Wer nicht vor 1789 gelebt habe, soll Talleyrand einmal gesagt haben, wisse nicht, wie süß das Leben sein könne. Das erinnert an manche zeitgenössische amerikanische Stimme, die wehmütig der goldenen Zeit vor 1929 nachtrauert. Seit Wirtschaftskrise und New Deal gäbe es das alte, freie Leben nicht mehr, das den Glauben an die Unbegrenztheit der sozialen Möglichkeiten so sichtbar bezeugte. Amerika, groß geworden durch individuelle Leistungen, habe sich im Schock über die Depression in einen Wohlfahrtsstaat verwandelt, in dem das Vorbild der amerikanischen Väter nichts mehr gelte. Eine industrielle Konsumgesellschaft sei entstanden, deren Kennzeichen die genormte und propagierte Reaktion und nicht mehr die persönliche Spontaneität sei.
Man wird freilich bei solchen und ähnlichen Klagen restaurativer Sehnsucht zunächst einmal zu fragen haben, ob hier nicht etwa in romantischem Gewände gegen den Verlust sozialer Privilegien protestiert wird. Süß kann man das Leben ja nur finden, wenn man auf seiner Sonnenseite steht und wenn die Zugehörigkeit zu den von der gesellschaftlichen Ordnung privilegierten Gruppen den vollen Genuß des Daseins erlaubt. Aber gewiß trifft doch auch die in der Klage liegende Behauptung eines tiefen Epo-
chenschnittes, einer grundlegenden Verwandlung aller Wertmaßstäbe bei beiden genannten Zeitpunkten ein wesentliches Moment. Die französische Revolution ist als weltgeschichtliche Zäsur längst unbestritten. Seitdem, um ein Wort Jakob Burckhardts abzuwandeln, die Gärungen der Völker zum konstituierenden Faktor aller Politik geworden sind, ist in der Tat ein neues Zeitalter angebrochen und alle Sicherheit zu Ende.
Ob der Amtsantritt Roosevelts ebenfalls als historische Wasserscheide gelten kann, ist schwieriger zu beantworten. Wir sind noch zu nahe, um schon deutlich zu erkennen, ob damals die amerikanische Geschichte in eine andere Formation gewechselt hat, oder ob nicht nur ein neuer Ausblick für einen Moment die gleiche Umwelt verändert erscheinen ließ. Ist mit dem New Deal wirklich eine Revolutionierung des amerikanischen Lebens, des amerikanischen politischen Denkens und der politischen Wirklichkeit geschehen? Ist er Abschied von der bisherigen Geschichte, das ganz andere, ein ungeheurer Verrat an der Tradition, oder nur die neue Gestalt alter Werte in Anpassung an neue soziale Bedingungen? Was ist das stärkere Element im New Deal, der Kontinuitätsbruch oder der reformerische Wille, gerade den Bruch zu vermeiden, um dadurch in der Kontinuität der amerikanischen Geschichte bleiben zu können? Es mag vermessen erscheinen schon heute den New Deal in solch historischer Perspektive sehen zu wollen, wenn selbst der politische Tagesstreit um ihn erst gerade zu Ende gegangen ist. Zwar gehört der New Deal gewiß zur Epoche der Mit-lebenden, wie Hans Rothfels die Zeit seit 1917, die Zeitgeschichte, abgegrenzt hat
Kein festes Programm
Was also unterscheidet den New Deal von dem, was ihm vorhergegangen ist? Als Voraussetzung einer Antwort wird zunächst über sein Wesen Klarheit zu schaffen sein
Ein Spargesetz, „to maintain the Credit of the US Government“, kürzte die Ausgaben für die Verwaltung und die Mittel für die Kriegsopfer um 100 Millionen Dollar und versprach damit den Haushalt auszugleichen zu einem Zeitpunkt, als andere gesetzgeberische Maßnahmen, wie etwa die Einrichtung eines Civilian Conservation Corps, eine Art freiwilliger Arbeitsdienst, den Staatshaushalt zusätzlich belasteten. Es sah doch sehr nach unsolidem Finanzgebahren aus, wenn die innere Widersprüchlichkeit von New-Deal-Maßnahmen verschleiert werden sollte, indem Roosevelt in diesem Falle einfach ein „regulär budget , das ausgeglichen sein müsse, neben ein „emergency budget“ stellte, dessen Defizit nicht groß genug sein konnte.
