Gefährliche Kremlastrologie
Es mag nützlich sein, an dem achten Jahrestag von Stalins Tod sich einige der irrtümlichen Auffassungen und Täuschungen bewußt zu werden, die die westliche Welt bei der Interpretation der wandelnden Szene unter den Nachfolgern Stalins vielfach irregeführt haben. Eine noch so kurze und unvollständige Bestandsaufnahme der Entwicklung der Sowjetunion mag dem amerikanischen Menschen behilflich sein, nun etwas besser die internationale Situation zu begreifen, mit der die gegenwärtige Regierung ihre früheren wie neuen Hoffnungen und Ziele zu überprüfen haben wird.
Ein ständiges Thema der westlichen Analyse der sowjetrussischen Situation beruhte bisher wesentlich auf der Konzeption der ermüdenden, vielleicht sogar tödlichen Kämpfe, die sich innerhalb des diktatorischen Sowjet-Apparates um die entscheidende Herrschaftsstellung abspielen. Eine weit verbreitete Auffassung lautet nun ungefähr folgendermaßen: Ein jedes totalitäre System ist seiner Struktur nach nicht in der Lage, einen legitimen Charakter zu tragen. Dieses System vermag einen geordneten Über-gang der absoluten Machtstellung vom jeweiligen Herrscher auf den Nachfolger nicht zu sichern. Ein Kampf auf Leben und Tod um die entscheidende Kontrolle ist in einem solchen System unvermeidlich. Von einer derartigen Voraussetzung ausgehend, erscheint es unvermeidlich, daß die oberste Führungsschicht der Sowjetunion durch fortgesetzte und verzweifelte Kämpfe rivalisierender Führerpersönlichkeiten und einzelner Cliquien in sich gespalten ist. Es wird daher angenommen, daß Chruschtschow sich fortgesetzt im Zustand des Kampfes mit verschiedenen Rivalen in dem eigenen staatlichen Lenkungsapparat befindet und daß es deshalb die Aufgabe der „Kreml-— inologie" sei, diese Rivalen Chruschtschows im einzelnen näher festzustellen und die verborgenen Anzeichen kommender personaler Veränderungen sowie ideologischer Wandlungen zu erkennen. Eine extreme Interpretation der angeblichen LInbeständigkeit in der Führung der Sowjetunion war im Mai und im Juni des vorigen Jahres in Umlauf. Es wurde angenommen, daß das vehemente Benehmen Chruschtschows auf der zusammengebrochenen Pariser Gipfelkonferenz im Mai des vorigen Jahres auf nicht sichtbare Kräfte in der obersten Spitze der Sowjet-hierarchie zurüdezuführen sei. Es wurde vermutet, daß es sich hierbei um militärische Führer und stalinistische Ideologen gehandelt habe. Weiter wurde angenommen, daß Chruschtschow ursprünglich durchaus bereit war, die durch den amerikanischen Luftzwischenfall (U/II) empfun- Beleidigung zu übersehen, trotz der damals damit verbundenen drastischen Verletzung der russischen Leidenschaft für Geheimhaltung. Chruschtschow habe ursprünglich durchaus die Absicht gehabt, die Pariser Gipfelkonferenz fortzusetzen und ebenso den Besuch des Präsidenten Eisenhower in der Sowjetunion nicht abzusagen. Er sei aber durch eine Koalition von Rivalen innerhalb des Partei-Apparates zu der von ihm dann eingenommenen schroffen Haltung gezwungen worden. Gemäß dieser Interpretation der damaligen Lage war Chruschtschow veranlaßt worden, auf der Pariser Pressekonferenz eine in Moskau hergestellte Presse-Erklärung vorzulesen, wobei der Verteidigungsminister Marschall Malenowski, neben ihm sitzend, streng darüber wachte, daß Chruschtschow bei der Verlesung nicht von dem vorgeschriebenen Text abwich.
