Am 10. Oktober dieses Jahres gedachten wir eines großen Mannes, dessen 100. Geburtstag gefeiert wurde: Fridtjof Nansen — Friedensnobelpreisträger von 1922. Im Völkerbund war er der erste Hochkommissar für Flüchtlinge. Er schuf den Nansen-Paß für die Staatenlosen und leitete den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch von 1923. Auch nach seinem Tode, im Jahre 1930, wurde die Hilfe für die vielen Millionen Flüchtlinge in aller Welt im Geiste dieses großen Menschenfreundes und Menschenhelfers fortgeführt.
Mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Nansen-Gesellschaft werden drei Vorträge, die anläßlich einer Gedenkfeier am 10. Oktober im Sophiensaal zu München gehalten und von Professor Dr. Martin Kornrumpf ergänzt wurden, veröffentlicht: jede Nation hat ihre großen Persönlichkeiten.
Fridtjoi-Nansen-Ring Von Prof. Dr. Dr. h.
c. Fahreddin Kerim Gökay, Istambul, für besondere wissenschaftiiche Leistungen in der Flüchtlingsforschung gestiftet. einem Begriff geworden ist und ein verwirrendes Problem darstellt in den reichen Ländern Nordamerikas und in Westeuropa nördlich der Alpen, so finden wir — sogar in unserem eigenen Erdteil — nicht nur Flüchtlingslager mit all dem fürchterlichen Elend, sondern ganze Distrikte, ganze Länder, deren Völker in größter Armut leben, wo die europäische Solidarität doch Wunder wirken könnte.
Sehen wir weiter, so finden wir in Afrika, Asien und Lateinamerika stolze Nationen, die zu einem neuen Bewußtsein erwacht sind und den Wunsch haben, dem Fluch des Hungers zu entrinnen.
Wir sind in der Lage, etwas zu tun. Aber die Welt kann sich keine Enttäuschungen mehr leisten, wie z. B. das fehlende Interesse am Etablierungsfonds des Europarats.
Fridtjoi-Nansen-Ring Von Prof. Dr. Dr. h.
c. Fahreddin Kerim Gökay, Istambul, für besondere wissenschaftiiche Leistungen in der Flüchtlingsforschung gestiftet. einem Begriff geworden ist und ein verwirrendes Problem darstellt in den reichen Ländern Nordamerikas und in Westeuropa nördlich der Alpen, so finden wir — sogar in unserem eigenen Erdteil — nicht nur Flüchtlingslager mit all dem fürchterlichen Elend, sondern ganze Distrikte, ganze Länder, deren Völker in größter Armut leben, wo die europäische Solidarität doch Wunder wirken könnte.
Sehen wir weiter, so finden wir in Afrika, Asien und Lateinamerika stolze Nationen, die zu einem neuen Bewußtsein erwacht sind und den Wunsch haben, dem Fluch des Hungers zu entrinnen.
Wir sind in der Lage, etwas zu tun. Aber die Welt kann sich keine Enttäuschungen mehr leisten, wie z. B. das fehlende Interesse am Etablierungsfonds des Europarats.
Einige ragen über die anderen hinaus und erhalten durch ihren Einsatz weltweite geschichtliche Bedeutung. Das kleine norwegische Volk brachte im 19. Jahrhundert eine ganze Schar großer Männer und Frauen hervor, deren Namen man kennt und derer man sich von Tag zu Tag erinnert. Ich brauche nur die Namen von Niels Henrik Abel, Roald Amundsen, Björnst-jerne Björnson, Edvard Grieg, Henrik Ibsen, Edvard Munch, Sigrid Undset, Gustav Vigeland und Henrik Wergeland zu nennen, und man weiß sofort, um wen es sich handelt. Über dem allen erscheint ganz groß ein einziger Name: Fridtjof Nansen. Alle die anderen waren Giganten, ein jeder auf seinem Gebiet, ob es sich nun um Wissenschaft, Politik, Literatur, Kunst oder die Erforschung unbekannten Landes handelt. Einige von ihnen waren sogar nicht nur auf einem Gebiet groß, sondern auch auf zweien dieser Gebiete. Fridtjof Nansen war das Universalgenie, das Großes auf allen diesen Gebieten leistete.
