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Roosevelt und der New Deal Zum politischen Selbstverständnis der Amerikaner im 20. Jahrhundert | APuZ 27/1961 | bpb.de

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APuZ 27/1961 Roosevelt und der New Deal Zum politischen Selbstverständnis der Amerikaner im 20. Jahrhundert

Roosevelt und der New Deal Zum politischen Selbstverständnis der Amerikaner im 20. Jahrhundert

WALDEMAR BESSON

Wer nicht vor 1789 gelebt habe, soll Talleyrand einmal gesagt haben, wisse nicht, wie süß das Leben sein könne. Das erinnert an manche zeitgenössische amerikanische Stimme, die wehmütig der goldenen Zeit vor 1929 nachtrauert. Seit Wirtschaftskrise und New Deal gäbe es das alte, freie Leben nicht mehr, das den Glauben an die Unbegrenztheit der sozialen Möglichkeiten so sichtbar bezeugte. Amerika, groß geworden durch individuelle Leistungen, habe sich im Schock über die Depression in einen Wohlfahrtsstaat verwandelt, in dem das Vorbild der amerikanischen Väter nichts mehr gelte. Eine industrielle Konsumgesellschaft sei entstanden, deren Kennzeichen die genormte und propagierte Reaktion und nicht mehr die persönliche Spontaneität sei.

Man wird freilich bei solchen und ähnlichen Klagen restaurativer Sehnsucht zunächst einmal zu fragen haben, ob hier nicht etwa in romantischem Gewände gegen den Verlust sozialer Privilegien protestiert wird. Süß kann man das Leben ja nur finden, wenn man auf seiner Sonnenseite steht und wenn die Zugehörigkeit zu den von der gesellschaftlichen Ordnung privilegierten Gruppen den vollen Genuß des Daseins erlaubt. Aber gewiß trifft doch auch die in der Klage liegende Behauptung eines tiefen Epo-

chenschnittes, einer grundlegenden Verwandlung aller Wertmaßstäbe bei beiden genannten Zeitpunkten ein wesentliches Moment. Die französische Revolution ist als weltgeschichtliche Zäsur längst unbestritten. Seitdem, um ein Wort Jakob Burckhardts abzuwandeln, die Gärungen der Völker zum konstituierenden Faktor aller Politik geworden sind, ist in der Tat ein neues Zeitalter angebrochen und alle Sicherheit zu Ende.

Ob der Amtsantritt Roosevelts ebenfalls als historische Wasserscheide gelten kann, ist schwieriger zu beantworten. Wir sind noch zu nahe, um schon deutlich zu erkennen, ob damals die amerikanische Geschichte in eine andere Formation gewechselt hat, oder ob nicht nur ein neuer Ausblick für einen Moment die gleiche Umwelt verändert erscheinen ließ. Ist mit dem New Deal wirklich eine Revolutionierung des amerikanischen Lebens, des amerikanischen politischen Denkens und der politischen Wirklichkeit geschehen? Ist er Abschied von der bisherigen Geschichte, das ganz andere, ein ungeheurer Verrat an der Tradition, oder nur die neue Gestalt alter Werte in Anpassung an neue soziale Bedingungen? Was ist das stärkere Element im New Deal, der Kontinuitätsbruch oder der reformerische Wille, gerade den Bruch zu vermeiden, um dadurch in der Kontinuität der amerikanischen Geschichte bleiben zu können? Es mag vermessen erscheinen schon heute den New Deal in solch historischer Perspektive sehen zu wollen, wenn selbst der politische Tagesstreit um ihn erst gerade zu Ende gegangen ist. Zwar gehört der New Deal gewiß zur Epoche der Mit-lebenden, wie Hans Rothfels die Zeit seit 1917, die Zeitgeschichte, abgegrenzt hat und die prinzipiellen Schwierigkeiten zeitgeschichtlicher Erkenntnis ergeben sich auch bei der Deutung des New Deal. Aber Amerika hat doch seit 1933 soviel Wandlungen erlebt, daß man selbst für die amerikanische Zeitgeschichte mehrere Schichten auch des politischen Bewußtseins unterscheiden könnte. Die späteren Lagen eröffnen für die früheren schon annähernd jene Art historischer Perspektive, die in gemächlicheren Zeiten oft erst nach Jahrhunderten zu gewinnen ist.

Kein festes Programm

Was also unterscheidet den New Deal von dem, was ihm vorhergegangen ist? Als Voraussetzung einer Antwort wird zunächst über sein Wesen Klarheit zu schaffen sein Man weiß inzwischen längst, daß der New Deal kein in sich geschlossenes Programm politischer Maßnahmen darstellte und F. D. Roosevelt eher ein genialer Improvisator war. Die Kritiker sind deshalb auch nicht müde geworden den Nachweis zu erbringen, wie wenig die einzelnen Aktionen des New Deal aufeinander abgestimmt waren. Ein Beispiel für viele möge die anscheinende Planlosigkeit der Anfangszeit demonstrieren

Ein Spargesetz, „to maintain the Credit of the US Government“, kürzte die Ausgaben für die Verwaltung und die Mittel für die Kriegsopfer um 100 Millionen Dollar und versprach damit den Haushalt auszugleichen zu einem Zeitpunkt, als andere gesetzgeberische Maßnahmen, wie etwa die Einrichtung eines Civilian Conservation Corps, eine Art freiwilliger Arbeitsdienst, den Staatshaushalt zusätzlich belasteten. Es sah doch sehr nach unsolidem Finanzgebahren aus, wenn die innere Widersprüchlichkeit von New-Deal-Maßnahmen verschleiert werden sollte, indem Roosevelt in diesem Falle einfach ein „regulär budget , das ausgeglichen sein müsse, neben ein „emergency budget“ stellte, dessen Defizit nicht groß genug sein konnte.

Basil Rauch hat solche offensichtlichen Diskrepanzen durch die Unterscheidung eines ersten und eines zweiten New Deal zu erklären ver-sucht. Widersprüchlichkeiten seien unvermeidlich gewesen, da der erste New Deal auf bloße „recovery" abgestellt gewesen sei und erst der zweite unter dem Stichwort „reform" die tiefer-liegenden Ursachen der Mißstände beseitigt habe. Man könnte aber auch mit Richard Hofstaedter durchaus von einem Nebeneinander zweier logisch völlig unvereinbarer wirtschaftspolitischer Konzeptionen sprechen, auf die schon eine bezeichnende Unklarheit in der Terminologie von Roosevelts Wahlkampf 1932 vorausgewiesen hatte Eine Linie der Argumentation hatte damals auf Maßnahmen wirtschaftlichen Abbaus gedrängt, und spätere Gesetze wie die National Recovery Act und die Agricultural Adjustment Act haben das in politische Realität umgesetzt. Aus Feststellungen wie „the industrial plant is overbuilt" folgerte Roosevelt, daß eine weitere industrielle Expansion eine Gefahr für die Volkswirtschaft darstelle. Deshalb müsse die Produktion dem Verbrauch angepaßt werden. Die andere Linie der Argumentation sprach von „meeting the probiern of underconsumption", von einer besseren Verteilung und der Steigerung der Kaufkraft, ja der Notwendigkeit einer „economic declaration of rights". Hier lag der Nadidruck zweifellos auf dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit und dem Willen, die Armut zu besiegen. Man kann den politischen Schwerpunkt dieser auf eine prinzipielle Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung zielenden Seite des New Deal in der durch ihn veränderten Position der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft sehen.

Aber bei aller von den Experten kritisierten Widersprüchlichkeit im New Deal enthielt er doch ein Element der Einheitlichkeit des Verfahrens, das nicht zu übersehen ist. Man findet es am besten bezeichnet in Roosevelts berühmter Rede vor dem Commonwealth Club in San Franzisco während des Wahlkampfes im Jahre 1932 Wenn jetzt die Wasserscheide in der Geschichte der Nation erreicht sei, so hatte Roosevelt dort gesagt, so werde der Abschied von der bisherigen amerikanischen Geschichte in gewisser Weise unvermeidlich. Die letzte Grenze im Westen sei gezogen, die Eroberung des Kontinents beendet. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten unternehmerischen Gestaltens in der Wirtschaft durch den Fortschritt der industriellen Revolution und den damit verbundenen wirtschaftlichen Konzentrationsprozeß immer stärker eingeengt. Roosevelt stellte deshalb die bange Frage, die Millionen Amerikaner ebenfalls bewegte, ob nicht mit solchen Veränderungen prinzipieller Art zugleich die alten Werte des „rugged individualism", der relativ unbegrenzten gesellschaftlichen Freizügigkeit verschwinden müßten, und ob nicht die bisher verbindlichen Leitbilder des Pioniers und des Unternehmers, beide Repräsentanten indi-vidueller Spontaneität, neuen gesellschaftlichen und politischen Zielvorstellungen zu weichen hätten.