Basil Rauch hat solche offensichtlichen Diskrepanzen durch die Unterscheidung eines ersten und eines zweiten New Deal zu erklären ver-sucht. Widersprüchlichkeiten seien unvermeidlich gewesen, da der erste New Deal auf bloße „recovery" abgestellt gewesen sei und erst der zweite unter dem Stichwort „reform" die tiefer-liegenden Ursachen der Mißstände beseitigt habe. Man könnte aber auch mit Richard Hofstaedter
Aber bei aller von den Experten kritisierten Widersprüchlichkeit im New Deal enthielt er doch ein Element der Einheitlichkeit des Verfahrens, das nicht zu übersehen ist. Man findet es am besten bezeichnet in Roosevelts berühmter Rede vor dem Commonwealth Club in San Franzisco während des Wahlkampfes im Jahre 1932
Was die große Mehrheit des amerikanischen Volkes im Sommer 1932 empfand, hatte sich in Roosevelts Forderung ausgedrückt: „Clearly all this calls for a reappraisal of values." Das Überkommene stand sichtlich in schwerster Krise. Während dreier Jahre hatte Hoover nur unerfüllte Versprechungen geleistet: „prosperity is just around the Corner.“ Gleichzeitig aber waren die Arbeitslosenzahlen ungeheuerlich angewachsen, das Elend einer wirtschaftlichen Depression hatte sich eingestellt und schien sich allmählich zur allgemeinen Gesellschaftskrise auszuweiten
Ablösung der alten Ideale
Die Krise des amerikanischen politischen Bewußtseins, wie sie durch die Depression offenbar und von politischer Relevanz wurde, ist somit auf einen Hintergrund zu projizieren, der eine allgemeine Störung im Verhältnis von politisches und gesellschaftlicher Verfassung innerhalb der westlichen Industriestaaten enthüllt. Die deutsche Geschichte kennt sie als innere Problematik der Weimarer Republik, die, wie Karl Dietrich Erdmann gesagt hat
„enterprise", „opportunity“, „individualism", „substantial laissez-faire", personal success" und „material welfare", er hatte selbst als self-mademan die für Generationen Amerikaner unwiderstehliche Kraft dieser alten Ideale erprobt. Brüning glaubte nicht nur unbeirrt an den Staat als den Garanten der Ordnung, der Sanierung und des Haushaltsausgleiches, er hatte selbst in asketischer Sachlichkeit alle parteipolitischen Wunschbilder einer zu bewahrenden und zu stärkenden Staatsautorität zum Opfer gebracht. Aber die allgemeine Krise Anfang der dreißiger Jahre unterhöhlte die Kraft des Glaubens, als könne man in Amerika seine Hilfe beim „rugged individualism" oder aber in Deutschland beim bürokratischen Obrigkeitsstaat finden. Es ist auffällig, daß sowohl Hoover wie Brüning, nur verschieden motiviert, übersahen, daß das soziale System der modernen industriellen Gesellschaft zunächst einmal dadurch charakterisiert ist, daß eine prizipielle Trennung von Staat und Gesellschaft fraglich wurde. Wenn sich aber die Grenzen von Staat und Gesellschaft „gänzlich zu verrücken drohen", so ist damit, wie J. Burckhardt schon in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen vorausschauend bemerkt hat, eine Grundformel für die Krise des gegenwärtigen Zeitalters abgegeben
Es ist sowohl für Hoover wie für Brüning bezeichnend, daß sie das, wofür sie standen, nicht dem Wähler vermitteln konnten. Beide fanden bei den arbeitslosen Massen die Partner nicht mehr, die ihre Worte und Taten so hätten aufnehmen können, wie sie gemeint wären. Mahnte Hoover immer wieder, in der Spontaneität gesellschaftlichen Handelns nicht zu erlahmen, das Vertrauen auf die Kraft individueller Initiative nicht zu verlieren — er lehnte deshalb auch unnachgiebig alle Fürsorgemaßnahmen durch die Bundesregierung ab —, so baute Brüning unentwegt auf die Selbstdisziplin staatsbürgerlicher Verantwortung. Beide, Hoover und Brüning, wußten wenig oder nichts von der elementaren Existenzangst der Interessenten, zu denen die Wähler diesseits und jenseits des Atlantik geworden waren. Hofstaedters Kennzeichnung der Hooverschen Regierung nach 1929 als „one protracted rite of hara-kiri" gilt in Abwandlung auch für die Ära Brüning.
