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Berlin Deutschlands Hauptstadt | APuZ 39/1961 | bpb.de

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APuZ 39/1961 Berlin Deutschlands Hauptstadt

Berlin Deutschlands Hauptstadt

Das Gesicht aus Stein

Das Brandenburger 13. August Tor ant 1961

1850 war Berlin die interessante Hauptstadt jenes merkwürdigen preußischen Staates, von dem selbst Bismarck damals nicht hätte sagen können, wohin sein Weg führen würde. Sagen ließ sich 1850 nur, daß der bisherige Weg Preußens beendet war: Hohenzollern hatten in diesem Jahr ihrem Staat eine konstitutionelle Verfassung gegeben. Damit war die absolutistische Vergangenheit des preußischen Staates abgeschlossen. Wie sehr sie es war, zeigt ein Blick auf die Straße Unter den Linden. Sie war damals der vollkommene Ausdrude dessen, was man den preußischen Stil nennt . . .

Bücherverbrennung durch die Nazis

Vier Könige haben den wichtigsten Anteil an der Entwicklung des Preußenstils: der bucklige Friedrich L, der ruhmvolle Fridericus Rex, dessen Neffe, der dicke Lüderjahn Friedrich-Wilhelm II., und der säuerliche Friedrich Wilhelm III., Gatte der Königin Luise. Vier geniale Baumeister standen ihnen zur Seite: Schlüter, Knobelsdorfs, Langhans und Schinkel.

Kind int Verteidigungsgraben und Mann

Den Stempel der Größe oder der Genialität empfängt ein Baumeister erst dann, wenn seine Gebäude nicht nur als Einzelwesen wirken, sondern wenn sie mehr sind als ihr Zweck, wenn sie raumgreifend und raumschaffend ihre Umgebung bestimmen. So ist Schlüters Schloß nur als Teil einer Platzanlage, als Hintergrund der „Linden“ gedacht, so verstand auch Georg Wenzeslaus von Knobelsdorfs sein Opernhaus nur als Teil des großen Friedrichsforums, Langhans das Brandenburger Tor als die Klammer zwischen „Linden“, Pariser Platz und Tiergarten und Schinkel seine Neue Wache und die Schloßbrücke als den Zusammenschluß von Lustgarten, Zeughaus und Friedrichsforum.

Flak Ruinen zwischen

Das „Forum Fridericianum“ sollte die große, entscheidende Platzanlage des unteren Teils der Straße Unter den Linden werden. Wie ein Quer-balken sollte das große Forum von Süd nach Nord die Straße durchbrechen. Knobelsdorfs und Friedrich der Große hatten sich diesen Platz in den Rheinsberger Tagen ausgedacht, in der Kronprinzenzeit des Königs. Damals träumte der Kronprinz davon, die Leibnizsche Akademie wieder zu hohen Ehren zu bringen. Sie sollte ein großes, feierliches Gebäude erhalten, eine Komposition aus Observatorien, Laboratorien, Lehrsälen, Festräumen, Bibliotheken, Lesesälen, Studierzimmern und Wohnungen, „Tempel und Klub“ unter einem Dach. Weil der künftige König sein Leben zusammen mit Wissenschaftlern verbringen wollte, sollte ein neues Schloß in nächster Nachbarschaft zur Akademie entstehen. Ferner mußte auch das neue Opernhaus des künftigen Königs in diese Nachbarschaft gehören, denn in diesem Haus sollten nicht nur öffentliche Spiele veranstaltet werden, sondern auch große Feste, die der König gemeinsam mit Freunden und Bürgern feiern wollte. Der nördliche Teil des Forums war für die höfische Repräsentation bestimmt, der größere südliche Teil sollte der Akademie für ihre Kundgebungen unter freiem Himmel dienen. Der ganze Platz war 85 Meter breit und 250 Meter lang gedacht. Im Süden wollten der junge Fürst und sein Baumeister den Platz durch ein sakrales Gebäude abschließen, über dessen Formen aber noch keine Klarheit bestand.

Das Gesicht aus Stein. Von Walther Kiaulehn Gekürzt. Aus: W. Kiaulehn »Berlin«, Biederstein-Verlag Vom Seelenreiz der Großstadt. Von Walther Kiaulehn Gekürzt. Aus: W. Kiaulehn »Berlin« Die Stadt der Wissenschaften. Von Jan Maren Gekürzt. Aus: »Berlin am Kreuzweg Europas«, herausgegeben von Ernst Lemmer Die gefährlichen „Weber“. Von Johann J. Hesslin Aus: H. Erman »Weltgeschichte auf berlinisch«, Verlag für Intern. Kulturaustausch, West-Berlin Pariser Platz 7, Max Liebermann. Von Karl Scheffler Aus: J. J. Hesslin »Berlin«, Prestel-Verlag Pinselheinrich. Von Werner Schumann Aus: W. Schumann »Pinselheinrich«, Büchergilde Gutenberg Die Republik wird ausgerufen. Von Philipp Scheidemann Aus: Ph. Scheidemann »Memoiren eines Sozialdemokraten«, Karl Reissner Verlag Alexanderplatz. Von Alfred Döblin Gekürzt. Aus: A. Döblin »Berlin — Alexanderplatz«, Fischer-Bücherei Die goldenen zwanziger Jahre. Von Walther Kiaulehn Aus: Merian, Heft 11, 12. Jahrgang Es begann am 30. Januar 1933. Funkmanuskript Aus: W. Jäger u. a. »Es begann am 30. Januar«, Juventa Verlag, München Die geistige Freiheit wird auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Funkmanuskript Aus: W. Jäger u. a. »Es begann am 30. Januar« Der Endkampf in Berlin. Von Jürgen Thorwald Gekürzt. Aus: J. Thorwald »Das Ende an der Elbe«, Steingrüben-Verlag, Stuttgart Berlin wird zur Viersektorenstadt. Von Arno Scholz — Peter K. Orton Aus: A. Scholz — P. Orton »Die Insel Berlin«, Arani-Verlags-G. m. b. H. Berlin-Grunewald Wir setzen Bürgermeister und Bezirksverwaltungen ein. Von Wolfgang Leonhard Aus: W. Leonhard »Die Revolution entläßt ihre Kinder«, Verlag Kiepenheuer & Witsch Das Leben geht weiter. Von Curt Riess Gekürzt. Aus: C. Riess »Berlin Berlin 1945— 1953«, Non Stop-Büdierei G. m. b. H., Berlin-Grunewald Die Niederlage der Kommunisten in Berlin. Von Wolfgang Leonhard Aus: W. Leonhard »Die Revolution entläßt ihre Kinder« Louise Schroeder. Von Curt Riess Aus: C. Riess »Berlin Berlin 1945— 1953« Die Berliner Blockade. Von Lowell Bennett Aus: L Bennett »Bastion Berlin«, Friedrich Rudi Verlags-Union Das geteilte Berlin. Von Peter K. Orton Aus: A. Scholz — P. Orton »Die Insel Berlin« 17. Juni 1953. Von Stefan Brant Aus: St. Brant »Der Aufstand«. Steingrüben-Verlag, Stuttgart Alle Fotos wurden von der Landesbildstelle Berlin zur Verfügung gestellt. Inhalt Sie lesen in dieser Ausgabe: in der nächsten Ausgabe:

Gleich nach der Thronbesteigung Friedrichs II., 1740, bekam Knobelsdorfs den Auftrag, als erstes Gebäude die Oper in Angriff zu nehmen. Der König war damals noch nicht ganz dreißig Jahre alt; das sind entscheidende Jahre des männlichen Lebens und oft ein Wendepunkt. Friedrich machte eine radikale Wandlung durch, die ihn bald den meisten seiner Freunde entfremdete. Aus dem musizierenden Jüngling wurde der ruhmsüchtige Soldat; aber noch war die Wandlung nicht sichtbar.

Knobelsdorfs ging mit großem Schwung an den ersten Bau des Friedrichsforums. Der Traum von Rheinberg sollte Wirklichkeit werden. Wahrscheinlich hat die Oper daher die frühlingshafte Heiterkeit, den ewigen Hauch von Frische, der die steinernen Genien vom Sims so witzig dem Himmel entgegenhebt. Knobelsdorfs war beinahe fünfzehn Jahre älter als der König, ein märkischer Grande, zunächst Offizier, dann Maler und Architekt, dessen Vorbild der große Palladio war, ein hoch gewachsener Herr von stattlichem Umfang, seiner Aufrichtigkeit wegen bewundert, seiner Grobheit halber gefürchtet. Von seiner fleischigen Hand stammen die zierlichsten und elegantesten Innenräume des preußischen Rokoko.

Das Äußere seiner Bauten jedoch war strenges Regelmaß, klassische Linien, wie mit einem graziösen Silberstift hingehaucht — das Entzücken der Kenner.

Friedrich hatte Knobelsdorfs zum Generalinspekteur der königlichen Bauten ernannt. Der ehemalige Hauptmann bieb es jedoch nicht lange. Immerhin legte er in vier kurzen Jahren den Tiergarten neu an, baute den Ostflügel von Schloß Charlottenburg und errichtete das Schloß Sanssouci. Die Oper baute er ganz nebenbei. 1743 begann schon der Bruch. Friedrich war völlig verändert aus seinem ersten Krieg zurüdegekommen. Knobelsdorfs war für ihn nicht mehr der bewunderte Freund, sondern nur noch die ausführende Hand seines königlichen Willens. Aber Knobelsdorfs kannte keine Kompromisse. Er kam dem Freund in Kleinigkeiten entgegen, so, als er die kolossalen Satyrthermen, die sich der König als Tragepfeiler für das „Punschbowlen“ -Dach von Sanssouci ausgedacht hatte, unmittelbar in den Sand stellte. Zu entscheidenden Abänderungen seiner Entwürfe jedoch, wie sie Friedrich jetzt immer wieder forderte, konnte er sich nicht entschließen.

Der Gegensatz zwischen den beiden war der Unterschied zwischen jung und alt. Grotesk war nur, daß der ältere Knobelsdorfs die Jugend vertrat und der junge Friedrich das Alter. Knobelsdorfs wollte mit seinen Bauten nach vorn, in die Zukunft hinein, Friedrich strebte plötzlich zurück ins Barock. Er war wirklich ein anderer Mensch geworden.

Dieser Bruch war freilich auch das Ende des großen »Forum Fridericianum“. Nur noch mürKronprinzenjahre. Er liebte nach seiner Wandlung auch Berlin nicht mehr. Das mächtige Schloß, das er für sich gedacht hatte, wurde gebaut, aber Friedrich bestimmte es zum Wohnsitz seines Bruders Heinrich. Der ältere Boumann, ein trockener, derber Architekt, wurde mit der Ausführung betraut. Für Boumanns Verhältnisse geriet das neue Schloß sehr majestätisch, ja sogar elegant; es kann die Verwandtschaft mit risch dachte Friedrich an diesen Traum seiner dem Opernhaus nicht verleugnen. Schon den Zeitgenossen war klar, daß sich Boumann sehr stark auf den ursprünglichen Entwurf von Knobelsdorfs gestützt hatte.

Da Friedrich das Schloß nicht für sich gebrauchen wollte, betonte er den geringeren Rang seines Bruders dadurch, daß er den ganzen Bau nahe an die Straße rückte. Ursprünglich hätte das Schloß etwa fünfundsiebzig Meter nach rechts hinter die Straßenfront zurückgenommen werden sollen. Dieser einst projektierte majestätische Abstand von der Straße kam dem Prinzen Heinrich nicht zu. Damit war die nördliche Flanke des Forums nahezu aufgegeben, denn der Platz, den die kühn vorstoßenden Flügel des Schlosses umfingen, hatte zwar die projektierte Breite des Friedrichsforums, er wirkte jetzt aber nicht mehr als ein Teil davon. Zudem hatte Heinrich die ranglistenmäßige Korrektur seines Bruders am vorgesehenen Friedrichsforum damit beantwortet, daß er ein schmiedeeisernes Gitter zwischen den Flügeln des neuen Palastes ziehen ließ und so den Vorhof, der ja ein Teil des neuen Forums sein sollte, vollends von dem neuen Platz abgrenzte. Um diese Abgrenzung noch mehr zum Ausdruck zu bringen, ließ Prinz Heinrich den Vorhof des Schlosses auch noch mit Bäumen bepflanzen. Das ging ganz gegen die Knobelsdorffsche Konzeption, denn der Platz sollte nur durch seine riesigen Abmessungen wirken, durch seine klare Struktur und durch die Skulpturen, Obelisken und Brunnen, die das rhythmische Spiel der Bau-massen unterstützen sollten. Durch Heinrichs eigenmächtige Eingriffe, die Friedrich nicht hinderte, schrumpfte das Forum zum „Opernplatz“ zusammen.

Der König selbst tat den nächsten Schritt, indem er für den Bau des katholischen Doms, der sogenannten „Hedwigskirche“, das Fundament der alten Bastion der Kanonenfestung benutzte, die mit einem ihrer Sternzacken in das Forum hineinragte. Damit war auch die Strenge des schon zusammengeschrumpften Rechtecks zerstört. Überdies gab Friedrich dem katholischen Dom die von ihm eigenhändig abgeänderte Form des römischen Pantheons. Der schwer-lastende Rundbau hob das einheitliche Architekturprinzip auf, und, einmal im Zug, stellte Friedrich der westwärts gerichteten Längsseite des Opernhauses auch noch die schwere, barocke Fassade seines Bibliothekbaus gegenüber. Sie war der Rest dessen, was von dem geplanten neuen Akademiegebäude übriggeblieben war; ein trauriger Verzicht, denn es war nichts als die Kopie der Michaeler-Fassade der Wiener Hofburg von Fischer von Erlach. Das war der Schritt zurück in die Vergangenheit des Barock, vor dem Knobelsdorfs so dringend gewarnt hatte.

Friedrich hatte die Michaeler-Fassade gewählt, weil ihre geschwungene Form — „Kommode“ nannte sie der Berliner — ihn an die ebenfalls geschwungene Fassade des Akademiegebäudes erinnerte, die einstmals Freund Knobelsdorfs, der schon 175 3 verstorben war, für den Bau der Akademie entworfen hatte. Aber bei Knobelsdorfs war alles luftig und leicht gewesen: nur zwei Geschosse und zwei vorgeschobene Eckrisalite mit kannelierten Säulen. Die Kopie nach Fischer von Erlach war vierstöckig und wuchtig und wurde noch von einer schweren Kartusche über dem Mitteleingang überhöht.

So wurde die schönste Platzidee für die Straße Unter den Linden gerade von dem Mann vertan, der sie mitgedacht hatte. Nur Knobelsdorffs Opernhaus und das Heinrichspalais, die jetzige Universität, hatten den preußischen Stil weiterentwickelt. Alles andere war Rückschritt doch ist die Formensprache dieser beiden Gebäude so stark, daß sie ihre Umgebung immer übertönt hat. Sie verstummte auch nicht, als man zwischen 1890 und 1910 die Oper und den Opernplatz zu verschandeln begann, als man das Gebäude mit einem Bühnenhaus überhöhte, den Platz mit Rasenhügeln für die Denkmalsanlage der verstorbenen Kaiserin Augusta verbaute und den Rest mit Bäumen bepflanzte, ja Knobelsdorffs Stimme war sogar noch vernehmlich, als man der Oper das Äußerste antat und um sie herum ein System von eisernen Feuer-treppen montierte, die sie wie den gespenstischen Traum eines Pyromanen erscheinen ließ.

Was spielte es dann noch groß für eine Rolle, als die Dresdner Bank die Südseite des Forums mit einem Gebäude verbaute, das beinahe doppelt so hoch war wie die ganze Oper?

Das Brandenburger Tor wurde 1788 bis 1791 von Karl Gotthard Langhans erbaut. In der Entwicklung des Preußischen Stils ist es die Brücke zwischen Knobelsdorfs Schinkel. Der Helle und -

nismus, nach dem Knobelsdorfs ahnend tastete, ist hier zum erstenmal kräftig und klar ausgedrückt, ein deutsches Bauwerk aus griechischem Geist, das erste Zeugnis des Klassizismus. Der Bauherr des Tores war Friedrich Wilhelm II., der mißratene Neffe Friedrichs des Großen, den die preußischen Historiker, die es ja überhaupt nicht leicht hatten, am liebsten immer verschwiegen haben. Der dicke Mann war ein Lüderjahn und Weiberknecht, gesegnet allerdings mit einem feinen Architekturgeschmack.

Seine Erzieher hatten aus ihm einen Soldaten machen wollen. Es war völlig mißlungen. Er wäre ein ausgezeichneter Musiker und excellenter Baumeister geworden. Unter seiner Herrschaft — wenn man seine Lotterwirtschaft so nennen darf — begann der Klassizismus. Das Marmorpalais ist der Auftakt, das Brandenburger Tor die erste Tat.

Das Tor, fast dreimal so breit wie hoch, zweiundsechzig zu sechsundzwanzig Metern, besteht aus sechs Mauern, die fünf Durchfahrten bilden. Die Stirnseiten der mächtigen Mauern sind als dorische Säulen ausgebildet und tragen einen wuchtigen, rechteckigen Aufbau, den Architrav mit angedeutetem Giebel, der von der Quadriga gekrönt wird. Das Verhältnis des Aufbaues zur Säulenhöhe ist eins zu zwei, die Säulen sind etwa dreizehn, der Aufbau sieben Meter hoch, ebenso hoch wie die Quadriga. Die Abweichungen von den ganzen Verhältniszahlen brachten die bebende Schwingung in den Bau. Er ist eine freie Schöpfung nach dem Vorbild der Propyläen Das Tor ist neben dem Schloß das bekannteste Bauwerk Berlins, das schöne Symbol der Stadt, ein Tor ohne Türen. Kein anderes Berliner Gebäude ist so viel fotografiert, gemalt und gezeichnet worden. Allein Lesser Ury hat es über fünfzig-mal radiert und gemalt und es in den Stimmungen aller Tages-und Jahreszeiten dargestellt.

Die Preußische Städteordnung des Freiherrn vom Stein, eine der Grundvoraussetzungen für den Kampf gegen Napoleon, war an Berlin spurlos vorübergegangen. Berlin kam nicht in den Genuß der Selbstverwaltung, weil es Hohenzollernresidenz war, und die Residenzen waren von der Städteordnung ausgenommen. In allen anderen Städten unterstand die Polizei dem Magistrat. In Berlin gab es eine Staatspolizei, die dem Magistrat übergeordnet war. Selbst der preußische König mußte machtlos zusehen, wie sein Polizeipräsident ein Genie wie Karl Friedrich Schinkel schachmatt setzte und einen großzügigen Städtebau in Berlin verhinderte. Rückschauend erschrickt man noch heute darüber, daß Schinkel nicht einen einzigen Platz und nicht eine einzige Straße in Berlin hat bauen dürfen. Die wunderbaren Ansichten und Meinungen Schinkels über den Städtebau lesen sich heute wie Parodien auf seine Tätigkeit. Sein ganzes rastlos tätiges Leben bestand aus Nebenbeschäftigungen, die er mit geradezu wütendem Eifer betrieb, weil er seinem Hauptgeschäft, der Umwandlung der Residenz in eine Weltstadt, nicht nachgehen durfte.