Was die große Mehrheit des amerikanischen Volkes im Sommer 1932 empfand, hatte sich in Roosevelts Forderung ausgedrückt: „Clearly all this calls for a reappraisal of values." Das Überkommene stand sichtlich in schwerster Krise. Während dreier Jahre hatte Hoover nur unerfüllte Versprechungen geleistet: „prosperity is just around the Corner.“ Gleichzeitig aber waren die Arbeitslosenzahlen ungeheuerlich angewachsen, das Elend einer wirtschaftlichen Depression hatte sich eingestellt und schien sich allmählich zur allgemeinen Gesellschaftskrise auszuweiten Mit alle dem war Zug um Zug die politische Überzeugungskraft dessen verlorengegangen, was immerhin fast hundert Jahre amerikanische Geschichte bestimmt hatte. Es begann sich die Anschauung durchzusetzen, daß die gesellschaftlichen und politischen Probleme einer hochentwickelten arbeitsteiligen Industriegesellschaft nicht mehr mit dem laissez-faire der Großväter, der Rockefeller, Vanderbilt und Mellon zu lösen waren, daß der kooperative Geist einer Gesellschaft der Freien und Gleichen keine Zukunft mehr verbürge, wenn diese Freien und Gleichen unter dem Druck einer allmächtig fortschreitenden Industrialisierung in Funktionäre der Arbeitsteiligkeit und damit in angsterfüllte Interessenten verwandelt worden waren. Gerade weil in der industriellen Entwicklung Amerikas stärker als in Europa das Bewußtsein lebendig gewesen war, die industrielle Gesellschaftsordnung baue sich aus freien Einzelnen auf, konnte nun die brutale Erfahrung der Abhängigkeit des Menschen von den gesellschaftlichen und technischen " r zessen, die Erfahrung der „Entfremdung“, wie sie dem sozialistischen Protest in Europa zugrundelag, um so einschneidender das Gefühl der Beunruhigung und der Furcht verbreiten

Ablösung der alten Ideale

Die Krise des amerikanischen politischen Bewußtseins, wie sie durch die Depression offenbar und von politischer Relevanz wurde, ist somit auf einen Hintergrund zu projizieren, der eine allgemeine Störung im Verhältnis von politisches und gesellschaftlicher Verfassung innerhalb der westlichen Industriestaaten enthüllt. Die deutsche Geschichte kennt sie als innere Problematik der Weimarer Republik, die, wie Karl Dietrich Erdmann gesagt hat eine liberale Demokratie aufzurichten unternahm, als die Weltstunde des politischen Liberalismus schon vorüber war. Es entbehrt nicht der Tragik, wie Herbert Hoover den universalen politischen Problemen erlag, die eine weiter fortschreitende Industrialisierung aufgeworfen hatte. Es war ja keineswegs ein Mangel an persönlichen Fähigkeiten und moralische Kraft, was ihn scheitern ließ, genauso wenig wie Heinrich Brüning als Person in der Krise des Weimarer Staates versagte. Hoover und Brüning verkörperten im Gegenteil mit das Beste, was amerikanische und deutsche politische Tradition hervorgebracht hatten Hoover glaubte nicht nur an „efficiency"

„enterprise", „opportunity“, „individualism", „substantial laissez-faire", personal success" und „material welfare", er hatte selbst als self-mademan die für Generationen Amerikaner unwiderstehliche Kraft dieser alten Ideale erprobt. Brüning glaubte nicht nur unbeirrt an den Staat als den Garanten der Ordnung, der Sanierung und des Haushaltsausgleiches, er hatte selbst in asketischer Sachlichkeit alle parteipolitischen Wunschbilder einer zu bewahrenden und zu stärkenden Staatsautorität zum Opfer gebracht. Aber die allgemeine Krise Anfang der dreißiger Jahre unterhöhlte die Kraft des Glaubens, als könne man in Amerika seine Hilfe beim „rugged individualism" oder aber in Deutschland beim bürokratischen Obrigkeitsstaat finden. Es ist auffällig, daß sowohl Hoover wie Brüning, nur verschieden motiviert, übersahen, daß das soziale System der modernen industriellen Gesellschaft zunächst einmal dadurch charakterisiert ist, daß eine prizipielle Trennung von Staat und Gesellschaft fraglich wurde. Wenn sich aber die Grenzen von Staat und Gesellschaft „gänzlich zu verrücken drohen", so ist damit, wie J. Burckhardt schon in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen vorausschauend bemerkt hat, eine Grundformel für die Krise des gegenwärtigen Zeitalters abgegeben Hoover wie Brüning bestanden auf der traditionellen Scheidung von Gesellschaft und Staat, der eine um der Gesellschaft, der andere um des Staates willen. Aber in beiden Fällen half der Appell an die Kräfte der eigenen nationalen Traditionen des vorausgehenden Jahrhunderts nicht mehr: der Weg zurück war versperrt.

Es ist sowohl für Hoover wie für Brüning bezeichnend, daß sie das, wofür sie standen, nicht dem Wähler vermitteln konnten. Beide fanden bei den arbeitslosen Massen die Partner nicht mehr, die ihre Worte und Taten so hätten aufnehmen können, wie sie gemeint wären. Mahnte Hoover immer wieder, in der Spontaneität gesellschaftlichen Handelns nicht zu erlahmen, das Vertrauen auf die Kraft individueller Initiative nicht zu verlieren — er lehnte deshalb auch unnachgiebig alle Fürsorgemaßnahmen durch die Bundesregierung ab —, so baute Brüning unentwegt auf die Selbstdisziplin staatsbürgerlicher Verantwortung. Beide, Hoover und Brüning, wußten wenig oder nichts von der elementaren Existenzangst der Interessenten, zu denen die Wähler diesseits und jenseits des Atlantik geworden waren. Hofstaedters Kennzeichnung der Hooverschen Regierung nach 1929 als „one protracted rite of hara-kiri" gilt in Abwandlung auch für die Ära Brüning.

Es wurde aber nun für die USA höchst bedeutsam, daß das Zwei-Parteiensystem zumindest potentiell eine politische Alternative anbot und somit das Entweder-Oder im Gegensatz zu den ganz andersartigen Verhältnissen in Deutschland innerhalb der existierenden politischen Verfassung entschieden werden konnte. War schon die Führung der einen Partei nicht mehr rezeptiv gegenüber dem Wählerwillen, so konnte immerhin möglicherweise die Führung der anderen eine solche Rezeptivität entwickeln. Es fügte sich, daß in der Person Roosevelts auch ein außerordentliches Instrument zum Auffangen und Registrieren der öffentlichen Meinung zur Verfügung stand und der New Yorker Gouverneur vor allem gerade auch deswegen nominiert wurde. Prof. Raymond Moley, führendes Mitglied des ersten Rooseveltschen brains trust, bemerkte in einem Brief vom April 1932 bestürzt: „I don't find he has read much about economic Subjects. The frightening aspect of his methods is F. D. Roosevelts great receptivity. So far as I know he makes no efforts to check up on anything that I or anyone eise has told him.“ Moley war sprachlos als ihm Roosevelt bei der Vorbereitung von Wahlreden empfahl, verschiedene, entgegengesetzte Pläne einfach miteinander zu verschmelzen nach der Devise: „weave the two together."