Es wurde aber nun für die USA höchst bedeutsam, daß das Zwei-Parteiensystem zumindest potentiell eine politische Alternative anbot und somit das Entweder-Oder im Gegensatz zu den ganz andersartigen Verhältnissen in Deutschland innerhalb der existierenden politischen Verfassung entschieden werden konnte. War schon die Führung der einen Partei nicht mehr rezeptiv gegenüber dem Wählerwillen, so konnte immerhin möglicherweise die Führung der anderen eine solche Rezeptivität entwickeln. Es fügte sich, daß in der Person Roosevelts auch ein außerordentliches Instrument zum Auffangen und Registrieren der öffentlichen Meinung zur Verfügung stand und der New Yorker Gouverneur vor allem gerade auch deswegen nominiert wurde. Prof. Raymond Moley, führendes Mitglied des ersten Rooseveltschen brains trust, bemerkte in einem Brief vom April 1932 bestürzt: „I don't find he has read much about economic Subjects. The frightening aspect of his methods is F. D. Roosevelts great receptivity. So far as I know he makes no efforts to check up on anything that I or anyone eise has told him.“
Aber gerade hier in dieser „great receptivity" lag das Geheimnis von Roosevelts politischem Genius und die Voraussetzung für den politischen Erfolg des New Deal. Die Alternative, die dem amerikanischen Wähler 1932 angeboten wurde, war zunächst nicht eine solche der politischen Philosophie und der weitreichenden Programme. Darüber bestand in Roosevelts Lager weder Klarheit noch Einheit. Aber in Roosevelt und seinen Anhängern lebte ein politisches Temperament, das die Unruhe und Existenzangst der Wähler bemerkte und den elementaren Schrei nach neuen Methoden der Führung nicht überhörte. Das Scheitern des liberalen Systems
meidlich, als die Aufgabe der Führung nicht sehr wirklich ergriffen wurde, um stattdessen die weiteren Entwicklungen den vermeintlich im-
manenten Kräften der kapitalistischen Wirt-— schaftsordnung zu überlassen. Die Krise des amerikanischen politischen Bewußtseins, wie übrigens auch des deutschen, läßt sich aber am besten diagnostizieren als mangelndes Vertrauen in die Möglichkeiten der politischen Führung unter den Bedingungen des alten Systems. In den veränderten Formen der Führung aber lag vornehmlich das Neue des New Deal.
Das von Hoover Unterscheidende ist also vor allem eine neue Dynamik. „This nation asks for action and action now“ hatte Roosevelts erste Inaugural-Botschaft festgestellt
Bereitschaft zum Experiment
An die Stelle der doktrinären und rigorosen Einseitigkeit von Hoovers laissez-faire trat ferner die Rooseveltsche Bereitschaft zum Experiment: „The country needs and unless I mistake its temper, the country demands bold, persistent experimentation. It is common sense to take a method and try it. If it fails, admit it frankly and try another. But above all, try something.“ Wenn man schon nicht genau wisse, wohin man endgültig zu gehen habe, so lautete das Credo der New Dealer, dann solle man wenigstens experimentieren. Und wenn man schon keine klare politische Linie im Augenblick besitze, dann solle man wenigstens so tun als ob. Denn das Entscheidende mußte es bei Millionen Arbeitslosen sein, der weiteren gesellschaftlichen Desintegration zu wehren, dem Verfall des Vertrauens in die Führung Einhalt zu gebieten, weil sonst schließlich auch die Mittel staatlicher Führung nicht mehr imstande sein würden, die Gesellschaft zusammenzuhalten.
