ostdeutschen aus den polnisch und russisch verwalteten deutschen Ostgebieten anzuführen, wenigstens soweit diese Verschickungen in westdeutsches Gebiet erfolgten. Denn die Sowjetzone wurde ja wie die Tschechoslowakei bald ebenfalls dem sowjetischen Normbereich überantwortet.

Am ehesten ähnelt dem üblichen Typ der politischen Emigration von internationalen Flüchtlingen der Fall „B“ unseres Schemas. Aber gegenüber dem Staatenlosen, dessen gesamtes Vaterland unter einer ihm verhaßten Diktatur lebt, hatte etwa der Sowjetzonenflüchtling — also der mitteldeutsche Nonkonformist, der sich nach dem Westen absetzte — das relative Glück, noch ein Gebiet als Refugium zu wissen, in dem er kein national und sprachlich Fremder sein würde.

Diese Zweigleisigkeit der maßgebenden Lebenswerte: Gesittung und Heim, Glaube und Heimat brachte neuerdings tragische Konflikts-situationen in ihrem Gefolge. Wo im Gegenüberstehen von Gesittung und Heimat die erstere, die Gesittung, dem Menschen den entscheidenden Wert darstellt, entsteht neben dem Recht auf die Heimat ein konkurrierendes übergeordnetes Recht, dessen Verweigerung verzweifelte Spannungen zu schaffen vermag: das Recht auf Verzicht auf die gesittungsmäßig entfremdete Heimat, oder das Recht auf die Flucht aus der Heimat zugunsten einer geistig-sittlichen „Heimat“ des Lebens in Freiheit und Menschenwürde. Wer würde da nicht an jene bedauernswerten Züge von Zwangsrepatriierten denken, die genau wußten, daß sie eine geistig und gesinnungsmäßig entfremdete Heimat wiederzusehen gezwungen wurden. Wer würde nicht an jene zahllosen verzweifelten Ausbruchsversuche von Zwangsrepatriierten denken, die — nicht nur von östlichen Schergen — an der Flucht gehindert wurden? Wer würde nicht an die Mauern, Todesstreifen, Stacheldrahtverhaue und Wachttürme denken, die mit zynischem Hohn als künftige „Freie Stadt" proklamierte alte Reichshauptstadt umgeben? Mit diesen Mitteln wird das Recht auf Flucht, das Recht auf die Wahl der Gesittungs-und Ordnungsform, auf Freiheit und Gesinnung und geistig-sittliche Heimat innerhalb unseres Volkes für viele Millionen Deutsche unterbunden. Aber nicht nur Deutschland hat das Schicksal eines geteilten Staates zu ertragen. Vietnam und Korea haben gleiche Sorgen, gleiche Aufgaben.

Wir wollen damit den Bereich dieser Grenzprobleme unseres Themas verlassen, nicht ohne die Feststellung, daß diese Probleme sich versteifen, verschärfen und komplizieren, je mehr die in einzelnen Teilen der Welt gültigen Gesittungsnormen auseinanderklaffen, je fanatischer, intoleranter und anmaßender manche politischen Glaubenssätze vertreten werden. Und sie verschärfen und komplizieren sich, je schmaler, je geringer der Besitz an gemeinsam anerkannten und verehrten allgemein-menschlichen sittlichen Wertnormen und deren Wurzeln wird. Und sie versteifen und komplizieren sich, je schroffer und unvereinbarer sich die Auslegungen unserer höchsten Werte — Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit, Freiheit der Forschung, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung — gegenüberstehen oder einseitig im Dienste herrschsüchtiger Ideologien bis zur Unkenntlichkeit verfälscht, ja in ihr Gegenteil verkehrt werden.

Kehren wir zurück zur Betrachtung der Probleme der nationalen Flüchtlinge, die sich nun nach ihrer Einmündung in die ihnen zugewiesenen oder von ihnen als Zielgebiet gewählten Teil ihrer Nation ergeben. Gewiß, die Eingliederung der nationalen Flüchtlinge in die Volkswirtschaft und das Sprachgefüge macht zumeist weniger Schwierigkeiten als jene von heimatlosen Ausländern. Im Gegensatz zu diesen besitzen jene die Sprache und die nationale, kulturelle Tradition der einheimischen Bevölkerung des Aufnahmegebietes. Das erleichtert die ökonomische und soziale Eingliederung trotz aller oben angedeuteten Schwierigkeiten, die auch die nationalen Flüchtlinge zunächst zu überwinden haben. Die ausnehmende Nation fühlt sich schließlich doch unmittelbar verpflichtet, diese gewiß als Belastung empfundenen Flüchtlinge und Vertriebenen zu integrieren, das Schicksal anzuerkennen und die Aufgabe zu meistern. Das gilt für den finnischen und den deutschen „Lastenausgleich“, für die Ansiedlung der türkischen Bauern aus Bulgarien oder der Flüchtlinge in Südvietnam, die Schaffung von Siedlungen und Arbeitsplätzen in Pakistan und Indien usw.

