3.
Die Allianz mit dem Judentum
Für den improvisatorischen Charakter der deutschen Insurrektionspolitik im Osten ist es bezeichnend, daß schon mit der Einbeziehung der Juden das eben erst vom jüngeren Moltke vorgelegte Programm überschritten wird
Nicht weniger bezeichnend ist es, daß ein dem polnischen Adel entstammender preußischer Offizier, Bogdan von Hutten-Czapski, als Ost-Referent im Großen Generalstab den Gesamtkomplex der Aufwiegelung West-und Südrußlands bearbeitete und damit ex officio auch auf die Geschicke des osteuropäischen Judentums Einfluß hatte
Die Berufung Hutten-Czapskis wird erklärlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Aufwiegelung der westrussischen Nationalitäten primär aus dem militärischen Gesichtswinkel betrachtet wurde. Der Krieg brachte für die nationalen Minderheiten Osteuropas große Gefahren, barg aber auch Chancen für eine politische Neugestaltung. Den deutschen Bemühungen lag aber nicht dieses Ziel zugrunde, sondern das der militärischen Aufwiegelung im Rücken der russischen Front, um damit die Operationen der Mittelmächte zu entlasten. Hutten-Czapski selbst hat sich noch in seinen Memoiren zu dieser Auffassung bekannt: „Ich war der Ansicht, daß ... alle Mittel angewandt werden mußten, um zuerst Rußland niederzuwerfen, und daß alle Bedenken zunächst diesem gemeinsamen Kriegs-ziel unterzuordnen waren ..
Isoliert betrachtet, erscheint der Gedanke einer politischen Verbindung zwischen den Mittelmächten und den Kräften des Judentums bestechend. Die Pogrome von 18 81 und von 1905— 1906 hatten erkennen lassen, welche Spannungen zwischen Juden und Slawen bestanden und auf Entladung drängten. Als ethnische Fremdkörper inmitten des slawischen Siedlungsgebietes waren die jüdischen Gemeinden Westrußlands in gleicher Weise der zaristischen Unterdrückungspolitik und der Feindseligkeit ihrer Umwelt ausgesetzt. Auch für die neoslawistische Ideologie, die in vielen Fällen mäßigend und vermittelnd wirkte, war das Ost-judentum allenfalls ein Störungsfaktor. Seit der Ermordung Alexander II., die übrigens auf jüdische Machenschaften zurückgeführt wurde, setzte eine verschärft antisemitische Politik ein, die mit dem Namen Alexanders III. und seiner Berater Pobjedonosszew und Ignatjew verknüpft ist. Eine Fülle repressiver Maßnahmen — Niederlassungsbeschränkungen, Sondersteuern, ein numerus clausus für höhere Schulen und Universitäten — trieb Hunderttausende außer Landes und machte Millionen im Innern des Reiches zu erbitterten Opponenten des zaristischen Regimes. Infolge der Niederlassungsbeschränkungen war nahezu die gesamte jüdische Bevölkerung des Zarenreiches in einem breiten Gebiets-streifen entlang der russischen Westgrenze ansässig, in demjenigen strategisch bedeutsamen Raum also, der den russischen Truppen als Aufmarschgebiet diente und einen wesentlichen Teil der kriegswichtigen Industrie beherbergte. Für noch wertvoller hielt man auf deutscher Seite die wirtschaftliche und soziale Schlüsselstellung, die das Judentum innerhalb der osteuropäischen Gesellschaftsordnung einnahm
Innerhalb des deutschen Judentums lenkte zunächst die Zionistische Bewegung die Aufmerksamkeit auf sich. Da diese zahlenmäßig schwache, aber außerordentlich rege Gruppe im Gegensatz zu der antizionistisch eingestellten oder politisch desinteressierten Mehrheit der Juden für ein eigenes, jüdisches Nationalbewußtsein eintrat, mußte sie an dem zukünftigen Schicksal des unter russischer Herrschaft lebenden Volksteils besonderen Anteil nehmen. Die deutsche Sektion des internationalen zionistischen Verbandes galt als die fortschrittlichste
Das deutsche Nationalbewußtsein der Juden
Tatsächlich unterschied sich der deutsche Zionist im Augenblick des Kriegsausbruchs in seinem Denken und Handeln nicht grundsätzlich von der Masse der Bevölkerung und von den jüdischen Assimilanten. Das „Wir-Bewußtsein“
Für die deutschen Zionisten stand naturgemäß im Mittelpunkt der Überlegungen die Sorge um die im Entstehen begriffenen jüdischen Siedlungen in Palästina
Das „Komitee zur Befreiung der russischen Juden"
In der Absicht, die Juden des Zarenreiches für die deutsche Sache zu gewinnen, begegneten sich deutsche Behörden und zionistische Kreise. Der Kölner Justizrat Max Bodenheimer wandte sich bereits am 4. August — zunächst brieflich und als Privatmann — mit dem Vorschlag an die Militärbehörden des Rheinlandes, eine Proklamation an die Juden Rußlands zu erlassen und einen engen Kontakt zwischen den verbündeten Mächten und dem Zionismus anzustreben
Eine im Auswärtigen Amt entstandene Denkschrift, deren Autoren offenkundig unter dem Eindrude der spontanen zionistischen Initiative standen, faßt das Resultat in der Feststellung zusammen: „Es ist geglückt, die ganze Organisation der Zionisten für unsere Sache zu gewinnen
Die innerjüdische Koalition
Der Gang der Dinge schien den Optimismus, den das Auswärtige Amt zur Schau getragen hatte, über Erwarten zu rechtfertigen. Im Lauf der ersten Kriegswochen gelang es, eine Anzahl bedeutender Nichtzionisten
förderte. Durch den Beitritt von Timendorfer, Sobernheim und Fuchs bekundeten drei der wichtigsten zentralen Organisationen des deutschen Judentums ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Zionismus; denn obgleich das Komitee hervorhob, daß die genannten Personen ihm in privater Eigenschaft angehörten, konnten sie als Repräsentanten der unter ihrer Leitung stehenden Vereinigungen gelten. Der von Oppenheimer und Bodenheimer propagierte Gedanke einer deutsch-jüdischen Allianz hatte eine bemerkenswerte Anziehungskraft bewiesen und nicht nur neutrale, sondern auch prononciert antizionistische Persönlichkeiten an das Befreiungskomitee herangeführt
Im Augenblick hatte es den Anschein, als gebe es angesichts der russischen Gefahr auch im deutschen Judentum keine Parteien mehr.
Nur wer mit den Strömungen und Unter-strömungen im deutschen Judentum vertraut war, hätte die Schwächen dieser innerjüdischen Koalition aufdecken können. Es hätte zu denken geben müssen, daß der Gründungsausschuß des Komitees nahezu identisch mit einer zionistischen Splittergruppe war, der „Gruppe Bodenheimer -Struck -Oppenheimer -Friede-mann“
Noch ein zweiter Umstand hätte Beachtung verdient: die betonte Distanz der jüdischen Kapitalwirtschaft und des ihr eng verbundenen „Hilfsvereins der deutschen Juden“
Die Illusion der gemeinsamen Front
Entscheidend für den Erfolg einer gegen Ruß-land gerichteten Insurrektionspolitik, gleich welcher Art, war die Frage, in welchem Maße diese Bestrebungen eine Resonanz jenseits der Front-linien hervorriefen. An diesem Punkt wurde die Fragwürdigkeit der deutschen Planungen deutlich: Sie hatten eine Solidarität des Volkstums über die Grenzen hinweg zur Voraussetzung, die in dieser Weise nicht vorhanden war. Das schon zitierte Gutachten des Auswärtigen Amtes hatte den Zionismus — trotz der mit Erbitterung geführten Richtungskämpfe unmittelbar vor dem Krieg — mit dem Jesuiten-orden verglichen; er stelle eine „straffe Organisation“ dar, deren Mitglieder „zu striktem Gehorsam verpflichtet“ seien
Im Augenblick der Krise gewann auch im russischen Judentum der Patriotismus die Ober-hand. Indem es für Rußland und seine demokratischen Verbündeten im Westen optierte, nahm es Stellung gegen den — in seinen Augen — machthungrigen Militärstaat Deutschland, aber auch gegen dessen türkischen Bundesgenossen, der sich weigerte, den jüdischen Niederlassungen in Palästina durch eine Charter den geforderten Rechtsschutz zu gewährleisten. Während Bodenheimer eine deutsch-jüdische Interessengemeinschaft postulierte, also die Niederlage Rußlands erhoffte, vertraute der russische Zionismus auf die Möglichkeiten einer inneren Reform des Zarenreiches, die, wie man meinte, der Preis für die Loyalität im Kriege sein werde. Beide Parteien nahmen für sich in Anspruch, das Gesamtwohl der zionistischen Bewegung im Auge zu haben. Die Juden Rußlands würden Schulter an Schulter mit den anderen Völkern in den Kampf ziehen, erklärte der jüdische Abgeordnete N. M. Friedman Ende Juli 1914 vor der Duma; keine Macht der Welt sei imstande, die Juden von ihrem Vaterland loszureißen, mit dem sie „durch jahrhundertealte Bande verknüpft seien“
Bodenheimer sah keinen Anlaß, diese Ereignisse zu beschönigen oder für die nahe Zukunft einen Stimmungsumschwung in Aussicht zu stellen. In einem Memorandum an das Auswärtige Amt vom 28. September legte er dar, daß es begreiflich sei, „wenn die Juden Rußlands nicht von lebhaften patriotischen Empfindungen für Land und Regierung erfüllt sind, die sie dem Elend und der Vernichtung preisgegeben haben. Trotz-dem werden die zum Heere ausgehobenen Männer ihre Pflicht ernst erfüllen, solange sie in der Truppe stehen. Die jüdische Bevölkerung im allgemeinen aber wird einen schweren Seelen-konflikt durchmachen, in ihrem tiefsten Innern kann und wird sie dem Lande, das sie zu einem menschenunwürdigen Dasein erniedrigt hat, den Sieg nicht wünschen.“
Zurückhaltung der amerikanischen Juden
Auch im Westen blieb die Aktionseinheit des Weltzionismus eine Illusion. Das „Komitee zur Befreiung der russischen Juden“ hatte gehofft, gerade in den philanthropischen Zirkeln der nordamerikanischen Juden und Freimaurer Verständnis auch für seine politischen Absichten zu finden. Im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt stellte Bodenheimer noch im August 1914 eine zionistische Delegation zusammen, die beauftragt war, direkte Beziehungen zwischen dem deutschen Komitee und den aus Deutschland stammenden New Yorker Financiers herzustellen
Jacob Schiff fühlte sich nach einem ausführlichen Gespräch mit den deutschen Zionisten bewogen, einen Brief an den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, Zimmermann, zu richten
Die Erfahrungen der ersten Kriegsmonate zeigten unmißverständlich, daß weder das gemeinsame Volkstum noch die kulturelle und religiöse Verbundenheit noch das Bekenntnis zu einer über den Nationen stehenden politischen Organisation den Erschütterungen der Kata-strophe standhielten. Selbst eine Kombination dieser Faktoren, wie sie im Fall des internationalen Zionismus gegeben war, bot nicht die geringste Gewähr für ein gemeinsames Handeln oder auch nur für eine gemeinsame historische Perspektive. Eine im Endergebnis gleichartige Zielsetzung, die Sicherung der sozialen und religiösen und die Wiederherstellung der nationalen Existenz des Judentums führte in der politischen Praxis zu entgegengesetzten Entschlüssen, die keineswegs nur aus dem Zwang der Lage zu erklären sind. Der Zionist, für den das Judentum nicht nur eine Glaubensgemeinschaft, sondern zugleich eine Nation darstellte, mußte den Weltkrieg als einen Bruder-krieg empfinden. Nahum Sokolow, ein aus Ruß-land stammendes Mitglied der zentralen Exekutive, hat diese Erkenntnis klar ausgesprochen: „In diesem Kriege kämpften, besonders in Osteuropa, Hunderte und Tausende Juden auf den Schlachtfeldern der kriegführenden Staaten gegeneinander; und das bezeichnende ist, daß sie dies keineswegs gezwungen, sondern aus einem Gefühle höchster Pflichterfüllung heraus taten . .
Insurrektion durch Proklamation ?