Kein Wort in Roosevelts Wahlreden und während der ersten Monate seiner Amtszeit wurde mit solchem Nachdruck ausgesprochen, wie das Wort „leadership"
Es ist kein alltägliches Schauspiel, das diese Jahre amerikanischer Geschichte bieten: jede gesetzgeberische Maßnahme bezog einen neuen sozialen Bereich in den Aktionsradius des Staates ein und schuf gleichzeitig eine neue Behörde. Der neuen Dynamik, „action", „experimentation“, leadership" entsprach die Hektik der Verwaltungsorganisation. Sie ließen Dutzende von Behörden entstehen, deren meist unklare Kompetenzen den Ressortstreit begünstigten. Der experimentelle und widerspruchsvolle Charakter so vieler New-Deal-Maßnahmen spiegelte sich in der Art des überhasteten und vielfach mehrgleisigen Verwaltungsaufbaus wieder, der in wenigen Jahren Washington zu einem viel kritisierten bürokratischen Wasserkopf machte. Es brauchen in diesem Zusammenhang nicht die vielen staatlichen Institutionen im einzelnen beschrieben zu werden, die in rascher Folge entstanden. Die Amerikaner haben sich angewöhnt, sie nur in ihren Abkürzungen anzusprechen, und es fällt heute zuweilen recht schwer, sich im Labyrinth dieser Abkürzungen zurecht zu finden. NIRA, AAA, CCC, PWA, FERA, WPA, RFC, TVA, um nur die wichtigsten zu nennen, besitzen auch für Autoren von text bocks über amerikanische Geschichte und Politik ihre Tükken, zumal wenn sich im Lauf der Jahre die Aufgabenstellungen solcher Behörden veränderten, Teile abgezweigt, mit anderen Behörden vereinigt oder aber selbständige neue Behörden geschaffen wurden. Das amerikanische Volk erlebte die Bürokratisierung im Bereich des Staates und schob sich auch auf dieser Ebene näher an Europa heran, wo der Staat aus andersar-tigen Wurzeln schon wesentlich früher zur gesellschafts-regulierenden Potenz geworden war. Für Verwaltungskunde hatte das Amerika vor dem New Deal nur wenig Verwendung. Jetzt aber erhielt die amerikanische Politische Wissenschaft in ihr eine neue und vielbetriebene Disziplin. Eine immer größere Zahl von Amerikanern band im anschwellenden Heer der Staats-bediensteten auch ihr persönliches Schicksal an die „government payroll."
Zunehmendes Selbstbewußtsein des Staatsapparates
Das Problem des Verhältnisses von Staat, Gesellschaft und Beamtentum war damit aufgeworfen, wie es gerade auch die deutsche Geschichte in mancherlei Aspekten kennt. Der staatliche Apparat bekam mit der Steigerung seiner Aufgaben auch ein zunehmendes Eigengewicht und Selbstbewußtsein. Auch hier ist der New Deal deutlich von den zwanziger Jahren unterschieden
Damit war eine neue Beziehung von politischer und gesellschaftlicher Verfassung hergestellt, die an traditionellen Leitbildern gemessenmehr als ungewöhnlich zu nennen ist. Normalerweise galt im politischen Bewußtsein der Amerikaner der Staat als bloßes Appendix der Gesellschaft. Das hatte sich vor allem aus dem Erlebnis der Pioniere an der Grenze der Zivilisation entwickelt. Dort war staatliche Ordnung immer erst entstanden aus der Kooperation der gesellschaftlichen Glieder. Dieser Primat der gesellschaftlichen Spontaneität hat die politische Gestalt des amerikanischen Gemeinwesens auf das bestimmendste geprägt
Das neue Bild des Mannes im Weißen Haus, der mit seinen „fire side chats“ und durch ge-schickten Gebrauch des Rundfunks fast in jedes amerikanische Haus kam, unterschied sich merklich von der weitverbreiteten Vorstellung eines Präsidenten, der, wie die Bewohner des Weißen Hauses zwischen 1870 und 1900 ein bloßer Befehlsempfänger der amerikanischen Wirtschaftscäsaren sei und dessen Person zu kennen sich deswegen auch nicht lohne. Seither war Washington immer weit weg gewesen, sieht man von den wenigen Krisenfällen ab, die aber wie etwa der erste Weltkrieg nur als Episoden angesehen wurden und deshalb auch der tieferen Wirkung auf das politische Bewußtsein entbehrten. Von nun an aber gestaltete Washington als die im Präsidenten repräsentierte staatliche Realität die gesellschaftlichen Vorgänge in erheblichem Maße mit.