Die Schilderung von Nansens Leben hört sich wie ein Märchen an. Er wurde geboren auf dem Hof „Store Fröen“, der ein Stüde außerhalb Oslos liegt. Sein Vater war der Rechtsanwalt Baldur Nansen, ein ruhiger, beinahe pedantischer Herr. Die Mutter war Adelaide Johanne geb. Wedel-Jarlsberg, Tochter aus einem der letzten norwegischen Adelsgeschlechter, eine frische und unerschrockene Frau, die ihre Söhne zu Vollblutsportlern erzog. Da ist es kein Wunder, daß die Nansen-Jungen zu Pionieren im Skisport wurden, der damals in Norwegen kaum verbreitet und in anderen Ländern beinahe unbekannt war.
Nach dem Abitur begann Nansen mit dem Studium der Zoologie. Um ein besseres Verständnis der Eismeerfauna zu erreichen, zog der junge Nansen mit einem Seehundfänger nach Grönland. Seine erste Stellung war die eines Konservators am Bergener Museum. 1884 erregte er Aufsehen, da er als erster auf Skiern über das Gebirge von Bergen nach Oslo und zurück lief. Sein Bericht über diese Fahrt wurde zur Volkslektüre. Drei Jahre später legte er seine Doktorarbeit über die Elemente der Nerven, deren Struktur und Zusammenhänge im Zentralnervensystem vor — eine Abhandlung, die internationale Aufmerksamkeit erweckte und 18 88 ihm den Doktorgrad der Universität in Oslo einbrachte.
Sofort nach der Disputation wandte er sich westwärts. Mit einer Handvoll ausgesuchter Leute startete er von Grönlands Ostküste und ging auf Skiern quer über das Inlandeis zur Westküste. Es gab keinen Weg zurück, es hieß nur: weiter vorwärts. Das war nicht nur ein sportliches Ereignis von Rang, sondern auch eine wissenschaftliche Tat, und Nansens Name wurde von Laien und Gelehrten in der ganzen zivilisierten Welt mit Respekt und Bewunderung genannt.
Von nun hatte ihn das Polarland ernstlich gefangengenommen. Er kannte die Gefahren und wußte ihnen zu begegnen. Die Naturkräfte hatten ihre eigenen Spielregeln. Folgte man ihnen nur, so hatte man am wenigsten zu fürchten. So plante er eine Fahrt mit dem Schiff zum Nordpol und zurück, quer durch das Polareis. Es mangelte nicht an warnenden Stimmen, aber Nansen blieb fest in seinem Vorsatz. Es gelang ihm, die nötigen Mittel zu beschaffen, und nach sorgfältigen Vorbereitungen machte er sich 1893 auf den Weg mit seiner prächtigen Schute „Fram“ und einer nicht minder ausgesuchten Mannschaft. Am 7. April 1895 erreichte er 86014’ nördlicher Breite. Im Jahre 1896 waren sowohl er wie alle seine Männer mit der „Fram“ wohlbehalten wieder zu Hause und wurden als Helden der Nation empfangen. Damit wurde Nansen für die ganze Welt der Inbegriff von Abenteuer und Tatkraft. Für ihn war es aber nicht Abenteuer, sondern er hatte alles für die Wissenschaft eingesetzt. Der Erfolg war der Beweis dafür, daß seine Theorie von den Meeresströmungen über den Nord-pol hinaus richtig war. Unterwegs wurden ganz genaue Beobachtungen angestellt. Das Volksbuch „Vorwärts über das Polarmeer" kam im Jahre 1897 heraus, versehen mit Nansens eigenen Federzeichnungen, und ihm folgte 1900 ein sechsbändiges Werk, in dem Nansen, der im Jahre 1897 inzwischen Professor in Oslo geworden war, die wissenschaftlichen Ergebnisse der Expedition vorlegte. Im Jahre 1900 zog Nansen wiederum mit Michael Sars auf Meeres-forschungsfahrt, und in den folgenden Jahren war es die Ozeanografie, die im Mittelpunkt des Nansen’schen Forschungsinteresses stand. Der Unionsstreit zwischen Norwegen und Schweden bewegte um die Jahrhundertwende alle norwegischen Gemüter. Der weltberühmte Professor zog sich nicht in seinen Elfenbeinturm der Wissenschaft zurück, sondern nahm aktiven Anteil an der Entwicklung. Seine klaren und bestimmten Artikel in der norwegischen und ausländischen Presse, seine persönlichen Konferenzen mit den leitenden Männern in wichtigen Ländern waren von großer Bedeutung für Norwegens Entscheidung und dafür, daß die Union in Frieden und Eintracht aufgelöst werden konnte.