Aber gerade hier in dieser „great receptivity" lag das Geheimnis von Roosevelts politischem Genius und die Voraussetzung für den politischen Erfolg des New Deal. Die Alternative, die dem amerikanischen Wähler 1932 angeboten wurde, war zunächst nicht eine solche der politischen Philosophie und der weitreichenden Programme. Darüber bestand in Roosevelts Lager weder Klarheit noch Einheit. Aber in Roosevelt und seinen Anhängern lebte ein politisches Temperament, das die Unruhe und Existenzangst der Wähler bemerkte und den elementaren Schrei nach neuen Methoden der Führung nicht überhörte. Das Scheitern des liberalen Systems wurde in dem Augenblick unver-

meidlich, als die Aufgabe der Führung nicht sehr wirklich ergriffen wurde, um stattdessen die weiteren Entwicklungen den vermeintlich im-

manenten Kräften der kapitalistischen Wirt-— schaftsordnung zu überlassen. Die Krise des amerikanischen politischen Bewußtseins, wie übrigens auch des deutschen, läßt sich aber am besten diagnostizieren als mangelndes Vertrauen in die Möglichkeiten der politischen Führung unter den Bedingungen des alten Systems. In den veränderten Formen der Führung aber lag vornehmlich das Neue des New Deal.

Das von Hoover Unterscheidende ist also vor allem eine neue Dynamik. „This nation asks for action and action now“ hatte Roosevelts erste Inaugural-Botschaft festgestellt „Our grea-test primary task is to put people to work. There are many ways in which it can be helped, but it can never be helped merely by talking about it. We must act and act quickly." Eine Dynamik wurde gefordert, die vor allem auch das allgemeine Bewußtsein von ihrer Notwendigkeit und Möglichkeit zu verbreiten strebte. Es war keine geringe Leistung der Rooseveltschen Propaganda, binnen kurzem das Gefühl überwunden zu haben, daß das amerikanische Volk Opfer eines übermächtigen Schicksals geworden sei.

Bereitschaft zum Experiment

An die Stelle der doktrinären und rigorosen Einseitigkeit von Hoovers laissez-faire trat ferner die Rooseveltsche Bereitschaft zum Experiment: „The country needs and unless I mistake its temper, the country demands bold, persistent experimentation. It is common sense to take a method and try it. If it fails, admit it frankly and try another. But above all, try something.“ Wenn man schon nicht genau wisse, wohin man endgültig zu gehen habe, so lautete das Credo der New Dealer, dann solle man wenigstens experimentieren. Und wenn man schon keine klare politische Linie im Augenblick besitze, dann solle man wenigstens so tun als ob. Denn das Entscheidende mußte es bei Millionen Arbeitslosen sein, der weiteren gesellschaftlichen Desintegration zu wehren, dem Verfall des Vertrauens in die Führung Einhalt zu gebieten, weil sonst schließlich auch die Mittel staatlicher Führung nicht mehr imstande sein würden, die Gesellschaft zusammenzuhalten.

Kein Wort in Roosevelts Wahlreden und während der ersten Monate seiner Amtszeit wurde mit solchem Nachdruck ausgesprochen, wie das Wort „leadership" Der New Deal war seinem Wesen nach massive Staatsintervention zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse auch, wenn nötig, durch deren Umbau. Das ist das Prinzip, das alle die verschiedenen und logisch nicht zusammenpassenden Aktionen doch zur Einheit einer politischen Strategie zusammensaßt. Um noch einmal Roosevelts Inaugural-Address als Selbstcharakterisierung zu zitieren: „I shall ask the Congress for the one remaining instrument to meet the crisis — broad Executive power to wage a war against the emergency, as great as the power that would be given to me if we were in fact invaded by a foreign foe." In der bewußten Anwendung und Ausweitung der exekutiven Befugnisse des Präsidenten, in einer neuen veränderten Position des Staates und seiner Führung erfassen wir den revolutionären Kern des New Deal.

Es ist kein alltägliches Schauspiel, das diese Jahre amerikanischer Geschichte bieten: jede gesetzgeberische Maßnahme bezog einen neuen sozialen Bereich in den Aktionsradius des Staates ein und schuf gleichzeitig eine neue Behörde. Der neuen Dynamik, „action", „experimentation“, leadership" entsprach die Hektik der Verwaltungsorganisation. Sie ließen Dutzende von Behörden entstehen, deren meist unklare Kompetenzen den Ressortstreit begünstigten. Der experimentelle und widerspruchsvolle Charakter so vieler New-Deal-Maßnahmen spiegelte sich in der Art des überhasteten und vielfach mehrgleisigen Verwaltungsaufbaus wieder, der in wenigen Jahren Washington zu einem viel kritisierten bürokratischen Wasserkopf machte. Es brauchen in diesem Zusammenhang nicht die vielen staatlichen Institutionen im einzelnen beschrieben zu werden, die in rascher Folge entstanden. Die Amerikaner haben sich angewöhnt, sie nur in ihren Abkürzungen anzusprechen, und es fällt heute zuweilen recht schwer, sich im Labyrinth dieser Abkürzungen zurecht zu finden. NIRA, AAA, CCC, PWA, FERA, WPA, RFC, TVA, um nur die wichtigsten zu nennen, besitzen auch für Autoren von text bocks über amerikanische Geschichte und Politik ihre Tükken, zumal wenn sich im Lauf der Jahre die Aufgabenstellungen solcher Behörden veränderten, Teile abgezweigt, mit anderen Behörden vereinigt oder aber selbständige neue Behörden geschaffen wurden. Das amerikanische Volk erlebte die Bürokratisierung im Bereich des Staates und schob sich auch auf dieser Ebene näher an Europa heran, wo der Staat aus andersar-tigen Wurzeln schon wesentlich früher zur gesellschafts-regulierenden Potenz geworden war. Für Verwaltungskunde hatte das Amerika vor dem New Deal nur wenig Verwendung. Jetzt aber erhielt die amerikanische Politische Wissenschaft in ihr eine neue und vielbetriebene Disziplin. Eine immer größere Zahl von Amerikanern band im anschwellenden Heer der Staats-bediensteten auch ihr persönliches Schicksal an die „government payroll."

Zunehmendes Selbstbewußtsein des Staatsapparates

Das Problem des Verhältnisses von Staat, Gesellschaft und Beamtentum war damit aufgeworfen, wie es gerade auch die deutsche Geschichte in mancherlei Aspekten kennt. Der staatliche Apparat bekam mit der Steigerung seiner Aufgaben auch ein zunehmendes Eigengewicht und Selbstbewußtsein. Auch hier ist der New Deal deutlich von den zwanziger Jahren unterschieden Die traditionellen amerikanischen Maßstäbe in der Beurteilung des civil Service wurden höchst fragwürdig und mußten unter dem Druck der neuen Erfahrungen Auffassungen weichen, die die veränderte Rolle des Staates im amerikanischen Gemeinwesen auch hier kraftvoll betonten. Für die Mehrheit des amerikanischen Volkes aber wurde im New Deal innerhalb ganz kurzer Zeit der Staat ein Faktor im Alltag, wenn er genaue Arbeitszeiten festsetzte, Löhne regulierte, ein Minimum an sozialer Sicherheit garantierte. Es schien in der Tat eine Umkehrung aller bisherigen politischen Werte zu bedeuten, wenn der Amerikaner seinen Staat als fürsorgende Obrigkeit anzusehen lernte. Der Staat wurde mit dem New Deal zum Instrument und schließlich zum Garanten der social security. Das war das Neue, das sich dem amerikanischen Bewußtsein mitteilte. Danach hatten die Wähler verlangt. Roosevelts „great receptivity" hatte den Wunsch registriert und der demokratische Prozeß, die Bindung des Gewählten an die Wähler, hatte ihn verwirklicht.