Es ist an dieser Stelle noch einmal mit Entschiedenheit darauf zu verweisen, wie wenig in jener Wendung zum aktiven Staat Willkürliches geschah. Die Kritik, die von konservativen Amerikanern am New Deal geübt wurde und geübt wird, übersah und übersieht, was an historischer Notwendigkeit wie an elementaren Forderungen der Wähler die bewußte Staatsintervention als gesellschaftsbauendes Prinzip her-aufgeführt hat. „The day of enlightened administration has come,“ hatte Roosevelt im Wahlkampf 1932 festgestellt. „As I see it, the task of government in its relation to business is to assist the development of an economic declaration of rights, an economic constitutional Order
Theorie und Praxis des New Deal als des Gebrauchs der Staatsautorität zum Umbau der Gesellschaft, entsprachen damit dem schon erwähnten allgemeinen Bedürfnis moderner Industriestaaten, das sich aus dem Zusammenwachsen von Staat und Gesellschaft ergeben hat. Da das freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte keine stabilen politischen Verhältnisse mehr zu garantieren vermochte, mußte die staatliche Verwaltung eingreifen, um den gesellschaftlichen Prozeß bis ins einzelne zu dirigieren und die starke Aktivität der organisierten gesellschaftlichen Gruppen zu steuern. Das moderne Amerika erfuhr im New Deal, daß die Waffe der Staats-autorität auch und gerade wenn sie demokratisch legitimiert war, scharf geschliffen sein muß, wenn die staatliche Entscheidung nicht zum bloßen Objekt im Kampf der Interessenten werden und es neben der Repräsentation der Partikular-interessen noch eine wirkliche Repräsentation der Gesamtheit geben sollte. Dem Staat fiel jetzt sogar die schwere Verantwortung zu, den Schutz individueller Freiheit zu gewährleisten und zu verhindern, daß im natürlichen Zustand der hochindustrialisierten Gesellschaft, im „Stellungskrieg der Verbände", nicht einfach der stärkste und radikalste Interessent siegte.
Weltgeschichtliche Bedeutung der inneren Umgestaltung
Es bezeichnet die weltgeschichtliche Bedeutung von Wirtschaftskrise und New Deal, daß mit beiden unter spezifisch amerikanischen Bedingungen die LISA mit den industriellen Nationen West-und Mitteleuropas, was ihre innerpolitische Problematik angeht, gleichgezogen haben. Das Verschwinden der letzten geographischen Grenze und das Überwiegen der technologischen Faktoren über die industriegründende Spontaneität einzelner, hat die Sonderstellung Amerikas aufgehoben und damit zugleich die innenpolitische Voraussetzung internationaler Partnerschaft und Führerstellung geschaffen. Es ist gar nicht auszudenken wie die LISA den weltpolitischen Dualismus, der ja primär ein Dualismus gesellschaftlicher Fronten ist, heute aushalten könnten ohne jene vorausgegangene Anpassung, als die der New Deal hier bezeichnet worden ist. Wie könnte einer weltrevolutionären Bewegung, die die politischen Konsequenzen aus der Machtstellung des vierten Standes innerhalb des industriellen Systems radikal gezogen hat, entgegengetreten werden, wenn nicht inzwischen auch der amerikanische Arbeiter nicht nur im Materiellen, sondern vor allem auch, was sein soziales Prestige anlangt, ein gleichberechtigter Mitspieler geworden wäre. Es mögen in Roosevelts pro-gewerkschaftlicher Politik noch so viele taktische Motive erkennbar sein, der New Deal vollzog doch in der Stärkung der gewerkschaftlichen Position und des gewerkschaftlichen Selbstbewußtseins zugleich einen geschichtlichen Auftrag. In der Krise seiner traditionellen Lebensform aber erwies das amerikanische Volk im New Deal eine Standfestigkeit und Kraft zu innerer Erneuerung, ohne die die Selbstbehauptung nach außen, wie sie der zweite Weltkrieg forderte, nicht denkbar gewesen wäre.