Fridtjof Nansen sprach sich mit ganzem Herzen für die Fortsetzung der konstitutionellen Monarchie aus, trotzdem er in vieler Leute Augen als der Kanditat Nr. 1 für die Präsidentschaft einer norwegischen Republik galt. Nansen führte dann auch die erfolgreichen Verhandlungen mit dem dänischen Prinz Carl wegen der Übernahme der norwegischen Krone Als der Prinz gewählt war und sich als König Haakon mit seinem neuen Vaterland bekannt machen sollte, wurde der Freund Nansen eine gute Stütze und ein guter Ratgeber.
Von 1906— 1908 finden wir Nansen in London, nun als norwegischen Minister stark damit beschäftigt, die internationale Stellung seines Vaterlandes weiter zu festigen. Aber sein ganzes Trachten ging zur Wissenschaft hin. Während seiner Ministertätigkeit war für Forschungen nur wenig Zeit, und sobald er meinte, er habe seine diplomatische Mission vollbracht, wandte er sich wieder seiner Professur in Oslo zu.
Die Sorge trat nun hier in sein Leben. 1907 starb seine erste Frau Eva geb. Sars. Sie war bereits tot, bevor er aus London zurückkam. 1913 traf ihn ein neuer harter Schlag. Da starb sein jüngster Sohn Aasmund im Alter von nur 11 Jahren. Viele Monate brachte Nansen hauptsächlich am Krankenbett des Jungen zu. Nie hat er diesen Verlust verwunden. Die Sorge veränderte ihn. Das Mitgefühl wurde zum dominierenden Zug in seinem Charakter.
Nach seiner Ministerzeit in London sollte aber dennoch Zeit bleiben für einige wissenschaftliche Fahrten. 1912 fuhr er gen Spitz-bergen, 1913 reiste er durch das Eismeer in Richtung Sibirien und mit der Eisenbahn nach Wladiwostock.
Der erste Weltkrieg änderte dann den von ihm eingeschlagenen Lebensweg völlig. In dem neutralen Norwegen konnte Nansen eine Zeit-lang seine wissenschaftlichen Studien weiter betreiben. Jedoch hatte die Nation Verwendung für ihn als Staatsmann und Diplomat. 1917 und 1918 finden wir ihn in den USA als Leiter einer norwegischen Delegation, die Getreide für Norwegen beschaffen sollte, und auch dies glückte ihm. Norwegen erhielt bessere Bedingungen als irgendein anderes neutrales Land.
Des Krieges Schrecken machten einen tiefen Eindruck auf Fridtjof Nansen. Nichts war natürlicher, als daß er, der Patriot und Präsident in Norwegens Verteidigungsverein, sich an die Spitze der norwegischen Sektion für den Völkerbund stellte. Außerdem erhielt er den offiziellen Auftrag, wegen Norwegens Anschluß an den Völkerbund entsprechende Verhandlungen zu führen. -Später wurde er als Norwegens Erstdelegierter für einen Zeitraum von zehn Jahren nominiert. Von nun an war sein Prestige in dieser Zeit so groß, daß er, der Professor für Ozeanografie aus dem kleinen norwegischen Lande, zum Vorsitzenden in der ständigen Schiedsgerichtskommission für das Britische Imperium und die Vereinigten Staaten von Nordamerika gewählt wurde.