Da Bodenheimer die Chancen für eine wirksame deutsche Insurrektionspolitik von Beginn an skeptisch beurteilte, waren Differenzen mit den zuständigen deutschen Militärs und Diplomaten unvermeidlich. Einigkeit herrschte lediglich in der Frage, welche propagandistische Methode anzuwenden sei. Wie Bodenheimer waren auch Bergen und Hutten-Czapski von der Wirksamkeit einer gedruckten Proklamation überzeugt, die in den Sprachen dieser Volksgruppe — also außer in deutscher auch in jiddischer und hebräischer Sprache — verbreitet werden sollte. Hutten-Czapski wußte dieses Vorhaben mit Nachdruck zu verwirklichen, obwohl die Widerstände gegen ein derart unkonventionelles Mittel der Kriegführung nicht unbeträchtlich waren
Um so deutlicher heben sich in den einzelnen Entwürfen die unterschiedlichen Auffassungen voneinander ab. Hutten-Czapski war es um einen militärischen Beitrag der Ostvölker zu tun; Bodenheimer erschien es unverantwortlich, zu diesem Plan seine Hand zu reichen, solange die Erfolge und Landgewinne der Verbündeten im Osten keine Aussicht auf Dauer hatten
Der Aufruf an die Juden in Polen, der als Ergebnis der Vorarbeiten noch im August veröffentlicht wurde, beweist, daß auch die deutsche Führung die Möglichkeiten im Osten sehr bald maßvoller beurteilte
Das Programm Bodenheimers: Zwischenreich im Osten
Die auffallend kritische Haltung Bodenheimers wird verständlicher, wenn man sie vor dem Hintergrund seiner eigenwilligen Vorstellungen über die territoriale Neuordnung des östlichen Mitteleuropa betrachtet. Noch ehe das Befreiungskomitee zusammentrat, meinte er, die deutsche Regierung vor einer einseitigen Bevorzugung der Polen warnen zu sollen. „Eine Politik, die nur auf die Gewinnung der polnischen Bevölkerungselemente gerichtet ist, erweckt bei den anderen Völkerschaften, speziell den Juden Westrußlands, den Gedanken, daß sie auch künftig einer nichtjüdischen Nationalität untergeordnet werden sollen, die ihnen nicht günstig gesinnt ist.“
Das war freilich ein Programm, das fraglos den polnischen Absichten zuwiderlief und zu gesteigertem Mißtrauen Anlaß gab, obwohl sein Autor beteuerte, es werde den Lebensbedürfnissen aller Beteiligten gerecht! Die Fixierung territorialer Ziele in diesem Stadium des Krieges mußte unmittelbar die Erfolgsaussichten des deutschen Insurrektionsplanes beeinträchtigen, denn eine auch nur temporäre Koordination der osteuropäischen Bevölkerungsgruppen war kaum mehr denkbar, sobald die Frage der späteren staatlichen Neugestaltung des Ostraums die Gemüter beherrschte. Diese Entwicklung, die Hutten-Czapski abzuwenden gehofft hatte, trat ein: Seit Beginn des Krieges absorbierte die Rivalität der Völkerschaften einen wesentlichen Teil der Energien, die dem Kampf gegen den gemeinsamen Gegner hätten dienen sollen. Das „Komitee zur Befreiung der russischen Juden", in dem Bodenheimer federführend tätig war, übernahm das Programm eines osteuropäischen Nationalstaates und räumte ihm in seinen Veröffentlichungen einen bevorzugten Platz ein. Die „Richtlinien" des Komitees werden mit folgenden Sätzen eingeleitet: „Es liege im Interesse Deutschlands und Österreich-Ungarns, daß beim Friedensschluß diejenigen Gebiete im Westen und Südwesten Rußlands, die nicht von Groß-russen bewohnt sind, in möglichst großem Umfange von Rußland abgetrennt werden, so daß ein Zwischenreich, welches vom Baltikum bis zum Schwarzen Meere reicht, Deutschland und Österreich vollkommen von Rußland trennt".
Nur auf dieser Grundlage sei ein dauernder Friede mit Rußland für die Zukunft gesichert, denn nur unter dieser Voraussetzung werde Rußland derartig geschwächt, „daß es auf Generationen hinaus zu einem Kampf gegen die verbündeten Mächte nicht mehr fähig ist“, und nur auf dieser Grundlage sei die Möglichkeit gegeben, „die jetzt von Rußland unterdrückten Völkerschaften West-und Südrußlands zu einem Rußland gegenüber selbständigen Gemeinwesen zu organisieren, das in Rußland seinen natürlichen Feind und in den verbündeten Mächten seinen natürlichen Beschützer erblickenwird. “
Wandlung der Taktik-Beschränkung der Ziele
Bevor das Jahr 1914 zu Ende ging, hatte sich erwiesen, daß der Wirksamkeit des „Deutschen Komitees zur Befreiung der russischen Juden“ enge Grenzen gesetzt waren. Der — nur auf Seiten der Regierungsbehörden gehegte — Gedanke einer bewaffneten Insurrektion des Ost-judentums wurde fallen gelassen. In dem Maße, in dem Bodenheimer erkennen mußte, daß auch sein politisches Fernziel, ein osteuropäischer Pufferstaat unter deutsch-jüdischem Einfluß, unerreichbar blieb, trat die karitative Tätigkeit des Komitees in den Vordergrund, die in den späteren Jahren ganz das Bild beherrscht; Oppenheimer hat in seinen Erinnerungen mit einem gewissen Recht das Komitee als eine Institution charakterisiert, die „in naher Tuchfühlung mit dem Auswärtigen Amt und der Obersten Heeresleitung im Osten sich bemühte, die Lage der dortigen jüdischen Bevölkerung möglichst erträglich zu gestalten"
Im Dezember 1914 trat das Aktionskomitee der zionistischen Weltorganisation in Kopenhagen, der Hauptstadt eines neutralen Landes, zusammen und proklamierte den Grundsatz strikter Neutralität
Eine zweite Metamorphose des Komitees innerhalb weniger Wochen bahnte sich an; ursprünglich auf zionistische Initiative hin entstanden, dann durch den Eintritt nichtzionistischer Persönlichkeiten erweitert, drohte es jetzt zu einem nichtzionistischen Gremium zusammenzuschrumpfen. Durch den Austritt seiner Gründer und Leiter wäre nicht nur seine Bedeutung, sondern darüber hinaus sein Fortbestand in Frage gestellt worden. Arthur Hantke, der sowohl dem engeren Aktionskomitee als auch dem Befreiungskomitee angehörte, mußte sich den Kopenhagener Beschlüssen beugen und schied aus, wodurch jede direkte personelle Verknüpfung mit der zionistischen Leitung aufgegeben war. Die übrigen zionistischen Mitglie-der strebten eine Kompromißlösung an. Sie vertraten die Ansicht, daß ihre Tätigkeit mit dem Neutralitätsgebot vereinbar sei, da sie philanthropische Zwecke verfolge. Um diesem Sachverhalt äußerlich Rechnung zu tragen, wurde der Name des Gremiums, den auch Bodenheimer als „herausfordernd" empfunden hat, gegen die neutrale Bezeichnung „Komitee für den Osten“ ausgewechselt.
Bodenheimer selbst hat, wie er in seinen Erinnerungen bekundet, an seiner Überzeugung von einer schicksalhaften deutsch-jüdischen Interessengemeinschaft festgehalten
4. Aufwiegelung der Ukraine -ein „Todesstoß" ?
Die Ukraine nimmt unter den Landschaften Osteuropas aus strategischen Gründen wie auch mit ihrem wirtschaftlichen Reichtum und ihrer Bevölkerungszahl eine Sonderstellung ein. Als der deutsche Konsul in Lemberg, Heinze, am 6. August 1914 über die ersten Anfänge einer von Galizien, also von österreichischem Boden, ausgehenden ukrainischen Revolutionsbewegung berichtete, machte er geltend, daß die Insurgierung dieses Gebietes für Rußland einen „Stoß ins Herz" bedeuten würde
Die Insurgierung der Ukraine eröffnete also außergewöhnliche Zukunftsaussichten, konfrontierte aber auch die dabei beteiligten Stellen mit Problemen besonderer Art
Die Ukraine -das „Herz” Rußlands
Für die Russen wiederum bedeutete das Auftauchen der ukrainischen Frage weit mehr als das finnische und das polnische Problem. Auch die liberalen Parteien, bei denen die polnischen Nationaldemokraten Verständnis für eine autonome Stellung in einer konstitutionellen russischen Demokratie fanden und die auch bereit waren, der finnischen Freiheitsbewegung entgegenzukommen, ja, wie wir noch hören werden, mit den muslimischen Duma-Abgeordneten eng zusammenarbeiteten, waren jedoch unbedingte Gegner einer ukrainischen Autonomie. Für Stolypin aber war die Forderung der 60 ukrainischen Abgeordneten der zweiten Duma nach Unabhängigkeit der unmittelbare Anlaß für seinen Staatsstreich gewesen, der eine Duma schaffen sollte, die „auch dem Geiste nach russisch" sei.
Wie es die Russen auffaßten, ist auch aus dem Wortlaut einer Proklamation ersichtlich, die am 24. August 1914 im Namen des Höchst-kommandierenden, des Großfürsten Nikolai, an die galizischen Ukrainer gerichtet wurde
Die zentrale Bedeutung der Ukraine für das Zarenreich ist damals auch von solchen deut-schen Autoren betont worden, die die Los-lösung der Fremdvölker und Zergliederung die-ses Reiches nach der sogenannten Apfelsinen-theorie propagierten: daß man Rußland bei genügender Vorsicht wie eine Apfelsine zerteilen könne, ohne daß auch nur ein Tropfen Saft herauszufließen brauche
Der „Oberste Ukrainische Rat”
Die ersten Anregungen zur Aufwiegelung der Ukraine gingen von Galizien aus
Konsul Heinze schlug über die deutsche Botschaft in Wien vor, dieses Vorhaben finanziell und politisch zu unterstützen. „Gelingt es," so führt er in seinem Bericht vom 6. August aus, „mit Hilfe dieser Bewegung einen allgemeinen Aufstand in Südrußland anzufachen und insbesondere ihn mit dem hier sicher erwarteten Aufstand des russischen Polens zusammenwirken zu lassen, so wird der gefährlichste unserer drei Feinde ins Herz getroffen und muß nach einigen entscheidenden Schlägen zusammenbrechen.“ Es fällt das Wort von dem „ungeheuren Trumpf“, den Deutschland im Kampf auf Leben und Tod mit der Entfesselung eines Aufstandes des ukrainischen 30-Millionen-Volkes ausspielen könne; auch die Existenz der österreich-ungarischen Monarchie hänge davon ab, daß „um jeden Preis und mit jedem Mittel ...dem russischen Kolosse die . tönernen Füße'amputiert werden".
Berlin drängt Wien
Die deutsche Regierung erfuhr von den Vorgängen in Galizien zu einem Zeitpunkt, als sie bemüht war, Finnen und Polen zum Aufstand zu bewegen. Wenn sie das Entstehen von Pufferstaaten zwischen Deutschland und Rußland erstrebte, dann folgte sie einem Leitgedanken, der nicht nur dem Insurrektionsprogramm des jüngeren Moltke vom 2. bis 5. August 1914 entspricht, sondern schon in dem strategischen Konzept des älteren Moltke aus dem Jahr 1871 enthalten war; nur hatte diesem das jagelIonische Polen des 16. Jahrhunderts vor Augen gestanden, dessen Territorium auch ukrainisches Gebiet einschloß, und das bis zu den Küsten des Schwarzen Meeres reichte. Demgegenüber mußte es jetzt angebracht erscheinen, außer der polnischen auch die ukrainische Waffe gegen Rußland zu gebrauchen, nachdem die Bevölkerung ihren Freiheitswillen im Revolutionsjahr 1905 unter Beweis gestellt hatte und in den folgenden Jahren um so stärker von der Stolypinschen Gleichschaltungspolitik bedrängt worden war. So ergriff man denn in Berlin — zunächst mit diplomatischen Schritten in Wien — auch in der ukrainischen Angelegenheit die Initiative. Das Antworttelegramm des Staatssekretärs an den deutschen Botschafter in Wien enthält die folgenden bedeutsamen Sätze: „Insurgierung nicht nur Polens, sondern auch der Ukraine erscheint uns sehr wichtig; erstens als Kampfmittel gegen Rußland, zweitens, weil im Falle glücklichen Kriegsausgangs die Bildung mehrerer Pufferstaaten zwischen Rußland und Deutschland bzw. Österreich-Ungarn zweckmäßig wird, um den Drude des russischen Kolosses auf Westeuropa zu erleichtern und Rußland möglichst nach Osten zurückzudrängen“
Zum Verständnis dieses Telegramms, das auch von Bethmann-Hollweg abgezeichnet wurde, ist es erforderlich, die Atmosphäre jener ersten Augustwochen und die Vorstellungswelt der Zeitgenossen zu berücksichtigen. Da ist die Illusion, daß bereits der Kriegsausbruch die Völkerschaften Rußlands zum offenen Aufruhr veranlassen werde; da ist die Erinnerung an die Geschehnisse von 1905, und da ist vor allem die Erwartung, daß unmittelbar nach der Siegesschlacht in Frankreich die Heere der Mittelmächte den Vormarsch im Osten antreten würden. Unter diesen Voraussetzungen war die Hoffnung nicht abwegig, daß jenseits der deutschen Ostgrenze ein System von Pufferstaaten entstehen werde. Eine derartige Konzeption ließ sich sehr wohl mit der damals in Deutschland vorherrschenden Idee eines Verteidigungskrieges vereinbaren: Es galt, für die Zukunft den Schutz der deutschen Ostflanke zu gewährleisten. Der Historiker wird sorgfältig zu prüfen haben, inwieweit die Kenntnis solcher Pläne dazu berechtigt, von einem deutschen „Drang nach Osten“ zu sprechen.