Die Verschärfung der internationalen Spannungen im Gefolge der japanischen Expansion und Hitlers Machtergreifung hat natürlich auch die amerikanische Politik in den dreißiger Jahren zunehmend bestimmt
schine von ungeheuren Ausmaßen zu verwandeln, hat die reformistischen Tendenzen des New Deal verstärkt und besaß zugleich wieder in den durch den New Deal erweiterten und erprobten Befugnissen der amerikanischen Staatsführun eine ihrer wesentlichen Voraussetzungen. Zum erstenmal erfuhren die Amerikaner, daß ihre innerstaatlichen politischen und gesellschaftlichen Zustände auch von außenpolitischen Entwicklungen bestimmt wurden. Die Sorge begann zu ängstigen, die amerikanischen Institutionen, die außerhalb der Weltpolitik und deshalb mit wenig Rücksicht auf sie entstanden seien, könnten vielleicht die Belastung durch das neuartige außenpolitische Engagement nicht aushalten. Es waren ähnlich Sorgen wie sie 1932 in der inneren Krise geäußert worden waren, wo auch die Frage sich gestellt hatte, ob nicht ein radikal gewandeltes politisches Bewußtsein in einer radikal anders gestalteten Gesellschaftsordnung in Zukunft erforderlich sein werde. Der Revolutionierung in den inneren Verhältnissen jedenfalls folgte sehr rasch die der äußeren. Wie die Doktrin vom laissez-faire schien nun auch die des Isolationismus keine helfende Kraft mehr entfalten zu können, wenn internationale Krisen nicht mehr lokalisierbar waren und in sich eine universale Komponente trugen.
Was der Abschied von der bisherigen amerikanischen Geschichte in der Außenpolitik für die Wandlung des amerikanischen politischen Bewußtseins im einzelnen bedeutet, ist hier nicht zu erläutern, da die Desillusionierung als Voraussetzung der Wandlung ein nach-Roose-
veltsches Phänomen ist
Der New Deal in der Außenpolitik war nicht mehr seine Sache, nachdem er das Scheitern seiner Politik zwischen 1945 und 1948 nicht mehr erlebt hatte. Es blieb seinem Nachfolger überlassen, dessen Entscheidungen, wie etwa der Eintritt der USA in die NATO und in den Koreakrieg, alle festgefügten außenpolitischen Maximen Amerikas in kurzer Zeit außer Kraft setzten. Jetzt war Washingtons Farewell Address von 1796 endgültig zu einem Zeugnis von nur noch historischem Wert geworden. Was aber Roosevelts außenpolitisches Scheitern anlangt, so ließe sich Ähnliches sagen wie von Hoovers innerpolitischem Fiasko. Hier lag mehr vor als persönliches Versagen. Hier versagten sämtliche traditionellen Wertmaßstäbe der amerikanischen Außenpolitik, da die internationalen Bedingungen amerikanischer Politik völlig andere geworden waren.
Man wird die Frage, ob Roosevelt und der New Deal neue Leitbilder der amerikanischen Innenpolitik bewirkt hätten, freilich noch umfassender stellen müssen, als dies bisher geschehen ist. Es muß ein Zusammenhang unseres Themas mit Problemen gesehen werden, die in der modernen amerikanischen Soziologie auf das intensivste erörtert worden sind. Sie hat der Klage über den verlorengegangenen Genius Amerikas gewissermaßen die empirische Grundlage gegeben. Seit den Arbeiten der Gruppe W. Lloyd Warners über Newburyport in Massachusets und der Lynds über Muncie in Indiana hat die soziologische Bestandsaufnahme für Amerika einen immer geringer werdenden Bestand an „frontier democracy" ergeben
Bruch, aber auch Fortsetzung amerikanischer Tradition
Doch auch wenn der Gedanke eines radikalen Bruchs im amerikanischen politischen Bewußtseins vom soziologischen Befund her Unterstützung erhält, so wird doch gerade der Historiker auf Kontinuitäten auch im modernen Amerika verweisen müssen, die allzu einseitige Vorstellungen wie die Riesmans korrigieren können. Tocquevilles Deutung der französischen Revolution
Roosevelt selbst war nach Herkunft wie nach Gesinnung alles andere als ein Revolutionär. Daß man ihm Verrat an der amerikanischen Tradition vorwarf, hat ihn nachweislich mehr erregt als der Vorwurf, ein verkappter Sozialist oder ein Diktator zu sein. Schon im Wahlkampf von 1932 hat er seine Aussagen nachdrücklich in den Traditionszusammenhang einzuordnen sich bemüht, und dieses Bestreben ist mit den Jahren nur stärker geworden. Den Ansatz lieferte ihm besonders Thomas Jefferson. Er schien ihm das Urbild eines demokratischen Führers, der in seiner engen Bindung an den „common man“ die staatliche Autorität gegen den übermächtigen Einfluß kleiner Gruppen aus den besitzenden Schichten eingesetzt habe. Die besondere Beziehung zwischen der präsidialen Spitze und dem „forgotten man“ an der Basis der gesellschaftlichen Pyramide ist eine Grundfigur in Roosevelts politischer Terminologie, und er wußte sie in der „Jeffersonian und Jacksonian Democracy“ vorgeformt.