Kampf um die Nachfolgeschaft nach Stalins Tod
Es besteht nun allerdings kein Zweifel, daß ein echter Kampf um die Nachfolgeschaft gleich nach dem Tode Stalins einsetzte. Die Verhaftung und Hinrichtung Berias war ein bedeutender Schritt in der Entmachtung der bisherigen Allgewalt der geheimen Polizei, die viele Jahre lang — mindestens seit 1934 — von Stalin als ein persönliches Instrument der Terrorausübung gegen die eigene Partei benutzt worden war. Die politische Partei hatte nun ohne Zweifel ihrerseits die ihr zugefallenen Machtbefugnisse weithin dazu benutzt, um Stalin in ihrer Weise zu beherrschen, indem sie seine Furcht vor Feinden und seine vielen persönlichen Feindschaften für sich auszunutzen verstand. Die Ausbootung von Malenkow zunächst im Januar 1955 und dann die endgültige Entlassung von Molotow, Kaganowitsch und Malenkow im Juli 1957 diendene ten dazu, die Kontrolle des Partei-Apparates nun fest in die Hände von Chruschtschow zu legen. Die Versuche des Marschalls Schukow, sein eigenes politisches Prestige innerhalb des sowjetrussischen Führungsapparates auszubauen und zu stärken und die Kontrolle über die Armee allein in der Hand zu behalten, führten im Oktober 1957 zu seinem schnellen Sturz. Die entscheidende Periode, in der Chruschtschow sich die volle Beherrschung des Partei-Apparates sicherte, spielte sich ungefähr in der Zeit zwischen der Mitte von 1954 und dem Ende von 1957 ab. Diese Etappe im Prozeß der völligen Machtergreifung ist gekennzeichnet durch die berühmt gewordene Anklagerede Chruschtschows gegen die Willkürherrschaft Stalins auf dem 20. Parteikongreß im Februar des Jahres 1956.
Neuer „Stil" der Machtausübung
Im wesentlichen ähnelt die Struktur des von Chruschtschow ausgeübten Herrschaftsregimes den Methoden, die Stalin anwandte; aber der „Stil" der chruschtschowschen Machtausübung unterscheidet sich sehr von der stalinischen. Chruschtschow macht ähnlich wie Stalin bei der Ernennung und Beseitigung der Mitglieder des Parteipräsidiums wie des zentralen Parteisekretariats vollen Gebrauch von seiner Macht. Es ist offensichtlich, daß spätestens seit dem Ende des Jahres 1957 Chruschtschow in den Kreis seiner engen Mitarbeiter nur Männer seiner persönlichen Auswahl berufen hat und hierbei keineswegs Einflüsse von Gruppen oder Cliquen außerhalb seines Kontrollbereichs mitwirken.
Chruschtschow hat ferner den maßgebenden Einfluß und die Kontrolle der Partei über den militärischen Apparat und die Geheimpolizei wesentlich verstärkt. Darüber hinhaus hat er die maßgebenden Positionen in den verschiedenen Sowjetrepubliken und den Verwaltungsbezirken mit seinen Vertrauensmännern besetzt und damit sich die Kontrolle über den gesamten Partei-Apparat gesichert. Durch die regionalen Organisationen der Partei konnte Chruschtschow weiterhin die Zusammensetzung des kommunistischen Parteikongresses bestimmen. Es ist das in der personellen Zusammensetzung von ihm bestimmte Parteipräsidium, das die Mitglieder des Zentral-komitees der Partei auswählt. Ob nun Chruschtschow zu der von Stalin geübten alleinigen Verwendung der Geheimpolizei zurückgekehrt ist, oder ob er die Kontrolle über diesen entscheidenden Machtapparat mit den Mitgliedern des Präsidiums teilt, bleibt zunächst in Dunkel gehüllt. In jedem Fall bietet gegenwärtig weder das Präsidium noch die Geheimpolizei auch nur den geringsten Anhaltspunkt für etwaige Rivalen um die Führerschaft.
Da nur die Struktur der Kontrolle im wesentlichen in der Sowjetunion unverändert die gleiche wie in der Vergangenheit geblieben ist, stellt sich die Frage, in welcher Weise nun und aus welchen Gründen Chruschtschow den „Stil" des Regimes und die Atmosphäre der Sowjet-herrschaft geändert hat. Zweifellos läßt Chruschtschow eine freiere Meinungsäußerung innerhalb seiner Umgebung zu. Es finden offene Diskussionen über die aktuellen Fragen der Regierungstätigkeit statt, noch bevor Chruschtschow die endgültige Entscheidung getroffen hat. Dies war der Fall, als in der diesjährigen Januarsitzung des Zentralkomitees ausführlich über die Reform der Landwirtschaft diskutiert wurde. In dieser Hinsicht ist Chruschtschow, wie er dies für sich in Anspruch nimmt, zu einem eher leninistischen Arbeitsstil zurückgekehrt. Wichtige Entscheidungen wie z. B. die Herabsetzung der Heeresstärke, die Erhöhung der Kapitalinvestierungen für die Landwirtschaft, die Verschärfung der Bestimmung über die Zulassung zur höheren akademischen Ausbildung, alle diese Fragen sind vielfach und eingehend in der Öffentlichkeit erörtert worden, obwohl nach wie vor die letzten und grundlegenden Entschei-düngen allein von dem Parteisekretariat, dem Ministerrat und dem Präsidium der KPdSU getroffen werden, die nun ihrerseits Chruschtschow verantwortlich sind und in ihrer personellen Zusammensetzung von Chruschtschow bestimmt werden. Bedeutet nun eine derartige Entwicklung etwa eine Ausweitung der Toleranz-Marge oder eine Ermutigung zu weitgehenden, offenen Erörterungen der Ziele, Programme und Methoden der Sowjetunion, wie dies von der Seite einiger „Analytiker" behauptet wird? Hat nun wirklich Chruschtschow zugelassen, daß ihm die Zügel der Macht aus der Hand genommen werden? Werden etwa die Entscheidungen im Parteipräsidium nach der Stimmenzahl getroffen? Ist es heute möglich, daß Chruschtschow von seinen Kollegen, die er selber auf ihren Posten gesetzt hat, etwa überstimmt wird? Ist es ferner denkbar, daß heute Mitglieder des Präsidiums die Möglichkeit haben, innerhalb des Präsidiums Gruppen für und gegen Chruschtschow zu bilden und über die Abstimmung vorhergehende Abreden zu treffen?