Damit war eine neue Beziehung von politischer und gesellschaftlicher Verfassung hergestellt, die an traditionellen Leitbildern gemessenmehr als ungewöhnlich zu nennen ist. Normalerweise galt im politischen Bewußtsein der Amerikaner der Staat als bloßes Appendix der Gesellschaft. Das hatte sich vor allem aus dem Erlebnis der Pioniere an der Grenze der Zivilisation entwickelt. Dort war staatliche Ordnung immer erst entstanden aus der Kooperation der gesellschaftlichen Glieder. Dieser Primat der gesellschaftlichen Spontaneität hat die politische Gestalt des amerikanischen Gemeinwesens auf das bestimmendste geprägt Das Fehlen einer absolutistischen Tradition und die „frontier de-mocracy“ haben deshalb eine traditionelle Unterschätzung des Staatlichen verursacht, was bis zum heutigen Tage das Verständnis der amerikanischen politischen Kategorien dem deutschen Betrachter so sehr erschwert. Dessen Maßstäbe basierten umgekehrt auf dem Primat des Staates, was in Deutschland die Entwicklung eines eigenständigen gesellschaftlichen Bewußtseins in Bürgertum und Arbeiterschaft entscheidend gehemmt hat und immer noch hemmt. Die überlieferten amerikanischen Verhaltensweisen im Verhältnis des einzelnen zum Staat haben sich ihrerseits vielfach als retardierendes Moment in der seit 1933 eingetretenen Entwicklung ausgewirkt.

Das neue Bild des Mannes im Weißen Haus, der mit seinen „fire side chats“ und durch ge-schickten Gebrauch des Rundfunks fast in jedes amerikanische Haus kam, unterschied sich merklich von der weitverbreiteten Vorstellung eines Präsidenten, der, wie die Bewohner des Weißen Hauses zwischen 1870 und 1900 ein bloßer Befehlsempfänger der amerikanischen Wirtschaftscäsaren sei und dessen Person zu kennen sich deswegen auch nicht lohne. Seither war Washington immer weit weg gewesen, sieht man von den wenigen Krisenfällen ab, die aber wie etwa der erste Weltkrieg nur als Episoden angesehen wurden und deshalb auch der tieferen Wirkung auf das politische Bewußtsein entbehrten. Von nun an aber gestaltete Washington als die im Präsidenten repräsentierte staatliche Realität die gesellschaftlichen Vorgänge in erheblichem Maße mit.

Es ist an dieser Stelle noch einmal mit Entschiedenheit darauf zu verweisen, wie wenig in jener Wendung zum aktiven Staat Willkürliches geschah. Die Kritik, die von konservativen Amerikanern am New Deal geübt wurde und geübt wird, übersah und übersieht, was an historischer Notwendigkeit wie an elementaren Forderungen der Wähler die bewußte Staatsintervention als gesellschaftsbauendes Prinzip her-aufgeführt hat. „The day of enlightened administration has come,“ hatte Roosevelt im Wahlkampf 1932 festgestellt. „As I see it, the task of government in its relation to business is to assist the development of an economic declaration of rights, an economic constitutional Order

Theorie und Praxis des New Deal als des Gebrauchs der Staatsautorität zum Umbau der Gesellschaft, entsprachen damit dem schon erwähnten allgemeinen Bedürfnis moderner Industriestaaten, das sich aus dem Zusammenwachsen von Staat und Gesellschaft ergeben hat. Da das freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte keine stabilen politischen Verhältnisse mehr zu garantieren vermochte, mußte die staatliche Verwaltung eingreifen, um den gesellschaftlichen Prozeß bis ins einzelne zu dirigieren und die starke Aktivität der organisierten gesellschaftlichen Gruppen zu steuern. Das moderne Amerika erfuhr im New Deal, daß die Waffe der Staats-autorität auch und gerade wenn sie demokratisch legitimiert war, scharf geschliffen sein muß, wenn die staatliche Entscheidung nicht zum bloßen Objekt im Kampf der Interessenten werden und es neben der Repräsentation der Partikular-interessen noch eine wirkliche Repräsentation der Gesamtheit geben sollte. Dem Staat fiel jetzt sogar die schwere Verantwortung zu, den Schutz individueller Freiheit zu gewährleisten und zu verhindern, daß im natürlichen Zustand der hochindustrialisierten Gesellschaft, im „Stellungskrieg der Verbände", nicht einfach der stärkste und radikalste Interessent siegte.

Weltgeschichtliche Bedeutung der inneren Umgestaltung

Es bezeichnet die weltgeschichtliche Bedeutung von Wirtschaftskrise und New Deal, daß mit beiden unter spezifisch amerikanischen Bedingungen die LISA mit den industriellen Nationen West-und Mitteleuropas, was ihre innerpolitische Problematik angeht, gleichgezogen haben. Das Verschwinden der letzten geographischen Grenze und das Überwiegen der technologischen Faktoren über die industriegründende Spontaneität einzelner, hat die Sonderstellung Amerikas aufgehoben und damit zugleich die innenpolitische Voraussetzung internationaler Partnerschaft und Führerstellung geschaffen. Es ist gar nicht auszudenken wie die LISA den weltpolitischen Dualismus, der ja primär ein Dualismus gesellschaftlicher Fronten ist, heute aushalten könnten ohne jene vorausgegangene Anpassung, als die der New Deal hier bezeichnet worden ist. Wie könnte einer weltrevolutionären Bewegung, die die politischen Konsequenzen aus der Machtstellung des vierten Standes innerhalb des industriellen Systems radikal gezogen hat, entgegengetreten werden, wenn nicht inzwischen auch der amerikanische Arbeiter nicht nur im Materiellen, sondern vor allem auch, was sein soziales Prestige anlangt, ein gleichberechtigter Mitspieler geworden wäre. Es mögen in Roosevelts pro-gewerkschaftlicher Politik noch so viele taktische Motive erkennbar sein, der New Deal vollzog doch in der Stärkung der gewerkschaftlichen Position und des gewerkschaftlichen Selbstbewußtseins zugleich einen geschichtlichen Auftrag. In der Krise seiner traditionellen Lebensform aber erwies das amerikanische Volk im New Deal eine Standfestigkeit und Kraft zu innerer Erneuerung, ohne die die Selbstbehauptung nach außen, wie sie der zweite Weltkrieg forderte, nicht denkbar gewesen wäre.

Die Verschärfung der internationalen Spannungen im Gefolge der japanischen Expansion und Hitlers Machtergreifung hat natürlich auch die amerikanische Politik in den dreißiger Jahren zunehmend bestimmt Amerikas Beteiligung am zweiten Weltkrieg ist dann neben der vorausgegangenen inneren Krise die zweite Ursache einer Umgestaltung der USA geworden. Die auf den amerikansichen Präsidenten zukommenden Aufgaben, eine Kriegskoalition zu führen und gleichzeitig das eigene Land in eine Kriegsma-

schine von ungeheuren Ausmaßen zu verwandeln, hat die reformistischen Tendenzen des New Deal verstärkt und besaß zugleich wieder in den durch den New Deal erweiterten und erprobten Befugnissen der amerikanischen Staatsführun eine ihrer wesentlichen Voraussetzungen. Zum erstenmal erfuhren die Amerikaner, daß ihre innerstaatlichen politischen und gesellschaftlichen Zustände auch von außenpolitischen Entwicklungen bestimmt wurden. Die Sorge begann zu ängstigen, die amerikanischen Institutionen, die außerhalb der Weltpolitik und deshalb mit wenig Rücksicht auf sie entstanden seien, könnten vielleicht die Belastung durch das neuartige außenpolitische Engagement nicht aushalten. Es waren ähnlich Sorgen wie sie 1932 in der inneren Krise geäußert worden waren, wo auch die Frage sich gestellt hatte, ob nicht ein radikal gewandeltes politisches Bewußtsein in einer radikal anders gestalteten Gesellschaftsordnung in Zukunft erforderlich sein werde. Der Revolutionierung in den inneren Verhältnissen jedenfalls folgte sehr rasch die der äußeren. Wie die Doktrin vom laissez-faire schien nun auch die des Isolationismus keine helfende Kraft mehr entfalten zu können, wenn internationale Krisen nicht mehr lokalisierbar waren und in sich eine universale Komponente trugen.