Angesichts des starken polnischen Einflusses in Wien konzentrierten sich auch die ukraini-sehen Hoffnungen auf die deutsche Regierung. Tschirschky, der deutsche Botschafter in Wien, hat im Februar 1915 die Beobachtungen mehrerer Monate in der Feststellung zusammengefaßt, daß die Ukrainer alles von Deutschland, aber gar nichts von Österreich erwarteten. Bereits im August 1914 berichtete er nach Berlin: „Das zurückhaltende, ultra-konservative Naturell des Grafen Berchthold widerstrebt allem energischen Vorgehen zur Insurrektion.“ Heinze gewann in Lemberg ein ähnliches Bild: „Der Oberste Rat hat ...den Eindruck ..., daß die ganze Aktion in . österreichischer'Weise behandelt werde und daß wirksame und schnelle Hilfe nur von Deutschland kommen könne.“ Trotz aller Befürchtungen war sich Tschirschky mit Jagow darüber einig, daß in der ukrainischen Sache nichts ohne Wien geschehen könne
Schon die geographische Lage verbot hier eine selbständige deutsche Politik
Es war also die deutsche Regierung, die die Dinge vorantrieb. Während Tschirschky in Wien mit Österreichern und Ukrainern verhandelte, wurde in Berlin auf den österreich-ungarischen Botschafter, den Prinzen Hohenlohe, eingewirkt
Der sozialistische „Bund zur Befreiung der Ukraine"
Dennoch ist erstaunlich, wie schnell die leitenden Persönlichkeiten des Auswärtigen Amtes auf die ruthenischen Projekte eingingen. Offenbar übertrug sich die — von Botschafter Tschirschky geteilte — optimistische Stimmung des Lemberger Konsuls auf Jagow und Zimmermann
Zehn Tage nach der Gründung des „Obersten Ukrainischen Rates“ entstand in Österreich eine weitere ukrainische Organisation: der „Bund zur Befreiung der Ukraine"
Unterdessen hatte sich die militärische Lage im Südosten verändert. Anfang September war Ostgalizien mitsamt seiner Metropole Lemberg, das in zunehmendem Maße auch von den russischen Ukrainern als nationales Kulturzentrum betrachtet wurde
So wurde diese österreichische Provinz statt zum „Piemont“ einer ukrainischen Nationalbewegung unter habsburgischer Führung zum Sorgenkind der Monarchie, und statt einer nationalen Erhebung in Südrußland fielen erhebliche ruthenische Gruppen der russischen Propaganda und dem Terror zum Opfer. Entsetzt stellte das österreichische AOK eine teilweise offene Begünstigung Rußlands durch ruthenische Bauern fest
AOK an der Idee der Revolutionierung der Ukraine ein. Der Vertreter des Ministeriums des Auswärtigen beim AOK, Baron Giesl, der sich diese skeptische Auffassung zu eigen machte, sprach von der Zerstörung einer Legende, die bisher „in weitesten Kreisen sogar als Axiom“ gegolten habe: die Erwartung von Aufständen hinter der Front der Russen durch Polen und Ukrainer sei geradezu ins Gegenteil verkehrt worden
Propaganda statt Aufwiegelung
So blieb die Tätigkeit der beiden Organisationen in der Hauptsache auf publizistische Propaganda beschränkt. Dabei wurden die Aufgaben verteilt. In Österreich und in Deutschland arbeitete der „Oberste Ukrainische Rat“ für die Idee, die durch russische Einflüsse entfremdeten „Volksgenossen" zurückzugewinnen. Im übrigen trat diese Organisation zurück, nachdem sie durch ihre Flucht aus Galizien ihren eigentlichen Standort verloren hatte.
Der „Bund zur Befreiung der Ukrainer" betätigte sich im neutralen Auslande mit Verbindungsleuten in Konstantinopel, Bukarest, Sofia, in der Schweiz, in Schweden und sogar in Amerika und in den böhmischen Gebieten Österreichs; er produzierte hierfür Broschüren in ukrainischer und vor allem in deutscher Sprache
Revolte der Schwarzmeerflotte?
Doch da gab es noch eine Aktion der Regierungen der beiden Mittelmächte, die mit besonders großen Hoffnungen und mit einem erheblichen finanziellen Aufwand geplant wurde. In den Wochen nach dem Ausbruch des Krieges waren wiederholt Meldungen eingegangen, wonach es auf der russischen Schwarzmeerflotte zu Meutereien gekommen sei
AIs sich dann im Dezember 1914 ergab, daß dieser Mann in sozialrevolutionären Kreisen völlig unbekannt war und überhaupt nichts getan hatte, zog er sich elegant aus der Affäre. Vielleicht fühlte er sich sogar unschuldig. Er teilte mit, daß seine Schwarzmeeraktion gescheitert sei, weil der türkisch-russische Seekrieg zu früh ausgebrochen wäre, zahlte 400 000 Kronen zurück und erhielt noch eine Abfindungssumme von 50 000 Kronen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Initiative der Revolutionierungspolitik verschoben. Bisher lag sie in der ukrainischen Angelegenheit vorherrschend bei den deutschen Diplomaten, die nicht nur mit einzelnen Ukrainern ins Gespräch kamen, sondern auch versuchten, die Einheitlichkeit der Aktion und eine Arbeitsteilung der Gruppen herzustellen. Nun aber ging die praktische Durchführung an Wien über. Die Agenten bedienten sich für den Verkehr untereinander des österreichischen Nachrichtenapparates, ihre Schritte in den neutralen Ländern passierten das Wiener Außenministerium oder die diplomatischen Vertretungen der Habsburger-Monarchie. Das bedeutete, daß die Kontrolle der Unternehmungen in diesem Vielvölkerstaat den dort herrschenden nationalen Gegensätzen unterlag, etwa polnische Beamte unterdrückten, was an ruthenisch-ukrainischen Bestrebungen den Interessen der polnischen entgegenstand
Schwarzes Meer -Kaukasus -Ukraine
Indessen verlagerte sich das Schwergewicht der Bemühungen um die Aufwiegelung der Ukrainer nach Konstantinopel. Dafür waren sowohl sachliche wie persönliche und schließlich auch taktische Gründe maßgebend. Das Bündnis mit der Türkei schien bereits aus geographischen Gründen Möglichkeiten für Kontakte besonders über das Schwarze Meer zu bieten, die die Stellungssysteme an der Ostfront verwehrten. Wesentlicher noch war, daß es damals eine Reihe von Deutschen gab, die auf Grund ihrer Verbindungen mit dem Auslande sich zur Verfügung stellten, um der Kriegführung zu nutzen. Zumeist trugen sie ihre Anregungen dem Auswärtigen Amt oder anderen Stellen vor, manche bedienten sich der Vermittlung ihnen bekannter Militärs oder gar des Kaisers, andere begannen auf eigene Faust mit der Durchführung ihrer Pläne. So war in der ukrainischen Sache besonders aktiv der Präsident der „Kaffee-Handelsgesellschaft“ (HAG), Ludwig Roselius. AIs er sich im September 1914 in Rumänien aufhielt, traf er dort Ukrainer und entwickelte Schwarzmeer-und Kaukasuspläne mit dem Programm einer selbständigen Ukraine unter einem deutschen Prinzen
Roselius arbeitete seit Dezember 1914 in der ukrainischen Sache mit einer Persönlichkeit zusammen, die noch größere Bedeutung für die deutsche Revolutionierungspolitik erhalten sollte: Dr. Zimmer, dem Besitzer einer Großfarm in der Türkei. Er hatte sich unmittelbar nach dem Kriegsausbruch mit der deutschen Botschaft in Konstantinopel in Verbindung gesetzt und bei einem Besuch anscheinend in Berlin die Unterstützung des Auswärtigen Amtes für das Angebot erhalten, in Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung Aufstände in der Ukraine mit gleichzeitigen im Kaukasusgebiet zu inszenieren
Eine über das Schwarze Meer entsandte ukrainische Expeditionstruppe sollte zunächst die Tscherkessen, dann die Kuban-Kosaken und anschließend die Bevölkerung der Ukraine zum Aufstand bringen
Aber Mitte November war schon alles vorüber. Auf Anfrage nach den versprochenen Beutegewehren kam vom deutschen Generalstab die Antwort, sie seien beschädigt und könnten deshalb nicht abgegeben werden
Die Umstände, unter denen diese Aktionen geplant wurden und scheiterten, charakterisieren wieder die Fragwürdigkeit der Revolutionierungspolitik der Mittelmächte. Offensichtlich hatte das unbestreitbare Organisationstalent Zimmers und sein bestimmtes und genaue Kenntnisse versprechendes Auftreten genügt, um die mit Arbeit überhäuften Diplomaten zu überzeugen. Das um so mehr, als hier ja endlich die konkrete Möglichkeit auftauchte, die Ukraine mit militärischer Gewalt in Bewegung zu bringen, unter dem Schutz der türkischen Armee und unter der Leitung nicht der zwielichtigen Vertreter der fremden Nationalität, sondern deutscher Organisatoren, nicht zuletzt auch, weil alles nicht mit dem leidigen Problem der galizischen Frage zusammenhing.
Mit dem Zusammenbruch all dieser Pläne und Hoffnungen auf die Revolutionierung der Ukraine setzte eine heftige Kritik an den Maßnahmen der beiden Regierungen ein
Um so größer war dafür allerdings die Aktivität bei den Bemühungen, die Völker im Kaukasusgebiet zu Aufständen zu bringen.
5. Die Kaukasusvölker in der deutschen, türkischen und russischen Insurrektionspolitik
Der Generalquartiermeister der russischen Feldarmee, Jurij Danilov, erwähnt in seiner Darstellung der russischen Operationen, daß die Türkei auf Veranlassung Deutschlands muslimische Agitatoren nach Transkaukasien geschickt habe. Schon damals habe Deutschland den Weg zur Verwirklichung seines „grandiosen Planes“ betreten, der die innere Zersetzung der mit ihm im Kampf stehenden Mächte bezweckte
Allerdings entspricht es nicht den Tatsachen, daß die muslimischen Agenten von den Türken erst auf Veranlassung der Deutschen geschickt worden seien. Es wird sich vielmehr zeigen, daß zwischen den beiden Bundesgenossen — ähnlich wie zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn in der polnischen und der ukrainischen Frage — dabei sogar gegensätzliche Interessen wirksam waren. Das ergab sich bereits daraus, daß es innerhalb des Russischen Reichs sowohl muslimische Kaukasier — so im Nordwestkaukasus die Tscherkessen, im Südosten die Aserbeidschaner und zahlreiche Bergstämme — und wiederum christliche Völker gab:
Georgier sowie einen Teil der Osseten und Armenier. Die Religionszugehörigkeit aber war ein politischer Faktor. Sie veranlaßte die Türken als Schutzmacht der muslimischen und die Russen und auch die Deutschen als die der christlichen Völker aufzutreten; dabei war die Position der deutschen Politik offensichtlich schwächer als bei ihrem Eintreten für die im türkischen Staatsbereich lebenden Juden.
