II. Das Kampfmittel der nationalen Revolution Revolutionierungspläne Bismarcks und Moltkes
Es war Napoleon III., der die nationalrevolutionären Bewegungen in Europa als Partner in die Politik der Großmächte einführte. Als er 18 59 zusammen mit Victor Emanuel und den revolutionären Kräften Italiens gegen Österreich Krieg führte, wurden auch die Vorbereitungen getroffen, um die Nationalitäten des Habsburgerstaates zum Aufstand zu bewegen 1).
In seinem Hauptquartier befand sich Kossuth, der Führer des ungarischen Freiheitskampfes von 1848/49; und der siegreiche Feldherr von damals, General Klapka, sammelte, durch Dekret Victor Emanuels legitimiert, in Turin eine ungarische Legion. Sie war für eine Expedition bestimmt, die unter dem Schutze der französi-schen Flotte in Dalmatien landen sollte, um die Ungarn und die südslawischen Völker Öster-reichs zur Erhebung zu bringen. Nicht zuletzt unter dem Drude dieser Revolutionsgefahr sah sich Kaiser Franz Joseph genötigt, den Waffenstillstand von Villafranca abzuschließen. Napoleon hatte bereits dem österreichischen Unterhändler gedroht, andernfalls den Krieg auch „mit anderen Mitteln" weiterzuführen, und italienische, ungarische und kroatische Soldaten waren in nicht geringer Zahl zum Feinde übergelaufen.
Das Kampfmittel der nationalrevolutionären Erhebung kam wieder ins Spiel der großen Politik, als der habsburgische Vielvölkerstaat 1866 in Krieg mit Preußen und Italien geriet. Nun schickte sich Bismarck an, in dem Ringen um die Vorherrschaft in Deutschland und die Macht-vergrößerung Preußens in Norddeutschland, das Bündnis des preußischen Militärstaates mit der deutschen Nationalbewegung auf die national-revolutionären Kräfte Südosteuropas auszudeh9% nen
Bismarck und die europäische Revolutionsbewegung 1866
Er hatte sich seit Jahren über die Pläne der ungarischen Emigration und besonders über die Bemühungen um eine Koordination der ungari-schen, italienischen, südslawischen und polnischen Revolutionsbewegungen informieren lassen
Noch an diesem 10. Juni traf Bismarck, nachdem die Ungarn sich auch mit Moltke und Roon verständigt hatten, seine Maßnahmen. Türr — und dazu ein Legationsrat — wurden nach Belgrad entsandt 6) *. Dort hatte am 22. Mai Oberst Oreskovic dem preußischen Geschäftsträger angeboten, „die ungarische Militärgrenze und von dort aus alle andern Südslawen in Dalmatien, Kroatien und Slowenien und Südungarn zu revolutionieren"
Indessen wurde entsprechend einer Weisung Bismarcks an die Truppenbefehlshaber ungarischen Kriegsgefangenen und Überläufern erklärt, daß eine Erhebung ihres Vaterlandes unmittelbar bevorstehe; und Klapka und Offiziere aus der Emigration stellten aus ihnen in Schlesien eine ungarische Legion zusammen
Nationalrevolution als diplomatisches Pressionsmittel
Diese Unternehmungen dienten Bismarck zunächst und in der Hauptsache als diplomatische Pressionsmittel im Ringen um den Frieden. Wie Napoleon vor Villafranca, suchte er den Habsburgerstaat mit der Gefahr der Revolutionierung zu schrecken. Der Druck, den er damit auf Österreich ausübe, so begründete er bei dem preußischen Finanzminister die Verwendung der Gelder aus der sächsischen Kriegskontribution für die ungarische Legion, sei „von größter Wichtigkeit für unsere Erfolge in der Aktion wie bei den Verhandlungen, für Kriegführung und Frieden"
So war es durchaus im Sinne Bismarcks, daß Alexander H. in einer Posener Zeitung mit Entsetzen den Text der Prager Prokla-mation las
Und es gehörte gerade zum Aktionsprogramm Bakunins, daß gleichzeitig Aufstände von Deutschen, Tschechen, Kroaten, Polen inszeniert werden müßten. Bismarck konnte aber auch damit rechnen, mit der nationalrevolutionären Waffe den zu treffen, dem er sie entwunden hatte. War doch Napoleon von der Macht der nationalen Idee überzeugt, wie ja auch sein plebiszitäres Regierungssystem auf dem demokratischen Nationalgedanken beruhte. Immer, wenn Benedetti mit seinen Kompensationsansprüchen erschienen war, nach Königgrätz im Hauptquartier und Ende Juli in Berlin, ließ Bismarck in Paris und am 31. Juli auch in Petersburg in stereotyper Wiederholung erklären, daß er, „wenn die Einwirkung des Auslandes auf unsere Verhältnisse schärfere Formen annehmen sollte“, dem König raten werde, „die volle nationale Kraft Deutschlands und der angrenzenden Länder zum Behuf des Widerstandes zu entfesseln"
So war es im Grunde auch nur eine Wiederholung, wenn auch in äußerster Zuspitzung, wie Bismarck sich verhielt, als der französische Kaiser am 4. August durch Benedetti nun ganz unverhüllt seine Forderungen vorbringen ließ: die Grenzen von 1814 (Saarbrücken, Landau), Luxemburg, die bayerische Pfalz und Rheinhessen einschließlich Mainz
Es gehört zur Staatskunst Bismarcks, daß er eine Reihe von Aktionen vorbereitete und zur Verfügung hielt; er pflegte dann von mehreren Wegen „den gefährlichsten zuletzt“ zu betreten. „Gewaltanwendung ist für Bismarck immer nur eine ultima ratio gewesen“
Die Politik Bismarcks im Jahre 1866 wurde hier nicht etwa zur Sprache gebracht, um für die Revolutionierungsversuche der deutschen Regierung im Ersten Weltkriege eine Tradition nachzuweisen. Aber es zeigte sich, ungeachtet des Unterschiedes der Situationen und der Ziele, eine ähnliche Problematik. Die Revolutionäre wollten sich in einen Krieg der Mächte einschalten, um ihre Völker vom Drude einer dynastischen Herrschaft zu befreien und eine neue Staatenwelt aufzurichten. Bismarck war zwar vorurteilsfrei genug, um — im Gegensatz zu den Konservativen der „Kreuzzeitung" — die Nationalitäten als lebendige Kräfte anzusehen. Aber sie waren ihm doch — und im Grunde auch Napoleon und Victor Emanuel — ein politisches und militärisches Kampfmittel, eben ein — kriegsrechtlich erlaubtes — „Mittel der Verteidigung und Kriegführung“. Diese Revolutionsbewegungen konnten wie staatliche Mächte Bündnispartner sein, aber im Wechsel der Allianzen auch wieder preisgeben werden.
Rußlands verwundbare Grenzen
Mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 entfiel das Kampfmittel der Revolutionierung Ungarns und mit dem deutsch-österreichischen Zweibund für die deutsche Politik auch der Gedanke, die slawischen Völker der k. und k. Monarchie zum Aufruhr zu bringen. Bismarck war sogar wesentlich daran interessiert, daß der Nationalisierungsprozeß bei den Völkern Ost-und Südosteuropas in Schranken gehalten wurde. Nachdem er, wie vor ihm Cavour in Italien, in Deutschland die Ordnung der Wiener Kongreßakte von 1815 gestürzt hatte» dennoch die neuen Nationalstaatsgründungen mit dem Gleichgewichtsbedürfnis der Mächte in Einklang gebracht waren, gehörte es zu seiner „Stabilitätspolitik", nationalrevolutionäre Tendenzen, die das neue Ordnungssystem erschüttern konnten, niederzuhalten.
Dieser konservative Kurs bestimmte auch seine Rußlandpolitik in der Art, wie er sie 1863 mit der Alvenslebensdien Konvention über die gemeinsame Niederschlagung des Aufstandes in Russisch-Polen praktiziert hatte
Revolutionierung Russisch-Polens?
Es war insbesondere das Thema der Revolutionierung Russisch-Polens, das Moltke und Bismarck bewegte. Moltke hatte sich schon im Dezember 18 59 bei der Arbeit an einem Feldzugsplan für einen Zweifrontenkrieg mit einem konzentrischen Vormarsch in Polen Gedanken gemacht, daß dieses Volk, das von jeher „sein Dasein in der Insurrektion begriffen“ habe, mit der Aussicht auf „konstitutionelle Freiheit und nationale Selbständigkeit“ „materiell wie moralisch“ zur Unterstützung zu gewinnen sei
„Wir müßten dann alle Kräfte aufbieten und jedes Mittel ergreifen, namentlich Polen insurgieren, soweit Rücksicht auf Österreich dies gestattet."
Solche Pläne zur Entfesselung einer National-kraft boten sich der modernen Strategie um so mehr an, als die Gambetta’sche Phase des Krieges von 1871 ihren militärischen Wert demonstriert hatte. Sie widersprachen allerdings dem Wesen und Aufbau des preußischen Staates und der preußischen und deutschen Armee so sehr, daß Moltke den jungen Generalstabsoffizier Colmar von der Goltz vor einer Strafversetzung retten mußte, weil dieser sich durch eine militärgeschichtliche Veröffentlichung über Gambetta als „Schrittmacher der Demokratie“ verdächtig gemacht hatte
Die Problematik einer solchen Revolutionierungspolitik erschöpft sich jedoch nicht im Gegensatz der Prinzipien, die Ranke um die Jahrhundertmitte als die leitenden des 19. Jahrhunderts bezeichnete, der legitimistisch-monarchischen Souveränität und der Volkssouveränität. Wenn sich Bismarck und Moltke mit dem Problem der Fremdvölker im Russischen Reich beschäftigten, so wurden damit auch die großen Fragen des europäischen Ostens und nicht zuletzt des Gegensatzes von Ost und West angesprochen. Das läßt sich bereits an den verschiedenen Vorstellungen Moltkes und Bismarcks über die Rolle eines wiederhergestellten Polen-staates demonstrieren. Für beide handelte es sich — wie 1866 bei den Ungarn und den slawischen Völkern Österreichs — um ein Kampf-mittel. Beide rechneten aber auch damit, daß ein den Polen verheißener Staat wirklich gegründet wurde. Das vertrug sich bei Moltke mit seiner humanistisch-nationalstaatlichen Anschauung, die, vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Erfüllung der nationalen Idee grundsätzlich allen Völkern Europas zuerkannte, und mit seiner strategischen Planung, die in einem polnischen Staatswesen eine „Vormauer gegen das halbasiatische Ruß-land" zu gewinnen hoffte
zu führen, und die Polen waren als Westslawen und Angehörige der westeuropäischen Kultur für ihn Gegner der „halbasiatischen Ostslawen".