Was der Abschied von der bisherigen amerikanischen Geschichte in der Außenpolitik für die Wandlung des amerikanischen politischen Bewußtseins im einzelnen bedeutet, ist hier nicht zu erläutern, da die Desillusionierung als Voraussetzung der Wandlung ein nach-Roose-

veltsches Phänomen ist So wie Hoover 1929— 1932 die Depression mit den traditionellen Kategorien des „rugged individualism" zu begreifen und zu bekämpfen unternommen hatte, so betrat Franklin D. Roosevelt die Bühne der Weltpolitik zunächst mit der Vorstellung, daß Außenpolitik eine Art verlängerter Innenpolitik sei Lim die Analogie fortzuführen: so wie Hoover hoffte, die gesellschaftliche Harmonie werde sich wieder einstellen, wenn man nur den gesellschaftlichen Kräften ohne alle Steuerung genügend Raum zur Entfaltung gebe, so schien Roosevelt, was die Möglichkeiten der Friedensordnung anlangte, unbedingt an die Kraft des Kooperativen und des Partnerschaftlichen zu glauben. Seine Außenpolitik stand in gewissem Sinne noch im Banne von Hoovers laissez-faire. Wie Hoover den angsterfüllten Interessenten für einen self-made-man hielt, so behandelte Roosevelt Joseph Stalin als seines-gleichen. Roosevelt hatte der inneren Krise das volle Gewicht der staatlichen Macht entgegengesetzt. Nach außen hat er seine Machtstellung niemals mit demselben Nachdruck dazu verwandt, um von der im zweiten Weltkrieg gegebenen tatsächlichen amerikanischen Suprematie her eine neue internationale Ordnung im Sinne der amerikanischen Prinzipien zu erzwingen.

Der New Deal in der Außenpolitik war nicht mehr seine Sache, nachdem er das Scheitern seiner Politik zwischen 1945 und 1948 nicht mehr erlebt hatte. Es blieb seinem Nachfolger überlassen, dessen Entscheidungen, wie etwa der Eintritt der USA in die NATO und in den Koreakrieg, alle festgefügten außenpolitischen Maximen Amerikas in kurzer Zeit außer Kraft setzten. Jetzt war Washingtons Farewell Address von 1796 endgültig zu einem Zeugnis von nur noch historischem Wert geworden. Was aber Roosevelts außenpolitisches Scheitern anlangt, so ließe sich Ähnliches sagen wie von Hoovers innerpolitischem Fiasko. Hier lag mehr vor als persönliches Versagen. Hier versagten sämtliche traditionellen Wertmaßstäbe der amerikanischen Außenpolitik, da die internationalen Bedingungen amerikanischer Politik völlig andere geworden waren.

Man wird die Frage, ob Roosevelt und der New Deal neue Leitbilder der amerikanischen Innenpolitik bewirkt hätten, freilich noch umfassender stellen müssen, als dies bisher geschehen ist. Es muß ein Zusammenhang unseres Themas mit Problemen gesehen werden, die in der modernen amerikanischen Soziologie auf das intensivste erörtert worden sind. Sie hat der Klage über den verlorengegangenen Genius Amerikas gewissermaßen die empirische Grundlage gegeben. Seit den Arbeiten der Gruppe W. Lloyd Warners über Newburyport in Massachusets und der Lynds über Muncie in Indiana hat die soziologische Bestandsaufnahme für Amerika einen immer geringer werdenden Bestand an „frontier democracy" ergeben In dem Maße, in dem sich die soziale Mobilität verringerte, verlor der self-made-man an Boden, trat an Stelle der Gesellschaft der Freien und Gleichen die anonym gesteuerte Gesellschaft, wie David Riesmans „Einsame Masse“ zu erweisen unternahm. Die alte gesellschaftliche Spontaneität schien von der Reaktion auf Bedürfnisse und Reize des industriellen Lebens verdrängt zu werden. Die These dieser Richtung der amerikanischen Soziologie besagt, daß Wohlfahrtsstaat und „social security“ das alte Ideal des Pioniers und des Unternehmers ersetzt hätten, weil der Mensch, den das vollausgebildete Industrie-system voraussetzte und bewirkte, notwendig nicht nach dem Bild der amerikanischen Väter geformt werden könne.

Bruch, aber auch Fortsetzung amerikanischer Tradition

Doch auch wenn der Gedanke eines radikalen Bruchs im amerikanischen politischen Bewußtseins vom soziologischen Befund her Unterstützung erhält, so wird doch gerade der Historiker auf Kontinuitäten auch im modernen Amerika verweisen müssen, die allzu einseitige Vorstellungen wie die Riesmans korrigieren können. Tocquevilles Deutung der französischen Revolution hat uns die Erkenntnis vermittelt, daß Revolutionen nicht nur ihre Impulse verwirklichen, sondern immer auch Traditionelles fortführen und keinesfalls auf einer tabula rasa das Neue aufbauen, auch wenn die Revolutionäre selbst es meinen sollten. Was für die französische Revolution und ihr Verhältnis zum französischen Absolutismus gilt, läßt sich auch für den New Deal und seinen Zusammenhang mit dem älteren Amerika erweisen. Der New Deal ist nicht nur Bruch, sondern auch Fortsetzung. Erst wenn wir auch diese Linie der Kontinuität beachten, wird erklärbar werden, warum die ungeheuerliche Umstellung, die in den letzten 30 Jahren dem amerikanischen Volk abverlangt wurde, ohne Schizophrenie und ohne wesentlichen Verlust an Vitalität hat vorgenommen werden können.

Roosevelt selbst war nach Herkunft wie nach Gesinnung alles andere als ein Revolutionär. Daß man ihm Verrat an der amerikanischen Tradition vorwarf, hat ihn nachweislich mehr erregt als der Vorwurf, ein verkappter Sozialist oder ein Diktator zu sein. Schon im Wahlkampf von 1932 hat er seine Aussagen nachdrücklich in den Traditionszusammenhang einzuordnen sich bemüht, und dieses Bestreben ist mit den Jahren nur stärker geworden. Den Ansatz lieferte ihm besonders Thomas Jefferson. Er schien ihm das Urbild eines demokratischen Führers, der in seiner engen Bindung an den „common man“ die staatliche Autorität gegen den übermächtigen Einfluß kleiner Gruppen aus den besitzenden Schichten eingesetzt habe. Die besondere Beziehung zwischen der präsidialen Spitze und dem „forgotten man“ an der Basis der gesellschaftlichen Pyramide ist eine Grundfigur in Roosevelts politischer Terminologie, und er wußte sie in der „Jeffersonian und Jacksonian Democracy“ vorgeformt.

Wenn Roosevelt gegen die Ausschließlichkeit des laissez-faire protestierte, so vermochte er das im Namen anderer Traditionsbestände zu tun. Neben „free enterprise" sollte in der Nachfolge Jeffersons und Jacksons wieder die Rücksicht auf den „common man“ und seine Sehnsüchte bestimmend für die amerikanische Politik werden. Roosevelt interpretierte sie als das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit, mehr als Folge seiner „great recepticity“, als daß er um die soziologischen Ursachen dieses Bedürfnisses genauer gewußt hätte. Seine Kritiker, nicht er und seine Freunde, waren als „economic royalists“ die Sünder wider den Geist der amerikanischenRücksicht auf den „common man" lebendig sein Demokratie. und etwa aus der progressiven Bewegung herüberwirken, ist, wie stark Roosevelt in Theorie gerade die Vorstellung eines „social und Praxis des New Deal an die Pioniertradition in der Industriegesellschaft mahnt, anzuknüpfen suchte. „Ifor one“, so erklärte sich das Bestreben, den New Deal in die Kontinuität im Wahlkampf 1936 „do not believe einzuordnen, nicht zu leicht zu machen that the era of the pioneer is at an end. 1 only und damit die Tiefe des Einschnitts zu verharmlosen that the area of pioneering haschanged." Denn an der fortschreitenden Arbeitsteiligkeit Wirkbereich des Pioniers war jetzt eben und Spezialisierung der industriellen nicht mehr die Grenze im Westen oder die Vor-hut enden die Möglichkeiten des Pioniers, der industriellen Revolution, sondern der und der Spezialist wird gebraucht. Der soziale Dschungel, den die moderne Industriegesellschaft der soziale Sicherheit gewinnen in sich barg. So blieb die alte Aufgabe ist eben kein Pionier mehr. „Pioneering" erhalten, „to subdue a wilderness", wenn ist ja gerade die Abwesenheit von „security". nun die anarchischen Kräfte der modernen Gesellschaft stoßen wir auf die unauflösbare Spannung unter Kontrolle gebracht werden müßten. New Deal, daß er Neues war und doch bewußt Roosevelt interpretierte diese neue Aufgabe nicht Revolutionäres, sondern Kontinuierliches „social pioneering“. Diese Begriffsbildung, sein wollte. Der ohnmächtige einzelne, die der als vorbildhaft empfundenen Tradition der in den Schutz organisierter Interessen und einen neuen Akzent geben wollte, führt wieder in die Solidarität derer flüchtet, die am gleichen hinein in den Kern des New Deal, den wir als sozialen Ort stehen, strebt notwendig zur staatlichen Anpassung an gewandelte gesellschaftliche Garantierung der „social security“. Er ist Verhältnisse zu beschreiben suchten.

kein Pionier mehr, wenn er allein und im Zusammenhang mit anderen einzelnen politisch Doch es mochte in der Sozialpolitik des New Deal noch soviel an pionierhaftem Sozialenthusiasmus sozial nichts mehr vermag und deshalb die und demokratischer Tradition in der Obrigkeit um Schutz anruft.