Diese ehrenvollen Aufträge nahmen jedoch nicht seine ganze Zeit in Anspruch, und da es inzwischen Frieden geworden war, hoffte er, in Ruhe seine wissenschaftlichen Studien weiter betreiben zu können. Aber das Schicksal wollte es anders. Eines Tages stand der Professor Philip Noel Baker, der Abgesandte des Völker-bundes, in seinem Arbeitszimmer auf Polhögda, in Nansens Heim außerhalb Oslos, um ihn im Namen des Völkerbundes um Übernahme der wichtigen Aufgabe zu bitten, die Entlassung von Kriegsgefangenen in die Wege zu leiten. Es gab keinen Menschen, der soviel Prestige hatte und überall eine derartige Anerkennung fand. Und das Ganze sollte auch nur einige Monate dauern. Bezüglich dieses letzteren wußte Nansen genau: nun hatte er zu wählen zwischen Wissenschaft und diesem anderen. Die Wissenschaft war nun einmal seine Berufung, sein Interesse, sein Leben. Es war bitter für ihn, all das aufzugeben. Aber die Bilder, die vor seinem geistigen Auge abrollten — von der Not und dem Elend, in dem die Kriegsgefangenen und andere leben mußten — und von der Notwendigkeit einer augenblicklichen und tatkräftigen Hilfe — ließen ihm keine Ruhe. Dazu kam noch sein Vertrauen zum Völkerbund, den er als die letzte Hoffnung des unglücklichen Menschen-geschlechts ansah. Er konnte nicht abschlagen. Die Wissenschaft mußte warten.
Dieser Riesenaufgabe unterzog er sich im April 1920. Gleichwohl übertrug ihm der Völkerbund ständig neue Aufgaben, ihm, seinem Hochkommissar. Der Krieg hatte ein unbeschreibliches Chaos hinterlassen: Not, Elend und ungelöste Probleme gaben großen Teilen Europas ihr Gepräge. Im Juni 1921 bekam Nansen auch noch die Sorge für die russischen Flüchtlinge übertragen, und im August 1921 übernahm er zusätzlich die Arbeit, Nahrungsmittel für das hungernde Rußland heranzuschaffen.
Im September 1921 steht Nansen im Völkerbundssaal, und als Hochkommissar erstattete er Bericht über seine Arbeit für die Kriegsgefangenen. Diese Aufgabe ist nahezu vollbracht. 447 604 Kriegsgefangene aus 26 verschiedenen Nationen fanden zu ihren Familien zurück. Und der Preis: 410 000 £, d. h. also weniger als 1 £für den Mann.
Aber dem Delegierten Norwegens lag mehr am Herzen. Der Hungertod drohte Millionen und aber Millionen Menschen in Rußland. Der Krieg, der Bürgerkrieg und die Dürre hatten dazu geführt, daß in vielen Landstrichen Rußlands nichts Eßbares zu finden war, in Rußland, das früher Europas Kornkammer war. Die USA, Kanada und andere Gebiete hatten Überfluß an Nahrung. Es fehlte nur am Geld. Aber die Politiker wollten nicht helfen. Nahrungsmittel-sendungen nach Rußland würden nur dazu beitragen, das verhaßte Regime zu festigen. Nansens Rede in Genf am 20. September 1921 war ein Notschrei, ein letzter Appel an die Nächstenliebe und an die Menschlichkeit, ein Aufbegehren gegen Machtpolitik und Gleichgültigkeit. Es war ein Kredit um 5 Millionen £Sterling, um den er bat.
Er bekam ihn nicht. Nansens Enttäuschung, ja Verzweiflung war enorm. Aber er durfte nicht, ja er konnte nicht aufgeben. Gewöhnliche Menschen verstehen das zuweilen besser, was die Politiker nicht verstehen. Und aus privaten Quellen beschafften Nansen, sein amerikanischer Freund Herbert Hoover und die vielen Organisationen, die mit Nansen zusammenarbeitreten, die erforderlichen Mittel, nicht genug, um allen helfen zu können, doch gelang es, viele Millionen Menschenleben zu retten.
Gleichzeitig wurden dabei die Flüchtlinge nicht vergessen. Im Juni 1922 berief Nansen eine Konferenz in Genf ein, und das Resultat war der Nansenpaß.
Am 7. September stand Nansen wiederum in Genf und teilte den Politikern mit, was ihr Zögern und ihre Ablehnung für Folgen hatte, da es galt, den Hungernden in Rußland Hilfe zu bringen. Mindestens 2, wenn nicht 3 Millionen Menschen waren des Hungertodes gestorben.