Georgische Revolutionäre
Die deutsche Politik hat sich besonders darum bemüht, eine Widerstandsbewegung der G e Orgie r zü inszenieren. Dieses Volk, das schon im vierten Jahrhundert das Christentum angenommen hatte, war lange Objekt der Auseinandersetzungen seiner Nachbarmächte Persien, Ruß-land und der Türkei gewesen und hatte auch wiederholt gegen die Türken zu kämpfen, bis dann um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sein König Georg XII. Anlehnung beim russischen Zaren suchte. Seitdem hatte es sich der Übermacht des russischen Reiches zu erwehren. Das Besondere war
Aus diesen Kreisen kamen in der Hauptsache die Persönlichkeiten, die sich der deutschen Regierung anboten, in ihrer Heimat Aufstandsbewegungen zu entfesseln. Das war zuerst Leo Keresselidse, der 1907 vor einer russischen Strafexpedition nach der Schweiz geflohen war. Er stellte sich im August 1914, warm empfohlen von einem früheren schweizer Bundespräsidenten, dem deutschen Konsulat in Genf zur Verfügung
Inzwischen erschien im Auswärtigen Amt Fürst Georg Matschabeli aus Tiflis mit seinem Freund Michael von Tseretheli. Matschabeli war am 22. September, versehen mit einem Reise-ausweis des deutschen Verwaltungschefs in Belgien, in Karlsruhe aufgetaucht
Georgisch-türkische Gegensätze
Auch diese Georgier wurden nach Konstantinopel geschickt, und Wangenheim erhielt Anweisung, ihnen zur Durchführung ihrer Pläne bei der türkischen Regierung behilflich zu sein. Allerdings war, wie der Botschafter zusammenfassend berichtete, ohne Waffen-und Munitionslieferungen eine „durchgreifende Revolutionierung“ der kaukasischen Gebiete ein frommer Wunsch
Man wird dies zunächst mit dem religiösvölkischen Gegensatz zwischen Georgiern und Türken erklären. Der Orientalist Max von Oppenheim, dem in Berlin die Planung für die „Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde" übertragen war, erklärte in seiner Ende Oktober 1914 angefertigten Denkschrift
Doch es handelte sich um widersprechende politische Interessen. Deutsche und Türken waren sich zwar darin einig, daß die Kriegführung die „Revolutionierung des Kaukasus“ erfordere. Dies wurde Anfang September in einer Besprechung der beteiligten Stellen in Konstantinopel festgestellt, als der von den Österreichern vorgebrachte Plan einer türkischen Landung bei Odessa zur Entlastung der galizischen Front abgelehnt und dafür ein Kaukasus-Feldzug beschlossen wurde. Hierfür wurde eine Landung in Batum geplant, und der Erfolg dieses Feldzuges geradezu davon abhängig gemacht, daß „zunächst eine Entente zwischen Georgiern und der Türkei hergestellt würde" 229a). Dafür sollte ein georgisch-türkischer Vertrag geschlossen werden, der „die beiderseitigen Sphären“ abgrenzte. Doch eben dies stieß auf Schwierigkeiten. Die georgischen Führer brachten aus Berlin die Zusicherung der deutschen Regierung mit, daß ein befreites Georgien nicht etwa beim Friedenschluß einer Verständigung mit den Russen geopfert und sie dann deren Rache ausgeliefert würden. Sie hatten aber Grund, von der türkischen Regierung eine schriftliche Erklärung zu verlangen, daß sie nicht die russische Herrschaft mit einer türkischen vertauschen würden. Erst nach ernsten und wiederholten Vorstellungen des deutschen Botschafters gelang es, in den letzten Tagen des Jahres 1914 beim türkischen Innenminister die Unterschrift seines Kabinett-chefs unter ein Schriftstück zu erreichen. Darin wurde ein selbständiger georgischer Staat anerkannt, dessen künftige staatsrechtliche Gestaltung Europa überlassen bleiben sollte, und die Bildung einer provisorischen georgischen Regierung vorgesehen, sobald die militärischen Voraussetzungen dafür gegeben seien. Das Dokument wurde von Keresselidse gegengezeichnet und ein Exemplar vorsichtshalber bei den Botschaftsakten deponiert
Dabei ging es nicht einmal nur um christliche Völker. Wilhelm II. hatte ja schon in seiner Randbemerkung vom 30. Juli 1914 verlangt, daß die deutschen „Consuln in (der) Türkei und Indien (sic) Agenten etc." die ganze muslimische Welt „zum wilden Aufstande entflammen" sollten. Das war offensichtlich eine generelle Weisung des Obersten Kriegsherrn 231a). Nach Ansicht der Türken entwickelte sich nun aber etwas, was Bismarck den „furor consularis" genannt hatte. Enver Pascha beklagte sich geradezu beim deutschen Botschafter darüber und meinte, daß zwar nicht er aber die türkischen Beamten bereits fürchteten, daß die Deutschen in der Türkei ein Protektorat errichten wollten 231b). Dem hielt der Unterstaatssekretär Zimmermann entgegen, die Türken dürften nicht übersehen, „daß Perser, Ägypter, Araber sowie christliche und mohammedanische Kaukasier ihren Plänen mißtrauen und immer wieder unsere Vermittlung erbitten zur Herstellung harmonischer Verhältnisse mit der Türkei“
Türkische Kriegsziele und Panturkismus
Hier offenbarte sich ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen der deutschen Aufwiegelungspolitik und der türkischen Kriegszielpolitik. Die Türkei sah sich zu dem Bündnis mit den Mittel-mächten genötigt, um dem russischen Drang nach Konstantinopel entgegenzutreten. Bisher hatte sie diesen Schutz von England erhalten, das den Mittelmeerweg nach Indien von den Russen bedroht sah. Die neue Situation öffnete ihr aber auch die Aussicht zurückzugewinnen, was einmal zum Osmanischen Reich gehört hatte und zum Teil erst in den letzten Kriegen verlorengegangen war. Das Osmanische Reich gesellte sich hier zu denjenigen Mächten, die von einem Kriege die Erfüllung historischer Ziele erwarten konnten, die sie in Friedenszeiten nur theoretisch verfolgten: Frankreich mit den 1871 verlorenen Provinzen und Rußland mit Konstantinopel und den Meerengen. Für die Türken gab es solche Kriegsziele auf dem Balkan mit Westthrazien, in Nordafrika mit Tripolis und vor allem mit Ägypten, in der Wiederaufrichtung ihrer Herrschaft in den arabischen Gebieten und so eben am Kaukasus. Hier handelte es sich zunächst um die nach dem russisch-türkischen Kriege 1877/78 im Frieden von St. Stefano an Rußland verlorene Provinz um Kars mit dem Schwarzmeerhafen Batum, darüber hinaus aber lockte auch der Kamm des großen Kaukasus als »natürliche Grenze". Doch waren bereits weitergehende Ambitionen der Türken sichtbar geworden. So, als Deutschland sich nach dem Bündnisabschluß vom 2. August 1914 am 6. August durch seinen Botschafter verpflichten mußte, der Türkei im Falle eines Sieges eine »Berichtigung" an ihrer Ostgrenze zu erwirken, die es ihr gestattete, „mit den muslimischen Elementen in Rußland unmittelbare Fühlung aufzunehmen"
Das war der Niederschlag einer Ideologie, die der Gründung eines georgischen Staates im Wege stand und von der deutschen Politik berücksichtigt werden mußte: der Panturkismus, auch Turanismus genannt. Wie in Rußland der Panslawismus den Zusammenschluß der Slawen vom Stillen Ozean bis zur Adria unter russischer Führung, so propagierte der Turanismus ein Einheitsbewußtsein der Turkvölker der Türkei wie auch der etwa 20 Millionen Muslims des russischen Reiches. Und wie jener aus der Geistesbewegung des Slawophilentums, entwikkelte sich der Panturkismus aus einem sprach-lich-kulturell-religiösen Gemeinschaftsbewußtsein zu einer politischen Bewegung, und zwar nicht etwa nur in der Türkei. Angehörige der kulturell und wirtschaftlich führenden Völker-gruppe der Tataren, die in der Türkei und Westeuropa studiert hatten und dort mit den liberal-nationalen Ideen in Berührung gekommen waren, hatten in der liberalen Ära nach der Revolution von 1905 das politische Selbstbewußtsein bei den Muslims in Rußland geweckt. Es kam zu einer Reihe von Muslimkongressen und zur Bildung einer politischen Partei, des „Ittifak“, und zweier linksgerichteter muslimischer Arbeitsgruppen. In der ersten und der zweiten Duma hatten die russischen Muslims 3 5 bzw. 39 Sitze. Unter dem Druck der Stolypinschen Politik flohen die Führer wieder nach der Türkei. Dort ermöglichte ihnen nun die Machtübernahme der jungtürkischen Reformpartei (um die Jahreswende 1908/09), die Kraft ihrer Idee mit den Machtzielen und Machtmitteln eines Staatswesens zu verbünden — ähnlich etwa der politischen Interessengemeinschaft der italienischen Nationalbewegung mit Piemont/Savoyen und der deutschen mit dem preußischen Militär-staat. Die drei prominentesten Panturkisten wurden in das jungtürkische Nationalkomitee „Einheit und Fortschritt“ ausgenommen, und die Idee des Turanismus nun in den örtlichen Komitees in der Türkei verbreitet. Als der Ausbruch des Weltkrieges und die Freundschaft mit den Mittelmächten jene Perspektiven für eine Machtexpansion des Osmanischen Reiches eröffneten, bekam der Turanismus unmittelbar praktische Bedeutung für die türkische Kriegs-politik. Ein Rundschreiben des jungtürkischen Komitees „Einheit und Fortschritt", vom Tage nach der türkischen Kriegserklärung an Ruß-land vom 11. November 1914, kennzeichnet die Situation. Es appelliert an die Kraft des religiösen Empfindens, die muslimische Welt von der Herrschaft der Ungläubigen zu befreien und an das „nationale Ideal, den moskowitischen Feind zu vernichten, um dadurch eine natürliche Reichsgrenze zu erhalten, die in sich alle unsere Volksgenossen einschließt und vereint.“
Türkische Aufwiegelungspolitik
Unter diesen Umständen ist es verständlich, islamische und die pantürkische Propaganda daß die türkische Regierung ihre eigene Revolutionierungspolitik die erstrebten Aufstände der Stämme und hatte. Dabei wurden die pan231Völker als ideologisches und materielles Kampf-mittel von der türkischen Kriegführung benutzt.
Sie waren geradezu die Voraussetzung für die im Dezember unternommene türkische Kaukasusoffensive. Und zwar sowohl für das nähere Operationsziel der Vertreibung der Russen aus Persien wie auch für das größere, das Enver Pascha nannte, über Afghanistan nach Indien zu marschieren
Die türkische Aufwiegelungspolitik kündigte sich bereits an in Enver Paschas Telegramm an den Kaiser und in einem Telegramm des deutschen Botschafters vom 9. August 1914, in dem auf Grund von Mitteilungen des Marschalls Fu'ad Pascha, eines Tscherkessen, von der „bereits eingeleiteten Revolutionierung des Kaukasus" gesprochen wurde
Das waren die Adscharen; sie lebten in jenem Gebiet am Schwarzen Meer, das bis 1877 zur Türkei gehört hatte. Hier hatten die Türken, so berichteten sie jedenfalls später, eine Organisation aufgebaut, die mit einer Arbeitsaufteilung von 80 Bezirken mit je einem Vertrauensmann und wiederum 15 Untervertrauensmännern den Aufstand gegen die Russen vorbereiteten
Im Zusammenhang mit dieser Kaukasusoffensive erfolgte auch der türkische Vorstoß im persischen Aserbeidschan im Dezember/Januar 1914/15. Die Aserbeidschaner waren schon vor dem Kriege für die türkische Propaganda empfänglich gewesen, nicht nur weil sie, wie die Adscharen, unmittelbar der Türkei benachbart waren, sie hatten mit dem russischen Teil auch eine führende Stelle in der Muslimbewegung und lagen in Persien im Streit mit der Okkupationsmacht. Die führende Organisation „Musa-wat", ursprünglich von sozialistischen Intellektuellen gegründet, dann aber mehr in die Hand besitzender Schichten gelangt (eine links-bürgerliehe Untergrundpartei), vertrat in populärer Mischung nationalistischer, panislamischer und pantürkischer Tendenz ein Programm der Einheit der muslimischen Völker
Russische Aufwiegelungspolitik
An dieser Offensive in Nordpersien, bei der die Russen kopflos einem „Riesenbluff" erlagen, waren die kurdischen Stammesreiter von beiderseits der Grenze wesentlich beteiligt
Die Russen mußten aber sehr bald erfahren, daß sie nicht gleichzeitig christliche Völker und -mit den islamischen Kurden — deren Tod-feinde in den Dienst ihrer Kriegführung stellen konnten. Noch vor dem Kriegsausbruch, im Oktober 1914, kam es am Urmia-See zu einem Gefecht, in dem einer mit russischen Soldaten verstärkten armenischen „druschina" von 1300 Mann kurdische Verbände gegenüberstanden, bei denen sich einige reguläre türkische Soldaten befanden
Um so mehr richtete sich das russische Interesse auf den unter türkischer Herrschaft lebenden Teil der christlichen Armenier, die seit den 90er Jahren von türkischer Unterdrückungsund Ausrottungspolitik bedroht wurden. Hatte es zu den Methoden armenischer Kampf-und Schutzorganisationen gehört, durch Terrorakte die internationale Aufmerksamkeit auf die armenische Frage zu lenken und damit eine Intervention der Großmächte hervorzurufen
Die Methoden und Motive der russischen Armenienpolitik sind nicht nur anzuführen im Hinblik auf das traurige Schicksal, das diesem Volk dann von den Türken bereitet wurde, sondern auch als ein Beitrag zum Problem der Revolutionierungspolitik überhaupt. Die Russen zeigten zunächst kein Interesse, die Armenien-frage aufzugreifen, sie fürchteten mit Recht, damit den Türken einen Anlaß oder Vorwand zu geben, um Massaker zu veranstalten, wie sie seit 1895 die Welt bewegt hatten. Vor allem aber lag es im Interesse der russischen Kriegführung, den Ausbruch des Krieges mit der Türkei hinauszuschieben, um solange wie möglich eine zweite Front zu vermeiden. Ein Bündnisangebot, das ihnen Enver Pascha sofort nach dem Abschluß des deutsch-türkischen Bündnisses im August machte, hatte Rußland zwar nicht akzeptiert, um sich nicht die Chance der Eroberung Konstantinopels und der Meerengen zu nehmen, benutzte aber die Verhandlungen, um die Türkei noch solange als möglich am unmittelbaren Eingreifen auf Seiten der Mittelmächte zu hindern.
Indessen drängte der Katholikos und schlug vor, mit einem zündenden Manifest, das der Zar genehmigen solle, die in der Türkei lebenden Armenier zum Aufstand aufzurufen
Mit dem Zusammenbruch der türkischen Kaukasusoffensive bot sich dann allerdings die Aussicht auf eine russische Invasion in Anatolien. Damit steigerte sich die Aktivität geheimer armenischer Komitees wie auch der mit ihnen zusammenarbeitenden russischen Behörden. So erschien im Februar 1915 beim Stabe der russischen Kaukasusarmee ein Vertreter der Chintschakistenbewegung, die parallel zur großen Kampforganisation des „Daschnaksutiun"
in Kilikien zwischen Syrien und Kleinasien eine weitverbreitete Geheimorganisaton darstellte.