Bismarck aber hatte schon in den fünfziger Jahren gegen diese Auffassung von einem Kulturkrieg gegen den Osten polemisiert
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtete Bismarck auch die polnische Frage. Ein Pufferstaat zwischen Deutschland und Rußland war ihm zwar lieber als eine russische Invasion, ein polnisches Königreich besser als die Russen in Berlin
2. Das Insurrektionsprogramm des Generalstabes von 1914
Der sozialistische Theoretiker Karl Kautsky, der nach der Novemberrevolution als Staatssekretär der Volksbeauftragten die deutschen Akten über den Kriegsausbruch studierte, gab einem Kapitel seiner Broschüre die Überschrift: „Die Revolutionierung der Welt“. Wilhelm II. und Moltke, schrieb er, seien Lenin und Trotzki vorausgegangen
Es handelt sich einmal um eine längere Schlußbemerkung Wilhelms II. zu der Meldung des deutschen Botschafters in Petersburg vom 30. Juli, daß der Zar diesmal die Serben nicht preisgeben und vielmehr auf der Mobilmachung beharren würde. Der deutsche Kaiser sah darin das Ergebnis einer von Eduard VII. betriebenen Einkreisung durch die Engländer: „Das Netz ist uns plötzlich über dem Kopf zusammengezogen, der Strick gedreht zu unserer politischen und ökonomischen Vernichtung“. Seine Überlegungen enden damit, daß die deutschen Konsuln in der Türkei und in Indien, „Agenten etc.", die ganze mohammedanische Welt zum „wilden Aufstande gegen dieses verhaßte, gewissenlose, verlogene Krämervolk" entflammen sollten. “ Wenn wir verbluten, dann soll England wenigstens Indien verlieren“
Das war nicht nur ein spontaner Ausbruch ohnmächtiger Wut des enttäuschten Kaisers und ein Symptom für eine ins Mythische gehende Vorstellungswelt von Kampf und Rache, von Sieg und Untergang, es gehörte auch seit langem zum Gedankengut der deutschen Türkenpolitik, mit Hilfe des Sultans, als geistigem Oberhaupt der islamischen Welt, im Falle eines Krieges gegen England oder Rußland die muslimischen Völker von Indien bis Turkestan und bis weit nach Afrika hinein zu großen Aufständen in den Kolonialgebieten aufrufen zu lassen
Rede in Damaskus vom 8. November 1898, als er den dreihundert Millionen Mohammedanern, die auf Erden zerstreut im Sultan ihren Kalifen verehrten, die Versicherung gab, daß zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein werde. So bedeuten seine Worte vom 30. Juli 1914 im Grunde eine Weisung des obersten Kriegs-herrn, nach der in den folgenden Tagen vom Generalstab und vom Auswärtigen Amt verfahren wurde und die der türkische Bundesgenosse sofort bestätigte: „Die von seiner Majestät gewünschte Revolutionierung der islamischen Welt sei bereits seit geraumer Zeit vorbereitet und eingeleitet", ließ am 18. August 1914 Enver Pascha, der türkische Kriegsminister, Vizegeneralissimus und Führer der jungtürkischen Partei, telegrafieren
Das andere der Dokumente, die Kautsky 1918/19 veranlaßten, die Kapitelüberschrift von der „Revolutionierung der Welt“ zu wählen, ist ein Schreiben Moltkes (des Jüngeren) an das Auswärtige Amt vom 2. August 1914 mit einer Ergänzung vom 5. August
Dabei wurden nun auch Maßnahmen genannt, um die Völker im Britischen Empire und im Russischen Reich zu Aufständen zu veranlassen.
So in den „Südafrikanischen Dominien“ (sic), also bei den Buren. So in den Gebieten mit mohammedanischer Bevölkerung: „Es müssen Versuche gemacht werden, einen Aufstand in Indien zu entfachen, dasselbe ist in Ägypten zu versuchen". Der Vertrag mit der Türkei, heißt es, der sofort zu veröffentlichen sei, versetze das Auswärtige Amt in die Lage, „den Fanatismus des Islam zu erregen“ und die „Insurrektion von Indien, Ägypten, auch im Kaukasus" zu verwirklichen. Mit der Insurrektion im Kaukasus, die als besonders wichtig bezeichnet wurde, ist bereits eines der revolutionären Kampfmittel genannt, die schon der ältere Moltke im Krieg gegen Rußland einzusetzen hoffte. In den Vorschlägen Moltkes d. J. heißt es weiter, daß die „Insurrektion Polens" eingeleitet sei. Es ist die Idee, die dem jungen Kaiser in wiederholten Vorträgen von Waldersee vermittelt worden war, der sich wiederum darauf beruft, daß er sich noch vor der Übernahme seines Amtes über einen solchen Plan mit Bismarck verständigt hätte
III. Revolutionierungsversuche in Rußlands Randzonen
Der geschichtliche Prozeß der russischen Reichsbildung stellt den rückblickenden Betrachter vor die Frage nach dem Verhältnis des staats-bildenden Großrussentums mit seiner zentralistischen Tendenz zu den kulturellen und politischen Sonderinteressen der namentlich in den Randzonen lebenden „Fremdvölker“. Beide Bestrebungen gewannen unter dem Antrieb der modernen Nationalidee an Kraft und Bedeutung. Vor allem seit den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts drängte der großrussische Nationalismus mit allen Maßnahmen bürokratischer, kirchlicher und kultureller Art auf die Verwirklichung des einheitlichen Reiches. Neben dem politischen kam hier auch das militärische Motiv zur Geltung. Es galt zu verhindern, daß die nichtrussischen Völkerschaften im Kriegsfall den Truppen des Feindes Vorschub leisteten. Darüber hinaus glaubte man sich von der Einfügung der „Fremdstämmigen" in ein unifiziertes Reich eine direkte Stärkung des Militär-Potentials versprechen zu können Aber gerade diese Politik rief die Gegenkräfte eines — z. T. sogar militanten — Nationalismus der nichtrussischen Bevölkerungsgruppen auf den Plan.
So war Rußland nach dem Urteil des zugleich als Politiker prominenten russischen Historikers Miljukow ein Staat, der „in seinem Gesamt-gefüge eher durch passive Zustimmung“ seiner Völker als durch „bewußten Willen zur Einheit“ zusammengehalten werde
Allerdings hatten sich seit der Zeit Bismarcks die Spannungen zwischen der zentralisierenden großrussischen Politik und den auseinander-strebenden Tendenzen der Nationalitäten verschärft. Die im Manifest des Zaren vom 30. Oktober 1905 verheißene freiere Gestaltung des russischen Reiches war wieder zurückgenommen worden. Die Zusammensetzung der Dritten Duma, auf Grund des von Stolypin oktroyierten Wahlgesetzes, nahm den Fremdvölkern nun auch die Hoffnung, auf parlamentarischem Wege eine Föderalisierung des Reiches durchzusetzen
Das Bild, das Rußland in den letzten Jahren und Monaten vor Kriegsausbruch von seinen inneren Zuständen bot, besonders aber die Erinnerung an die revolutionären Vorgänge von 1905, trugen wesentlich zu der Vorstellung bei, daß der Ausbruch eines Krieges das Signal für eine Erhebung der Fremdvölker gegen die Herrschaft der Großrussen sein würde
Aber die Umstände des Kriegsausbruhs, insbesondere die deutshe Kriegserklärung als Beweis eines Überfalls der Deutshen, veranlaßten den Zaren, auh die Angehörigen der nichtrussischen Völker zur Verteidigung derHeimat aufzurufen
Erwies sih so noh einmal das Zarentum als staatserhaltende Kraft, so weckte das Bündnis mit den westlichen Demokraten die Hoffnung, daß der Zar den Weg zur Politik des Oktobermanifestes zurückfinden und mit einer föderativen Reichsgestaltung den Nationalitäten die erwartete Autonomie bieten würde. Wer jetzt unter dem Zarenadler für die Ehre und den Shutz Rußlands in den Krieg zog, mohte für den Fall des Sieges wie für den einer Niederlage auf die innerpolitishe Reform hoffen — nah dem Siege als Belohnung für die Loyalität und die Blutopfer, nah der Niederlage als Konzession der herrschenden Shihten, um mit Konstitutionalismus und Autonomie der Nationalitäten das Reih zu retten. Die Nationalitäten-politik der „Provisorischen Regierung“ nah der Februar/Märzrevolution bestätigte das letztere — allerdings erst für die Republik. Die zaristishe Regierung freilih benutzte die nationale Begeisterung der Mobilmahungstage, um gegen alles vorzugehen, was irgendwie in Verdaht kam, mit dem Feinde zu sympathisieren — gegen russishe Staatsangehörige deutscher Abstammung, gegen die jüdishe Bevölkerung, gegen Finnen und Ukrainer. Seit September 1914 lasteten Verhöre, Haussuchungen, Vermögenskonfiskationen, Verschleppungen, Verbannungen und Massendeportationen auf der Bevölkerung Westrußlands. Ob dies, wie berichtet wird, eine Folge der Niederlage von Tannenberg gewesen ist, oder ob auh die Kunde von den Plänen, Agitationen und Aktionen der Mittelmähte daran Anteil hatte, läßt sich shwer feststellen, doh ist auh das letztere niht von der Hand zu weisen.