Nun hatte die Krise ihren Gipfelpunkt erreicht. Es sah so aus, als ob Nansen die Situation unter seine Kontrolle gebracht hätte. Aber da kam eine neue Hiobsbotschaft. Im September 1922 rückte Kemal Pascha in Smyrna ein, und es kam dort zu einem fürchterlichen Morden. Millionen Griechen befanden sich auf der Flucht oder in Lebensgefahr. Nansens Reaktion war unmittelbar. Vom Völkerbund erhielt er in Rekordzeit die notwendigen Vollmachten und begab sich sofort dorthin. Man ordnete die Versorgung mit Lebensmitteln und Impfstoffen an, und so wurden 156 000 Flüchtlinge über Klein-asien nach Griechenland gerettet.
Am 10. Dezember des gleichen Jahres stand Fridtjof Nansen in seiner Heimatstadt Oslo und nahm den Nobel-Friedenspreis entgegen. Aber das bedeutete ganz gewiß nicht das Ende seines Einsatzes. Das war eher eine Aufmunterung zu neuen Taten.
Auf Veranlassung der Großmächte erreichte er eine Abmachung zwischen Griechenland und der Türkei über den Austausch von 400 000 Türken in Griechenland gegen 1, 5 Millionen Griechen in der Türkei. Im Laufe eines Jahres war dieser Volksaustausch durchgeführt, aber dennoch ein neues Problem aufgetreten, nämlich alle diese Menschen in die Gesellschaft einzuordnen, die sie ausgenommen hatte. Eine neue gewaltige Aufgabe lag damit auf Nansens Schultern.
Die Flüchtlingsarbeit an allen Fronten sollte die kommenden Jahre seines Lebens ausfüllen. Im September 1924 nahm er den offiziellen Dank des Völkerbundes entgegen: „Die Generalversammlung stellt fest.... ..
daß Dr. Nansen, dem nur stark begrenzte Mittel zur Verfügung standen, Hunderttausende Menschen aus Not und Leid, ja oft sogar vom Tode errettet hat — und spricht ihm hiermit seine Dankbarkeit aus als einem Wohltäter der Menschheit.“ Wenig Zeit nur blieb für andere Dinge übrig — Politik draußen und zu Hause, einige Bücher über seine Fahrten, Artikel.
1925 finden wir Nansen als den Gesandten des Völkerbundes in Armenien und im Kaukasus. Gerade die Sache der Armenier nahm ihn in den letzten Jahren seines Lebens sehr in Anspruch. Es gab Kampf und Enttäuschungen. Sein Buch „Durch Armenien“ schließt mit den bitteren Sätzen: „Wehe dem armenischen Volk, das so tief in die europäische Politik hineingezogen wurde! Besser wäre es gewesen, wenn sein Name nie von einem europäischen Diplomaten genannt worden wäre."
Für Nansen selbst setzte sich die Willenlosigkeit der Mächte um in eine bittere Niederlage — nicht nur für ihn selbst, sondern vielmehr für den Völkerbund und damit für die Sache des Friedens.
1928 erreichte Nansen einige internationale Abkommen über die Rechtsstellung russischer, armenischer und anderer Flüchtlinge. Leider war es nur eine kleine Anzahl von Staaten, die diese Absprachen ratifizierten. 1929 bereitete er eine neue Fahrt in die Arktis vor. Aber es blieb bei den Plänen. Am 13. Mai 1930 starb Fridtjof Nansen, 68 Jahre alt.
Am 17. Mai wurde er begraben. Dieser Tag — Norwegens Tag der Freiheit —, der gewöhnlich ein Tag des Festes und der Freude war, war diesmal der Tag der Trauer für das ganze norwegische Volk und für viele Menschen weit außerhalb der norwegischen Grenzen. „Norwegen hat ihn geboren — die Menschheit hat ihn verloren —so schrieb der Simplicissimus. Lind dieser Ausspruch kann als ein passendes Gedächtniswort für diesen Mann stehen, einen nordischen Patrioten, aber in allererster Linie einen Mitmenschen.