So hat Schinkel ein Warenhaus entworfen, das natürlich nicht gebaut wurde. Seine Zweckmäßigkeit und Schönheit wäre selbst heute, hundert Jahre später, noch nicht überholt. Schinkel hat den Rippenbau, den Schlüter zum erstenmal im Landhaus Kamecke gezeigt hat, weiterentwickelt. Er errichtete nach diesem System die Bauakademie. Es blieb ein einsames Beispiel. Erst Messel nahm fünfzig Jahre später beim Wertheim-Bau am Leipziger Platz diese Ideen wieder auf. Das sind jedoch nur Kleinigkeiten. Schinkel sah auch die kommende Weltstadt als Landschaft. Das einzige, was er den Polizisten davon einreden konnte, waren die vielen Bäume, die in den Berliner Straßen gepflanzt worden sind.

Als Schinkel London sah, fürchtete er sich zunächst vor der Weite der Stadt, in der man die Entfernungen nur nach Meilen maß. Gleichzeitig notierte er, daß jährlich etwa zehntausend Häuser rein aus Spekulation gebaut würden, und er beschrieb auch die langen Reihen jener Paläste, die gar keine Paläste waren, sondern aneinandergereihte Einzelhäuser von drei und vier Fenstern Front, „denen man eine gemeinsame Architektur gegeben hatte".

Die jährlichen zehntausend Häuser, die von den Londoner Bauunternehmern „aus Spekulation“ gebaut wurden, waren Einfamilienhäuser, und es bedarf keiner großen Phantasie, um sich aus diesen Kleinhäusern und den Palast-reihen mit den Drei-und Vierfensterwohnungen das Bild einer gesunden Großstadt zu kombinieren, das heute noch befriedigen würde. Schinkel durfte so nicht bauen, weil die Berliner Polizei erstens den Befehl Friedrich Wilhelms II. von 1795, keine Hinterhäuser und Seitenflügel mehr zu bauen, aufgegeben hatte, und weil sie zweitens auch die Ansicht des dicken Königs zu den Akten gelegt hatte, daß es die Aufgabe Berlins sei, sich durch Ausbreitung zu verschönen, nicht, sich einzupuppen; die Polizei hatte schon 1810 verfügt, daß Berlin sich auf das Gebiet der alten Zollmauer beschränken müsse. Wie hätte man in einer Stadt, die dieses Gebiet bereits prall ausfüllte, einen neuartigen Städtebau betreiben sollen, dessen Aufgabe es gewesen wäre, die Gedanken des Preußischen Stils auf die Dimensionen einer Weltstadt zu übertragen?

Friedrich Wilhelm IV., auf den ‘Schinkel große Hoffnungen gesetzt hatte, war eine einzige Enttäuschung für ihn. Der König dachte nur malerisch und wollte eigentlich nur Kirchen bauen. Sie sollten malerische Gebilde sein, Gebäudegruppen, eingebettet in Grün, Inseln der Verheißung, die er als Missionsstationen in die Stadt zu setzen gedachte. Das waren fromme und edle Gedanken, die aber nichts mit der Wirklichkeit der Berliner Wohnungsmisere zu tun hatten und das Problem des aufkommenden Proletariats in der Industriestadt Berlin ignorierten. Mit Gebet und Armengeld allein war der Stadt nicht zu helfen. Immerhin verdankt sie dem König den Landwehrkanal und einige sehr stimmungsvolle Kirchenanlagen.

Der Landwehrkanal mit seinen sehr reizvollen Einzelpartien (Lützowviertel) und der noch hübschere luisenstädtische Kanal, der an der Schillingsbrücke begann und am Urbanhafen in den Landwehrkanal mündete, waren die ersten Notstandsarbeiten, die der König zur Linderung der Arbeitslosigkeit ausführen ließ. Hier wurden die Thomaskirche und die Kirche St. Michael erbaut, die Böcklins Lieblingskirche war, als er in Berlin weilte.

Friedrich Wilhelm IV. war 1840 auf den Thron gekommen, Schinkel starb schon 1841 im Wahnsinn. Er hatte von dem König, der ihm seine zauberhafte Kronprinzenwohnung im Park von Sanssouci verdankte, den Charlottenhof, nichts als Kränkungen erfahren.

Nach Schinkels Tod besorgte alles, was den Städtebau anging, der Berliner Polizeipräsident. Er war ein Verehrer der Brandbekämpfung und zwar so sehr, daß diese Anbetung schon an Pyromanie grenzte. Im Jahre 185 8 machte er den Bauassessor James Hobrecht, einen ausgesprochenen Kanalisationsfanatiker, zu seinem Beauftragten, und ihrem gemeinsamen Wirken verdankt Berlin seine ausgezeichnete Kanalisation mitsamt den Rieselfeldern und die vorbildliche Feuerwehr. Zugunsten der Feuerwehr wurden von James Hobrecht die sogenannten Brandmauern erfunden, ein besonderes Stück Trostlosigkeit, gemildert nur durch riesige Flächenreklame. Die bekannteste davon war lange Zeit die von Otto Webers Trauermagazin am Gendarmenmarkt. Sie zeigte das riesengroße Bild einer Dame in Schwarz mit Schleier, und darunter stand: „Jede Dame, die unser Institut farbig bekleidet betritt, kann es nach zehn Minuten in tiefer Trauer wieder verlassen. Otto Webers Trauermagazin.“ Eine andere bekannte Brandmauerreklame war: „Bade zu Hause! Die Ostsee im eigenen Heim. Das Schaukelwellenbad!"

Eine besondere Eigentümlichkeit der Berliner Polizeiarchitektur waren die großen Toreinfahrten, fünf Meter breit und etwa dreieinhalb Meter hoch, die dem Feuerwehrtick dienten. Sie sollten es der Feuerwehr erlauben, auf alle Berliner Hinterhöfe zu fahren und dort umzudrehen. Wenn diese Feuerleidenschaft nicht gewesen wäre, hätte man die Hinterhöfe noch klei-ner gemacht. Fünfeinhalb Meter im Quadrat mußte der Hof groß sein, aber die Häuser durften sich über zwanzig Meter hoch erheben. Nur die Kirchhöfe der Innenstadt, die nicht bebaut werden durften, haben die Berliner vor dem Erstickungstod bewahrt.

So blieb der Preußenstil 1850 in der Etappe seiner ersten Vollendung stecken, ohne daß man ihn den großen Abwandlungen unterworfen hätte, deren er fähig gewesen wäre. Er war einer Weltstadt würdig und wäre ihr auch durchaus gewachsen gewesen; doch man behandelte ihn nach Schinkels Tod wie ein Museumsstück. Schinkels Schüler, Strack und Stüler und wie sie sonst noch alle hießen, beschränkten sich in lukrativer Bescheidenheit damit, für die oberen Zehntausend zu bauen. Für das Volk der werdenden Weltstadt bauten nur noch die Maurer-meister. Sie vollzogen den Befehl des Berliner Polizeipräsidiums, die größte Mietskasernen-Stadt der Welt zu errichten. In einer einzigen Mietskaserne mit sechs Hinterhöfen, in der Ackerstraße, waren eintausend Menschen untergebracht. In den normalen Mietskasernen wohnten 325 Berliner.

Walther Kiaulehn

Vom Seelenreiz der Großstadt

KöHiglidte Akadetnie der Künste und der Wissensdiaften (Kupferstidi von ]. D. SMeueu)

Ihren größten Aufschwung erlebte die Massenseele im Warenhaus, und ihr schönster Tempel hieß „Wertheim am Leipziger Platz", ein Traumschloß der Verführung. Es war vollkommen, und seine Schönheit ist niemals von einem anderen Warenhaus übertroffen worden. An Gemütskraft wetteiferte später das „KDW" (Kaufhaus des Westens) am Wittenbergplatz mit Wertheim. Vielleicht war es in seinem Charakter rassiger, doch ließ es sich leicht mit den Warenhäusern anderer Weltstädte vergleichen, etwa mit dem „Bon Marche“ in Paris. Wertheim am Leipziger Platz jedoch war unvergleichlich. Der Zauber ewiger Jugend schien in diesem gewaltigen Haus zu wohnen ... Es war so be-sonnen erdacht, als wollte es noch vielen Zeitaltern voraus sein. Hunderttausend Glühbirnen erleuchteten den Palast, dessen Grundfläche doppelt so groß wie die des Reichstags war und dessen Frontlänge in der Leipziger Straße und am Platz dreihundertdreißig Meter maß. Fünf Kilometer Rohrpost, tausend Telefonanschlüsse, dreiundachtzig Fahrstühle, drei Rolltreppen, dreißig andere Treppen, der Gigant wiegte sich in seinen Dimensionen. Technik gab es auch anderswo, hier aber verband sie sich mit Schönheit und diente scheinbar nur ihr. Wie schwingen sich, glitzernd noch immer in der Erinnerung, diese Riesengirlanden von Glühbirnen durch die große Halle. Wie sprühen und funkeln die Kronleuchter aus Kristall und böhmischen Gläsern. Diese Lichthöfe, fünfundzwanzig Meter hoch, die Wände aus Halbedelstein, wie die im unvergeßlichen Onyxsaal. Der Brunnenhof ist aus istrischem Kalkstein mit Mosaiken und vergoldeten Terrakotten; wo gab es noch einmal diesen Teppichsaal aus italienischem Nußbaumholz, mit seinen Laternen aus bunten Steinen, wo diese ostasiatische Abteilung, in der man auf riesigen Ballen aus Rohseide saß und den goldenen Göttern auf die lächelnden Lippen blicken konnte.

Jeder war hier willkommen, der eintreten wollte, die Wertheims brauchten die sechs Pfennige, die das alte Mütterchen nach stundenlangem Suchen für den einen Knopf zahlte, ebenso dringend, wie die fünfzehn Pfennig, die der Knabe für Räucherkerzen in die ostasiatische Abteilung trug, oder die Tausende von Mark, die ein Buchara kostete.

Alle Warenhäuser der westlichen Welt stammen aus den fünfziger bis siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Es sind französische und amerikanische Erfindungen, geboren aus der Überlegung vom Glück der großen Zahl. Wer Verkaufsartikel in großer Zahl bestellt, kann sich in die Kalkulation des Erzeugers einmischen, er kann durch Vorfinanzierung und andere Hilfen den Erzeuger zu Höchstleistungen in Qualität und Preis bringen. Er braucht also keinen Schund zu erzeugen und kann doch billiger sein als jede Konkurrenz. Die Arbeitskraft vieler Angestellter läßt sich von den Warenhäusern besser ausnutzen als von den Spezialgeschäften, weil sie gleichmäßiger reguliert werden kann; beim Weihnachtsgeschäft hilft das Personal der Putzabteilung mit beim Spielwarenverkauf, und im Frühjahr, wenn keine Spielwaren verlangt werden, aber die Putzabteilung blüht, ist es umgekehrt.

Karstadt, Jandorf, Tietz und Wertheim, sie alle hatten gleichmäßig gut das amerikanische Gesetz der Kalkulation begriffen, wonach der Gewinn mit der Größe des Umsatzes steigen muß. Was Wertheim jedoch dazu brachte, am Leipziger Platz in Berlin das schönste und kostbarste Warenhaus der Welt zu bauen, war die Erfahrung seines Begründers, daß ein luxuriöses und edel gehaltenes Haus einen höheren Werbe-wert, eine stärkere Anziehungskraft besitzt, also umsatzsteigernd wirkt. Wer hunderttausend Glühbirnen brennt, bezahlt für die Kilowattstunde nur noch ein Drittel des normalen Strompreises, und wenn der Jahresumsatz erst einmal ... zig Millionen Mark beträgt, fallen die Spesen immer weniger ins Gewicht. Hermann Ullstein hat einmal hinter die Kulissen des Prachtbaues geblickt. Er bemerkte sehr schnell, daß die Wertheims gar nicht Mäzene sein, sondern daß sie Waren verkaufen wollten: „Hinter irgendeinem Warenstand im vierten Stock war eine Glastür mit der Aufschrift „Büro“, nicht etwa „Direktion“ oder sonst etwas Hochtönendes. Hinter der Tür einige Büromädchen und in einem abgeteilten Verschlag, der nicht einmal bis zurDecke geht, und so allen Lärm und jedes Stimmengewirr durchläßt, das leitende Mitglied der Geschäftsleitung. Nervös ist man also gar nicht bei Wertheim, und so luxuriös die Aufmachung der Kunden-räume ist, so puritanisch einfach sind die Räume hinter den Kulissen. Nur: der Kunde, der Kunde und noch einmal der Kunde! Er hat immer recht, er soll sich wohlfühlen im Haus, sich verwöhnt und geehrt vorkommen, soll alles vorfinden, was sein Herz begehrt und womöglich noch mehr, und soll das alles in diesem Haus kaufen, das mit allen Mitteln der Verführung um seine Liebe wirbt — und um den Betrag seines Vermögens, den er zum Umsatz in Ware bestimmt hat, und den er möglichst restlos hierlassen soll.“

Wertheim hatte die deutsche Mentalität am besten begriffen. Wie empfindlich scheute die Seele damals vor dem Odium des „Billigen Einkaufs" zurück. Darum baute Wertheim der Seele ein kostbares Schloß; aus diesem erlesenen Haus konnte ja nichts „Billiges“ kommen. Selbst der Kaiser mit seiner Cadinener Kachel-manufaktur war ein Lieferant von Wertheim. Auch er hatte an der Verschönerung des Hauses mitgeholfen. Seine rosafarbenen Kacheln schmückten die Wände und den Brunnen des Sommergartens, und so war auch der Kaiser zur Einweihung von Wertheims Warenhaus gekommen; na, und wenn S. M. zu Wertheim ging, dann brauchte sich wohl Frau Kanzleirat Krause auch nicht zu genieren.

Die Sicherheit, mit der sich die Wertheims für ihren Bau den besten Mann holten, Alfred Messel, der an die reinste Schinkeltradition anknüpfte, beweist die überlegene Klarheit ihres Handelns. Messel wurde mit dem Wertheimbau der Klassiker des deutschen Warenhauses. Leider konnte er sich nicht lange seines Ruhmes freuen. Er starb schon 1909, mit sechsundfünfzig Jahren.

Die Gebrüder Tietz bauten am anderen Ende der Leipziger Straße, am Dönhoffplatz, auch einen Palast, der ein ganzes Straßenviereck umschloß, und setzten eine riesige Weltkugel aus Glas als Lichtkuppel darauf. Es war mehr originell, ein Zirkuseffekt.

Bei Tietz jedoch pflegte man eine besondere Spezialität, die Lebensmittelabteilung. Sie wat so enorm wie die gläserne Weltkugel, doch die Glaskugel leuchtete nachts, die Lebensmittelabteilung indes war eine tolle Morgensensation.

Niemals vorher hatte man solche Alleen von rosigen Schweinehälften gesehen, solche langen Reihen von grünschimmernden Fischbassins, die Halden von Kohlköpfen, die langen, schräg-gestelltenMauern aus leichten Lattenkisten mit grünen Salatköpfen. Eine Kompanie von strahlend sauberen Metzgerburschen in weißen Schürzen, den Wetzstahl an der Seite, eine Hundertschaft von Blondinen, die Obst, Gemüse und Fische verkauften, ein Augenschmaus und billig dazu.

Tietz hatte schließlich zehn Warenhäuser in Berlin. Sie schlachteten für sich in jeder Woche 1 500 Schweine, 120 Kälber und 100 Rinder. Jeden Freitagmorgen erschienen in den Berliner Tageszeitungen die Lebensmittelinserate von Tietz. Sie waren der Kurszettel der Hausfrau und wirkten preisregulierend für den ganzen Berliner Lebensmittelhandel. Was Tietz für eine Macht war, sah man, als er in den Jahren 1908/09 die großen Tomatenschlachten schlug. Die Tomate war damals für Berlin eine völlig unbekannte Frucht. Ihr seltsam strahlendes Rot, das nasse Fruchtfleisch, der unerwartet andere Geschmack ließen das Publikum zunächst erschrecken. Doch bot Tietz ein Kilo Tomaten für zehn Pfennig an; man kaufte sie schon darum, ein neues Volksnahrungsmittel war da und wurde durchgesetzt.

Der letzte Warenhauskonzern, der in Berlin Fuß faßte, war Karstadt, der in den zwanziger Jahren das erste Haus in Neukölln gründete. Sein Bau mit den beiden blauen Lichttürmen, die sich als Fliegersignal für das nahe Tempelhof aus dem riesigen Dachgarten erhoben, gaben dem Stadtbild einen neuen Sinnenreiz. Um zu zeigen, wie bequem seine Treppenanlagen waren, ließ Karstadt die Schulreiterin Cilly Feindt mit ihrem Schimmel vom Parterre bis zum Dachgarten hochreiten.

Die Pracht der Warenhäuser, die großzügige Art ihrer langen Schaufensterfluchten mit ihrer Lichtverschwendung, riefen eine neue Kunst der Straße hervor, die Kunst des Schaufensters, die zunächst mit den Raffinessen der Theaterinszenierungen wetteiferten, bis sie ihre eigenen Gesetze fand.

Walther Kiaulehn

Die Stadt der Wissenschaften

SMoß und SMoßbrüd^e, erbaut 1698 nadt einem Entwurf von Sdtlüter

Auf der Reise, die von Amsterdam nach Moskau führte, hatte Zar Peter 1697 auch in Berlin Station gemacht. Er war Gast des brandenburgischen Kurfürsten, bewunderte die prächtige Residenz Friedrichs, fuhr auch nach Lietzenburg, wo nach Johann Nerings Plänen das bescheidene Sommerschlößchen für die Kurfürstin entstanden war.

Für den fünfundzwanzig! ährigen Herrscher Rußlands bedeutete Berlin die erste Begegnung mit der westlichen Welt, die zu studieren der Zweck seiner Reise war. Ihn erstaunte alles: die nach Vaubans Beispielen angelegten Wälle und Forts und Bastionen, die im Apothekerbau des Schlosses aufgestellte Bücherei, die Feldschlangen und Kartaunen in den Arsenalen . . .

Nach schöner höfischer Sitte, auch wohl in der Absicht, sich für die ersehnte Königskrönung der Gunst Rußlands zu versichern, überhäufte Friedrich den Zaren mit Gastgeschenken. Kostbare Vasen, Teller aus Silber, auch Gemälde wurden eingepackt, auch viele Bücher. Europas Fleiß wanderte nach Moskau.

Ob der Gast zufrieden wäre, erkundigte sich Friedrich, und was dem Zaren vielleicht noch besser gefallen haben würde.

„Was könnte denn einem Menschen noch besser gefallen als eine Frau?“ antwortete Peter mit einer Gegenfrage. Das war nicht so naiv, wie manche von Peters Biographen meinten. In Peters Worten offenbart sich mehr als ein Kompliment für die damals einunddreißigjährige Kurfürstin. Die Worte bezeugen die auch sonst im Leben des Zaren erwiesene Fähigkeit, schnell und geradezu divinatorisch die geistigen Kräfte aufzuspüren, denen Europa seinen glanzvollen Aufstieg verdankte.

Sophie Charlotte hatte schon als hannöversche Prinzessin den Männern der Forschung nahegestanden. Sie war es, die auch ihre neue Heimat den Forschern öffnete. Mit Sophie Charlotte — und das mag der Zar gespürt haben — begann jedenfalls die Geschichte Berlins als einer Stadt der Wissenschaften, wie mit ihrem Manne die Geschichte Berlins als Hauptstadt Preußens beginnt.