Angesichts des Mangels verläßlicher Informationen über die inneren Vorgänge, die sich in dieser Sphäre äußerster Geheimhaltung abspielen, haben naturgemäß fragwürdige Vermutungen aller Art freien Raum. So wurde zeitweise Suslow, der Wächter über die ideologische Reinheit der Lehre, als der Führer einer gegen Chruschtschow gerichteten stalinistischen Intrige angesehen. Dann tauchen wieder andere Namen auf. So wurde Marschall Malenowski als ein potentieller Rivale Chruschtschows genannt, obwohl der Marschall nicht einmal Mitglied des Präsidiums der Partei ist.
Wie jeder absolute Herrscher, braucht auch Chruschtschow offene Diskussionen über vorliegende Programme, um seine Ziele zu erreichen. Jedoch als Haupt der kommunistischen Partei sind ihm die Mittel wohlbekannt, um etwa auftretende Gruppierungen innerhalb des Partei-Apparates ebenso nachdrücklich zu unterdrücken, wie dies Lenin und Stalin taten. In ganz anderer Weise als Stalin in den letzten Jahren seiner Herrschaft regierte, hat Chruschtschow sich veranlaßt gesehen, nur die allgemeinen großen Richtlinien seiner Ziele und Programme festzulegen, die Einzelheiten jedoch seinen wichtigsten Untergebenen zu überlassen, wobei er sich stets vorbehält, die effektive Durchführung dann persönlich zu überprüfen. Es bedeutet aber eine erhebliche Unterschätzung seiner Willenskraft und seiner Erfahrung sowie seiner tatsächlichen Machtausübung, wenn angenommen wird, daß diese aus Zweckmäßigkeitsgründen erfolgte Arbeitsteilung und die Delegierung einzelner operativer Verantwortlichkeiten an einzelne Instanzen in irgendeiner Weise nun zu bedeuten hat, daß Chruschtschow sorglos geworden ist, daß die Zügel der Herrschaft ihm entgleiten und daß er nur eine manipulierte Puppenfigur von streitenden, rivalisierenden Gruppen geworden sei. Eine derartige Auffassung würde eine Unterschätzung der Geschicklichkeit und der Entschlossenheit bedeuten, die Chruschtschow immer wieder bei der Verfolgung der Ziele der Sowjetunion gezeigt hat.
Gelenkte Gerüchte über innere politische Verwundbarkeit
Es waren Emissäre der Sowjetunion, die in angeblich vertraulichen Gesprächen die Gerüchte verbreiteten, daß Chruschtschows Machtstellung keineswegs mehr absolut oder gesichert sei. Derartige Gerüchte wurden meist mit folgenden Formulierungen in Umlauf gesetzt: „Unser Ministerpräsident muß zu Hause bei uns mit einer harten Opposition bei seinen Bemühungen zu einer Entspannung mit Amerika (oder England oder Frankreich oder gemäß der jeweiligen Gesprächspartner) rechnen" — „unser Ministerpräsident braucht nun einen konkreten Nachweis, daß er in seiner politischen Führung der Dinge recht habe und die Stalinisten unrecht".
Von derartigen propagandistischen Formulierungen aus ist es naturgemäß nur ein Schritt zu der Annahme, daß die westliche Welt heute in aller Ruhe einiger ihrer Positionen und Programme wie Westberlin, die Pläne zur Stärkung der NATO, Formosa — aufgeben könne, um auf diese Weise das Weiterleben des „kooperativen" Herrn Chruschtschow zu sichern und von vornherein die Machtergreifung durch einen noch nicht nennbaren, möglichen militärischen Rivalen Chruschtschows zu verhindern.