Sie bot 15 000 Kombattanten an und dazu als Führer Persönlichkeiten, die schon den Aufstand von 1895 geleitet hätten
Das furchtbare Schicksal, das dem armenischen Volk unter diesen Umständen widerfuhr, ist weltbekannt. Kaum anders erging es den Assyro-Chaldäern. Sie waren, wie die Armenier, zunächst sogar von den Türken umworben worden, auch noch später, vielleicht auch um dem Auslande zu zeigen, daß es gegenüber der armenischen „Verrätern“ auch ein loyales christliches Volk gab. Allerdings stürzten sich nach der Erklärung des „Heiligen Krieges“ die Kurden auf sie. Entscheidend war aber der Besuch des Patriarchen, jeweils Simon genannt, im Hauptquartier des russischen Befehlshabers. Der russische Vizekonsul in Urmia, Nikitin, der an dieser Verhandlung mit General Tschernosubov teilnahm, hat später in einer Abhandlung dargelegt, die Russen hätten sich damals zu nichts verpflichtet und es sei nichts Genaueres abgesprochen worden, zumal die russischen Truppen zu schwach gewesen wären, ’m ihre Front zu erweitern; doch sei die Hoffnung ausgedrückt worden, daß sich die Christen auf die Seite stellen würden, auf die sie ihre Gefühle trieben
Die Erhebungen der Armenier und Assyrer sind gewiß nicht nur als Kampfmittel der russischen Kriegführung zu erklären. Aber sie bieten doch ein trauriges Beispiel, in welche Lage die „Fremdvölker“ geraten können, wenn sie das Interesse der Gegner des Staatswesens erregen, dem sie angehören. Auch die energischen Proteste, mit denen der deutsche Botschafter bei der türkischen Regierung gegen die Massa-ker vorstellig wurde, mußten doch zugeben, daß gegen „Maßregeln, soweit sie durch die Kriegslage bedingt seien, keine Einwendungen gemacht werden könnten
Sabotageakte
Nun gab es außer der führenden Organisation der Armenier, dem „Daschnaktsutiun", noch die der „Jung-Daschnaken“. Sie hatte nicht wie jene die Agitation und den Kampf gegen die türkische Herrschaft, sondern gegen den Zarismus auf dem Programm. In ihnen fanden nun die Deutschen Revolutionäre, die sich bereit fanden zu Anschlägen auf die Ölzentren in Baku und in Batum, auf Eisenbahnbrücken und auf die Wolgaschiffahrt mit ihren Öltransporten
Um die Verbindung mit solchen sozialistischen Revolutionären herzustellen oder aufrechtzuerhalten, bediente sich das Auswärtige Amt, wie das ja für den Verkehr mit den finnischen Sozialisten vorgeschlagen war, der Hilfe der deutschen Sozialdemokraten. So wurde der Abgeordnete Südekum bei Verhandlungen mit russischen Revolutionären in Bukarest einge-schaltet, die, mit 25 000 bis 30 000 Rubeln, in einer Geheimdruckerei Propagandamaterial zur Revolutionierung der Ukraine und Südrußlands herstellen sollten
6. Revolutionäre Kontakte in Asien
Beachtlicher ist die Reise, die Ende 1944 der Oberrabbiner Salomon Tagger nach Turkestan unternahm, mit Billigung des Staatssekretärs Jagow, auf Grund in Berlin erhaltener Instruktionen und von der deutschen Gesandtschaft in Bern mit Geld versehen
Die zentralasiatischen Gebiete Rußlands waren aus mehreren Gründen für die deutschen Aufwiegelungsbestrebungen interessant. Zwischen den auf niedriger Kulturstufe stehenden, überwiegend nomadisierenden oder kleinbäuerlichen Turkstämmen und den russischen Siedlern und Beamten herrschte ein seit Jahrzehnten andauernder Kleinkrieg. Von der Jahrhundertwende bis zum großen Aufstand von 1916 wurden 5000 Zwischenfälle, davon 13 Massen-unruhen, gezählt
Turkestan wurde aber auch, ähnlich wie Sibirien, als eine Art Verbanntenkolonie benutzt, um aus politischen und anderen Gründen unerwünschte Elemente, auch Militärs, abzuschieben. Bei der Revolution von 1905 war die eingeborene Bevölkerung zwar im wesentlichen ruhig geblieben, aber unter den Russen in Turkestan hatte es Streiks und Soldaten-meutereien gegeben, die zu einer revolutionären Bewegung ausarteten, so daß der damalige Ministerpräsident Graf Witte sich im Dezember 1905 zu der Anweisung an den Generalgouverneur veranlaßt sah, durch Verhängung des Kriegszustandes den Unruhen ein Ende zu bereiten.
Insbesondere die Enklave Neu-Buchara des unter russischer Oberhoheit autonom gebliebenen Emirats Buchara hatte sich zum Sammelpunkt von Gegnern des zaristischen Regimes entwickelt. Hier trafen sich nicht allein politisch Verfolgte und aus den Gefängnissen Entflohene, um sich vor der russischen Polizei in Sicherheit zu bringen, sondern auch die aktiven oppositionellen Elemente verschiedener Richtungen — und zwar sowohl die Anhänger des sozialen Umsturzes wie radikale Vertreter der nationalen Bewegung der Rußlandtürken — die Unter-grundbewegungen organisierten und auf subversive Aktionen bedacht waren. Für Agenten der auswärtigen Feinde Rußlands war Buchara daher der gegebene Ansatzpunkt, und in einer Quelle ist die Rede davon, daß sie Buchara zeitweilig „überfluteten"
Tagger meldete sich kurz vor Weihnachten 1'914 in der deutschen Botschaft in Konstantinopel und reiste dann nach Buchara weiter, um „auf Grund persönlicher Beziehungen auf die russischen Mohammedaner einzuwirken“
Der eigentliche Kontaktmann Taggers in Buchara war jedoch überraschenderweise ein russischer Bolschewist, Kusnetzow, der bei Kriegsausbruch von Frankreich nach Rußland zurückgekehrt und dort verhaftet worden war
Die in den deutschen Akten aufbewahrten Äußerungen Taggers, Kusnetznows und Schimanowskis, wie auch andere Verbindungsmänner der Deutschen in Rußland, in den Wochen nach der Jahreswende sind von der festen Erwartung getragen, daß der revolutionäre Zusammenbruch Rußlands unmittelbar bevorstände, und höchstwahrscheinlich noch im März 1915 eintreten würde. In Buchara hatte diese Erwartung zum Plan eines revolutionären „Projektes" geführt, das von Kusnetzow vorbereitet wurde, an dem aber auch, nach Taggers Berichten zu urteilen, Führer von Untergrundbewegungen der Muslims beteiligt waren. Auf dieses Ereignis hin spitzte sich die Tätigkeit der Revolutionäre in diesen Wochen zu und nahm geradezu fieberhaften Charakter an. Tagger, der Mitte Februar in der deutschen Gesandtschaft in Bern auftauchte, äußerte den „dringenden Wunsch“ nach Berlin zu kommen, fuhr dann kurz zur Berichterstattung an Schimanowski nach Paris und beeilte sich, nach Buchara zurückzukommen, um bei dem geplanten „Projekt" zur Stelle zu sein und sich „nützlich machen" zu können. Auch Schimanowski war bereits im Aufbruch begriffen und wollte über Petersburg rechtzeitig nach Buchara gelangen. Für den Fall, daß die Revolution im März ausbrechen sollte, bat er die deutsche Regierung um die Auszahlung von 25 000 Franken, damit er und seine Familie leben könnten, wenn seine Verbindung zu den Revolutionären bekannt werden sollte. Die letztgenannte Tatsache erhellt noch einmal die engen Beziehungen des Kreises um Schimanowski zu den Deutschen. Für den größeren Zusammenhang, in welchem das deutsche Interesse an Taggers Mission steht, erhalten wir einen Hinweis dadurch, daß Tagger auf der Rückreise von Buchara über Petersburg fuhr, über die „große Erbitterung in jüdischen Kreisen" berichtete und dort mit dem Grafen Witte zusammengetroffen war. Witte trat eben damals, um die Jahreswende, in den Mittelpunkt der deutschen Bemühungen um eine Anknüpfung von Sonderfriedenkontakten mit Rußland
Unter diesem Gesichtspunkt ist es verständlich, daß die Aufwiegelungsbestrebungen der Deutschen auch bei rußlandfeindlichen Muslims Ansatzpunkte suchten und zu einem gewissen Teil auch fanden, obgleich die Haltung der muslimischen Bevölkerung gegenüber Rußland in der Hauptsache loyal blieb. Es geschah, weil es ja der deutschen Regierung darum ging, mit Propaganda, Beunruhigung und vor allem Sabotage die russische Kampfkraft zu schwächen, sodaß auch eine solche Kleinarbeit ohne die Aussicht auf eine allgemeine muslimische Erhebung ihren Zweck erfüllen konnte. Als Beispiel dafür sei bereits jetzt angeführt, daß die deutsche Regierung noch im Frühjahr 1915 die Beziehungen zu einer Untergrundbewegung bei den Wolgatataren aufnahm, deren Hauptaktivität eben in Sabotage bestand. In Saratow wurde, wie es in einem rückblickenden Bericht des Organisators solcher Aktionen im Generalstab, Steinwachs, hieß, in Saratow eine „gewaltige Organisation“ aufgezogen, die als ein „Mittelpunkt der zielbewußten revolutionären Arbeit" mit Anschlägen vor allem auf Eisenbahntransporte tätig war und geradezu offene Straßenkämpfe lieferte, bei denen russisches Militär eingesetzt werden mußte
Es gab sogar einen, wie der deutsche Geschäftsträger in Peking am 28. Dezember 1914 meldete, „eingehend vorbereiteten aussichtsvollen Plan“
7. Ziel und Charakter der Revolutionierunspolitik
Die Versuche der deutschen Regierung, die Randzonen des russischen Reiches zum Aufruhr zu bringen, sind in diesem Kapitel nur für die ersten Kriegsmonate untersucht worden. Zu dieser Zeit sind die Motive, Methoden und Ziele dieser Revolutionierungspolitik noch deutlicher zu erkennen als in den späteren Kriegsjahren, da wirtschaftliche, dynastische und ideologische „Kriegsziele“ das ursprüngliche Bild verschleierten. Zwar zeigte sich, daß diese Politik in Einzelaktionen zerflatterte, und hinter dem Vordergrund der Tatsachen wirkten in vielfacher Verflechtung politische, soziale und wirtschaftliche Triebkräfte, die den Akteuren selbst kaum bewußt waren oder sich ihrem Verständnis entzogen. Häufig läßt sich auch der Anteil der Institutionen und Persönlichkeiten an Planungen und Aktionen nicht deutlich abgrenzen. Immerhin soll der Versuch gemacht werden, Ziel und Charakter dieser Politik zu skizzieren.
Was verstand man im Auswärtigen Amt und im deutschen Generalstab und was ein Bethmann-Hollweg unter der Idee der Revolutionierung? Gewiß nicht dies, mit einem Umsturz in einem Staate oder in der Staatenwelt eine neue Zeit heraufzuführen. Die Persönlichkeiten, die 1914 in Deutschland regier-ten, waren keineswegs Avandgardisten des Selbstbestimmungsrechtes der Völker oder einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Sie wollten mit einem — nach Bismarcks Urteil kriegsrechtlich erlaubten — „Mittel der Krieg-führung“ den Sieg erringen und hierfür die Kampfkraft des Feindes schwächen und untergraben. Dazu gehörte es, im Rücken der feind-liehen Heere Aufruhr und Unruhen zu stiften. Insofern trifft der in der Aktenregistratur des Auswärtigen Amtes verwandte Begriff der „Aufwiegelung" den Kern der Sache; und darum hat es auch ressortmäßig seine Berechtigung, daß sich der Chef des Generalstabs in den Mobilmachungstagen damit befaßte.
Primär militärisches Kampfmittel
Daß es sich bei all dem nicht um Kriegs-ziele handelte, sondern um Kampfmittel, kommt wiederholt in den Äußerungen der Hauptakteure zum Ausdruck. Schon in den ebenso verzweifelten wie haßerfüllten Ausrufen des Kaisers, daß die mohammedanische Welt zum „wilden Aufstand“ entflammt werden sollte, und ebenso in Moltkes Schreiben an das Auswärtige Amt, daß jedes Mittel anzuwenden war, das geeignet sei, den Feind zu schädigen. Auch der besonders von der Idee der Revolutionierung besessene Unter-staatssekretär Zimmermann hat als Grund für eine „schleunige Revolutionierung der Ukraine“ das „Interesse an der Schwächung unserer Gegner" angegeben. Schließlich wird auch in Jagows Telegramm vom 8. August die „Insurgierung Polens und der Ukraine" an erster Stelle als „Kampfmittel“ genannt. Wiederholt versichern sich die Bundesgenossen gegenseitig, daß mit der Förderung nationalrevolutionärer Bewegungen nicht die zukünftige Gestaltung in diesem Raume vorweggenommen werden sollte. Den militärischen Charakter der deutschen Revolutionierungspolitik bezeugt auch der Nachfolger Moltkes in diesem Amt. „Es sind", so formulierte es Falkenhayn im Februar 1915, „von uns mehrere militärpolitische Unternehmungen im Auslande eingeleitet worden zu dem Zweck, unsere Feinde durch Aufwiegelung von Völkerschaften, die von ihnen unterworfen oder ihrem Interessengebiet einverleibt worden sind, zu schädigen."