Daß der bedeutsamste und regste Geist Europas, daß Gottfried Wilhelm Leibniz nach Berlin kam, war das Verdienst Sophie Charlottes. In ihrem Lietzenburger Schlößchen fanden die Gespräche statt, die 1700 zur Gründung einer „Sozietät der Wissenschaften" führten.

Ein Jahr später wurde Preußen Königreich, Großmacht des Kontinents.

Es lag am Staat, am König, daß Berlins Akademie erst nach elfjährigem Warten ihre Tätigkeit aufnehmen konnte. Sophie Charlotte erlebte es nicht mehr. Aber Präsident der Akademie, der ersten und einzigen in Europa außer Paris, war doch Leibniz.

So unmittelbar zweihunderfünfzig Jahre später die Preußische Akademie der Wissenschaften mit den Namen ihrer Mitglieder — zu ihnen gehören ja auch Max Planck, Adolf von Harnack, Albert Einstein, Otto Hahn — zu uns spricht, so schwierig und eigentlich unmöglich ist, von ihren ersten Mitgliedern Kennzeichnendes zu sagen. Sie waren Historiker, Philosophen, Chemiker, Ärzte, Astronomen. Ein Genie wie Leibniz war keiner von ihnen. Sie befaßten sich in langen lateinischen Gutachten mit der Erfindung von Dreschmaschinen; sie berieten umständlich über die Herausgabe von Kalendern und Adreßbüchern; sie erörterten die Heilkraft von Räucherkerzen oder Schwefel-dämpfen; sie stritten um die Frage, warum und wie es verschiedene Sprachen gebe, die doch mit Babylons Zungen nichts zu schaffen hätten . . . Über Inhalte und Ziele solcher Gelehrsamkeit zu lächeln, wäre Unrecht. Jedes Jahrhundert, jedes Jahrzehnt hat seine eigene Problematik in den Wissenschaften, geht ihr mit eigenen Mitteln zu Leibe. Nur von den Kalendern und den Adreßbüchern soll gesagt sein, daß die Akademiker deren Verfertigung dringend nötig hatten — sie erhielten mit dem Erlös ihre Akademie, weil der König Friedrich und erst recht sein Nachfolger Friedrich Wilhelm I. kein Geld gaben, jedenfalls zu wenig Geld gaben.

Der gewaltige Plan Leibnizens von einer Akademie, die wie ein Magnet die geistigen Felder im Abendlande zusammenhalten und Berlin zum Mittelpunkte der Gelehrsamkeit machen sollte, wurde erst wieder vom dritten König gefördert. Unter Friedrich dem Großen, vierzig Jahre nach ihrer Gründung, begann der große Aufstieg der Akademie.

Es sind Namen von Weltgeltung, die nun auf den Titelblättern der Akademieschriften stehen. Da ist Johann Lieberkühn, der Anatom, nach dem die Glandulae Lieberkuehnianae, die Lieberkünschen Drüsen, benannt sind. Maupertius und d'Argens gehören der Akademie an, dem ersten verdanken wir die Kenntnis von der Abplattung der Erdpole, d'Argens hatte seine Verdienste als philosophierender Schriftsteller. Sie waren Franzosen, wie Voltaire Franzose war, der sich jetzt in Berlin niederließ, hier sein berühmtes Buch, „Siede de Louis XIV.“ schrieb und auch in Drude gab. Da ist La Mettrie, den Frankreich verbannt hatte, der mit seinem Buche „Lhomme machine" rücksichtslos den Materialismus des nächsten Jahrhunderts vorwegnahm . . .

Immer noch ist die Akademie die einzige bedeutsame wissenschaftliche Anstalt Berlins, wird das trotz militärärztlicher Fachschule, der Papi-niere, und der 1799 gegründeten „Bauakademie“, Vorläuferin der Technischen Hochschule, auch bleiben bis zur Errichtung der Universität. Der Chemiker Andreas Marggraf, der den Zukkergehalt der Runkelrübe entdeckt, der Physiker Franz Achard, der die ersten Fabrikationsmethoden entwickelt hat, gehörten der Akademie an, waren beide übrigens gebürtige Berliner. Die Gewinnung von Zucker aus Rüben revolutionierte nicht nur den Kolonialwarenhandel; Jahrhunderte alte Wirtschaftsgefüge kamen ins Wanken, und ganz sind die politischen Folgen, welche diese Entdeckung zeitigte, in einigen westindischen Ländern auch heute nicht überwunden. Nur die zweite Entdeckung, die mit der Akademie zu verbinden ist, scheint noch gewaltigere Wirkung für unsere Zeit zu haben. Mitglied der Akademie war auch der Apotheker Martin Klaproth. Er hat die Elemente Zirkon, Cer, Titan, Tellur entdeckt — er hat um das Jahr 1786 in Berlin auch das Element Uranium entdeckt. Das Uran, das rund hundertundfünfzig Jahre später — und wieder ein Mitglied der Berliner Akademie — Otto Hahn zu spalten vermochte. Immer weitläufiger werden die Bereiche, immer vielfältiger die Leistungen, so daß ein einzelner Name über das Ganze nichts mehr aus-zusagen vermag. Als 1810 die Friedrich-Wilhelms-Universität gegründet wird, gehörten ihr sehr bald Hegel, Schleiermacher, Hufeland, Fichte, Böckh, von Graefe als Lehrer an. Viele hundert Gelehrte, nahezu jeder von ihnen ein Koryphäe seines Faches, werden ihnen folgen.

August Böckh verdankt man die sorgsame Wiedererweckung der griechischen Antike. Welche Wichtigkeit, im Güten und Bösen, der Hegeischen Philosophie zukommt, verzeichnet die Weltgeschichte. Da ist Mommsen, da ist Franz Bopp, Begründer der vergleichenden Sprachwissenschaft. Die Brüder Grimm sollten nicht vergessen werden, auch nicht Schelling, nicht Ernst Curtius, der Olympia aus dem Schutt grub, Hellas für uns entdeckte.

Große und bis in unsere Gegenwart wirkende Impulse gingen von den Geisteswissenschaften aus, verbinden sich mit Namen wie Josef Kohler, Reinhold Seeberg, ja auch Wilhelm Dilthey, Heinrich Wölfflin, Kurt Breysig, Wilamowitz-Moellendorf, Konrad Burdach, Eduard Spranger, Hermann Grimm, Diels, Georg Simmel haben viele Jahre in dem stattlichen Palais Unter den Linden gelehrt.

Es sind also Namen, die vielen Menschen bedeutsam sind, es handelt sich um Männer, deren Wirken sich nicht aus der Geistesgeschichte fort-denken läßt.

Vordergründiger als die Arbeit am Schreibtisch ist das Schaffen in Labor und Klinik. Wenn zu den ersten Lehrern der Universität der Chir-urg Karl von Graefe gezählt hat, der Verletzungen nicht nur heilte, der auch die entstandenen Schönheitsmängel auszugleichen versuchte, darf er kommentarlos als Vater der „kosmetischen Chirurgie“ akzeptiert werden. Sein Sohn Albrecht hat noch heute gültige Operationstechniken für die Heilung des grauen, auch des grünen Stars entwickelt. Daß Albrecht von Graefe erstmals einen „Augenspiegel“ benützte, war übrigens kein Zufall. Der Augenspiegel, dieses unersetzliche Instrument des Arztes, ist 18 50 von Helmholtz in Berlin erfunden worden.

In Berlin hat Robert Koch die Entdeckungen gemacht, die bald Cholera und Malaria und Schlafkrankheit, ein wenig später auch die Tuberkulose besiegen halfen. Seinem Schüler Fritz Schaudinn gelang 1905 die Auffindung der Spirochäten, und erst als man den Erreger der Syphilis kannte, durfte die Heilung dieser Krankheit erwartet werden. Dem Arzt Carl Ludwig Schleich sind die Leidenden der ganzen Erde für die „Lokal-Anästhesie“ immer noch dankbar. Weder Virchow noch Bergmann, weder August Bier noch Ferdinand Sauerbruch dürfen wir vergessen, weder Ernst v. Leyden noch Du Bois-Reymond oder Abderhalden . . .

Nicht weniger groß und nachhaltig war die Leistung in den Laboratorien der Naturwissenschaftler. Aber wer denkt schon daran, daß die ersten drahtlosen Nachrichten 1897 von Adolf Slaby in Berlin telegraphiert wurden? Und die neue Botanik, die Linnes System ablöste, hat Adolf Engler, der Gründer des Botanischen Gartens, geschaffen. Und der „Geigerzähler" heißt nach Professor Hans Geiger, der dieses international bekannte Meßgerät an der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt entwickelt hat.

Von fast 300 Nobelpreisen sind mehr als fünfzig nach Deutschland gekommen:

Die Physiker Max von Laue, Max Planck, Albert Einstein, G. L. Hertz, Heidenberger, Schrödinger . . . Die Chemiker H. E. Fischer, Eduard Buchner, Fritz Haber, Walther Nernst, Bebye, Butenandt, Otto Hahn ... Die Mediziner Robert Koch, Otto Meyerhof, O. H. Warburg ... sind durch die Arbeit, ihr Leben mit Berlin verbunden. Es gibt keine zweite Stadt, nicht einmal in den großen Staaten Amerikas, die der Wissenschaft so zahlreiche Ehrung verdankt. Und nur als Ergänzung noch:

Den Literaturpreis der Nobelstiftung erhielten Theodor Mommsen, der damals in Grunewald lebende Gerhard Hauptmann. Und drei Berlinern, Gustav Stresemann und Ludwig Quidde und Carl von Ossietzky, ist der Friedenspreis gegeben worden.

Selbst die unvollständige Katalogisierung des berlinischen Beitrages zur Kultur könnte den Berliner genieren. Es ist unverfänglicher, wieder auf das Organisatorische hinzuweisen. Etwa, daß 1932 die Stadt außer der Universität mit achtzig selbständigen Institutionen eine Technische Hochschule mit fünf Fakultäten und wiederum achtzig wichtigen Instituten und Sammlungen beherbergte. Es gab die Hochschule für Politik, zu deren Lehrern auch Theodor Heuss gehört hat; es gab eine Tierärztliche, eine Landwirtschaftliche Hochschule, eine Handelshochschule. Mehr als drei Dutzend Institute zählte die 1911 durch Adolf von Harnack geschaffene „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften", und wenn sie nicht sämtlich in Berlin, in Dahlem, domiziliert waren, ist Berlin doch der Sitz der Gesamtverwaltung gewesen. Es gab die Fülle von sonstigen Forschungsstätten, die vom Reich, von Preußen, von der Wirtschaft für besondere Aufgaben errichtet worden waren. Berlins Bibliotheken bargen mehr als 10 000 000 Druckschriften, die Kataloge verzeichneten noch 3 5 000 Periodica außerdem.

Studierende und Lehrer bildeten mit ihren

Angehörigen eine Großstadt von mehr als hunderttausend Einwohnern in der Viermillionenstadt Berlin. Es gab für diese Stadt der Wissenschaften einen eigenen Führer, eine Art von „Baedeker“ durch die Gelehrsamkeit, dessen 160 eng bedruckte Seiten 1 300 große und kleine Institute, Sammlungen, Bibliotheken nannte. Von einer „Versuchsanstalt für Aufbereitung und Brikettierung" oder dem „Institut für Reformationsgeschichte“ bis zum „Seminar für Orientalische Sprachen“, an dem man genau so gut Amharisch oder Tibetisch, Ewe oder Hindustani lernen konnte, war vorhanden, was speziellste Wünsche befriedigen konnte.

Jan Maren

Die gefährlichen „Weber“

Warenhaus Tietz in der Leipziger Straße

Otto Brahm plante die öffentliche Aufführung der „Weber“. Polizeipräsident Richthofen widersprach, formulierte jetzt aber genauer, was ihm an der „janzen Richtung“ und besonders eben an den „Webern" nicht paßte: „Die kraftvollen Schilderungen, die zweifellos durch die schauspielerische Leistung noch erheblich an Leben und Eindruck gewinnen würden, werden . . . einen Anziehungspunkt für den zu Demonstrationen geneigten sozialdemokratischen Teil der Bevölkerung Berlins bieten, für deren Lehren und Klagen über die Unterdrükkung und Ausbeutung des Arbeiters das Stück durch seine einseitige tendenziöse Charakteristik hervorragende Propaganda macht.“ Das war alles in allem ein Kompliment für den Dichter, und daß Richthofen auch die Berliner Situation richtig eingeschätzt hatte, zeigte sich, als die „Weber“ nach langem Rechtsstreite endlich doch öffentlich aufgeführt werden durften. Man las im Kleinen Journal:

„. . . lag eine Spannung auf den Gesichtern der Zuschauer, daß man jeden Augenblick einen Ausbruch der Wut erwarten konnte . . . Als nun aber der Vortrag des Weberliedes die erste dramatische Bewegung brachte, da gab es kein Halten mehr . . . Die Wut auf der Bühne fand ein vollklingendes Echo im Zorne der aufgestachelten Zuschauer . . .“

Friedrich Dernburg, Reichstagsabgeordneter und Redakteur des Berliner Tageblattes, erinnerte an die Aufführung von Beaumarchais'„Hochzeit des Figaro" am Vorabend des Bastille-sturms. Der Leitartikler des Reichsboten wehklagte: „Das Schauspiel der Revolution ist gefunden! An dem Tage, da sie beginnt (wenn uns Gott nicht in Gnaden davor bewahrt!), wird man das Stück aufführen, und die Massen werden wissen, was sie zu tun haben.“ Der Kaiser kündigte die für ihn und den Hof allabendlich gemietet Loge. Da die „Weber“ in wenigen Monaten hundersiebenmal vor meist ausverkauftem Hause gegeben wurden, konnte Brahm den Verlust der kaiserlichen Miete ertragen.

Hans Erman

Pariser Platz 7, Max Liebermann

Tedinische Hodisdtule

Ich gehe unruhigen Tagen entgegen: Sitzungstage, Maltage. Ich freue mich aber darauf, einmal, weil es nun doch endlich 'mal ein richtiger Maler ist, dem ich in die Hände falle, dann, weil Liebermann ein ebenso liebenswürdiger wie kluger Mann ist . . .

Theodor Fontane, 19. März 1896

Er wurde am 20. Juli 1847 zu Berlin geboren. Seine Eltern bewohnten zuerst ein Haus in der Burgstraße, dann eines in der Behrenstraße und zuletzt das obere Stockwerk eines hart am Brandenburger Tor gelegenen Hauses. Diese Wohnung übernahm der Sohn Max nach dem Tode der Eltern; er ist bis zu seinem Tode darin geblieben und hat daraus das schönste Bürger-heim Berlins gemacht. Der Vater, ein wohlhabender Fabrikant, sträubte sich zunächst gegen die Absicht des Sohnes, Maler zu werden; er verlangte die Absolvierung des Gymnasiums.

Als dem Willen des Sohnes schließlich nicht länger zu widerstehen war, wurden „erfolgreiche“ Berliner Maler um ihr Urteil gebeten. Dem Vater wird wohl nie der Gedanke gekommen sein, die Begabung des Sohnes könne ein natürliches Produkt aufstrebender Familienkraft sein, eines Willens zur Vornehmheit, der sich vergeistigen wollte, daß ein zweckvoller Ehrgeiz des Erfolgs im Begriff wäre, sich in den zweck-freien Ehrgeiz geistiger Leistung zu verwandeln. Liebermann selbst hat 1910 in einer auto-biographischen Notiz geschrieben: „Ich bin in meinen Lebensgewohnheiten der vollkommenste Bourgeois, ich esse, trinke, schlafe, gehe spazieren und arbeite mit der Regelmäßigkeit einer Turmuhr. Ich wohne in dem Hause meiner Eltern, wo ich meine Kindheit verlebt habe, und es würde mir schwer werden, wenn ich woanders wohnen sollte. Auch ziehe ich Berlin jeder anderen Stadt als bleibenden Wohnsitz vor.“ Die jüdische Abstammung hat Liebermann kaum benachteiligt, wenn man von den letzten Lebensjahren absieht. Sie förderte ihn dagegen durch intellektuelle Sicherheit, kritische Unbefangenheit und klare Erkenntnis des in einem höheren Sinne Zeitgemäßen. Der Maler selb hat, aus Widerstandsgefühl, seine Abstammung zuweilen überbetont. In Wahrheit hat sich das deutsche Judentum, vor allem in seinen patrizierhaften Elementen, mit der deutschen Eigenart in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend gleichgesetzt. Als der deutschen Kunst eine Befruchtung durch die französische nötig war, konnte Liebermann besser als andere ein lebendiger Vermittler sein, weil er das Übernationale begriff, es freier ins Deutsche übersetzte und dadurch das der deutschen Kunst anhaftende Provinzielle überwand.

Mit dem guten Europäertum hing die Berliner Bodenständigkeit eng zusammen. Hierin war er den französischen Impressionisten verwandt, die Weltgeltung erlangten, nicht obwohl, sondern weil sie fest im Heimatlichen wurzelten. Von Deutschland aus gesehen, steht Liebermann am Ende der Reihe, die von Daniel Chodowiecki über Gottfried Schadow, Karl Blechen, Franz Krüger und Karl Steffeck zu Adolf Menzel führt. Der künstlerisch und jungfräuliche Kolonistenboden Berlins war ihm günstig, auch ihn erzogen Frugalität, Phrasenlosigkeit und Beharrlichkeit. Der ein sehr gewähltes Deutsch sprechende, mit Lessingscher Bestimmtheit formulierende Liebermann macht seinem Berlinertum sogar die Konzession, in Erinnerung an Gottfried Schadow und Franz Krüger, ein wenig, doch auch nur ein wenig, mit dem Berliner Dialekt zu kokettieren. Niemals vulgär oder gar rüde, sondern um zu akzentuieren.

Karl Scheffler

Pinselheinrich

Heinrich Zille 1858— 1929

Von Gläubigern gehetzt, flüchtete ein Habenichts von Schlosser mit seiner Familie im November 1867 aus Radeburg an der Röder, einem Nebenflüßchen der Schwarzen Elster, in die Hauptstadt des Reiches. Hier fühlte sich der fremde Sachse fürs erste geborgen; unter Millionen war er hier einer, der untertauchte, um irgendwie noch einmal ganz von vorn anzufangen. Das muntere Erbe seines Volksstammes: das Gesprächige, Heitere, Pfiffige, die Fähigkeit, einer Sache den Witz abzulauschen und sich in der neuen Umwelt rasch zu assimilieren, hat schon manchem wieder auf die Beine geholfen.

Allein bei dem sonst so tüchtigen, erfinderischen Handwerker namens Zille verfing es nicht. Das Unglück verfolgte ihn auch hier. Nie mehr wurde er der Bleigewichte der sein Leben auszehrenden Schulden ledig. Mühselig sich von einem zugestopften Loch zum andern wurstelnd und Tag und Nacht von Ultimosorgen bedrängt, würde er dem großen Heer der Namenlosen zugehören, wenn nicht sein Sohn Heinrich mit eben dieser zermürbenden Armut — in der er selbst aufwuchs — später als galgenhumoriger Ankläger ins Gericht gegangen wäre.