1. Die finnische Freiheitsbewegung
Ein Land, das nah dem Urteil der Geschichtsshreibung damals eindeutig die Loslösung von Rußland erstrebt habe
Die Reichsregierung betreibt den Aufstand
Die deutshe Politik versuhte zunähst den Hebel für eine Revolutionierung Finnlands bei der schwedischen Partei anzusetzen, die im finnischen Reihstag, in dem sie 26 Sitze einnahm, mit Altfinnen (42 Sitze) und mit den liberal-radikalen Jungfinnen (28 Sitze) zusammenging. Das ergab sih auh aus dem Bestreben, Shweden in den Krieg ziehen, und zwar — wie es in dem Generalstabsprogramm vom 2. August gesagt war — mit der Aussiht auf die Rückgewinnung Finnlands. Unmittelbar nah dem Kriegsausbruch erklärte sih der shwedishe Gesandte in Berlin, Graf Taube, mit der Errihtung einer finnischen Republik einverstanden; Schweden würde dann höchstens die Aalandinseln und kleine Grenzberichtigungen fordern. Taube gab auh Ratshläge dafür, wie in Finnland ein Aufstand hervorgerufen werden könne. Er mähte Personen in Stockholm namhaft, die auf Grund ihrer Herkunft geeignet seien, die Verbindung mit den finnischen Führern herzustellen
Bethmann-Hollweg beauftragte noch am 6. August 1914 den Gesandten v. Reichenau, mit leitenden Persönlichkeiten der schwedischen Partei in Finnland Fühlung zu nehmen, „um in Finnland Stimmung für uns zu machen, evtl. Aufstand gegen Rußland hervorzurufen". Dabei sollte er für den Fall eines günstigen Kriegsausganges einen „autonomen Pufferstaat Finnland (Republik)“ in Aussicht stellen
Schwierigkeiten
Nun stand Reichenau, wie er bereits am 8. August in Beantwortung des Bethmannschen Telegramms mitteilte, schon seit einiger Zeit in Verbindung mit den finnischen Patrioten, um einen geheimen Nachrichtendienst von und nach Finnland einzurichten. Darunter auch mit Zilliacus, der, wie früher schon andere Mitglieder dieser Familie, zu den Führern der finnischen Widerstandsbewegung gehörte und dem Auswärtigen Amt auch noch von anderer Seite als Spiritus rector der antirussischen Bewegung genannt wurde
Unter diesen Umständen beschränkte sich die deutsche Politik zunächst auf die propagandistische Vorbereitung einer finnischen Erhebung; die deutsche Gesandtschaft in Stockholm organisierte einen illegalen Nachrichtendienst und begann noch im August mit der Herstellung eines Nachrichtenblattes, das auf Dünndruckpapier Meldungen über die deutschen Siege brachte und über die schwedisch-finnische Grenze geschmuggelt wurde
Die Sozialdemokraten
Bereits in der finnischen Frage wurde die deutsche Regierung vor eine Entscheidung gestellt, die sie dann auch bei den Bemühungen um die „Aufwiegelung“ der anderen Fremd-völker im russischen Reich beschäftigen sollte:
die Frage, ob sie sich mehr auf die konservativen, etwa grundbesitzenden, oder auf die sozialistischen Gruppen verlassen sollte. Dachten Bethmann-Hollweg und Jagow zunächst unter dem Einfluß des schwedischen Gesandten in Berlin an den konservativen schwedischen Volksteil, so schien doch eine Revolutionierung Finnlands nicht ohne Initiative und Teilnahme der finnischen Sozialdemokraten möglich
Man wird sich dabei zu erinnern haben, daß das zaristische Rußland der Erzfeind des Sozialismus war. Unter diesem Aspekt hatte sich die sozialdemokratische Reichstagsfraktion am 4. August 1914 zur Verteidigung der deutschen Kultur und der Unabhängigkeit und fortschrittlichen Zukunft Deutschlands bekannt. Darüber hinaus gab es in der sozialistischen Ideologie sogar ein Element, das, auf die antirussische Einstellung des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert und auf Friedrich Engels zurückgehend, dem Krieg gegen Rußland noch einen tieferen Sinn gab. Es war der Gedanke, daß der deutschen Arbeiterschaft als der bestorganisierten der Welt die Aufgabe zufalle, die russische Arbeiterklasse, aber auch die der Fremd-völker Rußlands — gedacht war vor allem an die Polen — vom Joche des zaristischen Despotismus zu erlösen
Nach Stockholm wurde vom Auswärtigen Amt der Gewerkschaftsführer Wilhelm Jansson entsandt, der von Geburt Schwede war. Allerdings hatte er Bedenken, als er von Reichenau aufgefordert wurde, nach Finnland zu reisen, um dort für einen Aufstand zu agitieren. Die finnischen Sozialdemokraten, meinte er, wollten gar nicht die staatliche Selbständigkeit, sondern nur mit Hilfe der russischen Revolutionäre bzw. Sozialdemokraten die Autonomie unter russischer Oberhoheit, zumal ein alleinstehendes, unabhängiges Finnland auch einem geschlagenen Rußland gegenüber zu schwach sei
Die Freiwilligenbewegung
Doch nun taten die Russen einen Schritt, der die finnische Freiheitsbewegung aktivierte. Unter dem 7. November 1914 verkündete ein Ukas des Zaren für Finnland neue Bestimmungen, die es jedermann deutlich machten, daß es die Absicht der Regierung war, dieses Land völlig in Rußland aufgehen zu lassen. Hatten die Finnen bisher mehr passiven Widerstand geleistet und ihre Hoffnungen auf England und Frankreich gesetzt
Dort hatten sich inzwischen Persönlichkeiten der finnischen Intelligenz, die sich bei Ausbruch des Krieges außerhalb ihres Landes befanden, dem Auswärtigen Amt zur Verfügung gestellt: der Archäologe Herman Gummerus und Prof. Johannes Öhquist
Sonderfriedenspolitik und militärische Interessen
War es schon schwierig genug, die bisher erörterten, teilweise recht gegensätzlichen Interessen auf einen Nenner zu bringen, so wurde die finnische Aktion durch ganz anders gerichtetc Bemühungen der deutschen Führung von Grund auf in Frage gestellt. Die finnischen Freiwilligen, die sich, sei es auch vorerst nur zu Sabotageakten, zur Verfügung stellten, verlangten eine amtliche deutsche Zusicherung, daß ihre Wünsche und Interessen bei einem Friedensschluß auch wirklich zur Geltung gebracht wür-den. Der deutsche Gesandte in Stockholm wollte eine Zusage aufsparen, bis durch Sprengung von Eisenbahnlinien und Brücken eine tatsächliche Hilfe der Finnen erfolgt sei. In Berlin war man aber inzwischen, wie wir hörten, seit Ende November 1914 darum bemüht, mit dem zaristischen Rußland zu einem Sonderfrieden zu kommen: die Unterstützung eines finnischen Aufstands aber konnte eine Verständigung mit Rußland erschweren. Reichenau, der den Finnen bei Kriegsbeginn einen „autonomen Puffer-staat“ in Aussicht stellen sollte, erhielt daher am 25. Dezember den Auftrag, „nur in sehr allgemeiner Form Berücksichtigung (aber nicht Durchsetzung) finnischer Interessen und Wünsche“ zuzusichern, da Konzessionen für Finnland von Rußland „sehr schwer zu erhalten, ihre Durchführung noch schwerer durchzusetzen“ sei. „Sollte sich etwa jetzt Möglichkeit für Separatfrieden mit Rußland ergeben, können wir (das) Programm unserer Forderungen nicht übermäßig belasten"
Demgegenüber machte sich aber wieder das militärische Bedürfnis geltend, jedes nur irgendwie greifbare Kampfmittel zu benutzen, um den Gegner zu schädigen. Auf Drängen Falkenhayns, der in den ersten Januartagen von 1915 in Berlin nach den Maßnahmen zur Erregung eines Aufstandes in Finnland fragte, kam es darüber am 26. Januar 1915 im Kriegsministerium zu einer Besprechung von Vertretern des stellvertretenden Generalstabes, des Kriegs-ministeriums, Admiralstabes und des Auswärtigen Amtes
Politische Bedeutung der Legion
Wiederum aus militärischen Motiven regte der Generalstab im Mai 1915 an, die Förderung der finnischen Nationalbewegung einzustellen. Die OHL verzichtete auf die Entfesselung eines Aufstandes in Finnland, und das Kriegsministerium hielt es für überflüssig, Zeit und Geld für die Ausbildung von Leuten aufzuwenden, die doch nicht für einen Einsatz in Betracht kamen, und beanspruchte das deutsche Ausbildungspersonal
Es wird berichtet, daß es durch Wetterhof und durch Vermittlung von Taube und des rumänischen (!) Gesandten Beldimann gelang, die Auflösung des Lokstedter Lagers zu verhindern
Schon dieses finnische Problem bietet ein Beispiel dafür, daß das Schicksal der nationalrevolutionären Bewegungen abhängig war von den Interessen und den taktischen Bedürfnissen der kriegführenden Mächte. Für die deutsche Regierung war die Politik der „Aufwiegelung“
der Fremdvölker Rußlands ein Teil der großen Aufgabe, Rußland aus dem Kreis der Feind-mächte auszuschalten. Sei es durch eine Verständigung mit dem Zaren und seinem Regime, von Dynastie zu Dynastie und durch Vermittlung dynastischer Verwandschaft neutraler Fürsten, sei es durch Zersetzung und Unterminierung dieses Reiches oder aber — auch das bot sich an —, um mit dem Druckmittel der Revolutionierung den Frieden zu erzwingen. Die Führer der altfinnischen Rechten hielten die Schaffung eines finnischen Staatswesens für eine Utopie; ihre Hoffnung war, daß Deutschland bei den Friedensverhandlungen für die Wiederherstellung der Autonomie Finnlands innerhalb des russischen Reiches eintreten würde, auch ohne daß es zu einer revolutionären Erhebung der Finnen komme. Sei diese ohne eine deutsche Landung oder den Kriegseintritt Schwedens nicht möglich, so bleibe als dritte Möglichkeit die einer allgemeinen Anarchie in Rußland. Zur Vorbereitung des finnischen Volkes auf diese Situation, erklärte Edvard Hjelt, der offizielle Vertreter der rechtsstehenden Parteien, die Aufstellung der finnischen Legion als ein wichtiges Agitationsmittel, während ihr der linksgerichtete Törngren jegliche Bedeutung für die Finnen absprach und sie lediglich als ein militärisches Kampfmittel der Deutschen gegen Ruß-land betrachtete.