Dieser primär taktische Zweck brachte es mit sich, daß weltanschauliche Überzeugungen und politische Bindungen kein Hindernis für die Wahl der Mittel waren. Um so weniger, da die Deutschen wie auch die anderen kriegführenden Völker davon überzeugt waren, daß Recht und Moral auf ihrer Seite seien. Als Bismarck und Moltke 1866 für die Anwendung des nationalrevolutionären Kampfmittels legitimistische Bedenken König Wilhelms I. zu überwinden hatten, konnten sie darauf hinweisen, daß damit den Ansprüchen Napoleons III. auf deutsches Land begegnet werden sollte. Was Wilhelm II. und der jüngere Moltke jetzt zur moralischen Rechtfertigung solcher Methoden geltend machten, spiegelt sich etwa in der Formulierung Oppenheims wieder: die Perfidie der Gegner gäbe den Deutschen das Recht, „zu jedem Mittel zu greifen, das zu einer Revolutionierung der feindlichenLänder führen kann“
Fehlende Gesamtkonzeption
Von einem verbindlichen Konzept, das den Beteiligten hätte als Anhalt dienen können, oder einer in sich geschlossenen Planung war allerdings nicht die Rede. Das Insurrektionsprogramm Moltkes und die daraus resultierenden Maßnahmen der ersten Kriegswochen tragen deutlich die Merkmale hastiger Improvisation und einer Inkonsequenz, die nicht nur von dieser Arbeitsweise verantwortlicher Stellen, sondern auch von der Unsicherheit ihres Urteils zeugt. Diese Zeichen tragen schließlich fast alle Unternehmungen für die Revolutionierung des Ostens. Obgleich die Überlegungen des Generalstabes der Vorkriegszeit von der Lage des Zweifrontenkrieges ausgingen, waren für die Aufgabe, den östlichen Gegner von innen zu schwächen, keine sachgemäßen Vorbereitungen getroffen. Das ist um so verwunderlicher, als wir sogar schon in der Denkschrift des älteren Moltke zum Aufmarschplan für einen Zweifrontenkrieg vom April 1871 den Gedanken fanden, die fremdstämmigen Völker in den Randzonen des Russischen Reiches von Finnland bis zum Kaukasus zum Aufstand zu brin— —_ gen; und jedenfalls die Erhebung der russischen Polen gehörte zu der operativen Planung, die sein Nachfolger Waldersee übernahm. Dem Mangel einer auf Sachkenntnis der internen Probleme des Zarenreiches beruhenden Konzeption entsprach der an Institutionen und geschultem Personal, wie sie eine revolutionäre Krieg-führung erforderten und wie sie — wenn auch nur in nuce — für eine schnell und energisch einsetzende Insurrektionspolitik im Augenblick der Mobilmachung hätte vorhanden sein müssen, tatsächlich aber erst im Verlauf und als Ergebnis des Krieges entstand. Charakteristisch dafür ist, daß die Politische Abteilung des Großen Generalstabes nach den ersten Kriegswochen völlig neu organisiert werden mußte.
Noch weniger freilich als von den amtlichen Stellen der beiden Mächte waren eine klare Zielsetzung oder auch nur eine festumrissene Vorstellung von den Möglichkeiten und Grenzen der Revolutionspolitik von den Vertretern der osteuropäischen Nationalitäten zu erwarten. In der polnischen und in der ukrainischen Frage offenbarten sich zudem gegensätzliche Perspektiven wie bei den Regierungen in Berlin und Wien, so dadurch, daß in diesen beiden Fällen ein geteiltes Volk verschiedenen Staaten und Machtsphären zugehörte; dazu kam noch der Nationalitätenkampf innerhalb der Donaumonarchie. Es ergab sich auch, daß bei den unter der russischen Herrschaft lebenden Minoritäten die Bereitwilligkeit zum Kampf gegen den Zarismus in weit geringerem Maße vorhanden war, als auf Seiten der Mittelmächte, aber auch von den in Deutschland tätigen Vertretern dieser Völker, angenommen wurde. Hinzu kam, daß ihre Handlungsfreiheit durch Kriegsmaßnahmen der Regierung wirkungsvoll beschränkt wurde. Das traf ganz besonders die jüdische Bevölkerung mit sowohl willkürlichen wie planmäßigen Verfolgungen. So blieb der Agitation der Befreiungskomitees und Organisationen die Resonanz jenseits der Frontlinie versagt. Die kaukasischen Völker gerieten überdies in den Gegensatz der Interessen der deutschen Insurgierungspolitik, wie wir sie in ihrem taktischen Gehalt charakterisierten, und einer türkischen Kriegspolitik mit pantürkischen Ambitionen. So ließ es sich erklären, daß im Kaukasusgebiet die Anstrengungen des Auswärtigen Amtes, Tscherkessen und christliche Georgier zum Aufstand zu bringen, bereits bei den Vorbereitungen auf türkischem Boden scheiterten, während den Türken die einzige wirklich große Erhebung eines der Kaukasusvölker, der Adscharen, gelang. Mit dem Ausbleiben der großen Ostoffensive und dem durch den Rüdezug aus Galizien und mit dem katastrophalen Zusammenbruch von Enver Paschas Kaukasusoffensive entfiel die strategische Basis, ohne die Aufstände der Völker hinter der Front für diese ein zu großes Wagnis und für die Kriegführenden von geringerem militärischen Wert gewesen wären.
Zwistigkeiten der Nationalitäten
Dies alles blieb nicht ohne Auswirkungen auf das, was seit den ersten Augusttagen geplant, verhandelt und unternommen worden war. Es brachte Unruhe, Unsicherheit und Zwistigkeiten in die Reihen der „Revolutionäre“ und machte es wiederum innerhalb der Regierungen den Befürwortern der Insurrektionspolitik noch schwerer den Antagonismus der mit ihrem Wissen oder ihrer Hilfe mobilisierten Volksgruppen, Parteirichtungen, Religionsgemeinschaften und kulturellen Verbände zu zügeln. Je deutlicher es aber wurde, daß dieser Krieg eine radikale Neuordnung des europäischen Staatensystems und der Verhältnissesr im Nahen Orient bringen würde, und in Deutschland das Thema der „Kriegsziele" in der Öffentlichkeit zur Sprache kam, desto weniger war zu verhindern, daß es von denen erörtert wurde, deren Befreiung zu propagieren unentbehrlicher Bestandteil der Insurrektionspolitik war. Noch dazu, wenn sich im Lager der Befreiungsmächte Stimmen bemerkbar machten, die denen Recht zu geben schienen, die — wie etwa Dmowski mit seinen polnischen Nationaldemokraten — weniger von der großrussischen-panslawistischen Expansion als vielmehr von der eines Pangermanismus Gefahren für ihre Freiheitsbestrebungen erwarteten. Und wenn sich etwa die in der Schweiz lebenden Georgier mit einem Hilferuf für die Armenier an die deutschen Sozialdemokraten wandten
Dabei ging es aber nicht nur um das künftige Verhältnis von Befreiten und Befreiern, sondern um auch die Grenzen der künftigen Staaten. So sehr die deutsche Führung auch bemüht war, diese Probleme zurückzustellen, waren es doch für diese Völker zentrale Lebensfragen. Um so ungehemmter kamen darüber in erbitterten Kontroversen die Gegensätze und Rivalitäten zum Ausdruck, die zwischen ihnen bestanden. So die zwischen Polen, Ukrainern und Juden. Jede dieser Nationalitäten hatte es eilig noch in den ersten Kriegswochen ihre territorialen Forderungen für die Nachkriegszeit anzumelden. Bodenheimer forderte für die Juden einen westeuropäischen Vielvölkerstaat, der das gesamte polnisch besiedelte Gebiet und Teile der westlichen Ukraine umfaßt hätte; die ukrainischen Nationalisten wiederum beanspruchten Podlachien und das Cholmer Land und gerieten damit in Gegensatz zu den Polen, denen die Wiederherstellung ihres historischen Staatswesens am Herzen lag. Ja die Aufstellung eines territorialen Kriegszielprogramms bedeutete für die neu entstandenen Komitees und Befreiungsorganisationen geradezu ihre eigentliche Legitimation, um ihre Landsleute zur Mitarbeit und zum Kampf auf Seiten der Mittelmächte aufzurufen — sofern nicht die Idee der sozialen Neuordnung als vorherrschende Triebkraft wirksam war.
Um so schwieriger war es für die Behörden, einen Überblick über die miteinander konkurrierenden Gruppen und Komitees zu erhalten und ihren Wert für die deutsche Kriegführung abzuschätzen. Schließlich war es auch die Voraussetzung für einen die Kriegführung entlastenden Einsatz der Kräfte, die hier zum Kampfe aufgerufen wurden, daß sie beeinflußbar und lenkbar waren. Indem sich aber bei den Widerstandsbewegungen die mannigfaltigen eigenen Interessen meldeten, begann die Entwicklung nun umgekehrt zu laufen. Mancher derer, der sich zur Verfügung gestellt hatte und große oder kleine Geldsummen in Empfang nahm, hatte ohnehin darauf spekuliert, im entscheidenden Augenblick seinen eigenen Willen durchzusetzen. So war es schon innerhalb der im österreichischen und im deutschen Einfluß-bereich siedelnden Völkerschaften kaum noch möglich, die Illusion einer Aktionsgemeinschaft aufrecht zu erhalten, wie sie angesichts der Notlage, aber auch der sich — sei es tatsächlich, sei es scheinbar — in den ersten Wochen bietenden Chancen erforderlich war. Auf eine kurze, im Grunde nur wenige Tage dauernde Phase eines illusionären Optimismus, wie sie nach dem Kriegsausbruch eine geschlossene Front der fremdstämmigen Völker des Zarenreiches erwarten ließ, folgte nun die Ernüchterung.
So trat denn bei den Regierungen in Berlin und in Wien, entgegen den ursprünglichen Absichten, die Politik der Aufwiegelung der Völker im Osten in den Hintergrund, mit dem Vorbehalt, zu einem günstigen Zeitpunkt wieder ausgenommen zu werden. Es ist noch zu schildern, wie man sich in der Wilhelmstraße unter demselben Gesichtspunkt, durch Unruhen und Aufruhr im Hinterland den Druck auf die deutsch-österreichische Front abzuschwächen, auch mit radikalsozialistischen Revolutionären verbündet. Auch hierzu gehörte die Aktivierung der national-revolutionären Bestrebungen im Zarenreich. Aber in der Hauptsache wird die nationale Revolutionierungspolitik jetzt auf das Gebiet der publizistischen Aufklärung und der Sabotage abgedrängt.
Dies war denn das eigentliche reale Ergebnis der Insurrektionspolitik, das in Moltkes Programm in den Mobilmachungstagen ebenso weitgreifend wie unvollkommen skizziert worden war. Der Kampf der Armeen wurde ergänzt durch die Propaganda der Flugschriften, Ge-rüchte und Versprechungen. Neben den Soldaten trat der Agitator, der Kollaborateur und der Saboteur, der im Dienste der nationalen Idee für die Freiheit seines Volkes oder auch um des materiellen Lohnes willen rückwärtige Verbindungen und damit den Nachschub zur Front oder etwa mit Sprengungen in Munitionsfabriken die Ressourcen, die Produktionsstätten des Kriegsmaterials, zerstörte.
Mitunter wurden freilich auch beträchtliche Summen an zweifelhafte Personen, ja an offensichtliche Schwindler ausgegeben, und man erkennt mit Erstaunen aus dem fragmentarischen Material der Akten, mit welcher Vertrauensseligkeit die Beamten der Wilhelmstraße hier verfuhren. Eine Erklärung für dieses unbekümmerte Vorgehen hat Zimmermann einmal gegeben, als er sich im Frühjahr 1917 wegen seiner berüchtigten Depesche zu verantworten suchte, in der Mexiko als Prämie für den Kriegseintritt die Wiedererwerbung der 1848 an die Vereinigten Staaten verlorenen Landesteile versprochen wurde: es sei, so sagte er dem österreich-ungarischen Botschafter
Vergleich mit Bismarcks Revolutionierungs-Politik
Demgegenüber drängt sich der Vergleich mit der Revolutionierungspolitik Bismarcks und Moltkes von 1866 auf. Nachdem sich Bismarck z. T. schon in persönlichem Kontakt in Paris und sodann durch laufende Agentenberichte über die Tätigkeit der national-revolutionären Emigration informiert hatte, ließ er noch ad hoc prüfen, welche Kräfte die sich anbietenden Persönlichkeiten repräsentierten, ob sie es ernst meinten und ob eine zweckmäßige Verwendung der Gelder gesichert sei, die er ihnen dann in einem für den sparsamen preußischen Fiskus erstaunlichen Umfange anzuvertrauen sich nicht scheute. Es gelang ihm auch mit bewußter Ausschaltung des nach Auffassung der Ungarn „diktatorischen" Kossuth, aber ohne diesen zu diskreditieren, eine einsatzfähige ungarische Führungstruppe, und zwar Angehörige der äußeren und der inneren Emigration, um sich zu sammeln. Dabei handelte es sich jedenfalls bei den Generälen Klapka und Türr, aber in seiner Art doch auch bei Graf Csäky um Persönlichkeiten von Format, und das Offizier-korps der Legion setzte sich aus den Spitzen des ungarischen Adels zusammen. Bismarck scheute sich aber auch nicht, den radikalsozialistischen tschechischen Revolutionär und Freund Bakunins, Joseph Fric, mit ins Hauptquartier zu nehmen. In Oberst Orekovi in Belgrad und Minister Garasanin hatte er die maßgebenden Politiker der südslawischen Bewegung im Spiel und über Victor Emanuel und auch durch Klapka und Türr die Verbindung mit dem europäischen Revolutionshelden Garibaldi. Dazu kam die mit Fürst Carl von Rumänien, der bis vor kurzem noch als Gardeoffizier der preußischen Armee angehört hatte. Ohne etwa der Vorstellung von einer geschlossenen Front einer europäischen Revolutionsbewegung zu verfallen, vielmehr im Bewußtsein auch der inneren Problematik des östlichen und südöstlichen Nationalitätenproblems, schuf er sich bereits mit der Vorbereitung eines „Revolutionskrieges" ein Kampf-mittel für „Politik und Kriegführung“, ein diplomatisches Pressionsmittel und eine militärische Waffe, die nach einem vom Generalstabschef aufgestellten Operationsplan in ihrer militärischen Verwendung und wiederum mit politischen Auswirkungen eine Machtverstärkung Preußens im Kriegsfälle bedeutet haben würde. Die Worte schließlich, die er dem konservativ-reaktionären General als Unterhändler für den Zaren telegrafierte, er wolle lieber Revolution machen als erleiden, bedeuten im Munde dieses Staatsmannes, was er einmal als Grundsatz seiner Gesamtpolitik so dargelegt hat: in seiner gefährdeten Mittellage könne Preußen in der Politik nicht Amboß, sondern nur Hammer sein! Das aber hieß, daß er, wie in dem Bündnis mit der deutschen Nationalbewegung, auch in dem mit Ungarn, Kroaten, Serben und Tschechen sich zutraute, die Führung zu behalten. Und man kann von ihm erwarten, daß er einen schöpferischen Einfluß auch auf die Gestaltung einer Staatenwelt ausgeübt haben würde, wenn sie ein anderes Gesicht erhalten hätte.