In Heinrich erst, einem Genie der Beobachtung, wurde das sächsische Erbteil schöpferisch. Er war und ist nicht der einzige, den die Vitalität des Berlinischen aufsog. Die Geschichte dieser einzigartigen Stadt ist reich an bedeutenden Zugewanderten, die der kräftige Wind zwischen Spandau und Schlesischem Bahnhof verwandelte und bald zu Ureinwohnern bildete. Aus dem ebenso engen wie trüben Gehege der Familie kam schon das Kind mit dem Glanz jenes Berlin in Berührung, das den meisten Besuchern als das wahre erschien. Zwischen den Slums im Osten und Norden und dem strahlenden Vergnügungsrummel der Metropole machte der junge Heinrich die ersten bitteren Erfahrungen. Er erlebte die „kleine" und die „große“ Welt, hier die Front der Hinterhofanwohner und dort das Parade-Antlitz der gleichen weiten Stadtlandschaft. Nur ein paar Kilometer waren die Sphären voneinander entfernt. Hausierend, als barfüßiger Cicerone, zum Geldmitverdienen genötigt, erfuhr er zuweilen Ungeheuerliches in einem Alter, das gemeinhin noch nicht die moralische Festigkeit besitzt, sich gegenüber den sozialen Entartungserscheinungen zu behaupten. Wir wissen es aus Heinrich Zilles Erinnerungen, die trotz des zeitlichen Abstandes bei allem Humor nicht frei sind von bitterer Ironie und galligem Nachgeschmack.

Haben an seiner Wiege also die Musen nicht gestanden, so schenkte ihm die Natur doch zweierlei für seine spätere Künstlerschaft: das untrügliche Auge und ein hellhöriges Ohr, das die Laute begierig aufnahm. Genauer als der Eingeborene sieht und erlauscht oft der Zugereiste — und nun ein Kind gar, ein keineswegs zimperlicher oder nur im geringsten verwöhnter Junge, dazu noch aus sächsischem, anpassungsfreudigem Geblüt! Er wurde nicht satt, sich mit Eindrücken vollzusaugen. Sein Zeichentalent fiel auf in der Schule, und seine ersten wirklichen Lehrer auf diesem Gebiet rieten ihm, Hand und Auge draußen vor dem wimmelnden Panorama des Lebens zu üben. Die Großmutter, die Eltern und die Geschwister wurden seine frühesten Modelle.

Noch wagte der junge Mann nicht, außerhalb der Familie den Menschen, das ihn fesselnde Antlitz zu entdecken. Mit einem hingebenden Fleiß, wie ihn auch der alte Menzel besaß, zeichnete er Gegenstände des täglichen Lebens und schärfte das behende Auge. Eine Suppenschüssel, Blumen in der Vase, Segelboote auf dem Rummelburger See, um die Glucke gescharte Küken, ausgetretene Stiefel, Wäsche auf der Leine, eine Dorfscheune beim Forsthaus Wuhlheide, der Zipfel eines Kiefernwaldes, Fischkästen auf der Spree, Giebel-und Ofen-studien, der Soldatenrock über der Stuhllehne oder der Hut auf dem Kleiderhaken: solcher und ähnlicher Motive voll war sein allererstes Skizzen-Repertoire. Was er auch eräugte, ist außerordentlich gründlich gezeichnet und getuscht, und wo Figuren da und dort auftauchen, besonnt seinen Strich auch schon der Humor.

Erst mit der Entdeckung der Bewegung überwand er die allzu beengende Barriere gewissenhafter Sachlichkeit. Von nun an begannen sich die Erfahrungen des Knaben, des Lehrlings, des Lithographen-Gesellen in Porträtstudien von einer bestimmten sozialen Note umzusetzen. In Heinrich Zille entfaltete sich von Jahr zu Jahr überraschender die Sonderbegabung für jenes Menschentum, das in stinkenden Mietskasernen, qualmigen Kaschemmen, abbruchreifen Hinterhäusern und auf lichtarmen Höfen ein unter-weltliches Eigenleben führte. „Als ich achtzehn Jahre alt war“, heißt es in einem seiner letzten Briefe, „wollte ich Landschaft (Wasser, Bäume, Himmel) malen. Aber die Stadt wuchs, die Landschaft rückte weg — immer blieben die armen Figuren ...“ Die armen Figuren! Gehörte er nicht noch selbst zu ihnen, zu dieser zähen kinderreichen Rasse in Muff und Enge, wo man sich Moral nicht leisten konnte? Es ist freilich nicht die ganze Wahrheit, Heinrich Zille, der immer mit den „kleinen Leuten“ gelebt hatte, nun einem „Milljöh“ zuzurechnen, das er jahrzehntelang bieneneifrig in seine Bilderalben eingesammelt hatte. Durch Widerstände, Reibungen und Sorgen sonder Zahl war er kraft eines eingeborenen Triebes zum Schauen und Zeichnen und dank seiner hohen Intelligenz über den „fünften Stand“ hinausgewachsen. Aber er besaß das seelische Talent zur Liebe, zum Verstehen und Mitfühlen. Es drängte ihn mit aller Macht in die dichtbesiedelten Proletarierviertel, wo man — auch dies verdient, nicht unterschlagen zu werden — in neunzig von hundert Fällen nicht anders zu leben wünschte. Die Schuld der Gesellschaft, des Staates, der solche abseitigen, gefährlichen und menschenunwürdigen Siedlungen erst ermöglichte, wird durch diese Feststellungen nicht oeringer.

Dorthin machte Heinrich Zille seine täglichen produktiven Spaziergänge. Scheinbar müßig schlendernd, war er doch wachsam immer auf Beute aus, stets bereit, den Skizzenblock zu zücken. Was der Chronist Zille aus der wimmelnden Rückseite der Weltstadt mit meist weich fließendem, leichtem, auch das Freche und Herausfordernde noch zärtlich umspielendem Strich in seine Zeichnungen hinüberholte, war vor allem das Menschliche. Unbestechlich war er in seiner Wahrheitsliebe. Was jeder versteht, sind die kleinen Heimlichkeiten und Schwächen, die er ans Licht zog: da sind sie alle gleich, die Kinder Gottes, der Graf wie der Paria. Unter Schmutz und Häßlichkeit, unter Zynismus und Lumpen zuckt doch die Seele des Menschen. Und immer ist es der Humor Zilles, der die Pforte zum Verständnis öffnet, das Bissige, manchmal auch anklagend Aggressive gütig mildert. Zuweilen ist seine Zeichnung von so übermächtig tiefem Behagen erfüllt, daß man fürchten muß, die kritische und anprangernde Tendenz des Bildes könnte darüber verlorengehen. Das hat der Meister selbst gefühlt, wenn er sich eingestand: „Es tut weh, wenn man den Ernst als Witz verkaufen muß!"

Heinrich Zille hat in dem Vierteljahrhundert freien künstlerischen Schaffens eine Fähigkeit zur soziologischen Anekdote berlinischer Färbung entwickelt, die den anderen literarischen Humoristen zwischen Spree und Panke nicht nachsteht. Diese anekdotischen Dialoge und Szenchen durchströmen förmlich vom Wort her das Motiv. Mit ein paar Sätzen ist die Situation eingefangen. Die textliche Interpunktion entspricht der graphischen. Man hat das Gefühl, daß Zille niemals lange nach der gültigen Formel zu suchen brauchte. Ein versöhnlicher und nachdenklicher Ton schwingt in ihnen mit. Er temperiert gewissermaßen die ursprünglich gewiß viel ernstere Absicht. Der handfesten Anklage und beißenden Kritik wird so von vornherein die Spitze genommen.

Nur ein völlig mit der Umgangssprache des Volkes Vertrauter kann ähnlich mundgerecht schreiben. Dem „Bildermann“ Berlins fehlt weder der kräftige Schuß Keßheit noch das zuweilen Rührselige, Anzügliche und Wurstige, wie es sich etwa in der berlinischen Floskel „Uns kann keener!" offenbart. Welch ein nicht umzubringender Optimismus ist hier Gestalt und Laut geworden! „Vom versoffenen Kommoden-tischlerim Keller des Vorderhauses bis zur Rohrstuhl flechtenden, blinden Frau in dunkler Kammer, vier Treppen hoch im Hinterhaus"

— überall war Zille wohlgelitten, Freund und Anwalt in jeglicher Lebenslage, geliebt und verehrt wie ein guter, schenkender Onkel. Manchem „Fräuleinskind“ ersetzte er den sorgenden Vater. In solchem täglichen Umgang mit Menschen ohne „Pli“, doch mit Herz, bildete sich bei Zille in beobachtender Gewissenhaftigkeit auch die sprachliche Meisterschaft heraus, die haargenau zu seinen Figuren und Kellerstiegen-Heimlichkeiten paßt. Diese letzte Vertraulichkeit mit den meisten seiner Modelle trug ihm dann auch den ehrenvollsten Spitznamen „Pinselheinrich“ ein. Für sie war er Inbegriff der Kunst schlechthin. Seine Zeichnungen wanderten gewöhnlich nicht in die Galerien; sie kamen aus dem Leben und wirkten ins Leben zurück. Während Zille jahrein, jahraus sein Berlin für uns entdeckte, veränderte es sich langsam und unaufhörlich. Die biedermeierschen Droschken löste das Auto ab, die buntgeschmückten Kremser der Land-und Himmelfahrtspartien mußten bald Straßenbahn und Bus weichen, und die Natur entfernte sich von Frühjahr zu Frühjahr weiter, indes die Schienenträger der Eisenbahn den Häuserfronten bedrohlich auf den Leib rückten und die Abgase aus dem Boden gestampfter Fabriken die Luft In den Stuben verpesteten. Er aber, Vater Zille, lebte mit konservativer Beharrlichkeit im stets gleichen kleinbürgerlichen Stil weiter in seiner Charlottenburger Wohnung im vierten Stock. Seine professorale Würde verdroß ihn eher, als daß sie ihn zu seiner Natur wesensfremden Änderungen der Lebensweise hätte verleiten können. Zwischen bescheidenen Blumenkästen und dem hurtigen Gekrächz der grünen Sittiche war sein privates Reich. Inselhaft und unnahbar schwebte der Balkon über dem Gewimmel. Nur in solchen Verhältnissen, die ganz dem Glück des kleinen Mannes entsprachen, vermochte er gedeihlich und oft besessen zu arbeiten. Er schuf-tete wie ein Handwerker um sein Wocheneinkommen, während doch schon die Gloriole künstlerischen Ruhms über seinem mächtig anwachsenden Werk glänzte.

Zilles Namen wird man nennen, solange Berlin lebt. Er war der Schöpfer eines typisch berlinischen Stils, der so elementar in keiner anderen Stadt gedeihen konnte. „Sein" Berlin begann da, wo es keine Grill-rooms mehr gab, sondern Bouillonkeller, und statt schnittiger Sechszylinder Drehorgelspieler und quietschende Kinderwagen zum Straßenbild gehörten; wo man sich mit „Mensch" ansprach, Kaffee durch Klappen gereicht wurde, Buletten und Eisbeinmit-Sauerkraut-Düfte die dicke, abgestandene Kneipenluft erfüllten. Es war die Urheimat der „Tulpen", „Mollen“ und „kühlen Blonden“, die Heinrich Zille aufzeichnete. Mit einem Satz: ein Berlin der unverblümten Realität von der finsteren Schnapsspelunke bis zur Wandteller-und Plüschsofa-Herrlichkeit verschämter bürgerlicher Not. Dieses Berlin atmete in den Schlünden der Haustore und in den billigen Gartenwirtschaften, wo man, ohne sich Zwang auferlegen zu müssen, „auch mal Mensch sein“ wollte. War der Grunewald oder der Tiergarten Berlins Lunge, so darf man hier von der entblößten Kehrseite sprechen.

Von den desillusionierenden Vierteln in Berlin N und O, die Fremde, soweit sie überhaupt von ihrer Existenz wußten, nur mit gerümpften Nasen betraten, zog Heinrich Zille die Striche wehmütig lächelnd und ulkend nach. Er vermenschlichte sie durch seinen Humor und empfahl die in ihnen hausenden Menschen unserem Herzen und unserer Mitverantwortung. Ist das „Milljöh“ in seiner Vergänglichkeit doch auch ein Gleichnis für den Schmutz und das Dunkel, die sich überall in der Welt, wo sie sich noch so strahlend zeigt, einnisten.

Werner SckuwanH

Die Republik wird ausgerufen

Litho von W. Krain Der Pinselheinridt bei der Arbeit

Am 9. November 1918 glich der Reichstag schon in den Morgenstunden einem großen Heerlager. Arbeiter und Soldaten gingen ein und aus. Viele trugen Waffen. Mit Ebert, der nun aus der Reichskanzlei in den Reichstag gekommen war, und anderen Freunden saß ich hungrig im Speisesaal. Es gab wieder nur eine dünne Wassersuppe ... Da stürmte ein Haufen von Arbeitern und Soldaten in den Saal, gerade auf unseren Tisch zu.

Fünfzig Menschen schrien zugleich: „Scheidemann, kommen Sie gleich mit!“ — „Philipp, du mußt herauskommen und reden!“

Ich wehrte ab — ach, wieviel hatte ich schon reden müssen!

„Du mußt, Du mußt, wenn Unheil verhütet werden soll!“ — „Draußen stehenZehntausende, die verlangen, daß Sie reden.“ — „Jawohl, Scheidemann, komm schnell, vom Schloßbalkon aus redet Liebknecht ... !“

„Na, wenn schon!"

„Nein, nein, kommen Sie mit!“ — „Du mußt reden!"

Dutzende redeten auf mich ein, bis ich mit ihnen ging.

Die große Wandelhalle zeigte ein dramatisch bewegtes Bild. Gewehre waren in Pyramiden zusammengestellt. Vom Hofe herauf hörte man Pferdegetrappel und Gewieher. In der Halle schienen tausend durcheinanderjagende Menschen gleichzeitig zu reden und zu schreien.

Wir gingen eiligen Schrittes dem Lesesaal zu. Von einem Fenster aus wollte ich zu den Massen sprechen.

Links und rechts von mir redeten meine Begleiter auf mich ein, um mich über die Vorgänge auf der Straße zu unterrichten. Zwisehen dem Schloß und dem Reichstag, so wurde versichert, bewegten sich ungeheure Menschenmassen hin und her. „Liebknecht will die Sowjetrepublik ausrufen — !“

Nun sah ich die Situation klar vor Augen. Ich kannte seine Forderung: „Alle Macht den Arbeiter-und Soldatenräten!“

Deutschland also eine russische Provinz, eine Sowjet-Filiale?? Nein! Tausendmal Nein!

Kein Zweifel: Wer jetzt die Massen vom Schloß her „bolschewistisch“ oder vom Reichstag zum Schloß hin „sozialdemokratisch“ in Bewegung bringt, der hat gesiegt!

Ich sah den russischen Wahnsinn vor mir, die Ablösung der zaristischen Schreckensherrschaft durch die bolschewistische. „Nein! Nein! Nur nicht auch das noch in Deutschland nach all dem anderen Elend —!“

Schon stand ich am Fenster. Viele Tausende von Armen reckten sich, um Hüte und Mützen zu schwenken. Mächtig hallten die Zurufe der Massen mir entgegen. Dann wurde es still.

Ich sprach nur wenige Sätze, die mit großem Beifall ausgenommen wurden:

„Arbeiter und Soldaten!

Furchtbar waren die vier Kriegsjahre. Grauenhaft waren die Opfer, die das Volk an Gut und Blut hat bringen müssen. Der unglückselige Krieg ist zu Ende. Das Morden ist vorbei. Die Folgen des Krieges, Not und Elend, werden noch viele Jahre lang auf uns lasten. Die Niederlage, die wir unter allen Umständen verhüten wollten, ist uns nicht erspart geblieben, weil unsere Verständigungsvorschläge sabotiert wurden, wir selbst wurden verhöhnt und verleumdet.

Die Feinde des werktätigen Volkes, die wirklichen „inneren Feinde“, die Deutschlands Zusammenbruch verschuldet haben, sind still und unsichtbar geworden. Das waren die Daheim-krieger, die ihre Eroberungsforderungen bis zum gestrigen Tage ebenso aufrechterhielten, wie sie den verbissensten Kampf gegen jede Reform der Verfassung und besonders des schändlichen preußischen Wahlsystems geführt haben. Diese Volksfeinde sind hoffentlich für immer erledigt. Der Kaiser hat abgedankt. Er und seine Freunde sind verschwunden. Über sie alle hat das Volk auf der ganzen Linie gesiegt!

Der Prinz Max von Baden hat sein Reichskanzleramt dem Abgeordneten Ebert übergeben. Unser Freund wird eine Arbeiterregierung bilden, der alle sozialistischen Parteien angehören werden. Die neue Regierung darf nicht gestört werden in ihrer Arbeit für den Frieden, in der Sorge um Brot und Arbeit.

Arbeiter und Soldaten! Seid euch der geschichtlichen Bedeutung dieses Tages bewußt. Unerhörtes ist geschehen. Große und unübersehbare Arbeit steht uns bevor.

Alles für das Volk, alles durch das Volk! Nichts darf geschehen, was der Arbeiterbewegung zur Unehre gereicht. Seid einig, treu und pflichtbewußt! Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die Deutsche Republik!"

Schier endloser Jubel ertönte. Dann setzten sich die Massen in Bewegung nach dem Schloß. Die bolschewistische Welle, die an diesem Tage unser Vaterland bedrohte, war gebrochen! Die Deutsche Republik war in den Köpfen und Herzen der Massen lebendig geworden.

Philipp Scheidemaitn

Alexanderplatz

Zirkusvorstellung int Hinterhof Zeichnung von H. Zille

Rumm rumm wucherte vor Aschinger auf dem Alex die Dampframme. Sie ist ein Stock hoch, und die Schienen haut sie wie nichts in den Boden.

Eisige Luft. Februar. Die Menschen gehen in Mänteln. Wer einen Pelz hat, trägt ihn, wer keinen hat, trägt keinen. Die Weiber haben dünne Strümpfe und müssen frieren, aber es sieht hübsch aus. Die Penner haben sich vor der Kälte verkrochen. Wenn es warm ist, stekken sie wieder ihre Nasen raus. Inzwischen süffeln sie doppelte Rationen Schnaps, aber was für welchen, man möchte nicht als Leiche drin schwimmen.

Rumm rumm haut die Dampframme auf dem Alexanderplatz.

Viele Menschen haben Zeit und gucken sich an, wie die Ramme haut. Ein Mann oben zieht immer eine Kette, dann pafft es oben, und ratz hat die Stange eins auf den Kopf. Da stehen die Männer und Frauen und besonders die Jungens und freuen sich, wie das geschmiert geht: ratz kriegt die Stange eins auf den Kopf. Nachher ist sie klein wie eine Fingerspitze, dann kriegt sie aber noch immer eins, da kann sie machen, was sie will. Zuletzt ist sie weg, Donnerwetter, die haben sie fein eingepökelt, man zieht befriedigt ab.

Alles ist mit Brettern belegt. Die Berolina stand vor Tietz, eine Hand ausgestreckt, war ein kolossales Weib, die haben sie weggeschleppt. Vielleicht schmelzen sie sie ein und machen Medaillen draus.