2. Polen zwischen den Mächten
Auch die Polen in Rußland waren in den Jahren vor dem Kriegsausbruch von den Maßnahmen der Stolypinschen Russifizierungspolitik bedrängt worden. Damit wurde jene der historischen Richtungen der polnischen Nationalbewegungen diskreditiert, die durch Verständigung mit den Russen, insbesondere des liberalen Bürgertums die Autonomie im Rahmen des Russischen Reiches zu erringen hoffte und hierfür ihre Loyalität zum russischen Reich und zum Zaren betonte. Diese polnischen National-demokraten vertraten unter Führung von Roman Dmowski mit der Konzeption des Neo-Slawismus eine slawische Ideologie, die mit der Versöhnung von Russen und Westslawen eine gemeinsame Frontstellung gegen die beiden andern Teilungsmächte verband, sowohl mit dem 75
Anspruch auf die polnischen Gebiete Preußens und Österreichs, wie auch, wie es Dmowski formulierte, weil Polen statt eines Bollwerkes geB sein müsse
Die Problematik der deutschen Revolutionierungspolitik erhellt daraus, daß sowohl die Deutschen wie die Russen bald nach dem Kriegsausbruch Proklamationen an die Polen verbreiteten. Weil die deutschen Truppen in einem polnischen Grenzort mit Brot und Salz empfangen worden waren, glaubte Moltke, daraus schließen zu können, daß sie „fast als Freunde" begrüßt worden seien
Unter diesen Umständen ist es zu erklären, daß die russische Polenproklamation bei den Nationaldemokraten um Dmowski eine positive Aufnahme fand, und zwar offensichtlich in der Hoffnung, durch Einschwenken auf diese Linie die Regierung zu zwingen, über die gegebenen Zusicherungen hinausgehen. Es ergab sich hier die Aufgabe, die in der Regierung, die Richtung Trubetzkoj-Sasonow und eben die des mit Lvov und Struve repräsentierten und von Miljukow geführte lieberalen Bürgertums zu unterstützen. Dazu kam bei dieser Gruppe die Erwartung, daß ein Sieg über die beiden andern Teilungsmächte nicht nur die Selbständigkeit des russischen Kongreßpolens von 1815, sondern die Einheit der polnischen Nation bringen würde. Es gab aber auch zahlreiche Polen, die keiner der beiden Versprechungen trauten, der deutschen nicht angesichts der in Preußen betriebenen Ostmarkpolitik, der russischen nicht aus der Erfahrung, daß solche unter dem Zwang der Lage gegebenen Zusicherungen unter anderen Verhältnissen widerrufen wurden. Sie hofften, ihr nationales Ziel eher mit einem allgemeinen Zusammenbruch aller Kriegführenden zu erreichen, ohne einer der Teilungsmächte ausgeliefert zu sein. Das letztere gilt auch für den Sozialisten Pilsudski, der zwar in Anlehnung an Österreich-Ungarn eine Schützenkompagnie ausgestellt hatte, aber am 6. August eigenmächtig und selbständig die ostgalizische Grenze überschritt und den Krieg gegen Rußland eröffnete — er geriet darüber mit dem österreichischen Generalstab in scharfen Konflikt.
Doch es kam noch gar nicht auf die Haltung der russischen Polen an. Die hochfliegenden Pläne des deutschen Kaisers und dieser Teil der operativen Planung des deutschen Generalstabes stießen vielmehr sofort auf den energischen Widerstand der Wiener Regierung 85a). Diese gab am 11. August in aller Form in Berlin eine Erklärung ab, daß die Gründung eines unabhängigen Polen nicht mit ihren Interessen „rücksichtlich Galizien“ vereinbar sei. Sie wünsche deshalb nicht, daß gegenüber den russischen Polen von einer Unabhängigkeit ihres Vaterlandes nach einem erfolgreichen Kriege gesprochen werde. Das Auswärtige Amt sah sich darauf genötigt, „auf das bündigste“ zu versichern, daß kein Aufruf der deutschen Regierungsstellen zur Schürung der Revolution in Russisch-Polen mehr erlassen würde, der nicht vorher dem Außenminister in Wien vorgelegt worden sei. Später konnte man dort mit Genugtuung erfahren, daß auch die Aufstellung einer polnischen Legion vom deutschen Oberkommando verboten worden war, es sei denn, sie würde dem österreich-ungarischen AOK unterstellt
Dazu kam, daß man auch in der preußischen Regierung nicht bereit war, den Polen in Posen und Westpreußen so weitgehende Zugeständnisse zu mähen, wie erforderlich gewesen wären, um die Versprechungen in den Proklamationen des Generalstabes glaubwürdig zu mähen
Anhang
Nr. 6 Nachlaß Stresemann Pol. Schriftwechsel Bd. 139 AA.
Aufzeichnung Stresemanns Konferenz beim Reichskanzler am Dienstag, dem 8. Dezember 1914
Der Reichskanzler ließ Herrn Landrat Rötger und mich bitten ihn um 4 Uhr im Reichskanzlerpalais zu besuchen, um ihm Bericht zu erstatten über die Auffassung, die die im Kriegsausschuß vereinigte Deutsche Industrie für den Fall eines siegreichen Krieges als die ihrige betrachte. Der Kanzler empfing uns sehr freundlich, er war allein, und zunächst referierte Herr Rötger über die Entstehung des Kriegsausschusses und die Aufgaben, die er sich gestellt habe, sodann gab er in kurzen Zügen Mitteilung darüber wie wir uns die politischen Grenzen dächten: Abtretung des Striches der Nordküste Frankreichs bis Calais, sodann Berichtigung unserer Grenzen und namentlich Einbeziehung der Kohlen-und Erzgruben bei Longwy (und Briey) *), sowie derjenigen Vogesen-Festungen, die unsere militärischen Sachverständigen für notwendig hielten, endlich Abtretung aller Rechte die Frankreich in Marokko erworben habe. Belgien müsse Deutschland angegliedert werden, etwa in der Form wie die Englischen Colonien mit dem Mutterlande verbunden sind. Von Rußland erwarten wir die Abtretung Polens und Kurlands und Estlands. Sodann hielten wir es für erwünschenswert ein näheres wirtschaftliches Verhältnis zwischen Deutschland, Österreich, Frankreich, der Schweiz, Belgien und den Skandinavischen Ländern herzustellen. Wir seien von der Voraussetzung ausgegangen, daß wir Rußland und Frankreich entscheidend besiegen, daß unser Krieg mit England unentschieden bleibt.
Der Kanzler führte aus, daß es naturgemäß heute außerordentlich schwer wäre, zu diesen Fragen Stellung zu nehmen. In einem Augenblick, in dem die militärische Kraft Frankreichs noch ungebrochen sei. Wir hätten zwar große Siege namentlich bei St. Qentin erfochten und hätten auch sonst kleinere und größere kriegerische Vorteile gehabt, im Ganzen aber sei Frankreich unbesiegt. Von England wäre dasselbe zu sagen. In Rußland lägen die Dinge günstiger, er habe den Eindruck, als sei es nur eine Frage ganz kurzer Zeit, daß Rußland militärisch vollkommen erledigt sei. Unsere Stellung augenblicklich dort sei derart günstig, daß es vielleicht nur eine Frage von Wochen sei, bis sich die Reste des Russischen Heeres in das Innere zurückzögen, wohin wir ihnen nicht folgen würden. Wir würden uns dann in Polen wohnlich einrichten, bis wir entweder einen Einzelfrieden mit Rußland, wie er hoffe, oder einen Frieden mit unseren sämtlichen Gegnern schließen können.
Westlich hätten heute nur die Militärs das Wort. Nur von ihrem Gutachten und ihrer Auffassung hinge es ab, wie lange wir kämpften, hinge es ab wie vorteilhaft der Frieden für uns würde. Das Eine könne er uns aber versprechen, daß er unter keinen Umständen darauf eingehen würde einen Frieden zu schließen, der einem Waffenstillstand gleichkomme. Frankreich müsse völlig niedergerungen werden, ob das im Frühjahr gelungen sei, oder noch in den Sommer hineingehe, das wisse er nicht. Jedenfalls seien wir von einem Frieden noch ziemlich weit entfernt, da die Französische Regierung und die öffentliche Meinung ehrlich überzeugt noch an einen Sieg über Deutschland glaube. Er meinte unter solchen Umständen bei der Unsicherheit der augenblicklichen Lage wäre es verfrüht sich auf irgend etwas programmatisches wie wir es brächten festzulegen. Ich schaltete ein, daß wir es trotzdem für unsere Pflicht gehalten hätten diese Arbeit zu leisten, weil in diesem Kriege es im Gegensatz zu den meisten früheren Kriegen, namentlich 1870 an einer einheitlichen Forderung der Nation völlig fehle. Die Stimmen, die sich mit der Frage, was nach einem siegreichen Kriege geschehen sollte, beschäftigen, gingen so weit auseinander, daß jedenfalls die Regierung und der Herr Kanzler sich bei Friedensverhandlungen nicht auf eine öffentliche Meinung berufen können. Um nun in diesen Chorus etwas Ordnung und Harmonie zu bringen, hätten wir unsere Arbeiten vorbereitet, um gegebenenfalls die öffentliche Meinung zu beeinflussen und auch dem Herrn Kanzler Gelegenheit zu geben, sich’ wenigstens auf die Industrie, die ja im Kriegsausschuß fast lückenlos ^reinigt sei, berufen zu können. Der Kanzler gab zu, daß unsere Arbeit eineswegs vergeblich wäre, und daß er hoffe, sich auch im Laufe der
Friedensverhandlungen mit uns wieder besprechen zu können. Im Großen ganzen gingen unsere Ansichten nicht sehr weit auseinander.
Was wir über die wirtschaftlichen Fragen, eine gewisse Mitteleuropäische Zollunion gesagt hätten, schwebe auch ihm als erstrebenswert vor, und er hoffe namentlich, daß es gelingen werde, Frankreich davon zu überzeugen, daß seine wirtschaftlichen Interessen in einer solchen Vereinigung mit Deutschland und anderen angeschlossenen Gebieten, am Besten gewahrt sei. Frankreich tue ihm geradezu leid. Es sei unser anständigster ritterlichster Gegner. Seine Schuld sei viel geringer als die unserer anderen Gegner, und Frankreich werde die ganze Zeche bezahlen müssen. Eine Kriegsentschädigung von Rußland sei kaum zu erlangen, da Rußland durch seine Ausdehnung fast unangreifbar sei, von England sei auch kaum eine Kriegsentschädigung zu erwarten, so daß nur Frankreich übrig bleibe, und gerade Frankreich gegenüber habe er den Wunsch es nach Möglichkeit zu schonen. Vor allen Dingen möchte er so wenig wie möglich Französisches Gebiet verlangen. Die Wunde von 1870 sei wohl verwunden, wenn aber jetzt eine neue Verstümmelung einträte, so hieße das nichts Anderes, als die unnatürliche Coalition, der wir uns jetzt gegenüber befänden, zu verewigen, und er betrachtete es als seine Aufgabe gerade eine solche Coalition für die Zukunft unmöglich zu machen. Deshalb hielt er die Frage der Abtretung der nördlichen Küste für sehr streitig. Am liebsten möchte er überhaupt keinen Quadratmeter fremdsprachigen Gebietes haben, und wenn unser Generalstab in den Vogesen aus militärischen Gründen Abtretung verlangte, so sei er bereit, um dies weniger verletzend für Frankreich zu machen, die Form eines Tausches gegen das südliche Belgien anzubieten. Die Idee Belgien in Form einer Kroncolonie zu behandeln sei ihm nicht unsympathisch, über diese Frage werde aber noch eingehender zu sprechen sein, wenn der Kriegsausschuß die wirtschaftlichen Fragen eingehend durchberaten hätte. Es wäre ihm lieb zu hören, daß dies Ende Januar erfolgt sein würde, denn man müsse rechtzeitig gerüstet sein. Soweit der Friede heute entfernt schien, so plötzlich könne er da sein. Die Französische Armee hätte, wie er zuverlässig wüßte, ungeheuer gelitten. Unsere Reserven an Mannschaften seien noch unerschöpflich, so daß ein plötzliches Ende des Krieges möglich wäre. Die Frage der Kriegsentschädigung möchte er heute nicht behandeln. Man habe ja bei uns von 30 Milliarden gesprochen, aber es bedürfe ja noch der Prüfung, ob Frankreich in der Lage sei 30 Milliarden zu zahlen. Natürlich denken wir beim wirtschaftlichen Zusammenschluß auch sehr stark an Holland, doch sagte er uns davon nicht zu säuseln, Holland sei so sehr empfindlich und es seien gerade diesem Lande gegenüber schon Dumheiten genug gemacht worden. Indem ich zusammenziehe, was ich Ihnen eben ausgeführt habe, möchte ich Ihnen also das Eine sagen: 1. Meine Hauptaufgabe ist es die Coalition der drei Großmächte für die Zukunft unmöglich zu machen. 2. Nur einen Frieden zu schließen, der uns mindestens 50 Jahre Ruhe gibt, eher legen wir die Waffen nicht nieder. 3. Den Versuch zu machen, endlich die Jahrhunderte alten Streitigkeiten zwischen Frankreich und uns zu beseitigen. Diese drei Ziele bin ich fest überzeugt zu erreichen, weil ich sicher bin, daß wir über Rußland und Frankreich einen entscheidenden Sieg erfechten werden.