Richtungweisend für die Flüchtlingsarbeit in der ganzen Welt
INHALT Atle Grahl-Madsen Fridtjof Nansen Oskar Helmer Ungelöste Probleme der Flüchtlingskonvention von 1951 Karl Valentin Müller Integration nationaler Flüchtlinge im Spiegel der Soziologie Martin Kornrumpf Massenzwangswanderungen in Europa seit 1912
INHALT Atle Grahl-Madsen Fridtjof Nansen Oskar Helmer Ungelöste Probleme der Flüchtlingskonvention von 1951 Karl Valentin Müller Integration nationaler Flüchtlinge im Spiegel der Soziologie Martin Kornrumpf Massenzwangswanderungen in Europa seit 1912
Nansens Werk endet aber nicht mit seinem Tod. Er hatte der Flüchtlingsarbeit Anstoß und Richtung gegeben und einen Mitarbeiterstab herangebildet, so daß diese Arbeit ihre ganz natürliche Fortsetzung in seinem Geiste erhielt.
Die Besserung der rechtlichen Stellung der Flüchtlinge, die mit der Anerkennung des Nansenpasses 1922 begann, wurde durch eine Konvention über die internationale Rechtsstellung der Flüchtlinge 1933 gekrönt. Das Hochkommissariat für Flüchtlinge im Völkerbund setzte seine Arbeit in den verschiedensten Gremien bis zum Jahre 1947 fort, und wurde dann von der Internationalen Flüchtlingsorganisation (IRO) abgelöst. Später übernahm das Hochkommissariat für Flüchtlinge bei den Vereinten Nationen diese Aufgabe. Der großartige Einsatz der LINRRA und IRO in den ersten Nachkriegsjahren wäre nie denkbar gewesen, wenn nicht Nansen das Bewußtsein und das Verantwortungsgefühl für Menschen in Not geweckt hätte.
Die Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 ist mit Recht als ein großer Fortschritt gefeiert worden, aber letztlich ist sie nur eine Weiterführung der Rechtsgedanken gewesen, als deren Vater Nansen zu gelten hat.
Auch die Koordination der Hilfsarbeit in den verschiedenen Organisationen ist auf die Idee Fridtjof Nansens zurückzuführen. In erster Linie war es der koordinierte Einsatz guter Kräfte in vielen Ländern, auf dem eine gewaltige Hilfsarbeit aufgebaut werden konnte.
Das Weltflüchtlingsjahr war zudem auch eine Aktion, die vollständig in Nansens Geist durchgeführt wurde. In den Appellen, die in allen Weltsprachen ausgesandt wurden, kennen wir immer wieder die beschwörenden Töne aus Nansens eigenen Reden, gehalten in der General-versammlung des Völkerbundes und in Tausenden von Versammlungslokalen in Europa und Amerika, wieder.
Aber wir haben auch in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg allzuoft die Herzenskälte von Regierungen und Staatsmännern kennengelernt, gegen die Nansen mit so verzweifeltem Mut anging.
Ob es sich um Kriegsgefangene, Flüchtlinge, die Hungernden in Rußland oder um Armeniens bedrohtes Volk handelte, es war immer schwierig, die Verwalter der Staatskassen zum Öffnen der Portemonnaies zu bewegen; obwohl es für diese Männer nur wenig Geld im Vergleich zu dem war, was gebraucht wurde. Wir hören immer noch die Stimme Fridtjof Nansens hierzu: „Die Absicht bei der Ihnen zur Begutachtung vorgelegten Resolution war. es, die Mitwirkung der Regierungen an einem großen internationalen Anliegen zu erreichen . . . Ich dachte dabei nicht nur daran, die private Wohltäterschaft zu noch größeren Anstrengungen zu veranlassen, denn das — glaube ich — dürfte überflüssig sein.“
Das war 1921. Be-reits 1926 mußte Nansen das mit etwas anderen Worten wiederholen: „Die Not ist so groß, daß der private Opfer-willenicht hinreichend ist. Die Regierungen, und besonders die, die daran in jedem Falle beteiligt waren, diese Menschen ins Unglück zu stürzen, müssen Hilfe leisten. Aber das ist wohl sehr schwierig!“
Wo kennen wir da nicht die Trägheit unserer eigenen Zeit wieder? Millionen von Flüchtlingen standen in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg außerhalb der internationalen Hilfsaktion, weil sie den aufgestellten juristischen Voraussetzungen nicht entsprechen konnten. Ja, sie erscheinen nicht einmal in den internationalen Statistiken.