Wie die Bienen sind sie über den Boden her. Die basteln und murksen zu Hunderten rum den ganzen Tag und die Nacht.

Ruller, ruller fahren die Erlektrischen, gelbe mit Anhängern über den holzbelegten Alexanderplatz, Abspringen ist gefährlich. Der Bahnhof ist breit freigelegt, Einbahnstraße nach der Königstraße an Wertheim vorbei. Wer nach dem Osten will, muß hinten rum am Präsidium vorbei durch die Klosterstraße. Die Züge rummeln vom Bahnhof nach der Jannowitzbrücke, die Lokomotive bläst oben Dampf ab, gerade über dem Prälaten steht sie, Schloßbräu, Eingang eine Ecke weiter. Über den Damm, sie legen alles hin, die ganzen Häuser an der Stadtbahn legen sie hin, woher sie das Geld haben, die Stadt Berlin ist reich, und wir bezahlen die Steuern.

Wind gibt es massenhaft am Alex, an der Ecke von Tietz zieht es lausig. Es gibt Wind, der pustet zwischen die Häuser rein und auf die Baugruben. Man möchte sich in die Kneipen verstecken, aber wer kann das, das bläst durch die Hosentaschen, da merkst du, es geht was vor, es wird nicht gefackelt, man muß lustig sein bei dem Wetter. Frühmorgens kommen die Arbeiter angegondelt, von Reinickendorf, Neukölln, Weißensee. Kalt oder nicht kalt, Wind oder nicht Wind, Kaffeekanne her, pack die Stullen ein, wir müssen schuften, oben sitzen die Drohnen, die schlafen in ihren Federbetten und saugen uns aus.

Aschinger hat sein großes Cafe und Restaurant. Wer keinen Bauch hat, kann einen kriegen, wer einen hat, kann ihn beliebig vergrößern. Die Natur läßt sich nicht betrügen! Wer glaubt, aus entwertetem Weißmehl hergestellte Brote und Backwaren durch künstliche Zusätze verbessern zu können, der täuscht sich und die Verbraucher. Die Natur hat ihre Lebensgesetze und rächt jeden Mißbrauch. Der erschütterte Gesundheitszustand fast aller Kulturvölker der Gegenwart hat seine Ursache im Genuß entwerteter und künstlich verfeinerter Nahrung. Feine Wurstwaren auch außer dem Haus, Leberwurst und Blutwurst billig.

Das hochinteressante „Magazin" statt eine Mark bloß 20 Pfennig, die „Ehe“ hochinteressant und pikant bloß 20 Pfennig. Der Ausrufer pafft Zigaretten, hat eine Schiffermütze auf, ich schlage alles.

An der Ecke Landsberger Straße haben sie Friedrich Hahn, ehemals Kaufhaus, ausverkauft, leergemacht und werden es zu den Vätern versammeln. Wo Jürgens war, das Papiergeschäft, haben sie das Haus abgerissen und dafür einen Bauzaun hingesetzt. Da sitzt ein alter Mann mit einer Arztwaage: Kontrollieren Sie ihr Gewicht, 5 Pfennig. O liebe Brüder und Schwestern, die ihr über den Alex wimmelt, gönnt euch diesen Augenblick, seht durch die Lücke neben der Arztwaage auf diesen Schuttplatz, wo einmal Jürgens florierte, und da steht noch das Kaufhaus Hahn, leergemacht, ausgeräumt und ausgeweidet, daß nur die roten Fetzen noch an den Schaufenstern kleben. Ein Müllhaufen liegt vor uns. Von Erde bis du genommen, zu Erde sollst du wieder werden, wir haben gebauet ein herrliches Haus, nun geht hier kein Mensch weder rein noch raus. So ist kaputt Rom, Babylon, Ninive, Hannibal, Cäsar, alles kaputt, oh, denkt daran. Erstens habe ich dazu zu bemerken, daß man diese Städte wieder ausgräbt, wie die Abbildungen in der letzten Sonntagsausgabe zeigen, und zweitens haben diese Städte ihren Zweck erfüllt, und man kann nun wieder neue Städte bauen. Du jammerst doch nicht über deine alten Hosen, wenn sie morsch und kaputt sind, du kaufst neue, davon lebt die Welt.

Die Schupo beherrscht gewaltig den Platz. Sie steht in mehreren Exemplaren auf dem Platz. Jedes Exemplar wirft Kennerblicke nach zwei Seiten und weiß die Verkehrsregeln auswendig. Es hat Wickelgamaschen an den Beinen, ein Gummiknüppel hängt ihm an der rechten Seite, die Arme schwenkt es horizontal von Westen nach Osten. Dann schaltet sich das Exemplar selbsttätig um: der Norden ergißt sich nach Süden, der Süden nach Norden. Scharf ist der Schupo auf Taille gearbeitet. Auf seinen erfolgten Ruck laufen über den Platz in Richtung Königstraße etwa 30 private Personen, sie halten zum Teil auf der Schutzinsel, ein Teil erreicht glatt die Gegenseite und wandert auf Holz weiter. Ebenso viele haben sich nach Osten aufgemacht, sie sind den anderen entgegenge-schwommen, es ist ihnen ebenso gegangen, aber keinem ist was passiert.

Es sind Männer, Frauen und Kinder, die letzteren meist an der Hand von Frauen. Sie alle aufzuzählen und ihr Schicksal zu beschreiben, ist schwer möglich, es könnte nur bei einigen gelingen. Der Wind wirft gleichmäßig Häcksel über alle. Das Gesicht der Ostwanderer ist in nichts unterschieden von dem der West-, Süd-und Nordwanderer, sie vertauschen auch ihre Rollen, und die jetzt über den Platz zu Aschinger gehen, kann man nach einer Stunde vor dem leeren Kaufhaus Hahn finden. Und ebenso mischen sich die, die von der Brunnenstraße kommen und zur Jannowitzbrücke wollen, mit den umgekehrt Gerichteten. Ja, viele biegen auch seitlich um, von Süden nach Osten, von Süden nach Westen, von Norden nach Westen, von Norden nach Osten. Sie sind so gleichmäßig wie die, die im Autobus, in den Eelektrischen sitzen. Die sitzen alle in verschiedenen Haltungen da und machen so das außen angeschriebene Gewicht des Wagen schwerer. Was in ihnen vorgeht, wer kann das ermitteln, ein ungeheures Kapitel. Und wenn man es täte, wem diente es? Neue Bücher? Schon die alten gehen nicht, und im Jahre 27 ist der Buchabsatz gegen 26 um soundsoviel Prozent zurückgegangen. Man nehme die Leute einfach als Privatpersonen, die 20 Pfennig bezahlt haben, mit Ausnahme der Besitzer von Monatskarten und der Schüler, die nur 10 Pennig zahlen, und da fahren sie nun mit ihrem Gewicht von einem Zentner bis zwei Zentner, in ihren Kleidern, mit Taschen, Paketen, Schlüsseln, Hüten, künstlichen Gebissen, Bruchbändern über den Alexanderplatz und bewahren die geheimnisvollen langen Zettel auf, auf denen steht: Linie 12 Siemensstraße D A, Gotzkowskistraße C, B, Oranienburger Tor C, C, Kottbuser Tor A, geheimnisvolle Zeichen, wer kann es raten, wer kann es nennen und wer bekennen, drei Worte nenn ich dir inhaltsschwer, und die Zettel sind viermal an bestimmten Stel-len gelocht, und auf den Zetteln steht in demselben Deutsch, mit dem die Bibel geschrieben ist und das Bürgerliche Gesetzbuch: Gültig zur Erreichung des Reiseziels auf kürzestem Wege, keine Gewähr für die Anschlußbahn. Sie lesen Zeitungen verschiedener Richtungen, bewahren vermittels ihres Ohrlabyrints das Gleichgewicht, nehmen Sauerstoff auf, dösen sich an, haben Schmerzen, haben keine Schmerzen, denken, denken nicht, sind glücklich, sind unglücklich, sind weder glücklich noch unglücklich.

Rumm rumm ratscht die Ramme nieder, ich schlage alles, noch eine Schiene. Es surrt über den Platz vom Präsidium her, da nieten sie, da schmeißt eine Zementmaschine ihre Ladung um. Herr Adolf Kraun, Hausdiener, sieht zu, das Umkippen der Wagen fesselt ihn enorm, du schlägst alles, er schlägt alles. Er lauert immer gespannt, wie die Lore mit Sand auf der einen Seite hochgeht, da kommt die Höhe, bums, und nun dreht sie sich. Man möchte nicht so aus dem Bett geschmissen sein, Beine hoch, runter mit dem Kopf, da liegst du, kann einem was passieren, aber die machen das egalweg.

Alfred Döblin

Die goldenen zwanziger Jahre

dumaamms Eine kleine Freundin hat doch jedermann Zeidtnung von H. Zille

Überall in der westlichen Welt waren die zwanziger Jahre etwas Besonderes, eine schöpferische Epoche, schäumend vor Lebensfreude, ausdrucksstark, zukunftsweisend und dennoch durchweht von Schwermut.

Nach den furchtbaren Anstrengungen des Krieges konnte es keinen lauen Frieden geben. Es kam wie ein wildes Tanzfest, das auch die Erschöpften mit sich riß. Doch hinter den Ballsälen und den Bars stieg schon die Wetterwolke der Wirtschaftskatastrophe auf, der berühmte „schwarze Freitag“, das Erdbeben der Börse und die Arbeitslosigkeit. „Berlin, dein Tänzer ist der Tod!" Diese Plakate hatte nicht eine Partei oder die Regierung an die Säulen schlagen lassen, sondern ein Privatmann. Er konnte das Mit-und Durcheinander von Bürgerkrieg und ewigem Karneval nicht ertragen. Über die Stacheldrahtverhaue stiegen die Mädchen weg, um in die Tanzsäle zu eilen. Früher hatte die Stadt dem bunten Rock des Kaisers gehört, seit 1918 dem Feldgrau und dem Räuberzivil der Heimkehrer in ihren Papieranzügen. Ende 1919 schien endlich das Ende der Revolutionskämpfe zu dämmern, doch weil 100 000 Zeitfreiwillige nicht nach Hause gehen wollten und der General Lüttwitz erst recht nicht, tat er sich mit dem Generallandschaftsdirekter Kapp zusammen und marschierte 1920 nach Berlin.

Die Berliner hatten die Soldaten satt, sie hatten das Feldgrau satt, die Kanonen, die Feldküchen und die Generale. So machten sie ein Ende mit dem Spuk. Vor dem schweigenden Generalstreik, der besser klappte als jemals zuvor alle Paraden, brach der Kapp-Putsch zusammen.

Das war der Auftakt der zwanziger Jahre. Dann hatte die Stadt noch vier Jahre einer bitteren Inflation zu bestehen, die aus dem Stolz der Deutschen, den rotgestempelten Tausendmarkscheinen, Abfallpapier machte und die bürgerlichen Vermögen wie Spreu zerstieben ließ. An den Straßenecken wurde mit belegten Broten und mit Kokain gehandelt.

Doch in dieser Zeit vollbrachten die Berliner auch ein einzigartiges Werk, den Bau der Nordsüdbahn, jener Untergrundbahnstrecke, die von Neukölln und Tempelhof her durch die ganze Friedrichstraße geht, die Spree unterläuft und dann weiter nach Norden stößt.

Die alte, die klassische Hoch-und Untergrundbahn, die von Ost nach West geht, war eine Pioniertat von Siemens gewesen und von erstklassigen Fachleuten errichtet. Die Nordsüdbahn indes war eine Notstandsmaßnahme, in Angriff genommen, um vor allem die Kriegs-heimkehrer von der Straße weg und in Brot zu bringen, weniger eine Sache der kühl rechnenden Fachmänner als eine Aufgabe der Not. Der Tunnel unter der Spree beispielhalber war eine Tollkühnheit. Die Fachleute mußten die Verantwortung ablehnen. Ein Stadtrat machte die Sache dann. Er hatte Bahnen in Afrika gebaut und war an tollkühne Aushilfen gewöhnt. Doch hätte er es nicht machen können ohne die Berliner Arbeiter, die genau wußten, daß sie unter der Spree hinwegmußten, wenn der Bahnbau weitergehen sollte. Hier wurden Wunder an Mut, technischem Witz und Todesverachtung geleistet. Der Tunnel gelang, und als die Inflation zu Ende war, fuhren die Berliner schon auf „ihrer" U-Bahn. Sie ist heute noch die volkstümlichste Strecke.

In Paris wurde in den zwanziger Jahren etwas bekannt, was man den „Styleberlin" nannte, ein wunderliches Wort, Bezeichnung für eine neue Art von Beleuchtung, Innendekoration und Architektur. Es betraf vor allem alles, was man dem Baumeister Bruno Taut abgesehen hatte. Taut war ein schmächtiger blonder Mann mit randlosem Kneifer, Lüsterjackett und dem ausdauernd freundlichen Wesen eines Mannes, der immer mit schwer erziehbaren Kindern umgeht. Er hatte zwei schmale Bücher geschrieben, „Alpine Architektur“ und „Ein Einfamilienhaus", die das Programm seiner revolutionären Baukunst enthielten und die so einfallsreich waren, daß sie von tausend Nachahmern ab-und umgeschrieben werden konnten.

Bruno Taut predigte unter anderem die Farbe. Der durch die Zivilisation farblos gewordene Mensch müsse sich die Farbe wenigstens in seiner Wohnung und in der Außenhaut der Bauten zurückerobern. Zu Beginn der zwanziger Jahre war Taut der Stadtbaumeister von Magdeburg geworden und strich die alte graue Stadt an der Elbe in leuchtenden Tönen an. In Berlin sagte man: „Architektur ist gefrorene Musik, aber in Magdeburg tauts!“

Doch als die Magdeburger 1924 von Taut genug hatten, holte ihn der Berliner Stadtbaurat Wagner nach Berlin zurück. Hier hatte der geborene Königsberger schon vor dem Kriege gewirkt. Taut war es gewesen, der die neuen Baustoffe, Stahl und Glas, zuerst zu ihren Wirkungen gebracht hatte. Seine Einfamilienhäuser, deren erste Grundrisse immer Kreissegmente waren und deren gewölbte Außenwand fast ausschließlich aus Glas bestand, hatte er zunächst natürlich für reiche Auftraggeber bauen müssen, die mutig genug waren, sich dem Gespött ihrer Nachbarn auszusetzen. Doch der Berliner Stadtbaurat, übrigens auch ein Ostpreuße, enthusiastischer Vorkämpfer der Gartenstädte, führte Taut an die großen Aufgaben des sozialen Wohnungsbaues heran. Gemeinsam mit Wagner errichtete er die Großsiedlung Britz für 5000 Menschen, eine Mischung aus Dreistöckern und Einfamilienhäusern, deren Mittelpunkt das gewaltige, weißblau leuchtende „Hufeisen“ ist, ein geschlossenes Halbrund von Häusern, die sich um ein altes Heideloch schwingen, an dessen Rändern sechzigtausend weißblaue und gelbe Lilien blühen. Auch die Waldsiedlungen von „Onkel Toms Hütte" und Zehlendorf stammten von Taut.

Neben der Architektur war es die Theater-kunst, die Berlin als eine weit über Europa hin-strahlende Stadt erscheinen ließ. Poelzigs „Großes Schauspielhaus" — für Max Reinhardt gebaut — mit seinem himmelanstürmenden Riesenportal und der Tropfsteinhöhle als Decke des Innenraumes war das sichtbare Ineinander von Architektur und Schauspielkunst. Solchen Bau gab es bis dahin nicht, und es gab auch nicht den weit ausgreifenden Inszenierungsstil der virtuos bewegten Massenszenen.

Die zwanziger Jahre brachten die zweite Blüte und das Ende des Expressionismus. Max Reinhardt hatte schon während des Krieges in seinen Inszenierungen für die geschlossenen Vorstellungen des Vereins „Junges Deutschland" die erste Reihe der zeitgenössischen Dramatiker vorgestellt, Sorge, Werfel, Unruh, Kokoschka, Arnold Zweig, Else Lasker-Schüler, Reinhard Goering. In diesen Inszenierungen spielte er auf leerer Bühne, zeigte Wohnräume ohne Wände, ein Sofa, über dem der Sternenhimmel aufging, das Innere eines Kriegsschiffes. Hier wurde Stammeln und Aufschrei geboren, oh, Mensch!

Dann, in den zwanziger Jahren, wurde das Revolutionstheater „Die Tribüne" von der zweiten Welle der expressionistischen Dichter beherrscht: Toller, Kaiser, Hasenclever. Auf dem Podium der Tribüne zeigte sich zum ersten-mal Fritz Kortner in Berlin, ein Schwergewicht mit wildem Makkabäergesicht, brennenden Augen und schneidender Stimme, die in einen seltsam betörenden Klarinettenton umschlagen konnte. Er wurde der Schauspieler der expressionistischen Epoche, und als Leopold Jessner, der neue Intendant des Preußischen Staats-theaters, das expressionistische Prinzip an den Klassikern abwandelte, an Shakespeare und Schiller, holte er sich Kortner als Helden.

In Berlin war damals jeden Tag Premiere. In hundert Tageszeitungen wurden die Aufführungen von 3 5 Theatern kritisiert, analysiert, gefeiert und verdammt. Was Kerr lobte, verriß Ihering, und Polgar wieder sagte über Ihering, er sprühe Leder. Nie wieder hat es ein Theaterpublikum von der Souveränität des Berliner Publikums der zwanziger Jahre gegeben. Allerdings war es nicht vom Himmel gefallen. Als sich dieses Publikum nach der Reichsgründung von 1871 in Berlin zu bilden begann, war es ein zusammengewürfelter Haufen von Rhein-ländern, Schlesiern, Juden, Ostpreußen, Bayern und Kaschuben gewesen, alles Fremdlinge, die durch das Medium des Theaters zu Berlinern umgeschmolzen wurden. Daß dieses Publikum erwuchs und sich durch zwei und drei Generationen hin immer mehr verfeinerte, ist das Verdienst von so eminenten Theaterkritikern, wie es Fontane, Brahm, Kerr, Schlenther und noch so viele andere gewesen sind. Schließlich war dieses Publikum ein so feines Instrument geworden, daß es mit schmerzhaftem Zucken auf jedes falsch gebrachte Wort, auf jeden Drücker reagierte. Es konnte einen Schauspieler ablehnen wie kein anderes, und es konnte ihn über Schwierigkeiten hinwegtragen. Wenn der Berliner richtig applaudierte, drohten die Wände ein-zustürzen.

Wer wollte die einzelnen Namen dieser Bataillone von Schauspielern aufsagen, die jeden Abend in Berlin agierten. Stellvertretend für alle: Elisabeth Bergner, Käthe Dorsch, Pallenberg, Bassermann, Klöpfer, Forster, Gründgens, Krauß und George.

Wenn die zwanziger Jahre in New York das Zeitalter des Jazz heraufgeführt haben, dann war es in Berlin das Zeitalter des Kabaretts. Außer Konkurrenz agierte, grölte und charmierte Claire Waldorff: „Nach meine Beene is’ ja janz Berlin varickt!" Es war aber auch die Glanzzeit der witzigen Conferenciers, ein Zug von wahren Schicksalsgestalten im Smoking. Von ihnen haben nur Willi Schaeffers und Werner Fink die Stürme der Zeiten überstanden. Die anderen sind verdorben und verstorben, haben sich umgebracht, sind emigriert oder im KZ ermordet worden.