Allgemein wird heute nach anfänglicher Über-schätzung des Problems der rein wirtschaftlichen Integration anerkannt, daß eine wirkliche Eingliederung von solchen Menschenfluten auch sozial und psychologisch gelingen muß. Im Rahmen der internationalen Flüchtlingsforschung in der *AER und AWR haben wir in den letzten zehn Jahren viel Sorgfalt und Mühe darauf ver-wandt, diesen soziologischen Prozessen empirisch forschend nachzugehen. Hier galt er, manche Voreingenommenheit und manches vorschnelle Urteil richtigzustellen. Es ist zum Beispiel völlig irreführend und irreal, wenn in Berichten die Vorstellung vertreten wird, ein ostdeutscher Bauer müsse sich doch hier in der Bundesrepublik als Landarbeiter sehr wohl fühlen — bei gutem Lohn, geregelter Arbeitszeit und einem relativ hohen Lebensstandard. Das ist unsoziologisch gedacht und materiell falsch. Dieses Fehlurteil verkennt, daß das soziale Prestige der Selbständigkeit dem Menschen — gerade dem besitzfreudigen ostdeutschen Mittel-und Bauernstand — meist weit mehr gilt als der moderne Sozialfetisch des hohen „Lebensstandards“, ja, daß auf diesem Haltungsgefälle schließlich der Bestand und das Funktionieren einer auf Wettbewerb gegründeten freien Wirtschaft beruht. Gerade dieser Gesichtspunkt ist entscheidend für die so unterschiedlichen Erfolge der Eingliederung von nationalen Flüchtlingen in den einzelnen Staaten.

Da ist der glänzende Erfolg der finnischen Lösung zu erwähnen, die von vornherein die Eingliederung primär nicht nach ökonomischen, sondern nach echten sozialen Erfordernissen vorsah. Finnland beschloß schon Mitte 1945 jeden Karelier nach seiner Rangstelle in der heimatlichen Besitz-und Leistungsordnung, ohne auch nur vorübergehende soziale Degradierung oder Prestigeverlust, in das neue Sozialgefüge einzuweisen. Dabei riskierte Finnland, die Kosten des Verfahrens durch eine Inflation auf alle Schultern zu verteilen. Ähnlich erfolgreich gelang in der Türkei die Eingliederung der nationalen Flüchtlinge, die 1950/51 aus Bulgarien ausgewiesen wurden; allerdings war das Problem hier relativ wesentlich kleiner. Von dieser glaubensstarken Schar gingen sogar manche heilsame Impulse des religiösen Lebens aus.

Es ist nicht möglich, den einzelnen Staaten Zensuren und vergleichbare Noten zu geben, weil die gestellten Aufgaben und Hilfsmittel sind und abweichen. unterschiedlich erheblich Will man den Stand der Eingliederung der Hei-matvertriebenen und Flüchtlinge in Westdeutschland richtig beurteilen, so muß man zuerst daran denken, daß von 1945 bis zur Errichtung der Bundesrepublik, trotz gewisser Koordinierung in den einzelnen Besatzungszonen, eine einheiliche Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik unmöglich war. Durch den historischen Ablauf der Flucht und Ausweisung waren manche Teile Deutschlands ungeheuerlich überlastet, andere fast frei von Flüchtlingen, zerstört. Die dafür aber Staatsgewalt lag nur beschränkt bei den Länder-regierungen. Daher konnte etwa das Lastenausgleichsgesetz, das in Finnland unmittelbar nach dem Zusammenbruch im unbesetzten Finnland einstimmig angenommen wurde und das Fundament für die erfolgreiche Ansiedlung der Karelier darstellte, in Deutschland erst sieben Jahre nach Kriegsende verabschiedet werden. Aus dieser Verspätung erklärt sich auch die Kompromißbereitschaft des Gesetzgebers, den deutschen Lastenausgleich kaum zum Aufbau neuer Existenzen, sondern überwiegend für sozialstandsgerechten Ausgleich heranziehen. Die Hälfte der bisher verausgabten Mittel floß in Kriegsschadenrente und Hausrathilfe. Ein Viertel der 40 Milliarden DM diente dem Wohnungsbau. Mit den bishehr gebauten sechs Millionen Wohnungen, für die insgesamt 100 Milliarden DM investiert wurden, wurde seit 1950 — begünstigt durch die allgemeine Konjunktur — das Wirtschaftsleben angekurbelt und das Heer der Arbeitslosen beseitigt, zugleich die unvorstellbare Wohnungsnot beseitigt. Denn über zwei Millionen Wohnungen waren im Krieg zerstört worden, und 13 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge mußten untergebracht werden. Derzeit gibt es nahezu keine Arbeitslosen. Rein wirtschaftlich gesehen möchte man also von einem geradezu unglaublichen Erfolg bei der Eingliederung sprechen.