Bleibendes Potential gesellschaftlicher Spontaneität

Aber es ist das Charakteristische der amerikanischen Industriegesellschaft, zweifellos etwa im Gegensatz zur deutschen, daß das Ideal des freien und kooperativen Lebens sich noch mit Vitalität behauptet gegen die Nivellierung im Industriesystem. Beides steht nebeneinander, und es mag immerhin die Vermutung gewagt werden, daß die Amerikaner den offensichtlichen Gefahren der Funktionalisierung und Spezialisierung der menschlichen Arbeit und des menschlichen Lebens durch ihre Traditionen besser gerüstet entgegentreten als wir. Einer der wesentlichen Gründe dafür liegt in der Rolle, die der gesellschaftlicheDynamismus im realen undbewußtseinsmäßigen Aufbau Amerikas gespielt hat. Nach einer klugen Bemerkung Max Lerners der die alte Grenzthese Turners damit erneuerte und erweiterte, hatte Amerika eine große industriell-kapitalistische Revolution, eine politische und geistige Revolution im „wandernden demokratischen Gedanken" und die Revolution durch die Grenzbesiedelung nebeneinander. Während Amerika sich über den Kontinent ausbreitete, wurde es zugleich vertikal umgestaltet. „Die eine Dynamik nährte die andere.“ Wenn Lerner mit Recht die Dynamik in den Mittelpunkt des Amerikanertums und seiner politischen Tradition stellt, postuliert er damit zugleich das Vorhandensein eines Potentials an gesellschaftlicher Spontaneität und politischer Reform. Dem Amerikaner steht es auch in der industriellen Gegenwart und ihren „sekundären Systemen" 24 (Hans Freyer) zu Gebote. Das ist eine andere Perspektive der im New Deal hervorgetretenen sozialen Dynamik, die dann jedoch zugleich mit naturhaften Entwicklungen der technischen Welt zusammenstieß und damit zweifellos auch an eine Grenze ihres Vermögens kam.

Tocqueville hat in seinem Amerikabuch geschildert wie den Amerikareisenden ein Stimmengewirr von tausend Gruppen überfalle und jede dieser Gruppen sich mit einer Frage des öffentlichen Lebens befasse, derh Bau einer Kirche, lokalen Verbesserungen, der Wahl eines Abgeordneten, der Anlage einer Straße, einer Schule, dem Kampf gegen die Trunkenheit. Dem Amerikareisenden von heute wird sich diese Beobachtung nicht mehr so unmittelbar aufdrängen.

Ihn überfällt heute eher das Geschrei der Interessenten, die damit die Aktivität ihrer Lobbyisten in den Vorzimmern Washingtons untermalen. Daß sich gesellschaftliche Kräfte beim Staat um Hilfe und Unterstützung bemü-

Wir werden dieses spannungsreiche Miteinander von Altem und Neuem im New Deal bestätigt finden im schärferen Blick auf die staat-hen, ist im modernen Amerika eine Selbstverständlichkeit wie anderswo auch. Aber so sehr auch die USA ihren Anteil haben an dem allgemeinen Prozeß der Interessenzerklüftung und Interessenverhärtung, so können doch hier die organisierten Interessen immer anknüpfen an ältere, freiere Formen gesellschaftlicher Gruppierung. Gerade das aber bewahrt die amerikanischen Interessenverbände vor jener Verabsolutierung, die für die europäischen bezeichnend zu sein scheint. Die Frontstellung der gesellschaftlichen Kräfte gegen den Staat ist zumindest in der kontinentaleuropäischen Situation angesichts des traditionellen Primats des Staates vor der Gesellschaft zumeist auch noch weltanschaulich motiviert. Die gesellschaftliche Aktivität besitzt eben in der überlieferten Vorstellung eines Dualismus von Staat und Gesellschaft notwendig einen anderen Stellenwert. Das Verhalten gesellschaftlicher Kräfte in Amerika schloß dagegen traditionell auch eine auf das Gemeinwesen gerichtete Komponente ein; ihr Individualismus war durchaus gemeinschaftsbezogen. Sie waren nicht von minderer Qualität als der Staat, der seinerseits als Eigenbereich durch die Fähigkeit der gesellschaftlichen Kräfte zur Selbstordnung und Selbststeuerung sich in engen Grenzen hielt Insofern zeigt auch der moderne amerikanische Interessenverband nicht jenes Maß von Antistellung gegen den Staat, die den deutschen charakterisiert. Seine Dynamik vermag kräftig auch die Dynamik des Gemeinwesens zu nähren, während man gerade in Deutschland den Eindruck gewinnen muß, daß die Vitalität der Interessenten keineswegs auch die Verantwortungsbereitschaft gegenüber den öffentlichen Dingen gesteigert hat. Der New Deal hat mit der stärkeren Aktivität des Staates aber zugleich auch eine neue gesellschaftliche Bewegung ausgelöst. Es sei nur an die Wanderungsbewegung nach Suburbia erinnert, an die Bildung einer neuen Mittelklasse, die aus den aufstiegshungrigen städtischen Massen sich rekrutierte, in denen das sozial deklassierte Einwandererelement der jüngsten Immigrationswelle eine große Rolle spielte. Die Frage ist nur, ob die Beschleunigung des Staates nicht eine ungleich stärkere war, so daß der vergrößerte Bereich staatlichen Engagements in der Wirkung eben doch die gesellschaftliche Selbststeuerung begrenzte, zumal das Bedürfnis danach, ohnehin durch die Depression nicht mehr als so stark empfunden wurde.

Notwendigkeit der Staatsautorität als Integrationsfaktor

liehe Führungsspitze selbst. Es ist zweifellos eines der größten Paradoxa der Weltgeschichte, daß dort, wo traditionell das Herrscherliche des Staates nur Funktion gesellschaftlicher Impulse sein sollte und eine eigenständige Würde und Weihe des Staatlichen sich nie recht hat entfalten können, dennoch im Amt des Präsidenten ein Führungspotential geschaffen wurde, das sich allen Belastungen und Aufgaben gewachsen zeigte. Gesellschaftliche Freiheit und Spontaneität tragen zwar die Gefahr einer gewissen Degradierung des Staates in sich, gleichzeitig belehrt uns aber auch ein nur oberflächlicher Blick auf die amerikanische Geschichte, daß sie staatliche Führung und Autorität durch den Präsidenten in den Entscheidungsstunden des nationalen Lebens gekannt hat.

Es ist oft beschrieben worden, wie die starke institutionelle Verankerung der Präsidentschaft in der Verfassung dem situationsbedingten Bedürfnis nach Staatsautorität und Obrigkeit während und nach dem Unabhängigkeitskrieg entsprang. An späteren Bedürfnissen dieser Art hat es nicht gefehlt, und es ist so eine Tradition der Führung geschaffen worden, die sich im Amt des Präsidenten ein Instrument für den Notfall bereit hielt. An dieser Tradition einer besonderen Beziehung von „presidency" und „emergency“ hat Roosevelt anknüpfen können Freilich, ein wesentlicher Unterschied zu den früheren Notlagen blieb. Was sich in der Depression offenbart hatte, war nicht, wie Hoover immer vermutet hatte, nur eine Augenblicks-krise. Hinter ihr verbarg sich nun die Dauerkrise der freiheitlichen industriellen Gesellschaft, in der die starke soziale Differenzierung beständig die Gefahr der Desintegration und Anarchie heraufbeschwor. Staatsautorität als Integrationsfaktor ist in ihr nicht mehr bloß ein Erfordernis für den Augenblick.