Es gab keinen Zweig der Kunst, der damals nicht in prangender Blüte gestanden hätte. In Berlin spielten drei Opernhäuser, die Philharmoniker konzertierten unter Furtwängler, die Staatsopernkapelle unter dem blutjungen Karajan. Die markantesten Bildhauer von Berlin waren Kolbe und Belling („Dreiklang“), Max Liebermann, Karl Hofer und Leo von König die berühmtesten Maler; das frühere Kronprinzen-palais war die offizielle Galerie der Moderne, in der die Werke von Barlach, Lehmbruck, Marc, Macke, Klee, Corinth, Slevogt, Heckel und Beckmann gezeigt wurden. Käthe Kollwitz war die berühmteste Zeichnerin, Zille, Grosz und Simmel führten die Karikaturisten an.

Heinrich Mann präsidierte der Dichterakademie, im Format einer Tageszeitung erschien „Die literarische Welt“, doch auch in den soge-nannten „kleinen Zeitschriften“, von denen die „Weltbühne“ und das „Tagebuch" den großen Zug der kleinen Fische anführten, gab es eine scharfe und genaue Literaturkritik. Doch alles dies lebte erst, bekam Farbe, Plastizität und Hintergrund durch die gewaltige Stadt mit ihren Straßen und Kanälen, Seen, Flüssen und Parks; ihrem spiegelnden Asphalt, den Kinoplakaten und Nachtlichtern, dem Feuerwerk der Reklame, dem Schreien aus den Sportarenen und den leuchtenden Wunderwerken der Schaufenster, diesen Kunstausstellungen der Straße.

Die Stadt war niemals freier und größer als damals. Aus ihren verwaisten Exerzierplätzen war Siedlungsgelände geworden, auf dem Tempelhofer Feld baute man die ersten Signaltürme für den neuen Flughafen. Berlin glaubte an sich. Sein Glaube äußerte sich als Selbstkritik. Das Bild des Berliners spiegelte sich in seiner Stadt, und wenn sich der Berliner in diesem Spiegel genau betrachtete, gestand er sich, wenn auch verschämt, daß es ein deutsches Bild war.

Walter Kiaulehn

Es begann am 30. Januar 1933

Philipp Seite, deManH begrüßt heimltehrende Truppen auf dem Pariser Platz

Es begann am 30. Januar 1933: In den Abendstunden dieses Tages stand das Regierungsviertel von Berlin im Feuerglanz vieler tausend Fackeln, und die Straßen hallten vom Jubel vieler tausend Menschen wider. Vom Tiergarten her, durch das Brandenburger Tor, die „Linden“ hinauf und rechts durch die Wilhelmstraße zum Kaiserplatz marschierten in dichten Reihen Kolonnen in braunen Hemden und schwarzen Hosen, mit blankgewienerten Koppeln und Schulterriemen, in den Händen lodernde Fackeln, auf den braunen Schlipsen kreisrunde Abzeichen mit dem Hakenkreuz. Stunde um Stunde marschierten die Kolonnen —in monotonem Gleichschritt, während braun-uniformierte Kapellen Militärmärsche spielten und der Kaiserplatz gedrängt voller Menschen stand. Immer wieder brandete Jubel auf, der einem hageren Mann am Fenster der Reichskanzlei galt. Gemessen hob er dann und wann die Hand, um eine Fahne oder Standarte im Fackelzug zu grüßen. Erst wenige Stunden war es her, seit dieser Mann zum neuen deutschen Reichskanzler berufen worden war: Adolf Hitler, Führer der rechtsradikalen Nationalsozialistischen Partei. Die Sturmtruppen seiner Partei — SA, SS und Hitlerjugend — brachten ihm jetzt ihre Huldigung dar. Doch auch noch eine andere Gestalt zeigte sich an einem Fenster des Regierungsgebäudes: die greise, aber immer noch aufrechte Gestalt des Reichspräsidenten von Hindenburg, Generalfeldmarschall des ersten großen Krieges. Er war es, der Hitler berufen hatte — nicht ohne schwere innere Bedenken, und nur unter dem Druck von Intrigen, Einflüsterungen und Überredungskünsten.

Jetzt aber stand er am Fenster seines Amts-sitzes und schlug mit einem kleinen Stöckchen den Takt zu den Märschen, bei deren Klang der Fackelzug im Gleichschritt vorüberzog.

Von diesem Tag und dieser Stunde an begann eine neue Epoche in der deutschen Geschichte — und viele Deutsche wünschten später sie seien „nicht dabei" gewesen: nicht bei jener Partei, die ihre braununiformierten Sturmkolonnen am 30. Januar 1933 zur Reichskanzlei marschieren ließ — und auch nicht bei den vielen Millionen, die in den Monaten und Jahren danach zum Nationalsozialismus bekehrt wurden. Zwölf Jahre sollte die Epoche dauern, die in jener Nacht anbrach, in der die Menschen in ganz Deutschland erregt vor den Lautsprechern saßen: viele voller Hoffnung, viele andere voller Angst, fast alle erfüllt von einer unbestimmten, quälenden Unruhe. Denn dies war kein gewöhnlicher Regierungswechsel, wie sie Deutschland damals nur allzu häufig erlebt hatte. Dies war eine Umwälzung, ein Umsturz, ein Schlußstrich und zugleich ein neuer Anfang. Die Übertragung aus Berlin ließ keinen Zweifel daran...

Aus einem Funkwanuskript

Die geistige Freiheit wird auf dem Scheiterhaufen verbrannt

Alexanderplatz 1930) (um

Rundfunksprecher: Hier ist der Deutschland-sender, hier sind alle deutschen Sender mit Ausnahme der Süddeutschen Sendergruppe. Wir befinden uns auf dem Opernplatz Unter den Linden Berlins. Die deutsche Studentenschaft verbrennt zur Stunde auf einem riesigen Scheiterhaufen anläßlich der Aktion des Kampfausschusses wider den undeutschen Geist Schriften und Bücher der Unmoral und Zersetzung. Sie hören Feuersprüche der Studenten Berlins. „Deutsche Studenten, wir haben unser Handeln gegen den undeutschen Geist gerichtet. Übergebt alles Undeutsche dem Feuer!“ „Gegen Klassenkampf und Materialismus, für Volksgemeinschaft und idealistische Lebensauffassung. — Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Karl Marx und Trotzki.“ „Gegen Dekadenz und moralischen Verfall, für Zucht und Sitte in Familie und Staat. — Idi übergebe dem Feuer die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser, Erich Kästner."

„Gegen Gesinnungslumperei und politischen Verrat, für Hingabe an Volk und Staat. — Ich übergebe dem Feuer die Schriften des Friedrich Wilhelm Foerster." „Gegen seelenzersetzende Übereinschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele. — Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Siegmund Freud.“

„Gegen Verfälschung unserer Geschichte und Herabwürdigung ihrer großen Gestalten, für Ehrfurcht vor unserer Vergangenheit. — Ich übergebe dem Feuer die Schriften des Emil-Ludwig Cohn.“ (Beifall) „Gegen volksfremden Journalismus demokratisch-jüdischer Prägung, für verantwortungsbewußte Mitarbeit am Werk des nationalen Aufbaus. — Ich übergebe dem Feuer die Schriften des Theodor Wolf und des Georg Bernhard.“ „Gegen literarischen Verrat am Soldaten des Weltkrieges, für Erziehung des Volkes im Geiste der Wehrhaftigkeit. — Ich übergebe dem Feuer die Schriften des Erich Maria Remarque.“ (Beifall)

„Gegen dünkelhafte Verhunzung der deutschen Sprache, für Pflege des kostbarsten Gutes unseres Volkes. — Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Alfred Kerr.“ (Bravo-Rufe)

„Gegen Frechheit und Anmaßung, für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist. — Verschlinge, Flamme, auch die Schriften der Tucholsky und Ossietzky.“ (Bravo-Rufe)

Dann ergriff Dr. Goebbeis das Wort, während auf dem Scheiterhaufen nicht nur die Bücher von Karl Marx und Heinridi Mann, von Kästner, Freud, Reinarque und Tucholsky verglühten, sondern auch die geistige Freiheit der Deutschen.

Der Endkampf in Berlin

Fackelzug ant Brandenburger Tor. 30. Januar 1933

In der Nacht vom 23. auf den 24. April hatte der größte Teil Berlins noch in verhältnismäßiger Ruhe dagelegen. Da erschütterte um 5. 15 Uhr eine ungeheure Kanonade den aufsteigenden Morgen.

Die in fast allen Berliner Vororten aufgefahrene sowjetische Artillerie begann mit ihrem Vorbereitungsfeuer zum Generalangriff. Die Salvengeschütze tobten wie ein Höllengewitter. Sowjetische Flugzeuge flogen Einsatz auf Einsatz. Tiefflieger stürzten sich auf die deutschen Nachschubkolonnen, die, häufig ohne Benzin, in den Straßen eingekeilt waren.

Das Feuer dauerte rund eine Stunde. Dann trat sowjetische Infanterie, meist hinter Panzern vorgehend, zum Angriff an. Im Süden überschritten die Russen den Teltow-Kanal und erreichten Neukölln, Britz, Lichterfelde, Zehlendorf und Neubabelsberg. Von Tegel und Reinickendorf aus arbeiteten sich Panzer und Sturmgeschütze mit nachfolgender Infanterie bis zum Wedding vor. Ihr Vorgehen erfuhr erst am Nordhafen und an der Ringbahn in der Nähe des Lehrter Bahnhofes eine vorübergehende Unterbrechung. Andere Sturmtrupps schoben sich vom Norden her durch den Tegeler Forst und über die Jungfernheide an den Span-dauer Schiffskanal heran. Dessen Brücken flogen in die Luft. Desungeachtet setzten die Russen über den Kanal und drangen in Siemens-stadt ein.

Heftige Nahkämpfe tobten zwischen Westend und Spandau und um den Damm der Stichbahn nach Gartenfeld. Im Nordosten und Osten Berlins erreichten die Russen die große Kreuzung zwischen Eibinger und Petersburger Straße sowie die Landsberger Allee. Sie stießen in das Gebiet Friedrichshain vor, wo das Flakfeuer von den großen deutschen Bunkern sie endlich aufhielt. Sie zogen überall umfangreiche Artillerie nach und belegten nun auch die Innenstadt mit schwerem Beschuß. Ebenso die Flugplätze Tempelhof und Gatow, zu deren Eroberung sie besondere Kräfte ansetzten.

Ehe Bevölkerung der äußeren Bezirke, die sich, soweit sie nicht geflohen war, in ihren Kellern duckte und Qualen der Furcht und der Spannung erlitt, sah sich häufig völlig überraschend den fremdartigen Gesichtern der Sieger gegenüber. Sie wurde überrollt. Sie erlebte jetzt, was die Deutschen in Königsberg, Breslau und Posen und jeder anderen Stadt des Ostens erlebt hatten. Und ein großer Teil erlebte uni so Schrecklicheres, als ganze Stadtviertel im Kampfgebiet in wenigen Stunden geräumt und die Bewohner auf den gleichen Straßen mit den sowjetischen Nachschubkolonnen nach Osten getrieben wurden. Dabei gerieten sie auf der Landsberger Chaussee und anderen Straßen in das Feuer und die Bombenwürfe deutscher Flie-ger hinein, die hier den vergeblichen Versuch machten, dem Übermaß des sowjetischen Nachschubstromes Einhalt zu gebieten. So begann, nachdem die Russen den noch einmal auflebenden Widerstandsgeist herausgefühlt und sich mit Windeseile vorbereitet hatten, die eigentliche Schlacht um Berlin.

Zu dem LVII. Panzerkorps des Generals Weidling, das jetzt die Hauptlast des Kampfes um Berlin trug, gehörten die Reste der Panzer-division „Müncheberg", die sich unter dem Befehl des Generals Mummert von der Oder bis nach Berlin zurückgekämpft hatte. Ein Ordonnanzoffizier dieser Division schrieb in den nun folgenden Tagen der Schlacht ein Tagebuch, das Ereignisse und Stimmungen besser wiedergibt, als es lange Schilderungen vermöchten.

Er schrieb: „ 24. April: Am Vormittag stehen wir am Tempelhofer Flugplatz. Russische Artillerie schießt ununterbrochen. Von den acht Berliner Verteidigungsabschnitten halten wir jetzt den Abschnitt D. Der Kampfkommandant befindet sich im Luftfahrtministerium. Unsere Hauptkräfte konzentrieren sich um das Karstadt-Hochhaus und die Sarotti-Schokoladenfabrik. An Stelle von infanteristischem Ersatz erhalten wir zusammengewürfelte Alarmeinheiten. Hinter uns bricht noch immer Zivilbevölkerung auf, die im Artilleriefeuer den Versuch macht, zu entkommen. Sie schleppt dürftige Bündel, Reste ihrer Habe mit. Dazwischen versuchen Verwundete, nach hinten zu kommen. Aber die meisten bleiben, weil sie fürchten, von irgendwelchen fliegenden Standgerichten aufgegriffen und als Deserteure erhängt zu werden.

Die Russen brennen sich mit Flammenwerfern in die umkämpften Häuser ein. Das Schreien von Kindern und Frauen ist fürchterlich. Gegen 15 Uhr besitzen wir noch knapp ein Dutzend Panzer und etwa dreißig Schützenpanzerwagen. Dies sind die einzigen Panzerfahrzeuge im ganzen Befehlsbereich des Wilhelmsplatzes. Die Befehlsverhältnisse sind offenbar unklar, denn immer wieder kommen über Bärenfänger hinaus Befehle aus der Reichskanzlei. Sie beordern Panzer an andere Brennpunkte der Stadt, von wo sie nicht zurückkehren. Nur der Härte von General Mummert ist es zu verdanken, daß die Division nicht schon heute verheizt wird. Es stehen kaum noch Fahrzeuge für Verwundetentransporte zur Verfügung.

Die Artillerie wird am Nachmittag in den Tiergarten verlegt. Munition ist nur noch wenig vorhanden. Rings um das Verwaltungsgebäude Tempelhof sieht es aus, als sei die Hölle los-gebrochen. Gebrüll, Granatexplosionen, Einschläge der Stalinorgeln. Die Schreie Verwundeter, Lärm von Motoren und Maschinengewehren. Darüber Rauchschwaden, Chlor-und Brandgeruch. In den Straßen viele gefallene Frauen, die den Versuch machten, Wasser zu holen. Vereinzelt aber auch Frauen mit Panzer-fäusten in der Hand, Schlesierinnen, die von wildem Rachedurst erfüllt sind. Aus dem Luftfahrtministerium Nachrichten und Gerüchte, daß Wende in erfolgreichem Angriff auf Berlin ist, und daß man an der Havel bereits Wendes Artilleriefeuer hören könne. Außerdem wird von Norden her eine Armee nach Berlin durchbrechen. Aus allen Richtungen neues schweres Artilleriefeuer. 20 Uhr: Panzer mit aufgesessener russischer Infanterie rollen gegen das Tempelhofer Feld. Schwere Kämpfe. 25. April: 5. 30 Uhr. Angriff neuer massierter Panzerkräfte. Zum Rüdezug gezwungen. Befehl aus der Reichskanzlei: Division . Müncheberg'zur sofortigen Entlastung zum Alexanderplatz. 9 Uhr: Befehl widerrufen, als Abmarsch schon im Gange. Russen dringen gegen 10 Uhr unaufhaltsam auf Flughafen Tempelhof vor. Neue Hauptkampflinie Rathaus Schöneberg — Hallesches Tor — Belle-Alliance-Platz. Schwere Straßenkämpfe. Viele gefallene Zivilisten. Sterbende Tiere. Frauen auf der Flucht von Keller zu Keller. Weiter nach Nordwesten zurückgedrängt. Neuer Befehl: Zum Alexanderplatz. Nach Ankunft Alexanderplatz Abgabe des bisherigen Abschnittes D. Übergabe der Abschnitte A und B an der Ostfront. Befehlshaber A bisher Bärenfänger. Bärenfänger lehnt es ab, von Mummert Befehle für Abschnitt A entgegenzunehmen, da gleichzeitig Kampfkommandant von Berlin. Neuer Einblick in die völlige Verwirrung der Befehlsverhältnisse. General Mummert lehnt es ab, unter solchen Umständen die Führung der Abschnitte A und B zu übernehmen, besonders da er feststellt, daß Bärenfänger in dem Willen, seiner Ernennung zum Kampfkommandanten gerecht zu werden, falsche Erfolgsmeldungen an Hitler persönlich gibt. Die nah Bärenfänger noch gehaltenen Linien befinden sich schon seit 48 Stunden nicht mehr in unserem Besitz. Bärenfänger setzt beim Führer durch, daß ihm Abschnitt A und B übertragen werden. Die Division baut am Alex wieder ab. Rückmarsch unter Fliegerangriffen zum Halleschen Tor. Schwere Verluste. An den Häuserwänden Aufshriften: , Die Stunde vor Sonnenaufgang ist die dunkelste Stunde', und , Wir gehen zurück, aber wir siegen'. Erhängte und erschossene Deserteure. Unvergeßliche Bilder auf dem Marsh. Die Brände im Osten und Süden dehnen sih shnell aus. Am Abend wieder neue Aufrufe eines Freikorps Mohnke: Bringt Waffen, Ausrüstungsgegenstände und Lebensmittel mit. Jeder deutshe Mann wird gebrauht. Shwere Abwehrkämpfe in der Dirksenstraße, Königstraße, am Zentralmarkt und in der Börse. Erste Kämpfe in den S-Bahn-Schächten. Russen versuhen durh die Shähte in unseren Rühen zu kommen. Die Shähte selbst mit Zivilisten überfüllt. 26. April: Brandrote Naht. Shweres Artilleriefeuer. Unheimlihe Stille. Aus vielen Häusern wird auf uns geshossen. Wahrsheinlih ausländishe Arbeiter. Aus dem Luftfahrtministerium die Nahriht, daß Bärenfänger als Kampfkommandant abgelöst wurde. Eine Stunde später ist General Weidling zum Kampfkommandanten ernannt. General Mummert übernimmt das Panzerkorps. Gegen 5. 30 Uhr von neuem furchtbares Trommelfeuer. Angriffe mit Panzern und Flammenwerfern. Rückzug zum Anhalter Bahnhof. Verteidigung Askanisher Platz, Saarlandstraße und Wilhelmstraße. In unserer Nähe Reste der Panzerdivision „Nordland". Dreimal im Laufe des Vormittags Anfrage nah der Armee Wenck. Ihre Spitz: . sollen in Werder stehen. Unverständlih. Aus dem Propaganda-ministerium eine zuverlässige Nahriht, daß alle Truppen von der Elbe auf Berlin marshieren. Gegen 11 Uhr kommt L. Mit strahlenden Augen aus dem Propagandaministerium. Er hat eine noh zuverlässigere Nahriht des Staatssekretärs Naumann. Es sind Verhandlungen mit den Westmähten geführt worden. Wir werden eine Anzahl Opfer bringen müssen, aber die Westmähte werden niht zusehen, daß die Russen weiter vordringen und Berlin russish wird. Ungeheurer Auftrieb. L. berihtet zuverlässig, daß jetzt wirklih nur noh 24, längstens 48 Stunden zu kämpfen sei.