Und dennoch wurde das Weltflüchtlingsjahr ganze 14— 15 Jahre nach Kriegsschluß abgehalten. Mit einem Federstrich wäre es für die Regierungen sicher möglich gewesen, unter die früheren jahrelangen Leiden und Sorgen der Flüchtlinge einen Schlußstrich zu ziehen, ohne daß einer von uns ärmer geworden wäre. Statt dessen verwies man sie an die hartbedrängten Aufnahmeländer und die private Wohltätigkeit. Das Weltflüchtlingsjahr war der Völker Aufruhr gegen die Gleichgültigkeit der Staatsmänner. Möchten die Leitenden nur verstehen, daß auch gewöhnliche Menschen Herz und Mitgefühl haben und daß sie nicht wünschen, daß Not und Unrecht ihre Fortsetzung finden und daß eine tatkräftige Hilfe eine Forderung aller Völker ist.
Es handelt sich hierbei nicht um ein gestaltloses Etwas, sondern um eine unabdingbare Forderung, die sowohl in Organisationen wie Einzelpersonen ihren Ausdruck findet.
Laßt uns Nansens hundertjährigen Geburtstag wie auch das Weltflüchtlingsjahr als einen Appell auffassen, in erster Linie gerichtet an das Gewissen der Staatsmänner.
Es liegen so umfangreiche Aufgaben vor uns, von denen einige bereits vor langer Zeit hätten gelöst werden müssen, aber trotzdem ist es noch nicht zu spät, sie zu lösen; andere wiederum melden sich mit allem Nachdruck zur Lösung an und rufen unser mitmenschliches Gefühl und nicht minder unseren Tatendrang hervor. „Ich selbst sehe keine andere Rettung für die gesamte Menschheit als durch die Wiedergeburt der Nächstenliebe", so schrieb Nansen 1922. Und er setzte hinzu: „Das hört sich beinahe kindlich, vielleicht sogar sentimental an. Ich sehe im Geiste bereits die Politiker die Schultern zucken: an schönen Worten hat man nie gespart; was wir dringend brauchen, ist Real-politik. Ja, Realpolitik; ich bin auch ein solcher Politiker mit meinem ganzen Herzen, ich interessiere mich lebhaft und ausschließlich für die Wirklichkeit. Aber Realpolitik in einer zivilisierten Gesellschaft ist nur denkbar auf der Grundlage der Nächstenliebe, der Gegenseitigkeit, der Hilfsbereitschaft, des Vertrauens. Nur auf diesem Fundament wird man immer eine menschlicheZusammenarbeit aufbauen können.“ Er schloß mit den Worten, die auf der Nansenmedaille zu lesen sind und die besonders im Weltflüchtlingsjahr in der ganzen Welt wiederholt wurden: „Ja, Nächstenliebe ist echte Politik, und zwar die einzig mögliche."
Mit diesen in unseren Ohren klingenden Fridtjof Nansen-Worten können wir die Blicke auf die heutige Welt richten. Und was sehen wir? Während das Wort „Wohlfahrtskrise" zu einem Begriff geworden ist und ein verwirrendes Problem darstellt in den reichen Ländern Nordamerikas und in Westeuropa nördlich der Alpen, so finden wir — sogar in unserem eigenen Erdteil — nicht nur Flüchtlingslager mit all dem fürchterlichen Elend, sondern ganze Distrikte, ganze Länder, deren Völker in größter Armut leben, wo die europäische Solidarität doch Wunder wirken könnte.
Sehen wir weiter, so finden wir in Afrika, Asien und Lateinamerika stolze Nationen, die zu einem neuen Bewußtsein erwacht sind und den Wunsch haben, dem Fluch des Hungers zu entrinnen.
Wir sind in der Lage, etwas zu tun. Aber die Welt kann sich keine Enttäuschungen mehr leisten, wie z. B. das fehlende Interesse am Etablierungsfonds des Europarats.