(Diese Aufzeichnung Stresemanns wurde in der Ausgabe B 20/61 vom 17. Mai 1961 genannt; s. bes. Anmerkungen 106 und 107.)
Nr. 7 Wk 11c geh.
Der Reichskanzler an den deutschen Gesandten in Stockholm, Reichenau Telegramm (Konzept)
Berlin, den 6. August 1914 pr. 6. August 1914 pm A 16210 Eilt. No 48 Telegramm in Ziffern Um in Finland (sic) Stimmung für uns zu machen, eventuell Aufstand gegen Rußland hervorzurufen, wäre es geboten, alsbald mit leitenden Persönlichkeiten schwedischer Partei in Finland (sic) Fühlung zu nehmen und ihnen im Falle für uns günstigen Kriegsausangs autonomen Pufferstaat Finland (sic) (Republik) in Aussicht zu stellen.
Graf Taube versichert
Geeignete Mittelspersonen für Verbringung mit finnischen Führern sollen sein: Direktor Sven Palme und namentlich dessen Frau, geborene von Born, Finländerin (sic), glühende Patriotin und Russenfeindin, ferner sehr
Bitte hiernach alsbald vorbereitende Schritte einleiten.
Leitsätze für eventuell zu verbreitende Aufrufe: Befreiung und Sicherung der von Rußland unterjochten Stämme, Zurückwerfung russischen Despotismus auf Moskau. R. K.
B(ethmann) H(ollweg)
Nr. 8 Wk Ile AA Der deutsche Gesandte in Stockholm an den Staatssekretär Brief A 17427 den 13. August 1914 pr. 15. August 1914 pr. 16. August 14 h (Z (immermann)
Sehr verehrter Herr von Jagow!
Mit der Anregung einer Insurgierung Persiens bzw. Aserbeidzchans durch die schwedischen Gendarmerie-Offiziere kann ich an die hiesige Regierung nicht herantreten, ohne uns zu schaden. Abgesehen davon, daß die Regierung und allen voran der sehr loyale König auf den Gedanken nicht eingehen würden, weil Schweden neutral ist und die schwedischen Offiziere ja gerade auf besonderen Wunsch der englischen und russischen Regierung nach Persien entsandt worden sind, würde schon der Vorschlag allein uns von den Schweden übel genommen werden, weil wir ihnen dadurch zumuteten, ihre Offiziere in eine gefährliche und schiefe Stellung zu bringen — eine Stellung, die von den Offizieren selbst sicher als eine Kränkung empfunden werden würde.
Außerdem aber befindet sich Oberst Hjalmarson augenblicklich nicht in Stockholm, so daß ich auch nicht persönlich und vertraulich mit ihm sprechen kann.
Auch eine Aufstandsbewegung in Finnland läßt sich nicht so leicht herbeiführen, wie Graf Taube das anzunehmen scheint. Alle Kenner der dortigen Verhältnisse, auch die vom Grafen Taube selbst genannten, stimmen darin überein, daß Vorbedingung sein würde eine Niederlage der Russen und eine Landung von deutschen oder noch besser von schwedischen Truppen. Aber selbst dann würde man mit einem organisierten Gesamtaufstand kaum rechnen können, dazu fehle es an Waffen (in Folge des mehrjährigen Waffenverbotes), an Führern, an militärischer Vorbildung (seit 1902 thun die Finnländer keinen Militärdienst mehr), sowie an Einheit — die 5/6 der Bevölkerung ausmachenden Finnen stehen dem einen Sechstel Schweden fremd gegenüber und sind von den Russen immer gegen diese ausgespielt worden — an Entschlossenheit und Initiative. Dagegen würde es wohl möglich sein eine Art Guerillakrieg zu organisieren zwecks Brückenzerstörung, Verkehrsunterbrechung usw.
Jedenfalls aber würde ich alles thun, was in meinen Kräften steht, um den Russen in Finnland Schwierigkeiten zu bereiten. Ich halte mich aber für verpflichtet vor jedem Optimismus in dieser Beziehung zu warnen.
Was die Schweden anlangt, so verlangt die bewaffnete Macht sowie die Jugend stürmisch eine aktive Kooperation; die parlamentarischen Kreise, und die Geschäftswelt und die Regierung aber können vorläufig den Neutralitätsgedanken noch nicht aufgeben -vor allem, weil es ihnen an der treibenden Provokation (?) fehlt. Das große Publikum betrachtet noch das ungeheuere Drama wie der Zuschauer im Parkett.
Das schwedische Blut ist in den hundert Jahren Frieden zu dickflüssig geworden. Hätten wir ein Bündnis, so läge die Sache anders. Im jetzigen Stadium bringt uns indessen, wie gesagt, die Neutralität Schwedens, sofern sie so wohlwollend bleibt wie augenblicklich, meines Erachtens mehr Vorteil als eine aktive Kooperation (?).
Ich werde auch hier nichts versäumen, um vorwärts zu treiben und den Topf zum Überkochen zu bringen.
Mit ausgezeichneter Hochachtung Eurer Exzellenz ergebener Reichenau Von starkem Einflüsse und großer Wirkung würde es meines Erachtens sein, wenn es sich ermöglichen ließe, die Führer oder wenigstens einflußreiche und bekannte Mitglieder der sozialdemokratischen Partei bei uns dahin zu bringen, daß sie die hiesigen Sozialdemokraten brieflich oder in sonst geeignet scheinender Weise zur aktiven Teilnahme am Kampfe gegen den slawischen Despotismus und Barbarismus zu beeinflussen suchten. Natürlich dürften die hiesigen Sozialdemokraten von einer amtlichen deutschen Anregung nichts ahnen.
Als Mittelspersonen wären vielleicht Bürgermeister Reicke und Stadtverordnetenvorsteher Cassel geeignet, da sie durch die sozialdemokratischen Magistrats-und Stadtverordneten-Mitglieder Fühlung mit den Sozialdemokraten haben und da sie, aus persönlicher Kenntnis der hiesigen Verhältnisse — wenigstens oberflächlicher — den deutschen Sozialdemokraten die Sache mundgerecht machen könnten.
Das Gewinnen der hiesigen Sozialdemokraten zu aktiver Teilnahme würde sehr schwer in die Waagschale fallen. Die Angelegenheit aber muß natürlich sehr vorsichtig betrieben werden. Erbitte Mitteilung, ob auf meine Anregung eingegangen wird. Reichenau Nr. 9 Wk 11c secr AA Der Staatssekretär des Auswärtigen Amts an das Auswärtige Amt Telegramm pr. 25. Dez. 1914 A 36155 Gr. Hauptquartier, den 25. Dezember 1914 2 Uhr 5 Min. Nm. Ankunft 5 Uhr 18 Nm.
Konzessionen für Finnland werden von Rußland sehr schwer zu erhalten, ihre Durchführung noch schwerer durchzusetzen sein. Sollte sich etwa jetzt Möglichkeit für Separatfrieden mit Rußland ergeben, können wir Programm unserer Forderungen nicht übermäßig belasten. Zusicherung könnte daher nur in sehr allgemeiner Form „Berücksichtigung (aber nicht Durchsetzung) finnischer Interessen und Wünsche“, gegeben werden, wobei jedoch Eingreifen Finnlands in einer für Ausgang des Krieges wirksamen Weise vorausgesetzt werden muß, Jagow Nr. 10 W’k 11c secr. AA Aufzeichnung des Vertreters des Auswärtigen Amtes über eine Sitzung im Stellv. Generalstab v. 25. Mai 1915 G(heime) A(nzeige)
pr. 25. Mai 1915
In der heute im Generalstab abgehaltenen Sitzung verlas Oberst von Zimmermann ein Telegramm des Generalstabschefs des Feldheeres, wonach Exzellenz von Falkenhayn auf eine weitere Verfolgung der finnischen Angelegenheit verzichten will.
Oberst von Zimmermann bemerkte dazu, daß es ihm persönlich ratsam erscheine, die in Lockstedt bereits in der Ausbildung befindlichen Finnen dort zu belassen, und sogar die von Herrn Staatsanwalt Wetterhoff angekündigten neuen finnischen Rekruten in die Legion aufzunehmen. Da man sich mit der finnischen Bewegung bereits so weit eingelassen habe, sei es empfehlenswert, die Angelegenheit weiter zu betreiben schon, um im gegebenen Moment etwa beim Ausbruch einer allgemeinen großen Revolution in Rußland, mit dem finnischen Element in Fühlung zu bleiben.
Auch der Vertreter des Admiralstabes erklärte, daß er es für unvorteilhaft halte, die finnische Bewegung jetzt ganz einschlafen zu lassen. sichtExzellenz von Wild sei es überflüssig, weitere Zeit und Geld auf die Ausbildung der fraglichen Finnen aufzuwenden, wenn diese nicht direkt für eine Operation in Finnland selbst verwendet werden können. Jedenfalls dürfe keine Vermehrung des finnischen Korps ins Auge gefaßt werden. Wenn Herr Wetterhoff junge Finnen zur Reise nach Deutschland ermutigt habe, so habe er dies ohne die Zustimmung des Kriegs-ministeriums getan. Vom militärischen Standpunkt aus sei es auch wünschenswert, das für die Finnen erforderliche Ausbildungspersonal für unser Heer frei zu bekommen.