Mit dieser Charakterisierung der national-revolutionären Linie in Bismarcks Politik zeichnet sich die deutsche Revolutionspolitik im Ersten Weltkriege, wie wir sie hier zunächst in den ersten Kriegsmonaten zu erschließen suchten, noch deutlicher in ihrer negativen Seite ab. Dennoch hat sie ihre historische Bedeutung und ist der wissenschaftlichen Analyse wert. Sie gehört mit ihren Motiven und Zielen in den Zusammenhang einer deutschen Rußlandpolitik, der die Aufgabe gestellt war, die aus dem Osten drohende Gefahr zu neutralisieren. Dafür galt es Rußland als Glied der feindlichen Koalition auszuschalten. Der Versuch, dieses Reich durch Eingriff in seine inneren Verhältnisse zu schwächen, wird uns noch beschäftigen, wenn wir die Beziehungen der deutschen Regierung zu den radikal sozialistischer Revolutionären studieren. Sowohl der einer Verständigung mit der zaristischen Regierung wie der einer revolutionären Unterminierung dieses Regimes dienten diesem Ziel; und in der Tat sind beide Absichten auch nebeneinander und sogar gleichzeitig verfolgt worden, wie auch, wie es sich bei der Stellung zur finnischen Freiheitsbewegung so instruktiv zeigte, die Überlegung auftauchte, die Politik der Aufwiegelung zurückzustellen, um nicht den erstrebten Separatfrieden zu gefährden. So gilt denn auch für die Bemühungen um die Revolutionierung der fremdstämmigen Völker in den Randzonen des Russischen Reiches, was sich bei denen um den Frieden mit Rußland seit dem 18. November 1914 ergab, daß sie aus der Gesamtproblematik der Zeit wie auch in ihren säkularen und universalen Zusammenhängen verstanden werden müssen.
Anhang
Nr. 13 Wk lle AA Überblick über die in der islamitisch-israelitischen Welt eingeleitete Agitationstätigkeit I. Islamitische Welt A 17 520 pr. 16. Aug. 1914
Sämtliche Maßnahmen werden durch die Gebrüder Mannesmann veranlaßt 1). Mit Hilfe eines Herrn Sievers (Zeitungskorrespondenz mit Graf Tattenbach in Fes) und einigen früheren Fremdenlegionären soll versucht werden, die Eingeborenen in Marokko durch Flugschriften usw. gegen die französische Herrschaft aufzuwiegeln
b. Tunis, Algerien.
Otto Mannesmann z. Zt. als angeblicher Stellvertreter des deutschen Konsuls in Tripolis, um mit Gehilfen und Apparaten Flugschriften und Aufrufe (in) arabischer Sprache zu vervielfältigen. Luftballons mit Vorrichtung zur Verteilung der Flugschriften mitgenommen zur Revolutierung von Tunis und Algerien, (um) nordafrikanische Bewegung hervorzurufen. Außerdem hat der frühere Gouverneur des Fezan, Sami-Bey
Sämtliche Maßnahmen werden von Oppenheim
II. Israelitische Welt Es ist geglückt, die ganze Organisation der Zionisten
Endlich haben wir mit zwei in Konstantinopel und Jaffa lebenden Mitgliedern des Zionistenbundes Vereinbarungen treffen können zum Zwecke der Verbreitung authentischer Nachrichten über die Kriegsereignisse. Die genannten werden regelmäßig mit den Telegrammen des Wolff’schen Telegr. -Bureaus versehen
Nr. 14 Wk 11 adh. 2 AA Das „Deutsche Komitee zur Befreiung der russischen Juden" an den Stellvertretenden Generalstab
Berlin, den 20. August 1914 A 20 452 . . . Das Komitee hat zunächst folgende Schritte eingeleitet: a) Errichtung eines Büros unter Leitung des Sekretärs, Herrn Dr. A. Robinsohn.
b) Reisen in die besetzten Gebiete, um dort die militärischen Behörden mit unseren Vertrauensmännern in Verbindung zu bringen. Es ist zunächst eine Reise des Herrn Dr. Klee nach Kalisch und Herrn Dr. Oppenheimer nach Czenstochau geplant. Die Herren stehen jederzeit für diese Reise zur Verfügung 13). c) Bearbeitung der Presse; und zwar sowohl der inländischen wie der ausländischen. Für diese Zwecke steht uns fast die gesamte jüdische Presse mit ca. 250 Organen zur Verfügung. Die Information der übrigen Presse wird von Herm Dr. Oppenheimer besorgt.
Zur Bearbeitung der Presse in Amerika und Fühlungnahme mit der dortigen Hochfinanz, die mit Rücksicht auf die Verwicklung mit Japan von besonderer Wichtigkeit geworden ist, soll eine kleine Kommission unter Leitung des Herrn Dr. Friedemann entsendet werden, an der sich Beamte des jüdischen Nationalfonds, der meiner Leitung untersteht, beteiligen
Das Reichsmarineamt hat uns seine Genehmigung zu dieser Reise bereits mitgeteilt, und werden die Einzelheiten derselben mit dem Reichsmarineamt näher geregelt werden.
d) Da der Aufruf des Armeeoberkommandos an die Juden Polens nicht genügt, weil er sich erstens nicht an alle Juden des Ansiedlungsrayons wendet, sondern nur an die Juden Polens, die etwa 11/2 Millionen ausmachen, zweitens, weil er den Erwartungen der russischen Juden in politischer, kultureller und ökonomischer Hinsicht nicht ganz entspricht, empfehlen wir, diesem Aufruf einen zweiten folgen zu lassen, der an die Juden von ganz Rußland gerichtet ist. Ich gestatte mir, einen Entwurf dazu in zwei Exemplaren zur geneigten Genehmigung zu unterbreiten. e) Wir beabsichtigen ferner, eine zwanglos erscheinende Zeitschrift in hebräischer und jüdischer Sprache herauszugeben, die alle Ereignisse und Kundgebungen im Sinne unserer Aktion beleuchten wird. Dieser Zeitschrift sollen unsere Emissäre in den besetzten und unbesetzten Gebieten Rußlands die weitestgehende Verbreitung verschaffen. Diese Zeitschrift soll auch in Übersetzungen der ganzen Presse zugänglich gemacht werden
1. Es liegt im Interesse Deutschlands und Österreich-Ungarns, daß beim Friedensschluß diejenigen Gebiete im Westen und Südwesten Rußlands, die nicht von Großrussen bewohnt sind, in möglichst großem Umfange von Rußland abgetrennt werden, so daß ein Zwischenreich, welches vom Baltischen bis zum Schwarzen Meere reicht, Deutschland und Österreich-Ungarn vollkommen von Rußland trennt. Nur auf dieser Grundlage ist ein dauernder Friede mit Rußland für die Zukunft gesichert, denn nur unter dieser Voraussetzung wird Rußland derart geschwächt, daß es auf Generationen hinaus zu einem Kampf gegen die verbündeten Mächte nicht mehr fähig ist, und nur auf dieser Grundlage ist die Möglichkeit gegeben, die jetzt von Rußland unterdrückten Völkerschaften West-und Südrußlands zu einem Rußland gegenüber selbständigen Gemeinwesen zu organisieren, das in Rußland seinen natürlichen Feind und in den verbündeten Mächten seine natürlichen Beschützer erblicken wird. Die Bildung eines solchen großen Zwischen-reiches liegt auch im Interesse der unterdrückten, nichtrussischen Völkerschaften dieses Gebietes, insbesondere der russischen Juden.
2. Wenn nur das Gebiet des vorwiegend von Polen bewohnten Bezirkes des Zartums Polen zu einem selbständigen Staat erhoben würde, so würde das weder die Polen noch die in diesem Gebiete wohnenden Juden zufriedenstellen können, auch liegt die Bildung eines autonomen Königreiches Polen in diesem geringen Umfange nicht im Interesse der verbündeten Mächte. Die Polen würden durch eine solche Neubildung auf die Dauer nicht befriedigt, weil dieselbe doch nur einen Teil des früheren Königreichs Polen umfassen würde. Die Juden müßten fürchten, von der polnischen Bevölkerung wirtschaftlich und sozial zurückgedrängt zu werden, und könnten ihre nationale Eigenart gegenüber der starken Betonung polnischer Bestrebungen nicht aufrechterhalten. Ein auf das Zartum Polen beschränkter polnischer Nationalstaat könnte auch gegenüber dem großen Nachbarreiche seine Selbständigkeit nicht bewahren. Vor allem wäre ein solcher polnischer Nationalstaat eine beständige Bedrohung für Deutschland und Österreich-Ungarn, weil aus geschichtlichen und vielleicht auch wirtschaftlichen Gründen die Tendenz zur Angliederung der von Polen bewohnten Gebiete Preußens und Österreichs bestehen würde. Hierdurch wäre die Möglichkeit gegeben, daß dieser Staat eine Anlehnung an Rußland suchen könnte.
3. Nur wenn Gebiete von wesentlich größerer Ausdehnung mit verhältnismäßig schwacher polnischer Bevölkerung, also die Gebiete der Ostseeprovinzen und eines größeren Teiles des jüdischen Ansiedlungsrayons, der außer von Juden von Litauern, Letten, Esten, Weißrussen und Ruthenen bewohnt ist, mit dem Zartum Polen zu einem großen Pufferstaat vereinigt werden, wäre ein Gegengewicht gegen eine ausschließlich auf Förderung polnischer Bestrebungen gerichtete Politik gegeben.
4. Auf diese Weise würde nämlich ein selbständiges staatliches Gebilde mit nichtpolnischer Mehrheit geschaffen, das kein Interesse daran hätte, sich die polnischen Gebiete Preußens und Österreichs anzugliedern. Es würde sich an die westlichen Mächte anlehnen müssen und stark genug sein, um sich gegen Rußland zu behaupten.
5 In diesem Staat würden namentlich die Deutschen und die Juden ein wirksames Gegengewicht gegen die übrige, vorwiegend slavische, Bevölkerung darstellen.
6. Dies wird auf die Dauer aber nur dann der Fall sein, wenn ihnen verfassungsgemäß ihre nationalen Rechte gewährleistet werden, d. h., wenn sie das verfassungsmäßige Recht erhalten, auf die städtische und staatliche Verwaltung einen ihrer Bevölkerungszahl entsprechenden Einfluß auszüben und Volks-und höhere Schulen in ihrer eigenen Sprache mit Beihilfe von Staats-und städtischen Mitteln zu unterhalten.
7. Diese nationalen Minderheitsrechte wären zu sichern durch die Bildung nationaler Kataster und nationaler Kurien für die sämtlichen in dem neuen Staat wohnenden Volksstämme, insbesondere auch für die Juden. Die nationalen Kurien in der städtischen und staatlichen Verwaltung werden auf Grund von Wahlen der in dem nationalen Kataster verzeichneten Mitglieder gebildet.
8. Die bürgerliche Gleichberechtigung der russischen Juden würde nicht ausreichen. Die Gewährleistung nationaler Rechte entspricht ihrem 6genen Interesse wie dem der verbündeten Regierungen. Dies allein kann verhindern, daß zwei sehr unerwünschte Folgen eintreten: einerseits die Assimilation der jüdischen Minderheit an die vorwiegend sayischen Mehrheiten, sodann andererseits die Massenauswanderung;
urch beides würden die Juden dem Einfluß der verbündeten Regierun-gen entzogen werden.
Nr. 16 PA 1/899 HHStA Wien Entwurf eines Aufrufs an die Juden Rußlands Beilage ad Bericht Nr. 71/p. dto Berlin,
Der Tag der Freiheit ist endlich auch für die Juden Rußlands angebrochen. Die Heere Deutschlands und Österreich-Ungarns dringen siegreich über die Grenzen des Zarenreiches. Sie bringen Freiheit allen denen, die bisher unter der Willkür und Bestechlichkeit des Tschinowniktums geschmachtet haben.