Neuer Gefehtsstand Anhalter Bahnhof. Bahnsteige und Shalterräume gleihen einem Heerlager. In Nishen und Winkeln drängen sih Frauen und Kinder. Andere sitzen auf ihren Klappstühlen. Sie horhen auf den Lärm der Kämpfe. Die Einshläge ershüttern die Tunneidehe. Betonstühe brehen herab. Pulvergeruh und Rauhshwaden in den Schächten. Lazarett-züge in der S-Bahn, die langsam weiterrollen. Plötzlih eine Überrashung. Wasser spritzt in unseren Gefehtsstand. Shreie, Weinen, Flühe. Menshen, weihe um die Leitern kämpfen, die durh die Luftshähte an die Oberflähe führen. Gurgelndes Wasser flutet durh die Shähte. Die Massen stürzen über die Schwellen. Lassen Kinder und Verwundete zurüh. Menshen werden zertreten. Das Wasser faßt nah ihnen. Es steigt einen Meter und mehr hoh, bis es sih langsam verläuft. Noh stundenlang entsetzliche Angst und Panik. Viele Ertrunkene. Ursache: Pioniere haben auf irgendweihen Befehl die Shottenkammem des Landwehrkanals zwishen Shöneberger und Möckern-Brücke gesprengt, um die Shähte gegen das unterirdishe Vordringen des Feindes zu überfluten. Während der ganzen Zeit shwere Kämpfe über der Erde. Am Spätnahmittag zum Potsdamer Platz. Gefehtsstand in der 1. Etage, da untere Shähte noh unter Wasser. Einshläge durh die Fahrdecke. Shwere Verluste unter Verwundeten und Zivilisten. Qualm dringt durh die Einschlaglöher. Draußen explodieren Stapel von Panzer-fäusten im russischen Feuer. Nah einem shweren Einshlag unterhalb des ersten Treppenabsatzes beim Bahnhofseingang beim Pshorrbräu grauenhafter Anblick: Männer, Soldaten, Frauen, Kinder kleben buhstäblih in den Wänden. Bei Einbruh der Naht kurze Feuerpause. 27. April: In der Naht anhaltende Angriffe. Russen versuhen Durhbruh zur Leipziger Straße. Prinz-Albreht-Straße wird zurückgenommen. Ebenso die Köthener Straße. Zunehmende Auflösungserscheinungen und Verzweiflung. Aber es hat keinen Sinn. Man darf niht im letzten Augenblick kapitulieren und hinterher ein Leben lang bereuen, niht durhgehalten zu haben. K. bringt Nahriht, daß amerikanishe Panzerdivisionen unterwegs nah Berlin sind. Es heißt, in der Reihskanzlei sei man fester vom Endsieg überzeugt als je zuvor. Die Kampfgruppen sind jetzt fast alle ohne Nachrichtenverbindung, soweit es keine aktiven Bataillone mit Funkverbindung sind. Telefonkabel sind in kürzester Zeit zerschossen. Die körperliche Verfassung ist unbeschreiblich. Weder Ablösung noch Ruhe. Keine regelmäßige Verpflegung. Kaum noch Brot. Nervenzusammenbrüche unter dem dauernden Artilleriefeuer. Wasser wird aus den Schächten und aus der Spree gepumpt und filtriert. Leichter Verwundete finden kaum noch irgendwo Aufnahme. Die Zivilisten fürchten sich, verwundete Soldaten und Offiziere im Keller aufzunehmen. Zu viele sind als echte oder vermeidliche Deserteure erhängt worden. Die betreffenden Keller-besatzungen werden von den Angehörigen der fliegenden Feld-und Standgerichte als Mithelfer rücksichtslos ausgeräuchert.

Fliegende Feldgerichte tauchen heute bei uns besonders häufig auf. Meistens ganz junge SS-Führer. Kaum eine Auszeichnung. Blind und fanatisch. Die Hoffnung auf Entsatz und gleichzeitig die Furcht vor den Gerichten rappelt die Männer immer auf.

General Mummert verbittet sich jedes weitere Auftauchen eines Feldgerichtes in seinem Verteidigungsabschnitt. Eine Division, die die meisten Ritterkreuz-und Eichenlaubträger besitzt, verdient es nicht, von so jungen Kerlen verfolgt zu werden. Mummert ist entschlossen, ein Feldgericht, das bei ihm eingreift, persönlich niederzuschießen.

Der Potsdamer Platz ist ein Trümmerfeld.

Die Menge der zerschlagenen Fahrzeuge ist nicht zu übersehen. Die Verwundeten liegen noch in den zusammengeschossenen Sankas.

Tote überall. Zum großen Teil von Panzern und Lastwagen überfahren und gräßlich verstümmelt.

Abends Versuch, zum Propagandaministerium durchzukommen, um in den Regierungsgebäuden irgendeine Nachricht über Wende und die amerikanischen Divisionen zu erhalten. Gerüchte, daß auch die 9. Armee unterwegs nach Berlin ist. Im Westen ist ein allgemeiner Friedensschluß im Gange. Bei Einbruch der Nacht das schwerste Feuer auf die Innenstadt. Gleichzeitig Angriffe gegen unsere Stellung. Wir können uns am Potsdamer Platz nicht mehr halten und verlegen gegen 4 Uhr morgens unterirdisch zum Nollendorf-Platz. Auf der Gegenfahrbahn marschiert der Russe durch den Schacht zum Potsdamer Platz."

In der Nacht vom 27. zum 28. April sah der Himmel über Berlin so aus, als sei er in Blut getaucht.

Am Abend des 28. April verringerte sich zeitweise das schwere Artilleriefeuer, das auf dem Zentrum von Berlin lag. Und in einer Feuerpause, in der man nur das Prasseln von Steinen, das Rutschen von Schutt, das dünne Hämmern der Maschinengewehre und das dumpfe Knallen von Panzerkanonen hörte, eilte der Verbindungsmann zwischen Hitler und dem langjährigen Reichspressechef Dr. Dietrich, Lorenz, vom Propagandaministerium zum Bunker der Reichskanzlei hinüber. Als er den Bunker mit seiner Atmosphäre verzweifelten Wartens und neuerdings erwachten Mißtrauens betrat, zeigte sein erregtes Gesicht, daß er eine Nachricht besonderer Art bei sich trug.

Aber er brachte keine Meldung über weitere Fortschritte der Armee Wenck oder über das Eintreffen der Spitzen Wencks an der Havel. Er brachte auch keine Meldung über erfolgreiche Fortschritte im Norden. Er brachte eine völlig andersgeartete Nachricht. Er trug die Aufnahme eines Reuter-Berichtes bei sich, in welchem über die Vorschläge berichtet wurde, die Himmler fünf Tage zuvor dem Grafen Bernadotte in Lübeck gemacht hatte. Und diese Nachricht bedeutete den Anfang vom Ende.

Am 22. April hatte die Tatsache, daß Steiner nicht angegriffen hatte, genügt, um die schützenden Wände der Selbsttäuschungen, die Hitler um sich aufgerichtet hatte, zum Einsturz zu bringen. Jetzt, in der von entäuschten Erwartungen und Mißtrauen gesättigten Atmosphäre am Abend des 28. April, war es die Meldung über Himmlers offenbaren Abfall, die in Hitler zunächst einen letzten Sturm der Auflehnung und Empörung und dann ein neues Absinken in die Selbstaufgabe und in die Vorbereitung des persönlichen Endes verursachte.

Noch einmal ergriff ihn eine hemmungslose Raserei, die sein Gesicht fast unkenntlich werden ließ. Dann zog er sich mit Bormann und Goebbels in seine privaten Räume zurück. Es folgte eine Konferenz, für die es keine Zeugen gibt. Aber es war leicht zu erraten, was Hitler bewegte.

Daß nach Göring nun auch noch Himmler von ihm abfiel, mußte nicht nur sein Selbstbewußtsein tief treffen. Es mußte zugleich auch seinen unnatürlichen Stolz neu steigern. Er hatte die schwachen Stimmen der Selbsterkenntnis eigener Fehler, die auch ihn nicht verschont hatten, immer dadurch kompensiert, daß er überall Feiglinge, Dummköpfe und Verräter sah, die seine Lehren mißverstanden und seine richtigen Befehle halb oder gar nicht ausgeführt hatten. Himmlers Verrat mußte für ihn zu einer neuen und endgültigen schmerzvoll-wollüstigen Bestätigung für die These des Verrats allüberall und für die Unzulänglichkeit der Umwelt werden, die zu klein für ihn war und ihn verließ und verriet, weil er zu hoch über ihren erbärmlichen Schwächen stand.

Der Sturm der Empörung und der krankhaften Selbstbestätigung zitterte noch in ihm nach, als er das Konferenzzimmer verließ und den Befehl erteilte, daß Fegelein sofort scharf vernommen werde. Sein nach Verrat und Verrätern dürstender Geist war nun gänzlich von der Vorstellung einer Verschwörung erfüllt, die sich in dem undurchdringlichen Dunkel, das um Berlin lagerte, vollendete.

Er glaubte plötzlich zu wissen, weshalb der SS-Obergruppenführer Steiner nicht angegriffen hatte und nicht angriff. Fegelein erschien ihm als der verräterische Verbindungsmann zwischen Himmler und ihm, der Himmler lediglich über die Vorgänge im Bunker unterrichtet hatte und dann dabei ertappt worden war, wie er aus Berlin fliehen wollte, um sich wieder zu Himmler zu gesellen. Die gespenstische Illusion der Verschwörung, mit der er sich selbst erfüllte, griff auf den Bunker über und versetzte die Verlorenen in eine krankhafte Erregung, die sich bei manchen Frauen bis zu Weinkrämpfen steigerte. Fegelein wurde nach den Gerüchten, die in den Gängen des Bunkers von Mund zu Mund gingen, zu einer Bestie und Himmler zu einem Ungeheuer, das den Westmächten versprochen hatte, ihnen im Falle von Hitlers Tod dessen Leichnam auszuliefern.

Ohne das Ergebnis einer genauen Untersuchung abzuwarten, gab Hitler unterdessen den Befehl, daß Fegelein in den Garten der Reichskanzlei geführt und dort erschossen werde. Er saß, am ganzen Körper zitternd, in einem Stuhl im Konferenzzimmer, als ihm der Vollzug der Exekution gemeldet wurde.

Dann raffte er sich auf und begab sich zu v. Greim. Nach den tagelangen vergeblichen Versuchen war es am Abend des 28. April endlich einem Piloten gelungen, mit einem Schulflugzeug „Arado 96" von Rechlin aus nach Berlin durchzubrechen, im Schutz der Qualmwolken auf der Ost-West-Achse zu landen und sein Flugzeug zu verstecken. Greim hatte sich aber geweigert, Berlin zu verlassen. Er wollte zusammen mit Hanna Reitsch bei dem Beschluß verharren, an der Seite Hitlers zu siegen oder zu sterben.

Er beugte sich jedoch Hitlers Willen, als dieser mit düster leuchtenden Augen seinen Raum betrat und ihm in einem jäh aufsteigenden neuen Ausbruch zitternder Erregung befahl, noch in dieser Nacht zusammen mit Hanna Reitsch Berlin zu verlassen und unverzüglich nach Plön zu fliegen, Himmler zu verhaften und unter Anwendung jedes Mittels unschädlich zu machen. Er wiederholte mehrfach die Worte „unschädlich machen". Er erklärte, ihm dürfe kein Verräter als Führer folgen.

In der absoluten Wirrnis der Gefühle, die den Stürzenden erfüllte, trat noch einmal seine Selbstüberhebung, sein Glaube, als einziger deutsche Geschichte zu machen und deutsche Geschichte zu lenken, hervor.

Er wußte nicht, daß Himmlers Verhandlungen längst zur Aussichtslosigkeit verdammt waren. Fünf Tage waren seither vergangen. Die Umwelt lag im Dunkel da. Er war dazu verurteilt, blind umherzutappen. Er argwöhnte, daß Himmlers Verhandlungen schon zum Erfolge geführt hatten, ohne seinen Willen, ohne sein Wissen, über seinen Kopf hinweg. Das war vielleicht das Schlimmste, daß hier geschah, was nicht mehr seinem Willen unterworfen war, und daß, wenn es zu irgendwelchen Abmachungen mit den Westmächten kam, nicht mehr er im Mittelpunkt stand, sondern daß vielleicht über ihn hinweggeschritten würde, hinweggeschritten wie über ein Nichts.

Er beschwor v. Greim in fliegender Hast und mit zuckenden Lippen, nicht zu zögern, sondern sofort abzufliegen.

Der immer noch unbewegliche v. Greim wurde daraufhin in einem kleinen Panzerfahrzeug zu dem versteckten Flugzeug hinausgefahren. Hanna Reitsch begleitete ihn. Sie trug eine Reihe von Briefen an die Außenwelt mit sich. Die Fahrt ging über Trümmer und an Granat-trichtern vorbei. Der Himmel war wieder blutrot erleuchtet von den Bränden, die sich immer weiterfraßen. Das Maschinengewehrgehämmer war noch näher herangerückt.

Die Startbahn wies ebenfalls Trichter und Trümmer auf. Aber der Start gelang, obwohl die sowjetische Flakartillerie alles daransetzte, das Flugzeug abzuschießen. Wahrscheinlich vermuteten die Russen darin Hitler, der die Reichshauptstadt verließ. Vielleicht sahen einzelne deutsche Soldaten und einzelne Zivilisten die aufsteigende Maschine. Hier und da befiel wohl auch sie der lähmende Gedanke, Hitler verlasse die Stadt und lasse sie im Stich. Aber in dieser Nacht hofften sie immer noch auf Wenck. Sie hofften immer noch auf den Entsatz. Und wenn noch ein Glaube fest in ihnen verwurzelt war, dann war es der, daß Hitler sie nicht einfach verlassen würde, mochte aus seiner Umgebung auch fliehen, wer wollte.

v. Greim und Hanna Reitsch landeten wirklich in Rechlin. Von dort begaben sie sich weiter nach Norden, um Himmler zu stellen. Aber als sie in Dönitz’ Stab eintrafen, hatte Himmler bereits alles abgeleugnet, und er blieb bei seinem Leugnen. Einen Tag später aber hatten sich die Verhältnisse bereits gewandelt. Hitler hatte seinem Leben ein Ende gemacht.

Als v. Greim und Hanna Reitsch in der Dunkelheit verschwunden waren, zog sich Hitler für eine Weile zurück. Als er für seine Umgebung wieder sichtbar wurde, hatte sich eine Änderung in ihm vollzogen.

Die furchtbare Erregung war von ihm abgefallen. Es war, als habe ihn eine neue, diesmal letzte Phase der Resignation erfaßt. Auch diese Wandlung schien unnatürlich, und sie wirkte auf seine Umgebung genau so erregend, wie der vorangegangene Sturm. Denn alle gewannen den Eindruck, daß er sich jetzt unter dem Eindruck von Himmlers Verrat endgültig selbst aufgegeben habe und sein Ende vorbereite.

Wahrscheinlich begriffen sie nicht, daß gerade die Nachricht über Himmlers Verrat ihm in einem Punkte die absolute Selbstgewißheit gegeben hatte, die er in seinem Stolz und seiner Hybris brauchte, um aus dem Leben scheiden zu können und seines Rufes in der Nachwelt sicher zu sein. Er war seines verratenen Prophetentums gewiß. Eine Stunde nach Mitternacht vollzog er plötzlich jene merkwürdige Zeremonie, welche auch seine Umgebung überraschte. Er ließ sich mit der Frau trauen, die Jahre hindurch seine sorgfältig verborgene Freundin gewesen war, jene weit jüngere Frau namens Eva Braun, ein hübsches, aber geistig unbedeutendes Wesen, das ihm in einer aufrichtigen Treue und Bewunderung ergeben war.

Nach der Trauung kam es zu einem düster gedämpften Trauungsmahl. Hitler saß schweigend da. Aber wenn er sprach, kreisten seine Worte immer wieder um die Feststellung, er warte jetzt nur noch auf das Ende. Der Tod sei für ihn eine Erlösung, da er von seinen besten Freunden betrogen und verraten worden sei.

Später zog er sich dann zurück und diktierte sein Testament. Er diktierte ein persönliches Testament, das für die Nachwelt ohne Bedeutung war. Aber dann ließ er, während über den Bunker wieder eine Welle von Feuerüberfällen dahinrollte und sich in den Gängen draußen wieder die Angst verbreitete, die ersten sowjetischen Stoßtrupps könnten plötzlich vor den Eingängen stehen, sein politisches Testament folgen.

Als er sein Testament unterzeichnete, und als Goebbels, Bormann, Burgdorf und Krebs als Zeugen ihre Unterschrift folgen ließen, war es 4 Uhr, und draußen rüttelten gerade wieder die Einschläge der sowjetischen Salven wie Riesen-fäuste an den Bunkerdecken.

Als der Morgen des 29. April anbrach, standen sowjetische Panzer diesseits des Anhalter Bahnhofs. Über den Potsdamer Platz und die Hermann-Göring-Straße fegten die Garben der sowjetischen Maschinengewehre, und Granate auf Granate fiel in die Trümmerzone um die Reichskanzlei.

Der Frontkreis des Brigadeführers Mohnke, der sich um die Reste der Innenstadt schloß, hatte sich weiter verengt. In der Gegend des großen Zoobunkers hatte der Kreis noch eine schmale Verbindung mit dem wesentlich größeren Frontkreis, der die noch verteidigenden Stadtteile des Berliner Westen bis nach Steglitz und Spandau umschloß.

Der Geländestreifen, der die beiden Kreise verband, war kaum noch tausend Meter breit. In seinem Mittelpunkt stand der gewaltige Zoo-bunker, in dessen drangvoller Enge immer noch Menschen Zuflucht suchten. Dort lag, hockte und stand Frau neben Frau, Mann neben Mann und Kind neben Kind. Dort starben Kranke und Verwundete. Aber inmitten dieser Zusammenballung von Schmerz und Tod und Angst, Verzweiflung und langsam verlöschender Hoffnung suchten die Greifkommandos noch nach Männern und versprengten Soldaten, um die Kampfeinheiten aufzufüllen oder Futter für die Maschinerie der Schnellgerichte zu finden.

Im Bereich des Zoobunkers griffen die sowjetischen Sturmkolonnen mit geringen Unterbrechungen an, um die beiden Frontkreise voneinander zu trennen. Und gleichzeitig stürmten sie immer wieder gegen die dünne Front im Bereich der Reichskanzlei. Am Abend um 10 Uhr versammelte Hitler zum letztenmal seine engere Umgebung. Audi General Weidling erschien. Er wirkte bleich, erschöpft und am Ende seiner Kraft.

Er meldete, daß die Russen in der Wilhelm-straße fast bis zum Luftfahrtministerium vorgerückt seien. Sie standen in der Saarlandstraße.