Der mit der Ausbildung der Finnen beauftragte Major Baier setzte daraufhin auseinander, daß er von dem ihm zur Verfügung gestellten Ausbildungspersonal (4 garnisondienstfähige Hauptleute und 12 ebensolche Unteroffiziere) die Unteroffiziere wieder abgeben könne, da unter den 170 Finnen sich eine genügende Anzahl Leute befänden, die etwa 1000 weitere finnische Freiwillige ausbilden könnten.
Für den Fall, daß es zu einer Auflösung der finnischen Freischar kommen sollte, schlägt Oberst von Zimmermann vor, diese folgendermaßen zu verwenden: 1. ein Teil der Leute würde nach Rußland zurückkehren:
2. ein Teil würde in Deutschland einen Zivilberuf zu ergreifen suchen;
3. ein Teil würde in Deutschland einen Zivilberuf zu ergreifen suchen;
4.der Rest würde als Kriegsfreiwillige in das deutsche Heer eintreten.
Von dieser letzteren Gruppe könnten einige gut russisch sprechende Leute eventuell im Kaukasus Verwendung finden.
Mit der Einstellung der Finnen als Kriegsfreiwillige in unser Heer erklärt sich der Vertreter des Kriegsministeriums gundsätzlich einverstanden.
Unter Hinweis darauf, daß es schon mit Rücksicht auf die von uns in Rußland sonst noch eingeleiteten revolutionären Bewegungen (Ukraine und Kaukasus) nicht ratsam sei, die Finnen durch eine Auflösung ihrer Legion zu entmutigen und dadurch auch bei den Vertretern der sonstigen separatistischen Bestrebungen in Rußland Mißtrauen zu erwecken, bat ich die Herren die Frage der Beibehaltung und sogar Verstärkung der finnischen Legion in Lockstedt noch einmal prüfen zu wollen. Oberst von Zimmermann und der Vertreter des Kriegsministeriums sagten dies zu und baten, den Standpunkt des Auswärtigen Amts in einem kurzen Schreiben darzulegen, damit sie dadurch eine Unterlage zur weiteren Erörterung der Angelegenheit bei Exzellenz von Moltke und Exzellenz von Wild in der Hand hätten.
W(esendonk) 25/5
Dazu Schlußbemerkung des Unterstaatssekretär Zimmermann vom 25. Mai;
Idi habe H. v. Treutler anheimgestellt für unsern Standpunkt direkt bei Gen. Falkenhayn einzutreten.
Nr. 11 H. H und St A Der österreich-ungarische Botschafter in Berlin an das Außenministerium Telegramm Berlin, 11. August 1914 Nr 1191 aufg. 9 U. 26 M. p. m. eingetr. 12/8 Ch. No 412 Bezugnahme auf telephonisches Gespräch Grafen Hoyos mit Haymerle von gestern.
Unterstaatssekretär, dem ich mitgeteilt, daß wir nicht wünschen, daß den russischen Polen gegenüber von einer Unabhängigkeit ihres Vater-landes nach einem für uns erfolgreichen Krieg gesprochen werde, da wir, soweit die Lage sich derzeit überblicken läßt, nicht die Gründung eines unabhängigen Polen, als mit unseren Interessen (rücksichtlich Galizien) vereinbar hielten, versicherte mir auf das bündigste, daß kein Aufruf der deutschen Regierungsstellen zur Schürung der Revolution in Russisch-Polen erlassen würde, der nicht vorerst Euer Exznzellenz zur Begutachtung zugestellt würde.
Übrigens sei man deutscherseits noch nicht an die Ausarbeitung eines solchen Aufrufes herangetreten; einziger derartiger Aufruf sei der vom Generalstab für die Zeppelinfahrten verfaßte. Syögyeny
Nr. 12 Wk 14 a AA Der Staatssekretär an das Auswärtige Amt Telegramm A 17577 Nr 3 Koblenz, den 18. August 1914 Bitte nach Wien telegraphieren *):
Vor meiner Abreise von Berlin . .. hat Graf Szögyeny mir zwei Vorschläge seiner Regierung betreffend die Zukunft Polens vorgelesen und dazu unsere Zustimmung erbeten. Die Vorschläge liefen auf provisorische gemeinsame Verwaltung nach der Okkupation und späteren Anschluß Polens an Österreich hinaus. Heute trifft weitere Instruktion aus Wien ein, in der der Graf Berchtold zu der von mir erteilten Zustimmung zu den ersten Vorschlägen wärmsten Dank und weitere Vorschläge macht. Hier muß Mißverständnis vorliegen. Ich hatte dem Grafen S. erwidert, daß ich über die Vorschläge ohne höhere Entscheidung mich nicht auslassen könnte, mir scheine aber überhaupt der Zeitpunkt für Bestimmungen über das künftige Schicksal Polens noch verfrüht. Graf von S. teilte diese Ansicht und bat zum Schluß nochmals um baldigste Antwort. Diese ist nicht erteilt worden.
Ich kann mir kaum denken, daß Graf von S. das volle Gegenteil hiervon nach Wien berichtet haben sollte und kann mich des Verdachts nicht ganz erwehren, daß man in Wien das Mißverständnis fingiert hat, um uns weitere Vorschläge im österreichischen Sinne zu machen. Die österreichischen Vorschläge und der Anschluß Gesamt-Polens mit dem Weichselgebiet an Österreich sind für uns selbstverständlich unannehmbar, wir wünschten die Frage aber dilatorisch zu behandeln, — um jetzt Divergenzen mit Österreich zu vermeiden. Bitte einstweilen dort Angelegenheit dahin aufklären, daß Mißverständnis vorliegen müsse, keineswegs vorgeschlagenen österreichischen Plan glatt annehmen könnten, sondern die Frage hier zunächst gründlich prüfen lassen müßten. Wann kommen angekündigte polnische Delegierte nach Berlin? Jagow Wird in der nächsten Ausgabe fortgesetzt
Präsident Kennedy über seine Europareise
Präsident Kennedy hat dem amerikanischen Volk am 7. Juni 1961 über seine Wiener Zusammenkunft mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtsehow sowie über seine Gespräche mit dem französischen Staatspräsidenten de Gaulle und dem britischen Premierminister MacMillan, heriehtet Die Bede des Präsidenten hat folgenden Wortlaut:
Ich bin heute vormittag von. einer einwöchigen Europareise zurückgekehrt, über die ich Ihnen, hier eineu umfassenden Bericht geben möchte. Diese Reise war n jeder Hinsicht ein unvergeßliches Erlebnis. Die Bevölkerung von. Paris, Wien und London bereitete uns einen überaus herzlichen Empfang. Sie gewährte uns ihre warmherzige Gastfreundschaft, und ihre Freundlichkeit gegenüber meiner Frau wurde von uns mit besonderer Dankbarkeit empfunden. Wir wissen natürlich, daß das dichte Gedränge und der Jubel der Menschenmassen in hohem Maße dem Lande galten«, das wir vertraten und das als das Hauptbollwerk der Freiheit angesehen wird. Ebenso denkwürdig war der von der europäischen Geschichte und Kultur geprägte Hintergrund, vor dem sich die zeremoniellen Empfänge abspielten: Die Niederlegung eines Kranzes vor dem Arc de Triomphe, die Bankette in Versailles, im Schloß Schönbrunn und hei der Königin von England. Dies sind farbenfrohe Erinnerungen, die uns noch viele Jahre begleiten werden. Die drei von uns besuchten Städte — Paris, Wien und London — bestehen schon viele Jahrhunerte lang, und jede für sied» erinnert uns daran» daß die westliche Kultur, für deren Erhaltung wir uns einsetzen, seit altersher blüht und sich über Jahrhunderte hinweg selbst verteidigt hat. Meine Reise war aber keine rein formelle Angelegenheit. Zwei Zielsetzungen der amerikanischen Außenpolitik waren es vor allem, die den Anlaß für sie bildeten: Die Einheit der freien Welt, deren Stärke die Sicherheit von uns allen gewährleistet, und die schließliche Erreichung eines dauerhaften Friedens. Der Förderung dieser beiden Zielsetzungen galt meine Reise.
Vertrauen in die Einheit und Stärke des Westens
Unsere Reise, zur Stärkung, der Einigkeit des.
Westens unternommen, begann in Paris und endete in London. Meine Unterredungen mit General de Gaulle waren für mich überaus ermutigend. Gewisse Unterschiede in unserer Einstellung zu diesem oder jenem Problem erwiesen sich als unwesentlich angesichts unserer gemeinsamen Verpflichtung zur Verteidigung der Freiheit. Ich glaube, daß unser Bündnis eine Festigung erfuhr, ich hoffe, daß die Freundschaft unserer Nationen noch inniger wurde, und das Verhältms zwischen uns beiden, die wir Verantwortung tragen, wurde noch enger und stand, wie sch meine, im Zeichen wechselseitigen Vertrauens. Es zeigte sich, daß General de Gaulle weit mehr an einer offenen Darlegung unseres Standpunkts interessiert war — gleichviel, ob er dem sefnigen entsprach oder nicht, — als daran, den Anschein einer Übereinstimmung zu erwecken, wenn diese nicht vorhanden ist. Aber die wirkliche Bedeutung unserer Allianz ist ihm voHauf bewußt. Schließlich ist er der letzte führende Politiker aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, der eine verantwortungsvolle Position bekleidet. Sein Leben ist ein Beispiel ungewöhnlicher Hingabe, und er selbst ist eine außergewöhnliche Persönlichkeit, ein Symbol der neuen Kraft und der historischen Größe Frankreichs. Während unserer Gespräche sah er stets die Geschicke Frankreichs und der ganzen Welt in großer Perspektive. Ich fand in ihm einen weisen Ratgeber für die Zukunft und einen lehrreichen Interpreten der Geschichte, die er selbst zu gestalten half. Infolgedessen hatten wir eine wertvolle Begegnung.
Wie ich glaube, wurden gewisse Zweifel und Vorbehalte, die im Laufe der Zeit entstanden sein mochten, auf beiden Seiten eliminiert. Probleme, die sich nicht als Grundsatz-, sondern als Terminologie-oder Verfahrensfragen erwiesen, wurden aus.dem Wege geräumt. Keine noch so heikle Frage wurde umgangen! Kein Interessengebiet wurde außer acht gelassen, und die Schlußfokgerungen, zu denen wir gelangten, werden für die Zukunft bedeutsam sein — auf Grund unserer Übereinstimmumg, Berlin zu verteidigen, uns um die Verbesserung der Vertei-digung Europas zu bemühen, den Entwicklungsländern der Welt einschließlich Lateinamerikas im Interesse ihrer politischen Unabhängigkeit Hilfe ztr gewähren, den wirtschaftlichen Zusammenschluß Europas voranzutreiben, die Laos-Konferenz zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen sowie für engere Konsultation und Solidarität innerhalb der westlichen Bündnisgemeinschaft zu sorgen.