Wieder drängt sich dabei unvermeidlich die Frage auf, ob nicht die dauernde Notwendigkeit von Staatsautorität und Staatsintervention die noch vorhandene gesellschaftliche Freizügigkeit schließlich doch aller spontanen Impulse berauben wird. Doch der Versuch einer Antwort könnte nur Spekulation sein. Sie hätte nach den Grenzen des Wohlfahrtsstaates zu fragen, innerhalb derer gesellschaftliche Freiheit und Spontaneität noch möglich sind. Hier stehen Amerikaner und Europäer heute vor den gleichen Sorgen ihrer politischen Zukunft. Dieses Problem hat sich noch verschärft, als die Belastungen des Ost-West-Gegensatzes einen weiteren bedeutsamen Zuwachs an staatlicher Macht und Entscheidungsgewalt brachten, nachdem schon im zweiten Weltkrieg unter den Bedingungen des totalen Krieges die Ausweisung der präsiden-tiellen Befugnisse rasche Fortschritte gemacht hatte So ist seit 1933 der amerikanische Präsident Zug um Zug zum mächtigsten Mann der westlichen Welt geworden. Aber wiederum wird dabei doch auch nicht zu übersehen sein, daß keineswegs im politischen System Amerikas alle seitherigen Machtpositionen unwirksam ge-worden sind Der Kongreß hat seine Stellung zu behaupten gewußt und die in ihm repräsentierten gesellschaftlichen Kräfte müssen wie auch „Supreme Court“ und Föderalismus als Gegengewichte gegen eine übermächtig gewordene Bundesregierung auch heute und in Zukunft ernst genommen werden. Das System der „checks and balances" funktioniert vielleicht anders als vor dem New Deal, aber es funktioniert.

Unter den vielen Arbeiten, die über die neue Gestalt der amerikanischen Präsidentschaft in den letzten zehn Jahren erschienen sind, hat vor allen Dingen die knappe Darstellung von Chinton Rossitter auf die fortdauernde Kontinuität in der Struktur des Regierungssystems hingewiesen. Er hat geschildert, wie all das, was dem Mann im Weißen Haus als Macht zugewachsen ist, zugleich als Bremse für ihn zu wirken begann. Er ähnelt in der Tat dem quarter back in einem amerikanischen football team, ein Vergleich, den Roosevelt als eine Art Selbst-charakterisierung zuweilen verwandt hat. Er habe zwar die Möglichkeit zu freier Improvisation im Spiele, aber doch nur in dem von den Spielregeln abgesteckten Rahmen. Je stärker Aufgaben und Einfluß des Präsidenten im Laufe der Jahrzehnte gewachsen sind, um so sichtbarer haben auch die seine Macht relativierenden Kräfte zugenommen: „Dictatorship is implied but not possible"

Das lenkt zum Schluß noch einmal den Blick auf Amerikas geschichtliche Substanz und auf die Frage, wie weit sie in Gegenwart und Zukunft reichen wird. Wie seltsam klingt uns heute das Wort Jakob Burckhardts in den Ohren, der einmal in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen die Amerikaner als ungeschichtliche Bildungsmenschen bezeichnete, denen das Geschichtliche nur unfrei als Trödel anhänge. „Dahin gehören“, fuhr Burckhardt fort, „die Wappen der New Yorker Reichen, die absurden Formen der kalvinistischen Religion, der Geisterspuk usw., zu welchem allem aus der bunten Einwanderung noch die Bildung eines neu-amerikanischen leiblichen Typus von zweifelhafter Art und Dauerhaftigkeit kommt." Den Beweis der Dauerhaftigkeit und der geschichtlichen Kontinuität sind uns freilich die Staaten des kontinentalen Europa schuldig geblieben und nicht die LISA. In Wahrheit sind nicht zuletzt die Deutschen heute die Geschichtslosen. Nur mit Neid bemerken wir, wie einheitlich Amerika seine demokratischen Kirchenväter, die Washington, Jefferson und Lincoln verehrt, während wir uns schmerzlich der Brüche im eigenen nationalen Leben bewußt sind, weil Marx und Hindenburg, Bismarck und Hitler, Adenauer und Ulbricht eben schlechterdings nicht in eine Linie des Kontinuierlichen gebracht werden können.

Aus der ungebrochenen Geschichtlichkeit aber ist dem Amerikaner inmitten einer sich wandelnden Welt ein Maß an Standfestigkeit zugewachsen, das gewiß des Bewundernswerten nicht entbehrt und die Anpassung ohne radikalen Bruch ermöglicht hat. Roosevelt hat in seiner ersten Inauguralrede von dieser Kraft zur Wandlung ohne Verlust des Überkommenen gesprochen „Action in this image and to this end is feasible under the form of gouvernment which we have inherited from aur ancestors. Our Constitution is so simple and practical that it is possible always to meet extraordinary needs by changes in emphasis and arrangement without loss of essential form. That is why our constitutional System has proved itself the most superbly enduring political mechanism the modern world has produced. It has met every stress of vast expansion of territory, of foreign wars, of bitter internal strife, of world relations." Deswegen konnte er auch so sicher feststellen: „We do not distrust the future of essential democracy.“

Es sollen bei alle dem die Grenzen gewiß nicht übersehen werden, die einem historisch gesättigten Lebensgefühl in einer mechanisierten und gleichförmig werdenden technischen Welt gezogen sind. Aber die amerikanische Tradition ist auch die Tradition der Spontaneität und des Experiments. Von allem aber besitzt die amerikanische Nation die eigentümliche Fähigkeit, Widersprüchlichkeiten zu ertragen und sie nicht auszustoßen. Mit Recht sieht ein moderner Amerikareisender, Raymond L. Bruckberger, in solcher Fähigkeit die geheime Wirkkraft der amerikanischen Geschichte: „Die Amerikaner sind langsam, weil sie zutiefst spüren, daß das Leben ein kontinuierlicher Prozeß ist, der nur durch Widersprüche vorwärtsschreitet und an Fülle nur gewinnt, indem er die Widersprüche soweit wie möglich aufhebt, nicht, indem er sie ignoriert oder zum Schweigen bringt.“ Solche Inhalte der Überlieferung können eine große Hilfe sein, wenn der amerikanische Staat und die amerikanische Gesellschaft nach außen und innen den Kampf um die Selbstbehauptung des „American way of life“ zu führen haben. Hermann Heimpel hat jüngst einmal darauf hingewiesen, daß es gelte, einer rädersurrenden Zeit ihre Geschichtlichkeit, d. h. ihre Menschlichkeit zu retten Das „Taedium historiae“ zu überwinden, sei für unser fast geschichtslos gewordenes Volk eine moralicche Forderung und eine Bedingung seiner Existenz. So erwachse denn gerade in der Geschichtslosigkeit der technischen Welt dem Geschichtlichen als dem Gedächtnis der Menschen eine neue Aufgabe in der Bewahrung des Humanen. Ähnlich hat Hans Freyer in seiner „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“ davon gesprochen, daß auf jene Selbstentfremdung, wie sie die industrielle Welt dem Menschen gebracht habe, nur mit einem Rückgriff geantwortet werden könne. Ein lebendiges geschichtliches Bewußtsein, wie es sich das moderne Amerika, gewiß nicht spannungslos, erhalten hat, bedeutet demnach eine entscheidende Hoffnung für seine Standfestigkeit auch in der Zukunft. Die politische Erfahrung, die dem New Deal zugrunde lag, daß gesellschaftliche Freiheit nur noch dauern könne, wenn ein starker Staat und eine starke Führung über sie wachen, war kein „deus ex machina“. Das Wissen, daß gesellschaftliche Freiheit und staatliche Autorität im Amte des Präsidenten als Pole einander zugeordnet sind, ist in der amerikanischen politischen Theorie nie völlig verlorengegangen. Auf diese Tradition aber ist, wie der New Deal bezeugt, ein Rückgriff möglich gewesen. Im politischen Selbstverständnis des Amerikaners im 20. Jahrhundert steht neben einer allgemeinen, uns mit ihm verbindenden Unsicherheit vor einer gefährlichen Zukunft in der technischen Welt die Sicherheit geschichtlichen Bewußtseins und geschichtlicher Bindung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1953

  2. Die Literatur über den New Deal ist jetzt schon fast unübersehbar. Dabei ist eine der frühesten Darstellungen von Basil Rauch (The History of the New Deal, New York 1944) vielleicht immer noch die am besten informierende, auch wenn die naive New-Deal-Bewunderung ihres Verfassers nalurgemäß heute einer historischen Betrachtung Platz zu machen hat. An neueren Darstellungen ist besonders anregend Arthur M. Schlesinger jr., The Coming of the New Deal, London 1960.