Im Westen Berlins wurde zwischen Bismarck-und Kantstraße gekämpft. Im Süden verlief die Front im Norden des Grunewalds und des Reichssportfeldes. Im Havelbrückenkopf von Pichelsdorf kämpfte noch in einer ebenso beispiellosen wie tragischen Treue ein Hitlerjugend-Bataillon, dessen Kräfte aber auch in Kürze erschöpft sein mußten. Weidling stellte fest, daß die sowjetischen Angreifer spätestens an 1. Mai vor den Eingängen des Bunkers erscheinen müßten.

Dann raffte er sich zu einem letzten verzweifelten Versuch auf, seine noch kämpfenden Truppen zu retten. Er schlug vor, jetzt in letzter Stunde aus Berlin auszubrechen. Er versicherte, daß es noch möglich sein würde, den sowjetischen Ring nach Südwesten zu durchbrechen und Wenck entgegenzumarschieren. Er verpflichtete sich, Hitler sicher aus Berlin herauszubringen. Auch Axmann meldete sich zu Wort und übernahm für seine Hitlerjungen die gleiche Verpflichtung Hitler gegenüber.

Aber Hitler lehnte ab. Obwohl Weidling ihn beschwor, ihm und seinen Soldaten zu vertrauen und ihm zu glauben, daß diese die letzte Kraft aus sich herausholen würden, sobald ihnen das Ziel gestecht würde, sich aus Berlin nach Westen durchzukämpfen.

Hitler blieb bei seiner Ablehnung. Wenn es nicht seine Apathie war, die ihn bewegte, so war es die Tatsache, daß er sich durch sein Testament unwiderruflich festgelegt hatte, in Berlin zu bleiben.

Gegen 4 Uhr am Morgen verabschiedete sich Hitler von dem weiten Kreis seiner Umgebung und zog sich mit Eva Braun in seine privaten Räume zurück. Er wirkte müde und gebrochen. Erst gegen Mittag, als sowjetische Stoßtrupps im U-Bahn-Schacht in der Friedrichstraße kämpften und auch bereits in den Schacht unter der Voßstraße waren, erteilte Hitler einen seiner letzten Befehle.

Er war an seinen Kraftfahrer Kempka gerichtet und wies diesen an, zweihundert Liter Benzin in Kanistern in den Garten der Reichskanzlei zu bringen.

Hitler aß zu Mittag. Danach versammelte er noch einmal den engeren Kreis seiner Mitarbeiter um sich, Burgdorf, Krebs, Hewel, Goebbels, Bormann, Naumann, Voß, die Sekretärinnen und seine Köchin. Er verabschiedete sich von ihnen und zog sich dann wieder in seine privaten Räume zurück.

Es war gegen halb vier am Nachmittag, als ein einzelner Schuß hörbar wurde. Als die Angehörigen seiner engsten Umgebung etwas später Hitlers private Räume betraten, fanden sie ihn tot vor. Er hatte sich in den Mund geschossen. Eva Braun lag neben ihm. Sie hatte Gift genommen.

Beide wurden — Hitler in eine Decke gehüllt — durch Bormann, Kempka und einige SS-Offiziere in den Garten hinausgetragen.

Das sowjetische Feuer hatte sich gerade vermindert, aber immer noch schlugen einzelne Granaten in der Umgebung ein. Man legte die Leichen nebeneinander, übergoß sie mit Benzin und zündete das Benzin an. Die Flammen schlugen empor, während Bormann und die anderen wieder in den Schutz der Bunkertüren zurücksprangen und mit düsteren Gesichtern dem Spiel der Flammen zusahen.

Die Qual nahm kein Ende. Wie ein Pest-hauch lag es über der Innenstadt von Berlin und über den westlichen Bezirken, um die am Abend des 1. Mai unentwegt gekämpft wurde.

Keiner der kämpfenden Soldaten wußte, daß Hitler tot war. Noch regten sich letzte Hoffnungen auf Hitler und Entsatz in letzter Sekunde.

Kurz nach Mitternacht nahmen gleichzeitig mehrere sowjetische Funkstellen im Gebiet des Anhalter Bahnhofs und weiter östlich und nördlich einen Funkspruch auf, den General Weidling durch eine Funkstelle des LVII. Panzer-korps, dessen Reste er bis vor wenigen Tagen befehligt hatte, senden ließ.

Er lautete: „Hier LVII.deutsches Panzer-korps. Wir bitten, das Feuer einzustellen. Um 12. 50 Uhr Berliner Zeit entsenden wir Parlamentäre auf die Potsdamer Brücke. Erkennungszeichen weiße Flagge vor rotem Licht. Wir bitten um Antwort. Wir warten. Hier LVII.deutsches Panzerkorps.“

Der Spruch wurde fünfmal nacheinander gesendet. Er wurde ebenso, wie der Brief Fritzsches, dessen Parlamentäre eine Stunde früher die Linien überschritten hatten, an Generaloberst Tschuikow weitergereicht. Tschuikow gab nach Rückfrage bei Shukow Befehl, die Parlamentäre aufzunehmen. Weidling hatte zum Parlamentär jenen Oberst ausersehen, der bereits einmal mit Krebs zusammen die sowjetischen Linien überschritten hatte.

Der Oberst erschien und teilte mit, daß Weidling sich, nachdem Hitler die in Berlin kämpfenden Truppen im Stich gelassen habe, entschlossen habe, die Waffen zu strecken. Gegen 5 Uhr fuhr der Oberst, begleitet von sowjetischen Offizieren, zur Voßstraße zurück.

Um 5. 30 hob sich die Betondecke über dem letzten Gefechtsstand Weidlings. Die Russen sahen zu, wie ein Soldat mit weißem Tuch am aufgepflanzten Bajonett die Treppe hinauf-stieg. Ihm folgten die Generale Weidling, Wetasch und Schmidt-Dankwart.

Erschöpft, mit aschgrauen Gesichtern, gingen sie zu dem sowjetischen Panzerwagen hinüber, der auf sie wartete. Nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, rollte der Wagen mit heiser blökenden Signalen durch die Saarland-straße an den schauerlichen Skeletten des Potsdamer und Anhalter Bahnhofs vorüber, durch das Hallesche Tor und über die Belle-Alliance-Straße nach Tempelhof.

Tschuikow wartete. Weidling hob die Hand zur Mütze. Aus seinen Augen sprach alles, was er in den letzten Wochen und Tagen erlebt und was ihn als Soldaten voller Tradition, voller festumrissener Gehorsams-und Ehrbegriffe am schwersten getroffen und ihn abseits von all dem Leid und der grenzenlosen Not in Berlin dazu bewogen hatte, ein Ende zu machen. Er war seinen anerzogenen Begriffen von Treue und Gehorsam bis zu dem Augenblick gefolgt, in dem Hitler sich ohne ein Wort des Abschieds an seine Soldaten, ohne ein Wort der Erklärung für all jene Täuschungen mit Entsatzarmeen und politischen Wendungen im Westen, an die auch Weidling geglaubt hatte, aus dem Leben und aus der Verantwortung gestohlen hatte.

Weidling sprach mit einer leeren Greisen-stimme.

Er sagte nicht viel. Er überlas den Inhalt einer Kapitulationsurkunde, die ihm vorgelegt wurde. Er unterzeichnete sie mit einer Hand, deren Zittern nur mühsam beherrscht war. Er überflog ein zweites Blatt, das ihm zur Unterschrift vorgelegt wurde. Er las:

„Berlin, den 2. Mai 1945. Am 30. April hat der Führer uns, die wir ihm die Treue geschworen hatten, im Stich gelassen. Auf Befehl des Führers glaubt Ihr noch immer, um Berlin kämpfen zu müssen, obwohl der Mangel an schweren Waffen, an Munition und die Gesamtlage den Kampf als sinnlos erscheinen lassen.

Jede Stunde, die Ihr weiterkämpft, verlängert die entsetzlichen Leiden der Zivilbevölkerung Berlins und unserer Verwundeten. Im Einvernehmen mit dem Oberkommanda der sowjetischen Truppen fordere ich Euch daher auf, sofort den Kampf einzustellen.

Weidling, General der Artillerie und Befehlshaber des Verteidiungsbereiches Berlin.“

Weidling zögerte einen Augenblick, aber dann unterzeichnete er auch dies.

Die Erbitterung dessen, in dem plötzlich eine ganze Vorstellungswelt zusammengebrochen war, führte seine Feder.

Russische Lautsprecher und russische Flugblätter trugen den Text von Weidlings Aufruf durch Trümmer und Brand und den Lärm des Gefechts zu den deutschen Gruppen, die sich noch in den Ruinen der Innenstadt und im Berliner Westen mit der Kraft der Verzweiflung zur Wehr setzten, oder aber sich tödlich ermattet und hoffnungslos in irgendwelche Schächte und Keller zurückgezogen hatten und dort vermischt mit der Zivilbevölkerung und den auf ihre Befreiung wartenden Ausländern dem Ende entgegensahen.

In der Stadtmitte folgten die meisten Kampfgruppen Weidlings Kapitulationsaufforderung. Andere aber setzten sich weiter zur Wehr oder versuchten, zwischen den Zivilisten unterzutauchen oder sich im Schutz der nächsten Nacht durch das unbeschreibliche Gewirr der Fronten nach Westen durchzuschlagen. In Halensee wurde buchstäblich bis zum letzten Mann gekämpft. Der Kampf endete in Trunkenheit und Mord. Eine in Pankow stehende stärkere Kampf-einheit versuchte einen geschlossenen Ausbruch nach Westen. Sie zerflatterte in wilden erbarmungslosen Kämpfen Mann gegen Mann.

Im Berliner Westen versuchten mehrere Gruppen der so grausam gefürchteten sowjetischen Gefangenschaft durch geschlossene Ausbruchsversuche zu entkommen. Überall schlossen sich ihnen Frauen und Kinder an. Frauen stürmten, ihre Kinder auf dem Arm, mit in der vordersten Linie und gingen im Feuer zugrunde. Einer dieser Ausbruchsversuche wurde von den dezimierten Resten der Division „Müncheberg", zusammen mit anderen Kampfgruppentrümmern, die sich ihnen schließlich angeschlossen hatten, unternommen. Der gleiche Ordonanz-offizier, der über die Kämpfe des LVII. Panzer-korps und der Division „Müncheberg“ in den Straßen Berlins einen tagebuchartigen Bericht geschrieben hatte, schrieb auch in diesen letzten Tagen der Verzweiflung. Er schrieb über diesen letzten Versuch, dem übermächtigen Schicksal zu entgehen: „ 1. Mai 1945. Wir liegen jetzt im . Aquarium'. Ringsum breitet sich Trichter an Trichter. Die Straßen scheinen zu dampfen. Der Leichen-geruch wird zeitweise unerträglich. In der letzten Nacht haben in einer Etage über uns trotz des ununterbrochenen schweren Artilleriefeuers Polizeioffiziere und Polizeisoldaten Abschied vom Leben gefeiert. Männer und Frauen liegen am Morgen betrunken und eng umschlungen auf den Treppen. Auf der Straße blickt man durch die gähnenden Einschlagslöcher in den Straßen-decken in die U-Bahnschächte hinab. Man hat den Eindruck, als ob dort unten Menschen in Schichten aufeinanderlägen. Es gibt keine Verbindung mehr unter den Verteidigungsabschnitten. Jeder in unserem Gefechtsstand, einschließlich General Mummert, ist in den letzten Tagen zum zweiten-oder drittenmal verwundet worden. Der General trägt den rechten Arm in der Schlinge. Wir alle kennen nur noch zwei oder drei Stunden Schlaf am Tag und gleichen wandelnden Skeletten. Die Funker horchen hinaus. Aber es gibt keine Meldungen und keine Nachrichten. Nur ein Gerücht besagt, Hitler sei gefallen. Die Hoffnungen erlöschen. Nur noch von einem wird gesprochen, sich nicht gefangen zu geben, sondern, falls Hitler wirklich tot ist, irgendwohin nach Westen durchzubrechen. In den Augen der Zivilisten gibt es auch keine Hoffnungen mehr. Niemand spricht mehr von Wenck. Den ganzen Vormittag über dröhnt die Erde. Sprühend steigen Feuersäulen auf, und weit und breit platzen die Geschosse von Granatwerfern und Stalinorgeln. Unsere Flak auf dem Zoobunker schießt ununterbrochen. K. wagt gegen Mittag einen Sprung über die Straße, um im Hotel , Eden‘ irgendeine Nachricht aufzulesen. Aber er erreicht nichts. Von neuem an Kopf und Schulter verwundet, fällt er in den Keller des . Aquariums’ zurück. Die Russen haben sich im Kleinen Haus des Staatstheaters festgesetzt.

Nach Mittag müssen wir zurück. Maschinen-gewehrfeuer bestreicht unseren Keller. Wir bringen unsere Verwundeten in den letzten Schützenpanzerwagen in die Heereskleiderkasse. Dann folgen wir nach.

Die Division hat alles in allem noch fünf Panzer und vier Geschütze. Ein Teil kämpft jetzt vor dem Zoobunker, in dem Tausende dem Ersticken nahe sein müssen. Die Gedächtnis-kirche wird von den Russen genommen. Am späten Nachmittag neue Gerüchte, daß Hitler gefallen sei und daß Kapitulationsverhandlungen im Gange sind. Das ist alles. Zivilisten fragen uns, ob wir ausbrechen werden.

Sie wollen sich uns anschließen. Ihre Gesichter, seit Wochen kaum noch gewaschen, bleiben unvergeßlich. Einzelne Stützpunkte halten sich in der Nähe des Savignyplatzes. Die Russen verfolgen immer wieder ihre Taktik des unterirdischen Vorgehens. Plötzlich steigen sie irgendwo in unseren Rücken aus den Schächten herauf. Unten hört man während der Feuerpausen das Geschrei der Zivilisten, die auf den Bahn-körpern liegen. Vor Einbruch der Dunkelheit gelingt es einem Spähtrupp, über die Spandauer Brücke vorzustoßen und in Spandau nur schwächere russische Kräfte festzustellen. Gleich darauf neue Kapitulationsgerüchte. Es entsteht der Plan, über Spandau nach Westen auszubreschen.

Der russische Druck auf die Budapester Straße ist nicht mehr länger aufzuhalten. Wir müssen weiter zurück. Verwundete schreien in den Kellern. Es gibt keine Mittel mehr, ihre Schmerzen zu lindern. Hier und da stürzen Frauen trotz des Feuers, die Fäuste an die Ohren gepreßt, aus den halbverschütteten Kellereingängen, weil sie das Schreien nicht länger ertragen können. 2. Mai. Es gibt keinen Augenblick Ruhe. Fast ununterbrochen zittert der Boden. Nachtflieger sind unterwegs. Man hört, wenn sie tief herunterschießen und ihre heimtückischen Splitterbomben werfen. Endlich Verbindung mit einer übriggebliebenen Gruppe der 18. Panzergrenadierdivision. Anfrage, ob sie sich einem Ausbruchversuch anschließen will. Sie lehnt ab, solange kein höherer Befehl vorliegt.

Müncheberg'bezieht auf engem Raum neue Riegelstellung und entsendet Spähtrupps zur Erkundung des Ausbruchsweges. Alles fiebert nach Westen. Am Nachmittag Kapitulationsflugblätter. Sowjetische Lautsprecher, die einen angeblichen oder tatsächlichen Kapitulationsaufruf Weidlings zu uns herüberschreien. Die Flak auf dem Zoobunker feuert immer noch. Ein paar abgehetzte Landser und Zivilisten, die schon hinter der sowjetischen Front gewesen sind, schlagen sich zu uns durch. Sie sind ohne Ausnahme verwundet, auch die Frauen. Sie sind schweigsam. Sie deuten nur mit wenigen Worten an, was sie drüben gesehen und erlebt haben. Die 18. Panzergrenadierdivision meldet sich. Teile von ihr wollen sich jetzt unserem Ausbruch anschließen.

3. Mai. Im Morgengrauen Angriff auf die Havelbrücke bei Spandau, die nach Spandau-West führt. Die nahe Zitadelle ist in russischer Hand. Die Brücke liegt dauernd unter schwerem Feuer. Die Opfer der letzten Tage liegen überall herum, sterbende Verwundete warten unbeachtet auf ihr Ende. Die Brücke wird genommen. Sie ist nur im Sprung zu überqueren. Aber die Verzweiflung treibt eine Masse von Flüchtlingen jeden Alters darauf zu. Sie fallen reihenweise. Die letzten Panzer und Fahrzeuge, die noch einsatzbereit sind, bahnen sich einen entsetzlichen Weg durch wirre Haufen von menschlichen Körpern. Die Brücke schwimmt in Blut, als wir darüber hinwegspringen. Die Nachhuten halten nicht mehr. Sie fiebern nach Westen. Sie wollen nicht im letzten Augenblick fallen. Die Führung zerflattert. General Mummert wird beim weiteren Angriff auf den Flugplatz Staaken vermißt. Der erste Angriff auf Staaken gelingt nicht. Erst der zweite Angriff gelingt. Schwere Verluste. Hilflos zurückbleibende Verwundete. Immer noch versuchen Zivilisten mit durchzubrechen.

4. Mai. Hinter uns brennt Berlin. Außer uns müssen noch viele andere Gruppen kämpfen. Der Himmel glüht in einem hellen Rot, das von hellen Blitzen durchzuckt wird. Rings um unsere Gruppe das Feuer sowjetischer Panzerkanonen und ununterbrochenes Maschinengewehrfeuer. Erbitterte Nahkämpfe um den weiteren Durchbruch. Wir kämpfen uns an Fort Hahneberg vorbei. Immer wieder stoßen wir auf Flüchtlings-kolonnen, die ziellos umherirren. Sie bitten weinend um Führung und Hilfe. Aber wir selbst sind am Ende. Im Morgengrauen erreichen einzelne Kolonnen den Truppenübungsplatz Doberitz. Hier stoßen wir auf weit überlegene Russen. Unsere Munition geht zu Ende. Stundenlang erbitterte Kämpfe. Wir werden völlig aufgesplittert. In kleinen Gruppen versuchen wir uns weiter durchzuschlagen. Wir erreichen den Beetzsee und verstecken us im Schilf, um in der Nacht weiterzumarschieren. In der Ferne grollen unentwegt Geschütze, und die Feuerwolke — jetzt hellrosa v-m Licht des Tages — liegt breit und flach über Berlin.“

Das war das Ende einer Division, die in Berlin gekämpft hatte.

Es entsprach dem Ende aller anderen, die in letzter Stunde versuchten, dem Debakel zu entrinnen. Es gelang nur einzelnen.

Die Masse derer, die in Berlin als Soldaten und Zivilisten eingeschlossen worden waren und die Schlacht überlebt hatten, gab sich in die Hand der Sieger.

Ausgebrannt, verwahrlost, mit apathischen, von Müdigkeit, Enttäuschung, Verbitterung oder der ersten Ahnung einer zu spät erkannten Wirklichkeit gezeichneten Gesichtern, stiegen die überlebenden Soldaten und Volkssturmmänner aus den Kellern, Höhlen und Schächten. Sie sammelten sich, wie in allen anderen verlorenen Städten des Ostens, in den Ruinenfeldern zu verlorenen, trüben Haufen. Sie sahen in die fremden, so häufig mongolischen Gesichter der Sieger. Sie formierten sich zu endlosen Zügen, die dann den Marsch aus Berlin nach Osten antraten. Jürgen Thorwald (Wird fortgesetzt)

Fussnoten

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