Präsident de Gaulle hätte nicht herzlicher sein können, und ich könnte zn niemand mehr Vertrauen haben. Neben seiner besonderen Charakterstärke zeigte das französische Volk ab Ganzes eine sehr eindrucksvolle und erfreuliche Vitalität und Energie. Seht Aufstieg aus der Nachkriegszeit ist dramatisch, seine Produktion wächst und seine Bedeutung sowie sein Ansehen in Europa und Afrika steigert sich ständig, so daß ich Paris mit vermehrtem Vertrauen in die Einheit und Stärke des Westens in Richtung Wien verließ.
Die Wiener wissen, was es heißt, unter einer Besatzung, und was es heißt, in Freiheit zu lebe». Die Begrüßung, die sie mir als Präsident unseres Landes zuteil werden ließen, sollte für uns alle beglückend sein. Ich ging nach Wien, um Herrn Chruschtschow, den Führer der Sowjetunion, zu treffen. Wir führten zwei Tage lang Besprechungen in einer sachlich-nüchternen, intensiven Form, und ich glaube, daß ich es dem amerikanischen Völk, dem Kongreß unrd unseren Verbündeten schuldig bin, über diese Besprechungen freimütig und öffentlich Bericht ztr erstatten.
Informeller Gedankenaustausch
Herr Chruschtschow und ich hatten einen sehr umfassenden und offenen Meinungsaustausch über ehe wichtigen Probleme, die unsere beiden Länder gegenwärtig trennen. Ich möchte Ihnen hier mitteilen, daß es zwei sehr sachliche und nüchterne Tage waten. Es gab keine Unhöflichkeiten, keine Temperannentsausbrüdhe oder Drohungen und Ultimaten — weder auf der einen noch auf der anderen Seite. — Auch wurde kein Vorteil oder Zugeständnis errungen oder gewährt; wichtige Entscheidungen waren weder geplant noch wurden sie getroffen, und es wurde auch kein ins Auge fallender Fortschritt erzielt oder vorgetäuscht.
Diese Art eines informellen Gedankenaustausches ist vielleicht nicht so erregend wie eine große Gipfelkonferenz mit einer festen Tagesordnung und einem ganzen Stab von Beratern, auf der man zu verhandeln sucht und neue Abkommen anstrebt. Dies sollte jedoch nicht die Absicht unseres Treffens sein und war es auch nicht, und wir machten auch keine Pläne für künftige Gipfelkonferenzen in Wien.
Aber ich fand dieses Treffen mit Ministerpräsident Chruschtschow, so ernst es auch war, äußerst nützlich. Ich hatte seine Reden und die Veröffentlichungen über seine Politik gelesen. Ich war über seine Ansichten unterrichtet worden. Mir war von anderen westlichen Staatsmännern wie General de Gaulle, Bundeskanzler Adenauer und Premierminister MacMillan gesagt worden, was für ein Mann er ist.
Aber ich trage die Verantwortung eines Präsidenten der Vereinigten Staaten, und es ist meine Pflicht, Entscheidungen zu fällen, die kein Berater und kein Verbündeter für midi treffen kann. Es ist meine Aufgabe und meine Pflicht, dafür Sorge zu tragen, daß diese Ent-scheidungen sich auf möglichst viele Informationen, ans möglidhst viel direkt und aus erster Hand gewomnenes Wissen stützet».
Idi erachtete es daher als äußerst wichtig, daß ich Herm Chruschtschow persönlich kennen lernte, daß ich einen möglichst großen Einblick in und ein möglichst großes Verständnis für seine gegenwärtige und seine künftige Politik gewinnen würde. Gleichzeitig wollte ich sicher stellen, daß Herr Chruschtschow die USA und ihre Politik versteht, daß er unsere Stärke und unsere Entschlossenheit kennt und daß er weiß, daß wir Frieden wollen mit allen Nationen jeder Art.
Völlig verschiedene Auffassungen von Recht und Unrecht
Idi wollte ihm unsere Ansiditen direkt, präzise und realistisch vortragen mit einer Möglichkeit zu Erörterungen und Klarstellungen. Dies ist geschehen. Von keiner Seite wurden in diesen persönlichen Gesprächen neue Ziele dargelegt, die nicht schon zuvor in der Öffentlichkeit verkündet worden waren. Die Kluft zwischen uns wurde in einer so kurzen Zeit nicht wesentlich verringert, aber zumindest wurden die Wege für eine Kontaktaufnahme weiter geöffnet, zumindest sollte jetzt die Möglichkeit gefährlicher Fehlkalkulationen auf jeder Seite geringer sein, und wenigstens haben nunmehr die Männer, von deren Entscheidungen der Friede zu einem Teil abhängt, vereinbart, in Kontakt zu bleiben.
Dies ist wichtig, denn keiner von uns hat versucht, dem anderen einfach zu gefallen, ihm einfach beizupflichten, um liebenswürdig zu sein, das zu sagen, was der andere zu hören wünschte; und genauso, wie sich unsere Justiz auf vom Gericht vorgeladene Zeugen und auf Kreuzverhöre stützt, statt auf Aussagen Dritter oder schriftlich abgegebene eidesstattliche Erklärungen, so war auch dieses direkte Geben und Nehmen von unschätzbarem Wert für die Klarstellung und Präzisierung des von uns für entscheidend wichtig Angesehenen — denn Tatsache ist, daß die Sowjets und wir den gleichen Worten — Krieg, Friede, Demokratie und Volkswille — völlig verschiedene Bedeutungen geben.
Wir haben völlig verschiedene Auffassungen von Recht und Unrecht, davon, was eine interne Angelegenheit und was eine Aggression ist; und vor allem haben wir völlig verschiedene Auffassungen davon, wo die Welt jetzt steht und wohin sie geht.
Nur durch eine solche Besprechung war es mir möglich, sicherzugehen, das Herr Chruschtschow weiß, wie unterschiedlich unsere Ansichten von der Gegenwart und Zukunft sind. Unsere Ansichten kontrastieren scharf, aber wir wußten am Ende wenigstens besser, wo wir jeweils standen. Wir waren beide nicht nach Wien gekommen, um eine Lösung zu diktieren oder den anderen zu einer Sache zu bekehren oder etwas von unseren grundsätzlichen Interessen aufzugeben. Wir beide waren, wie ich glaube, nach Wien gekommen, well wir uns bewußt waren, daß von unseren beiden Nationen jede die Macht hat, der anderen ungeheuren Schaden zuzufügen, daß ein derartiger Krieg aber vermieden werden kann und, wenn irgend möglich, vermieden werden sollte, da durch ihn kein Streit geschlichtet und keine Doktrin bewiesen werden kann, und daß man daher Sorge dafür tragen sollte, unsere im Konflikt miteinander liegenden Interessen nicht so unmittelbar Zusammentreffen zu lassen, daß ein Krieg die not" endige Folge sein muß. Wir glauben an ein System staatlicher Freiheit und Unabhängigkeit. Er glaubt an eine expandierende und dynamische Idee des Weltkommunismus, und die Frage stellte sich, ob überhaupt die Hoffnung besteht, daß diese beiden Systeme in Frieden miteinander leben können, ohne daß dadurch etwas an Sicherheit eingebüßt oder die Freiheit unserer Freunde irgendwie geschmählert wird. So schwierig es auch sein mag, diese Frage ange-sithis so mancher uns bevorstehender harter Proben positiv zu beantworten, so glaube ich doch, daß wir es der gesamten Menschheit schuldig sind, jeden nur erdenklichen Versuch zu unternehmen. Dies ist der Grund, warum ich die Wiener Gespräche für nützlich ansah. Der besendere Ernst, der über ihnen lag, ist weder ein Grund für eine gehobene Stimmung oder für eine Entspannung, noch Anlaß zu einem unangebrachten Pessimismus oder zur Furcht. Er zeigt nur, wieviel wir in der freien Welt noch zu tun haben und ein wie langer und harter Kampf uns Amerikanern in dieser Generation als den Hauptverteidigern der Sache der Freiheit auferlegt ist. Das eine Gebiet, das eine gewisse unmittelbare Aussicht auf eine Übereinkunft bot, war Laos. Beide Seiten traten für die Konzeption eines neutralen und unabhängigen Laos — ganz in der Art von Burma und Kambodscha — ein.
Chruschtschow: Niemand ist wirklich neutral!
Beide Seiten haben die Bedeutung eines wirkungsvollen Waffenstillstandes als von entscheidender Wichtigkeit für die gegenwärtige Laos-Konferenz in Genf anerkannt. Es ist dringend erforderlich, daß sich dies in einer neuen Einstellung in Genf niederschlägt, damit die internationale Kontrollkommission in die Lage versetzt wird, ihre Aufgabe zu erfüllen, — nämlich sicherzustellen, daß ein Waffenstillstand durchgesetzt und eingehalten wird. Ich hoffe, daß in den kommenden Tagen in Genf Fortschritte in dieser Richtung gemacht werden können. Denn dies würde wesentlich zu einer Verbesserung der internationalen Atmosphäre führen. Keine solche Hoffnung ergab sich jedoch in bezug auf die andere, ebenfalls auf einem toten Punkt angelangte Genfer Konferenz, die ein Abkommen über ein Verbot der AtomwaFfenversuche zu erreichen sucht. Herr Chruschtschow hat klargestellt, daß es keinen neutralen Administrator geben könnt, weil seiner Ansicht nach niemand wirklich neutral sei; daß es ein sowjetisches Veto für alle Beschlüsse geben müsse; daß Inspektion lediglich ein Vorwand für Spionage sei. solange es noch keine völlige Abrüstung gibt, und daß die gegenwärtigen Verhandlungen über ein Atomwaffenversudhsverbot nutzlos erschienen. Kurz gesagt, unsere Hoffnungen, daß die AtomWaffenversuche aufhören werden, daß keine weiteren Länder mehr Atomwaffen erhalten werden und daß der Rüstungswettlauf sich irgendwie verlangsamen wird, haben einen schweren Schlag erhalten. Es stehen hier für uns jedoch zu wichtige Dinge auf dem Spiel, als daß wir den von uns in Genf unterbreiteten Vertragsentwurf aufgeben könnten.
Rechte in Berlin werden auf jede Gefahr hin gewahrt
Aber unsere ernstesten Gespräche betrafen das Thema Deutschland und Berlin. Ich habe Herrn Chruschtschow klargemacht, daß die Sicherheit Westeuropas und damit unsere eigene Sicherheit tief mit unserer Anwesenheit in und unseren Zugangsrechten nach West-Berlin verflochten sind, daß diese Rechte auf gesetztem Recht und nicht auf einer stillschweigenden Duldung beruhen, und daß wir entschlossen sind, diese Rechte auf jede Gefahr hin zu wahren und damit unseren Verpflichtungen gegenüber der Bevölkerung West-Berlins nachzukommen und ihr Rechte, die eigene Zukunft zu bestimmen, zu gewährleisten.