In der Vergangenheit waren die Sprecher der Sowjetunion die letzten, die es wagten, zu so gefährlichen Fragen wie dem Kampf um die Macht innerhalb der Kreml-Hierarchie Stellung zu nehmen. Diese Männer suchten mit allen Mitteln, Einzelgespräche mit etwaigen Zeugen zu vermeiden, verneinten heftig alle Anzeichen etwaiger Meinungsverschiedenheiten im eigenen Flause und zeigten in ihrem Verhalten und in ihren Äußerungen die allergrößte Vorsicht. Die kürzlich in Umlauf gesetzte Flüsterkampagne ist offenbar dazu bestimmt, den Weg für einseitige Zugeständnisse des Westens an die Sowjetunion freizumachen, statt etwa den Schleier über die Geheimhaltung der Sowjets auch nur im geringsten zu lüften. Diese äußerst bewegliche, neue Taktik der Sowjetunion muß als Zeichen der Stabilität und Selbstsicherheit gewertet werden. Nur ein sich stark fühlender, von Vertrauen erfüllter Sowjetführer kann es sich erlauben, derartige selbst in die Welt gesetzte Gerüchte über seine innere politische Verwundbarkeit in eigenen Nutzen zu verwandeln.
Justiz unter der Kontrolle der Regierung
Der von Chruschtschow eingeführte neue „Stil“ der Regierung zeigt nun einige wohltätige Züge insofern, als der politische Terror als Erscheinung des täglichen Lebens angeblich nachgelassen hat. Große Popularität hat Chruschtschow innerhalb des Partei-Apparates und darüber hinaus in der ganzen Bevölkerung der Sowjetunion durch sein Verständnis für das Bedürfnis nach individueller Sicherheit und nach unparteiischer Gerechtigkeit gewonnen. Von hier aus ist es jedoch ein weiter Gedanken-sprung, anzunehmen, wie dies manche Kommentatoren des Westens ohne jedes Zögern tun, daß das System der politischen Machtausübung und der repressiven Maßnahmen geschwunden sei. Nach dieser allzu optimistischen Betrachtungsweise stehen einer ständigen Entwicklung des Sowjetsystems in der Richtung auf den Status der vollen Freiheit der Person, der Meinungsäußerung und schließlich sogar der aktiven politischen Freiheit keine Hindernisse mehr im Wege. Entspricht nun dieses idyllische Bild tatsächlich der heutigen Wirklichkeit?
Die Lage ist heute nun die, daß die IndustrieManager, die Leiter der Kolchosen, die Künstler, Schriftsteller und die Parteifunktionäre ein plötzliches Verschwinden entweder in der Gestalt eines Aufenthaltes im Gefängnis oder der Hinrichtung oder der Exilierung in ein Arbeitslager oder eines zwangsweise zugewiesenen Aufenthaltsorts nicht mehr fürchten. In einem erheblichen Ausmaße ist die Atmosphäre des Terrors geschwunden. Bedeutsame Verbesserungen sind in der Verwaltung der Justiz durchgeführt worden. Durch die Justizreform der letzten zwei Jahre wurde eine bedeutsame Trennung der Funktionen der Untersuchung der gerichtlichen Verfolgung und des Gerichtsverfahrens vorgenommen. Früher lagen die Voruntersuchung, die Verhaftung, das gerichtliche Verfahren und die Verurteilung allein in den Händen der Geheimpolizei. Heute kann dagegen der gewöhnliche Staatsbürger in der Sowjetunion erwarten, daß das von der Polizei entweder auf geheimen oder auf dem formalen Wege angesammelte Anklagematerial von einem Staatsanwalt geprüft wird und dieser nun entscheidet, ob ein Verfahren eingeleitet wird oder nicht. Das Verfahren wird dann normalerweise vor einem Gerichtshof durchgeführt, der in administrativer Hinsicht getrennt von der Polizei und Staatsanwaltschaft besteht. Allerdings befinden sich selbstverständlich alle diese drei Arme der Justiz unter der Kontrolle der Regierung, somit unter der direkten Leitung des Partei-Apparats. Alle diese drei Funktionäre der Justiz unterliegen der letzten Bestimmung durch die oberste Parteiinstanz und sind der ständigen Forderung der Partei auf „Wachsamkeit" verantwortlich, gleichgültig, ob es sich um Spekulanten in Datschn und Autos, um Verbreiter „westlicher Propaganda oder um Raufbolde oder Betrüger handelt. Der Theorie nach hat der Angeklagte das Recht, die Dienste eines Ratgebers für sich in
Anspruch zu nehmen. Ob tatsächlich in der Praxis solche Ratgeber zur Verfügung stehen und bereit sind, ist eine andere Frage. Rechtsanwälte, die die Verteidigung übernommen haben, sind öfter von der Partei bestraft worden, weil sie in der Verteidigung ihres Klienten einen als überflüssig angesehenen Eifer zeigten. Außerhalb der zivilen Gerichtshöfe bestehen nun auch weiterhin die Militärtribunale, die die Macht haben, einzelne Fälle unter völligem Ausschluß der Öffentlichkeit in größter Geheimhaltung zu behandeln. Gerichtsurteile werden nur selten veröffentlicht, außer in Fällen, wo damit eine öffentliche Verwarnung etwaiger potentieller Missetäter verbunden ist. Trotz aller dieser Mängel, die in einem echten Rechtssystem untragbar sind, bedeutet zweifellos die neue Reform des Justizwesens eine er-hebliche Verbesserung gegenüber der Lage zur Zeit der Tage Stalins. Dies gilt besonders für nichtpolitische Missetaten.