Zwei Prozentzahlen zeigen aber das schwere Opfer, das die Vertriebenen bringen mußten. Vor der Vertreibung waren in der Heimat 37 Prozent selbständig oder halfen im eigenen Betrieb mit, heute sind es knapp 10 Prozent. Zum Segen der Volkswirtschaft hätten die leistungsfähigen unternehmerischen Kräfte gefördert werden müssen; früher, in der Heimat war jeder zweite ein Arbeiter, heute sind es 75 Prozent aller erwerbtätigen Vertriebenen. Daß man in den einzelnen Ländern an sich die Aufgabe erkannt hatte, beweisen viele Tatsachen und Dokumente. Gerade Bayern hat mit seinen staatsverbürgten Flüchtlingsproduktivkrediten wegweisend gewirkt. Aber bis zur Währungsreform glaubte mancher nicht an eine Chance.

Viele, die in der Lage gewesen wären, einen Betrieb aufzuziehen, weilten damals noch in Kriegsgefangenschaft. Nach der Währungsreform folgten anderthalb Jahre zögernden Wiederaufbaus, ja oft waren Anzeichen einer echten Krise zu erkennen. Die größte Einbuße an Selbständigen erlitt das Bauerntum, während in der Heimat die Felder brachliegen oder nutz. T. intensiv bewirtschaftet werden. Ob alle Chancen zur bäuerlichen Ansiedlung bei uns ausgeschöpft wurden, bleibe dahingestellt. Auf keinen Fall besitzt die Bundesrepublik Bodenreserven, die auch nur annähernd etwa mit den finnischen oder türkischen vergleichbar sind. Die Agrarpolitiker fordern die Wanderung der Bauernhöfe zum tüchtigsten Wirt: damit jedoch wird die landwirtschaftlich benutzte Fläche als solche nicht ausgeweitet.

Die Eingliederung ist somit weder als abgeschlossen noch als vollständig gelungen anzusehen, so günstig auch das Bild auf den ersten Blick sich zeigt. Die Soziologen beobachten aufmerksam den Eingliederungsprozeß. Im Konnup-tialindex wird laufend festgestellt, wie stark die „Mischehe" zwischen vertriebenen und einhei-mischen Brautleuten ist. Oder es werden in Testen an Schulkindern Begabung und soziale Haltung verglichen. Eingliederung bezieht sich aber nicht nur auf die von der Vertreibung und Flucht selbst Betroffenen. Es ist eine Generationsfrage.

Und wie ist nun die Einstellung der im Zu-fluchts-oder Aufnahmeland Geborenen? Oft ist nur ein Elternteil vertrieben, der andere einheimisch. Aber ein Gebiet, das die redliche Kulturleistung von Generationen erfahren hat, bleibt „Heimat", unter Umständen Generationen hindurch. Als klassisches Beispiel wird Israel angeführt. Die nach Babylon verbannten Israeliten kehrten nach 60 Exiljahren zurück nach Jerusalem. Im Jahre 132 n. Chr. wird Jerusalem dem Erdboden gleichgemacht und nach 1800 Jahren wieder in Besitz genommen.

Muß jede Hoffnung auf Rückkehr „Revanche“ bedeuten? Die Charta der deutschen Heimat-vertriebenen bietet starke Garantien gegen „Aufputschung“ und gegen Nachahmung gewalttätiger Vorbilder. Die empirische Soziologie vermag durchaus sichere Ergebnisse zu gewinnen. Das Ergebnis unserer Untersuchungen in der Bundesrepublik ist bekannt. Der Wille zur Rückkehr zum Dienst an der Heimat der Väter ist bei den Jugendlichen überraschend verbreitet. Bei den hier erfolgreichen Familien ist die Bereitschaft sogar noch größer als allgemein unter den Vertriebenen. Selbst jedes zehnte Kind aus einer einheimischen Familie träumt von einem entbehrungsreichen Pionierleben in Ostdeutschland, wenn es wieder deutsch besiedelt werden könnte. Dabei besteht ausdrücklich die Bereitschaft zu friedlichem Zusammenleben mit slawischen Mitbewohnern und zum Lernen der Sprache. Man komme nicht mit erhobenem Zeigefinger und rede von Revanchisten und Kriegs-gefahr!

Im Geiste Fridtjof Nansens liegt es, auch vor unbequemen, ja gefährlichen Tatsachen den Kopf nicht in den Sand zu stecken, sondern die Realitäten klar und „sine ira et Studio“ zu erkennen. Und in seinem Geist arbeiten wir auch, wenn wir bei allen Spannungen, die erkannt und allein deshalb schon weniger gefährlich sind, umsichtig darauf hinwirken, daß sie aus den Niederungen reinen Machtkampfes, der meist neues Unrecht setzt, in Sphären geistigen Ringens der Beteiligten erhoben werden. Es geht um die Rechte an dem beiderseits geliebten Heimatboden. Nicht Krieger und Henker, sondern Staatsmänner und Philosophen sollten unter dem Banner gemeinsam anerkannter humanitärer Werte rechten. Und schließlich sollten geistige und moralische Argumente den Ausschlag geben. Überall in der Welt, wo Flüchtlingsprobleme politische Spannungen und daher Gefahren darstellen, sollte in Nansens Geist der bestmögliche und dauerhafteste Ausgleich gesucht (und gefunden) werden. Sein Leitspruch schmückt die Fridtjof-Nansen-Medaille der Vereinten Nationen:

Nächstenliebe ist echte Politik.

Fussnoten

Weitere Inhalte