  3. s. D. W. Brogan, Roosevelt and the New Deal, Oxford University Press 1952 S. 31 ff.

  4. The American Political Tradition and the Men who made it, New York 1948 S. 324 f.

  5. Für eine Darstellung von Roosevelts Terminologie und ihrem Erkenntniswert vgl. Waldemar Besson, Die politische Terminologie Franklin D. Roosevelts, Tübingen 1955.

  6. Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt, New York 1938 Volume I S. 749 ff.

  7. Vgl. die Schilderung der Wirkungen der Depression auf das amerikanische Bewußtsein bei Arthur M. Schlesinger jr., The Crisis of the Old Orden 1919— 1933, Boston 1957 S. 1 ff.

  8. Für die hier nur angedeuteten Zusammen-hänge s. ausführlicher und grundlegend Hans Freyer, Das soziale Ganze und die Freiheit des Einzelnen unter den Bedingungen des industriellen Zeitalters, Historische Zeitschrift 183, S. 97 ff.

  9. Karl Dietrich Erdmann, Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1955 S. 8.

  10. Für Hoovers Stellung in der amerikanischen politischenTradition vgl. Hofstaedter, a. a. O. S. 282 ff. Für Brüning darf auf meine Darstellung der Brüningschen Prinzipien verwiesen werden. Württemberg und die deutsche Staatskrise, Stuttgart 1959 S. 217 ff.

  11. S. auch Freyer, a. a. O. S. 102 und 108.

  12. Zitiert nadi Hofstaedter, a. a. O. S. 323.

  13. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei dar-au verwiesen, daß „liberal“ hier im deutschen IPrachgebrauch verwendet wird. Es impliziert des-a in seiner politischen Aussagekraft im Gegenaz zum amerikanischen Wort die möglichst weit-ge ende Scheidung von staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre.

  14. Public Papers a. a. O. Vol. II S. 11 ff.

  15. Für Belege und Beispiele s. Besson, Roosevelt a. a. O. S. 78 ff.

  16. Es kann hier nur angedeutet werden, wie sehr mit dem politischen Aufstieg der Bürokratie in den USA auch die traditionellen Charakteristika des amerikanischen Regierungssystems eine Veränderung erfuhren. Was etwa die neu entstandene . vierte Gewalt" in Gestalt der Bürokratie für den Kongreß bedeutet, hat drastisch James Burnham dargestellt (Congress and the American Traditions, Chicago 1959 S. 157 ff.). Auch er geht dabei von einer „dramatischen Entwicklung seit 1933" aus.

  17. Die These Frederick Jackson Turners von der Originalität der amerikanischen Demokratie dank des kontinuierlichen Grenzerlebnisses hat ja ihre Bedeutung nicht nur für die spezifisch amerikanischen Institutionen, sondern auch für ein spezifisch amerikanisches politisches Bewußtsein.

  18. Public Papers a. a. O. Vol. I S. 752.

  19. Die Rolle Roosevelts in der Weltpolitik bis 1941 hin, ist bekanntlich eines der umstrittensten Kapitel in der jüngsten amerikanischen Geschichte. (Vgl.den entsprechenden Literaturbericht von Eugene C. Murdock, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1956 S. 93 ff.) Was immer die Motive Roosevelts im einzelnen wie im ganzen gewesen sein mögen, gewiß ist doch, daß er schon sehr frun ein Bewußtsein von der unausweichlich auf die USA jetzt zukommenden weltpolitische Verantwortung besaß, auch wenn, wie weiter unten zu zeigen sein wird, die Art der Übernahme dieser Verant wortung noch durchaus von den überlieferten am rikanischen Maximen bestimmt war.

  20. Es genügt in diesem Zusammenhang auf die Entstehung der sog. neorealistischen Schule eines Hans Morgenthau und auf die kritischen Analysen George Kennans zu verweisen. Auch die Wiederent deckung Alexander Hamiltons nach 1945 bei gleichzeitiger Abwertung des „Ideologen" Jefferson wäre als Beispiel eines neuen Verständnisses ur „Realpolitik“ und „national interest" hier zu vermerken.

  21. Über die für Roosevelt charakteristische Zu-podnung von innerer und äußerer Politik aus der Rerspektive der Rooseveltschen Terminologie vgl.

  22. Eine populär gehaltene Zusammenfassung der diesbezüglichen Forschungen zahlreicher amerikanischer Gelehrter hat Vance Packard geschrieben (auf deutsch unter dem Titel „Die unsichtbaren Schranken“, 1959 erschienen).

  23. L'ancien regime et la revolution 1856.

  24. Die Bezeichnung „economic royalists“ für die Republikaner (Public Papers a. a. O. Bd. V S. 231) ist ein typisches Beispiel für die traditionale Identifizierung, die Roosevelt für sich selbst immer wieder vornahm.

  25. Public Papers, a. a. O. Bd. V, S. 165.

  26. Ähnlich auch unter wirtschaftlichen Fragestellungen Daniel R. Fusfeld, The Economic Thought of Franklin D. Roosevelt. New York 1956. Fusfeld weist zwar auf den Zusammenhang mit der amerikanischen Reformbewegung seit der Jahrhundertwende hin, fragt aber auch, ob der „positive state" als Zentralpunkt des New Deal wirklich, wie Roosevelt glaubte, eine Wirtschaftsordnung erhalten würde, in der „private enterprise“ in Kraft und Gesundheit sich entwickeln könne.

  27. Amerika — Wesen und Werden einer Kultur, Frankfurt 1960 S. 44 ff.

  28. Alexis de Tocqueville, Werke und Briefe, Bd. I, Stuttgart 1959 S. 279.

  29. Es kann hier nicht weiter ausgeführt werden, daß die Virulenz der gesellschaftlichen Spontaneität, die auch dem Gemeinwesen zugute kommt, natürlich vor allem dadurch weiterbesteht, daß die traditionellen Züge bewußt und unbewußt gepflegt werden. Das vielgestaltige und überwiegend nicht durch den Staat reglementierte amerikanische Erziehungssystem dürfte dabei von kaum zu überschätzender Bedeutung sein.

  30. Besson, Roosevelt a. a. O. S. 13 ff.

  31. Vgl, Edward S. Corwin, Total War and Constitution. New York 1946.

  32. Für die spannungsvolle Problematik im gegenwärtigen amerikanischen Regierungssystem s. meinen Literaturbericht in der Neuen Politischen Literatur 1959 S. 947 f.

  33. The American Presidency, New York 1956.

  34. ebenda S. 116.

  35. Zitiert in dem Sammelband hrg. von Ernst Fränkel, Amerika im Spiegel des deutschen politischen Denkens, Köln 1959 S. 141.

  36. Public Papers, a. a. O. Bd. II S. 14 f.

  37. Raymond L. Bruckberger, Amerika — die Revolution des Jahrhunderts, Frankfurt 1959 S. 51. Nur scheinbar ist es dabei ein Widerspruch, wenn Bruckberger gleichzeitig von einem die amerikanische Wirklichkeit bestimmenden revolutionären Impuls berichtet. Denn damit ist streng genommen die Kontinuität einer permanenten Revolution in der amerikanischen Geschichte behauptet, was wiederum Traditionales und Vorwärtsschreitendes im Einklang erscheinen läßt.

  38. Vierteljahreshälfte für Zeitgeschichte

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