Wenn Roosevelt gegen die Ausschließlichkeit des laissez-faire protestierte, so vermochte er das im Namen anderer Traditionsbestände zu tun. Neben „free enterprise" sollte in der Nachfolge Jeffersons und Jacksons wieder die Rücksicht auf den „common man“ und seine Sehnsüchte bestimmend für die amerikanische Politik werden. Roosevelt interpretierte sie als das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit, mehr als Folge seiner „great recepticity“, als daß er um die soziologischen Ursachen dieses Bedürfnisses genauer gewußt hätte. Seine Kritiker, nicht er und seine Freunde, waren als „economic royalists“ die Sünder wider den Geist der amerikanischenRücksicht auf den „common man" lebendig sein Demokratie.
kein Pionier mehr, wenn er allein und im Zusammenhang mit anderen einzelnen politisch Doch es mochte in der Sozialpolitik des New Deal noch soviel an pionierhaftem Sozialenthusiasmus sozial nichts mehr vermag und deshalb die und demokratischer Tradition in der Obrigkeit um Schutz anruft.
Bleibendes Potential gesellschaftlicher Spontaneität
Aber es ist das Charakteristische der amerikanischen Industriegesellschaft, zweifellos etwa im Gegensatz zur deutschen, daß das Ideal des freien und kooperativen Lebens sich noch mit Vitalität behauptet gegen die Nivellierung im Industriesystem. Beides steht nebeneinander, und es mag immerhin die Vermutung gewagt werden, daß die Amerikaner den offensichtlichen Gefahren der Funktionalisierung und Spezialisierung der menschlichen Arbeit und des menschlichen Lebens durch ihre Traditionen besser gerüstet entgegentreten als wir. Einer der wesentlichen Gründe dafür liegt in der Rolle, die der gesellschaftlicheDynamismus im realen undbewußtseinsmäßigen Aufbau Amerikas gespielt hat. Nach einer klugen Bemerkung Max Lerners
Tocqueville hat in seinem Amerikabuch geschildert
Ihn überfällt heute eher das Geschrei der Interessenten, die damit die Aktivität ihrer Lobbyisten in den Vorzimmern Washingtons untermalen. Daß sich gesellschaftliche Kräfte beim Staat um Hilfe und Unterstützung bemü-
Wir werden dieses spannungsreiche Miteinander von Altem und Neuem im New Deal bestätigt finden im schärferen Blick auf die staat-hen, ist im modernen Amerika eine Selbstverständlichkeit wie anderswo auch. Aber so sehr auch die USA ihren Anteil haben an dem allgemeinen Prozeß der Interessenzerklüftung und Interessenverhärtung, so können doch hier die organisierten Interessen immer anknüpfen an ältere, freiere Formen gesellschaftlicher Gruppierung. Gerade das aber bewahrt die amerikanischen Interessenverbände vor jener Verabsolutierung, die für die europäischen bezeichnend zu sein scheint. Die Frontstellung der gesellschaftlichen Kräfte gegen den Staat ist zumindest in der kontinentaleuropäischen Situation angesichts des traditionellen Primats des Staates vor der Gesellschaft zumeist auch noch weltanschaulich motiviert. Die gesellschaftliche Aktivität besitzt eben in der überlieferten Vorstellung eines Dualismus von Staat und Gesellschaft notwendig einen anderen Stellenwert. Das Verhalten gesellschaftlicher Kräfte in Amerika schloß dagegen traditionell auch eine auf das Gemeinwesen gerichtete Komponente ein; ihr Individualismus war durchaus gemeinschaftsbezogen. Sie waren nicht von minderer Qualität als der Staat, der seinerseits als Eigenbereich durch die Fähigkeit der gesellschaftlichen Kräfte zur Selbstordnung und Selbststeuerung sich in engen Grenzen hielt
Notwendigkeit der Staatsautorität als Integrationsfaktor
liehe Führungsspitze selbst. Es ist zweifellos eines der größten Paradoxa der Weltgeschichte, daß dort, wo traditionell das Herrscherliche des Staates nur Funktion gesellschaftlicher Impulse sein sollte und eine eigenständige Würde und Weihe des Staatlichen sich nie recht hat entfalten können, dennoch im Amt des Präsidenten ein Führungspotential geschaffen wurde, das sich allen Belastungen und Aufgaben gewachsen zeigte. Gesellschaftliche Freiheit und Spontaneität tragen zwar die Gefahr einer gewissen Degradierung des Staates in sich, gleichzeitig belehrt uns aber auch ein nur oberflächlicher Blick auf die amerikanische Geschichte, daß sie staatliche Führung und Autorität durch den Präsidenten in den Entscheidungsstunden des nationalen Lebens gekannt hat.