Herr Chruschtschow legte seine Ansichten im einzelnen dar, und diese seine Darlegung wird noch Gegenstand weiterer Kontakte sein. Aber wir trachten nicht danach, die gegenwärtige Situation zu ändern. Ein bindender Friedensvertrag mit Deutschland ist eine Angelegenheit, die alle angeht, die mit Deutschand im Kriege standen, und wir und unsere Verbündeten können unsere Verpflichtungen gegenüber der Bevölkerung West-Berlins nicht aufgeben.
Im allgemeinen führte Herr Chruschtschow keine kriegerische Sprache. Er glaubt, daß die Welt seinen Weg einschlagen wird, ohne daß man zur Gewalt Zuflucht nehmen muß. Er sprach von den Erfolgen seines Landes im Weltraum. Er betonte seine Absicht, uns auf dem Gebiet der industriellen Produktion und des Handels zu überholen und der Welt die Über-legenheit seines Systems gegenüber dem unsrigen zu beweisen. Vor allem aber sagte er den Triumph des Kommunismus in den neuen und weniger entwickelten Ländern voraus.
Et war sicher, daß dort die Zeit für ihn arbeitet, daß die Revolution der aufstrebenden Völker etztlich eine kommunistische Revolution sein wird und daß die vom Kreml unterstützten sogenannten Befreiungskriege die alten Methoden einer direkten Aggression und Invasion ersetzen würden.
In den vierziger und Anfang der fünfziger Jahre bestand die große Gefahr darin, daß kom-munistische Armeen über die freien Grenzen marschieren würden, was wir in Korea erlebten. Unser Atommonopol trug dazu bei, zu verhindern, daß dies noch in anderen Gebieten geschah. Jetzt sehen wir uns einer neuen und andcrsgelagerten Gefahr gegenüber. Wir besitzen nicht länger mehr ein Atommonopol. Ihre Raketen, so glauben sie, werden unsere Raketen abhalten, und ihre Truppen könnten es mit unseren Truppen aufnehmen, sofern wir in diesen sogenannten Befreiungskriegen intervenieren sollten. Somit könnten die von ihnen unterstützten lokalen Konflikte — durch Guerilla-Kämpfer, Insurgenten oder Subversion — zu ihren Gunsten ausgehen.
Eine kleine Gruppe disziplinierter Kommunisten könnte die Unzufriedenheit und das Elend in einem Lande, in dem das durchschnittliche Einkommen vielleicht 60 oder 70 Dollar pro Jahr beträgt, ausnützen und so die Kontrolle über ein ganzes Land an sich reißen, ohne daß kommunistische Truppen jemals eine internationale Grenze überschreiten. Dies ist die kommunistische Theorie.
Aber ich glaube genau so fest, daß die Zeit diese Theorie als falsch erweisen wird, daß Freiheit und Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, nicht der Kommunismus, die Zukunft der Menschheit sind und daß die freien Menschen den Willen und die Hilfsquellen besitzen, um den Kampf um die Freiheit zu gewinnen.
Aber es ist klar, daß dieser Kampf in diesem Bereich der neuen und armen Länder für dieses Jahrzehnt eine ständige Krise bringen wird.
Herr Chruschtschow brachte einen Punkt vor, den ich hier mitteilen möchte. Er erklärte, daß überall in der Welt viele Dinge in Unordnung geraten seien und daß man nicht immer ihn dafür verantwortlich machen könne. Damit hat er völlig recht. Es ist einfach, jeden Aufstand gegen eine Regierung und jeden amerika-feindlichen Tumult, jeden Sturz eines korrupten Regimes und jeden Massenprotest gegen Not und Verzweiflung als von Kommunisten inspiriert abzutun. Sie sind keineswegs sämtlich von den Kommunisten inspiriert. Die Kommunisten mischen sich jedoch ein, um für sich Kapital aus ihnen zu schlagen, die Anführer in ihrem Sinne zu beeinflussen und auf der Woge der Ereignisse zum Sieg zu gelangen. Die Bedingungen aber, die solche Ereignisse auslösten, haben die Kommunisten nicht geschaffen.
Kurz, die Freiheitshoffnung ruht in diesen Gebieten, die so viel Armut und Analphabetentum, so viele kranke Kinder, eine so hohe Säuglingssterblichkeit, so viele Familien ohne Unterkunft und so viele Familien ohne Hoffnung aufweisen, auf der einheimischen Bevölkerung und ihren Regierungen.
Wenn sie den Willen aufbringen, ihre eigene Zukunft zu gestalten, wenn ihre Regierungen die Unterstützung ihres eigenen Volkes erlangen, wenn ihre ehrlichen und fortschrittlichen Hilfsmaßnahmen für die Bevölkerung Vertrauen und Tatkraft einzuflößen vermögen, dann kann keine Guerilla-Aktion und kein Aufruhr erfolgreich verlaufen. Wo diese Vorbedingungen aber nicht gegeben sind, bietet auch eine militärische Garantie gegen einen Angriff von außen über die Landesgrenzen hinweg nur einen geringen Schutz gegen den Zerfall im Inneren.
Auslandshilfe -eine entscheidende Verpflichtung
Doch all dies heißt nicht, daß unser Volk, der Westen und die freie Welt dabei untätig zusehen können. Im Gegenteil, wir haben hier eine einmalige Chance, diesen Ländern beim Aufbau ihrer Gesellschaftsformen solange beizustehen, bis diese so stark und fest in sich verankert sind, daß nur eine Invasion von außen sie stürzen könnte, und diese Gefahr kann — wie wir wissen — gestoppt werden.
Wir können ihre Streitkräfte so ausbilden und ausrüsten, daß sie kommunistisch gelenkte Aufstände selbst abzuwehren imstande sind. Wir können ihnen bei der Entwicklung ihrer Industrien und beim Aufbau ihrer Landwirtschaft helfen, die die Grundlage eines neuen Lebensstandards bilden. Und wir können sie ansprechen, ihre Verwaltungen, ihr Erziehungswesen, ihr Steuersystem und die Landverteilung zu reformieren, um dem Volk ein besseres Leben zu ermöglichen.
Wir besitzen die Fähigkeit und die Reserven, dies zu tun, sofern wir nur gewillt sind, sie anzuwenden und sie mit anderen zu teilen. Ich weiß, daß man in den Vereinigten Staaten vielfach der Ansicht ist, daß wir nun lange genug die Last der Wirtschaftshilfe getragen haben, aber die gegenwärtig von uns unterstützten Länder, die vom nördlichen Rand Europas über den Mittleren Osten bis hinunter nach Saigon reichen, sind in vielen Fällen jetzt das Ziel großer, auf die Machtergreifung von innen her gerichteter Bemühungen.
Wenn wir sie nicht dabei unterstützen, ihren Völkern bessere Lebensbedingungen zu ermöglichen, dann glaube ich, steht die Freiheit in diesen Gebieten auf recht unsicherem Boden. Wir müssen ihnen helfen, wenn wir entschlossen sind, unseren Worten, dem Vordringen des Kommunismus in ihren Ländern Einhalt zu gebieten, die Tat folgen zu lassen. Die Bürde ist schwer, und wir haben sie viele Jahre setragen. Aber ich glaube, daß der Kampf noch nicht vorüber ist. Diese Schlacht geht weiter, und wir müssen unseren Teil dazu beitragen, und darum hoffe ich, daß wir diesen Völkern helfen werden, frei zu bleiben.
Es traf sich gut, daß der Kongreß seine Ausschußberatungen über unsere neuen militärischen und wirtschaftlichen Auslandshilfeprogramme in Washington gerade zu dem Zeitpunkt aufnahm, als Herrn Chruschtschows Erklärungen in Wien besser als irgend etwas anderes die Notwendigkeit gerade für diese Programme deutlich veranschaulichten. Sie sollten gut organisiert und zweckmäßig verwaltet werden; aber ich meine, wir müssen sie durchführen, und ich hoffe deshalb, daß Sie, das amerikanische Volk, diese Programme erneut unterstützen werden, da diese Hilfe meiner Ansicht nach für die Sicherheit dieser Gebiete entscheidend ist.
Es hat keinen Sinn, lediglich gegen das Vordringen des Kommunismus Worte zu machen, wenn wir andererseits nicht gewillt sind, unsere Verantwortungen, so drückend sie sein mögen, voll und ganz zu tragen.
Ich trete indessen nicht allein aus antikommunistischen Gründen für diese Hilfe ein; wir sehen in ihr eine Chance und eine Verpflichtung, diesen Völkern zu helfen, ihre Freiheit zu bewahren. Und wir sind dabei nicht allein.
Ich stellte zum Beispiel fest, daß das französische Volk in Afrika für die Unterstützung der unabhängigen Nationen weitaus mehr tat als unsere Nation. Aber ich weiß auch, daß die Auslandshilfe als eine schwere Bürde empfunden wird, und ich kann nur sagen, daß wir gegenwärtig keine entscheidendere Verpflichtung haben. Mein Aufenhalt in England war kurz, aber der Besuch bot mir die Möglichkeit, wieder mit Premierminister MacMillan privat zu konferieren, wie es gestern auch andere Mitglieder unserer Wiener Delegation mit Präsident de Gaulle und Bundeskanzler Adenauer taten. Wir stimmten alle darin überein, daß im Westen Arbeit geleistet werden muß, und aus unseren Gesprächen ergaben sich Vereinbarungen, wie wir in dieser Arbeit fortfahren können. Unser Aufenthalt in London, der in der Zusammenkunft mit Königin Elisabeth und Prinz Phillip seine Höhepunkt hatte, war eine eindrucksvolle Mahnung am Ende einer langen Reise, daß der Westen in seiner Entschlossenheit, an seinen Grundsätzen festzuhalten, einig bleibt.
Ich möchte schließen, indem ich einfach sage, daß ich froh bin, wieder zu Hause zu sein. Wir haben zwar auf dieser Reise herrliche Plätze bewundert und viel Schönes gesehen, aber wir sind froh, wieder zu Hause zu sein. Keine Bekundung der Unterstützung unserer Politik durch das Ausland bedeutet jedoch so viel wie die Unterstützung, die Sie, das amerikanische Volk, unserem Land so reichlich gegeben haben. Dieser Unterstützung sicher, sehe ich der Zukunft furchtlos entgegen. Wir müssen geduldig sein. Wir müssen mutig sein. Wir müssen sowohl Risiken als auch Bürden auf uns nehmen, aber mit Willen und Arbeit wird die Freiheit erhalten bleiben.