Es ist ein erfreuliches Zeichen, in vielen Ländern ein wachsendes Verständnis feststellen zu können für die Bedeutung der Entwicklungshilfe. Fassen wir ernstlich gute Vorsätze, bemühen wir uns, die vorliegenden realistischen Pläne zu verwirklichen, so würde dies von welthistorischer Bedeutung sein. „Lassen Sie uns nicht davor zurückschrecken oder gar Pessimisten werden", sagte Nansen in seiner großen Rede, als er zum Rektor an der St. Andrew-Universität im Jahre 1926 eingesetzt wurde; und hingewandt zu der Jugend fuhr er fort: „Wenn die Welt in Unordnung geraten ist, so seid Ihr diejenigen, die wieder Ordnung schaffen müssen. Und Ihr müßt sie zu einem Ort machen, wo man wieder besser leben kann, ein jeder nach seinen Fähigkeiten ... Die alten ausgefahrenen Bahnen führen nicht weiter nach vorn. Es ist nun an der Zeit, sich auf neuen Gebieten zu erproben. Wir haben Sie, junge Freunde, bitter nötig, mit frischen Augen, die die einfachen, elementaren Dinge klar erkennen, die bereit sind, neue Wege zu erproben, und die Gefahren auf sich nehmen und das Unbekannte wagen.“
So knüpft er, der alternde, erfahrene Menschenfreund, den Faden zwischen seinem großen Lebenswerk und den waghalsigen Abenteuern seiner Jugend. Drei Ideale stellte er der Jugend vor Augen: Mut, Unabhängigkeit und Tatendrang: „Ich bin überzeugt davon, daß die zukünftige Entwicklung der Möglichkeiten eures eigenen Volkes wie der der ganzen Menschheit abhängen wird von einigen von euch Jungen, die un-verzagt neue Wege erproben. — Ich bin mir klar darüber, daß die großen Ereignisse in der Welt von der Abenteuerlust und dem Tatendrang gewisser Einzelmenschen abhängig sind, die die gebotenen Möglichkeiten wahrnehmen.“ So sprach Nansen zu den schottischen Studenten und durch sie zur Jugend der ganzen Welt.
Aber Mut, Unabhängigkeit und Abenteuerlust dürfen nicht verwechselt werden mit Starrsinn und Tollkühnheit. Und hier hebt der weltkluge Nansen beschwörend den Zeigefinger: „Man muß wagen, und man kann sich nicht von Gefahren abschrecken lassen, sofern man überzeugt ist, auf dem rechten Wege zu sein. Nichts Wertvolles erreicht man im Leben ohne das Wagnis. Aber die Gefahren sollten immer in einem richtigen Verhältnis zu den Ergebnissen stehen, die man bei jedem dieser Vorhaben zu erreichen hofft. Sie sollten nicht vom Zufall abhängen; es muß eine Möglichkeit bestehen, die Gefahren mit seinen eigenen Fähigkeiten zu überwinden." „Wir haben alle im Leben bereits unser Augenmerk auf das Jenseitige Land'zu richten; was können wir mehr verlangen? Wir sind aufgerufen, die Wege zu finden, die dorthin führen. Es kann ein langer, ein beschwerlicher Weg werden; aber wir sind ihm verpflichtet, und wir müssen ihn gehen.“
So formulierte Nansen seinen Aufruf an das junge Geschlecht, ja, an die ganze Menschheit. Und so stehen wir da, ein jeder von uns vor dieser Wahl. Sind wir bereit, uns unter den von Nansen vorangetragenen Fahnen zu scharen und dem Leitspruch zu folgen: „Nächstenliebe ist echte Politik"? Oder sollen wir uns in blindem Egoismus auf unser eigenes Wohlergehen konzentrieren? „Wehe dem armenischen Volk, das in die europäische Politik hineingezogen wurde", so rief Nansen aus. Sollen wir der Botschaft Nansens lauschen oder wird zum Schluß gesagt werden müssen: Wehe der Menschheit, die nicht in der Lage war, die Menschlichkeit in den Mittelpunkt ihrer Politik hineinzusetzen!
In Demut beugen wir unsere Häupter vor der Erinnerung an diesen großen Polarforscher, Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller, Diplomaten, Staatsmann, und nicht zuletzt vor dem großen Menschen und Mitmenschen Fridtjof Nansen, der so klar diese Frage umriß, die ein jeder von uns in seinem Handeln beantworten muß.