Es ist oft beschrieben worden, wie die starke institutionelle Verankerung der Präsidentschaft in der Verfassung dem situationsbedingten Bedürfnis nach Staatsautorität und Obrigkeit während und nach dem Unabhängigkeitskrieg entsprang. An späteren Bedürfnissen dieser Art hat es nicht gefehlt, und es ist so eine Tradition der Führung geschaffen worden, die sich im Amt des Präsidenten ein Instrument für den Notfall bereit hielt. An dieser Tradition einer besonderen Beziehung von „presidency" und „emergency“ hat Roosevelt anknüpfen können
Wieder drängt sich dabei unvermeidlich die Frage auf, ob nicht die dauernde Notwendigkeit von Staatsautorität und Staatsintervention die noch vorhandene gesellschaftliche Freizügigkeit schließlich doch aller spontanen Impulse berauben wird. Doch der Versuch einer Antwort könnte nur Spekulation sein. Sie hätte nach den Grenzen des Wohlfahrtsstaates zu fragen, innerhalb derer gesellschaftliche Freiheit und Spontaneität noch möglich sind. Hier stehen Amerikaner und Europäer heute vor den gleichen Sorgen ihrer politischen Zukunft. Dieses Problem hat sich noch verschärft, als die Belastungen des Ost-West-Gegensatzes einen weiteren bedeutsamen Zuwachs an staatlicher Macht und Entscheidungsgewalt brachten, nachdem schon im zweiten Weltkrieg unter den Bedingungen des totalen Krieges die Ausweisung der präsiden-tiellen Befugnisse rasche Fortschritte gemacht hatte
Unter den vielen Arbeiten, die über die neue Gestalt der amerikanischen Präsidentschaft in den letzten zehn Jahren erschienen sind, hat vor allen Dingen die knappe Darstellung von Chinton Rossitter
Das lenkt zum Schluß noch einmal den Blick auf Amerikas geschichtliche Substanz und auf die Frage, wie weit sie in Gegenwart und Zukunft reichen wird. Wie seltsam klingt uns heute das Wort Jakob Burckhardts in den Ohren, der einmal in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen
Aus der ungebrochenen Geschichtlichkeit aber ist dem Amerikaner inmitten einer sich wandelnden Welt ein Maß an Standfestigkeit zugewachsen, das gewiß des Bewundernswerten nicht entbehrt und die Anpassung ohne radikalen Bruch ermöglicht hat. Roosevelt hat in seiner ersten Inauguralrede von dieser Kraft zur Wandlung ohne Verlust des Überkommenen gesprochen
Es sollen bei alle dem die Grenzen gewiß nicht übersehen werden, die einem historisch gesättigten Lebensgefühl in einer mechanisierten und gleichförmig werdenden technischen Welt gezogen sind. Aber die amerikanische Tradition ist auch die Tradition der Spontaneität und des Experiments. Von allem aber besitzt die amerikanische Nation die eigentümliche Fähigkeit, Widersprüchlichkeiten zu ertragen und sie nicht auszustoßen. Mit Recht sieht ein moderner Amerikareisender, Raymond L. Bruckberger, in solcher Fähigkeit die geheime Wirkkraft der amerikanischen Geschichte: „Die Amerikaner sind langsam, weil sie zutiefst spüren, daß das Leben ein kontinuierlicher Prozeß ist, der nur durch Widersprüche vorwärtsschreitet und an Fülle nur gewinnt, indem er die Widersprüche soweit wie möglich aufhebt, nicht, indem er sie ignoriert oder zum Schweigen bringt.“