Euch Juden bringen sie das gleiche Bürgerrecht für alle: Freiheit der Glaubensbetätigung und des Handels, freie Wahl des Wohnsitzes!
Kein Jude soll, soweit die Macht der deutschen und österreichisch-ungarischen Armee reicht, genötigt sein, sich sein gutes Recht durch Bestechung zu erkaufen.
Ist Euch Juden Ernst darum, frei zu sein vom Joch der Willkür, ist es Euer Wille, der europäischen Kultur und Zivilisation zu dienen, für die Ihr in Rußland soviel gelitten habt, so glaubt nicht den gleisnerischen Worten der russischen Regierung, mit denen sie Euch jetzt einfangen will.
Denkt an die Schrecken der Pogrome von Kischinjoff, Homel, Bjalystok, Minsk, in denen Eure Brüder auf Geheiß der zarischen Polizei massakriert wurden. Denkt an den Beilisprozeß in Kijew, wo Euer unglücklicher Bruder von der zaristischen Justiz gemordet werden sollte. Erinnert Euch, wie der Zar sein Oktobermanifest von 1905 gehalten hat. Trotz des Zarischen Wortes schmachtet Ihr immer noch unter dem Geist, den Ignatjews Maigesetze atmen!
Juden Rußlands! Erhebt Euch! Greift zu den Waffen! Laßt allen Hader beiseite! mögt ihr Nationalisten oder Zionisten oder Sozialisten sein! Helft den Moskal aus dem Westgebiet, aus Polen, Litauen, Weßrußland, Wolhynien und Podolien verjagen! Die Freiheit kommt von Europa! Im Schutz der deutschen und österreichisch-ungarischen Heere wird jeder frei leben und seinem Beruf, seinem Verdienst ungestört nachgehen können!
Organisiert Euch! und schickt die Männer Eures Vertrauens an die deutschen und österreichisch-ungarischen Befehlshaber!
Die Oberkommandos der verbündeten deutschen und österreichisch-ungarischen Armeen Nr.
17 Wk 11a AA Der Unterstaatssekretär an den Reichskanzler (z. Zt. im Großen Hauptquartier)
Konzept 17)
Berlin, den 28. August 1914 pr. 28. August 1914 p. m.
A 19 293 Bericht Nr. 3
Der Präses des ukrainischen Klubs, Reichsrats-und Landtagsabgeordneter Dr. Lewicki, hat mir eingehend seine Pläne wegen Revolutionierung der Ukraina auseinandergesetzt und gebeten, nachstehende Wünsche bei der österreichisch-ungarischen Regierung zu unterstützen: 1. Genehmigung zur baldigen Bildung eines ukrainischen Schützen-korps in Galizien sowie dessen Ausstattung mit Waffen und Uniformen, 2. Zusicherung, daß die Bestrebungen zur Bildung und Verwendung des ukrainischen Schützenkorps nicht durch allpolnische Machinationen unterbunden werden, 3. Zusicherung, daß die polnischen Schützenkorps nur in Polen, die ukrainischen nur in der Ukraina verwandt werden, 4. Erlaß einer Allerhöchsten Entschließung wegen Errichtung einer ukrainischen Universität
E. E. darf ich bitten, geneigtest mich eventuell nach Benehmen mit dem Herrn Chef des Generalstabes der Feldarmee mit Weisung versehen zu wollen. Dem Kaiserlichen Botschafter in Wien teile ich die Wünsche Dr. Lewickis zunächst lediglich zur Orientierung per Post mit. Z (-immermann) 28/8
Nr. 18 Wk 11a AA Der Staatssekretär an den Unterstaatssekretär Großes Hauptquartier, den 31. August 1914 A 20 186 pr. 3. September 1914 A. H. 475/14 Auf den Bericht Nr. 3 vom 28 d. M.
Mit Euer Hochwohlgeboren stimme ich darin überein, daß es von großem Nutzen wäre, wenn die von Dr. Lewicki gemachten Anregungen zur Ausführung kämen und dadurch eine antirussische Bewegung in der Ukraina zustande gebracht werden könnte. In erster Linie müßte jedoch die Angelegenheit von Wien aus betrieben werden, da uns direkte Beziehungen zu diesem Teile Rußlands nicht zur Verfügung stehen. Es wird daher zunächst die Aufgabe des Kaiserlichen Botschafters in Wien sein, die maßgeblichen österreichischen Kreise für die Pläne Dr. Lewickis zu erwärmen und die augenscheinlich in Wien dagegen bestehenden Widerstände zu überwinden. Sollte dies nicht gelingen und die österreichisch-ungarische Regierung weiterhin eine laue Haltung in der Frage einnehmen, so kann ich mir von einer Verfolgung des Planes und der Aufwendung bedeutender Geldmittel unsererseits einen Erfolg kaum versprechen. Ich darf Euer Hochwohlgeboren ergebenst anheimstellen,
Herrn von Tschirschky entsprechend zu instruieren und ihn anzuweisen, die Frage mit allem Nachdruck zu betreiben
Jagow Nr. 19 PA 1/902 HHStA Wien Das k. u. k. Ministerium des Äußern an den Vertreter des Ministeriums beim k. u. k. Armee-Oberkommando, Baron Giesl, Przemysl Privatschreiben Wien, am 11. September 1914
Sehr geehrter Herr Gesandter.
Ich habe Ihren Bericht vom 2. September Nr. 121
Ich will gerne zugeben, daß die Erlebnisse der letzten Wochen nicht sehr ermutigend waren, möchte aber doch die Behauptung des Statthalters Korytowsky, daß der überwiegende Teil des ruthenischen Volkes moskalophil ist, nicht so ohne weiteres als erwiesen annehmen und kann mir gut denken, daß die vielen mit russischem Gelde und durch die pravo slave Propaganda gewonnenen Gemeinden in Ostgalizien von den Militärbehörden als das ganze ruthenische Volk angesehen werden und daß dieser Gedankengang polnischerseits con brio gefördert wird.
Ich möchte jedoch nur auf eines aufmerksam machen, selbst, wenn all dies und auch viel mehr wahr wäre, selbst wenn es außer Herrn Levicky und seinen paar Abgesandten gar keine Ukrainer gebe, dürfen wir die Bewegung nicht fallen lassen, solange wir die Absicht haben Ostgalizien zu behalten. Die vier Millionen Ruthenen dort wird man nie polonisieren können, umbringen kann man sie auch nicht, und wenn wir nicht etwas haben, was wir als Zukunftsmusik gegen die Moskalophilen ausspielen, wenn wir die Polen in ihrer Unterdrückungspolitik und den Grafen Rohinski und Genossen in seiner russischen Propaganda nach dem Kriege weiter gewähren lassen, so, kann sich jedermann an den Fingern ausrechnen, daß in kurzer Zeit nicht vier Millionen Ruthenen, sondern vier Millionen Russen in Ostgalizien leben werden, die bei uns mit den Herren Klofac, Kramar und Konsorten panslavische Politik und uns hier das Leben sehr sauer machen können
Außerdem existiert eine ukrainische Unabhängigkeitsbewegung jenseits der Grenze wirklich. Ich habe mich erst heute wieder in eingehenden Gesprächen mit ukrainischen Führern aus Rußland hiervon überzeugen können. Ich haben denselben erklärt, daß wir und Deutschland die Lostrennung der Ukraine von Rußland, seine vollkommene Unabhängigkeit wünschen, daß wir jede dahin abzielende Bewegung fördern und daß, wenn unsere Armee in die russische Ukraine einzieht, wir so-fort die dortigen ukrainischen Führer heranziehen und ihnen, soweit wir können, helfen werden, das Land auf unabhängiger Grundlage zu organisieren. . Wenn ich mir auch momentan nicht sehr viel von dieser Agitation verspreche, so ist sie doch für die Zukunft von großer Bedeutung als Mittel, um der ukrainischen Idee dies-und jenseits der Grenze realisierbare Gestalt zu geben.
Ich begreife vollkommen, daß vor der Vertreibung der Russen aus Ostgalizien nichts geschehen kann, möchte Sie aber bitten, doch noch weiter mit General Conrad und Oberst Hranilovich im Sinne dieses Schreibens zu sprechen und unsere Wünsche bezüglich Einteilung ruthenischer Vertrauensmänner bei den in der russischen Ukraine operierenden Armeen, eventuell bei jedem Korpskommando, nicht aus dem Auge zu verlieren.
Unser nächstes Ziel muß die Niederlage Rußlands sein, und wenn die Möglichkeit besteht, zu diesem Ende eine Erhebung der Ukraine oder einiger Teile derselben hervorzurufen, so darf dies nicht durch allzu große Vorsicht und übertriebenes Mißtrauen behindert werden.
Ich habe daher dem Agitator Zalisniak und dem Bund zur Befreiung der Ukraine größere Beträge ausgefolgt und beabsichtige die Leute auch weiter zu unterstützen, wenn ich sehe, daß ihre Bemühungen Erfolg versprechen
Mit besten Empfehlungen bin ich Ihr sehr ergebener Hoyos, m. p.
Nr. 20 Aufzeichnung des Legationsrates Wesendonk G(eheime) A(nzeige)
A 8 041 pr. 5. März 1915 p. m.
Schimanowski, der nach der Abreise Barks aus Paris dort geblieben ist, wartet bis zum 10. d. M. in Paris auf Befehle Barks. Er wird dann nach Rußland zurückkehren und zunächst nach Buchara gehen, wo sich der russische Revolutionär Kouzentzoff befindet. Diesem ist es gelungen, aus dem Gefängnis zu entfliehen. Bei der Rückkehr nach Rußland ist er seinerzeit eingesperrt und begraben, inzwischen aber wieder verhaftet worden. Neu-Budiara ist ein Hauptzentrum der russischen Revolutionäre.
Schimanowski geht dann nach Petersburg, von wo er an Tagger weiter berichten wird. Er hält den Ausbruch einer Revolution noch im Laufe des März (russ. Stil) für unvermeidlich.
Für den Fall, daß die Revolution noch im Monat März ausbricht, bittet Schimanowski ihm
Berlin, den 4. März 1915 gez: von Wesendonk Nr. 21 Wk 11m secr. AA Der Gesandte in Stockholm an das Auswärtige Amt Telegramm Stockholm, den 8. Dez. 1914 pr. 29. Dez. 1914 5 Uhr 20 Min. V AS 3075 Ankunft: 11 Uhr 48 Min. N Nr. 971 Entzifferung.
Aus Washington: Nr. 626 vom 22. Dezember.
Geschäftsträger Peking telegraphiert von gestern:
Nr. 121 Militärattache abreist übermorgen zu persönlicher Bahn-unterbrechung 25), meldet: „ 1. Nachdem Bahn durch Brückensprengung Ende September 14 Tage, Ende Oktober 18 Tage unterbrochen, weitere Zerstörung infolge scharfer Bewachung nur noch gewaltsam möglich. Ich gehe mit achthundert Hunghutzen durch östliche Mongolei gegen Nonni-Brücke und Tunnel Hailar vor. Zerstörung Mitte Januar. Abmarsch wegen Verhandlungen mit weit enfernten Hunghutzen nicht eher möglich. Bahnbenutzung durch Mandschurei wegen japanischer Kontrolle ausgeschlossen.
2. Kleinere Unternehmung Hunghutzen-Abteilung gegen Brücke östlich Charbin durch Vertrauensmann Mukden eingeleitet.
3. Verbindung Vertreter russischen Revolutionskomitees für Küsten-provinz ausgenommen. Aufstand dort nach seiner Aussage völlig vorbereitet und jetzt sehr aussichtsreich. Zurückgelassene russische Truppen größtenteils auf Seiten Revolutionäre, Küstenprovinz und Wladiwostok nur schwach besetzt. Streik aller Eisenbahnangestellten vorbereitet. Aufstand soll unterstützt werden durch befreite Kriegsgefangene in Küstenprovinz 5000 Deutsche 23 000 Österreicher. Ständige sichere Verbindung mit Kriegsgefangenen von hier auch durch entwichene Offiziere und Revolutionäre ausgenommen. Kriegsgefangene sollen nach gründlicher Bahnzerstörung auf chinesisches Gebiet übertreten. Plane Mitwirkung mit meinen Hunghutzen von Tsitsikar aus. Vorläufiger Plan Ausbruch Aufstands Anfang Februar. Militärattache.
Zu 3. Übernahme nach Abreise Militärattaches mit hiesigen befreiten Offizieren weitere Ausführung eingehend vorbereiteten aussichtsvollen Plans. Falls Kosten hierfür 100 000 Mark übersteigen, werde weitere Drahtermächtigung erbitten“.
Bernstorff Reichenau Wird fortgesetzt
Politik und Zeitgeschichte
AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:
Waldemar Besson: „Franklin D. Roosevelt, der New Deal und die neuen Leitbilder der amerikanischen Politik"
Walter Bußmann: „Der deutsche Reichs-und Nationsgedanke im 19. und 20. Jahrhundert"
Indira Gandhi: „Indien heute"
Charles de Gaulle: „Memoiren"
Hans Friedrich Reck: „Die indischen Parteien"
Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"
Egmont Zechlin: „Separatfriedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche zur Ausschaltung Rußlands Im 1. Weltkrieg" (IV. Teil)
Der Ostblock und die Entwicklungsländer