In der Vergangenheit hat eine Anzahl von Autokratien, bei denen keine Spur einer dogmatischen Ideologie festzustellen war, versucht, für ihre Untertanen ein Gerechtigkeit garantierendes permanentes System zu schaffen, und zwar in die Einsicht, daß die Ungerechtigkeit eine Quelle ernsthaften Schadens für den Staat selbst bedeute. Jede zu Unrecht verurteilte Person bedeutet einen unmittelbaren Verlust von Vertrauen in den Staat. Die Furcht vor unvorhersehbarer Strafe bringt im Gefolge zahlreiche andere Schäden mit sich wie die Furcht, Verantwortung auf sich zu nehmen, Enttäuschung, Apathie und schließlich Korrumpierung des Regierungsapparats.
Geheimpolizei weiterhin aktiv
Die neue Sowjetführungsschicht hat nun keineswegs, wie vielfach außerhalb der Sowjet-grenzen vorzeitig angenommen wurde, das „strafende Schwert“ niedergelegt. Die Geheimpolizei ist in der Sowjetunion weiterhin aktiv am Werk. Sie wacht nach wie vor über allem und nimmt von allem Kenntnis. Jeder gewöhnliche Sowjet-bürger, insbesondere die, die das Alter von 35 überschritten haben, erinnern sich noch an frühere Perioden, als zwar der Druck der Polizeiherrschaft, nicht aber die Wachsamkeit der Polizei gelockert wurde, und dieser Bürger weiß, daß auch heute noch anscheinend unschuldige Bemerkungen und unterschobene Motive zu einem späteren Zeitpunkt gegen ihn vorgebracht werden können — zu einem Zeitpunkt, wenn das Pendel der Entwicklung wieder erneut in die Richtung auf verschärfte „Wachsamkeit“ zu schwingen beginnt.
In den letzten zwei Jahren ist in der Sowjetunion eine neue Waffe gegen diejenigen Elemente geschaffen worden, die man als „antisozial“ betrachtet. Auf Beschluß der Wohnungs-inhaber eines Wohnblocks, naturgemäß unter Führung und auf Veranlassung der dortigen Parteimitglieder, kann nun ein als „unproduktiv“ erklärtes Mitglied der Gesellschaft aus seiner Wohnung ausgewiesen werden und den Befehl erhalten, sich erst an einem mindestens 100 km entfernt liegenden Ort niederzulassen. In den letzten Monaten ist in einigen Zeitungsartikeln und in Briefen immer wieder verlangt worden, daß diese Form der „Wachsamkeit“ häufiger angewandt werde. Offensichtlich ist dieser Typus des „Exils durch populäres Dagegen“ dazu bestimmt, die besonderen Bestimmungen des Gesetzes zu ergänzen, indem die Drohung der Verbannung über sozial unerwünschte Elemente wachgehalten wird. Die Darstellung, daß die Sowjetführung sich nun entschlossen hat oder getrieben wurde (durch welche Kräfte?) die Polizeikontrolle aufzugeben und den Weg für jede Art von Initiative von unter herauf freizumachen, ist zwar ein äußerst ansprechendes Bild, das jedoch kaum der heutigen Sowjetwirklichkeit entspricht.
Stolz auf wirtschaftliche Errungenschaften
Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß der ständige, wenn auch bisher keineswegs sensationelle Anstieg in der Lebenshaltung der Bevölkerung der Sowjetunion, eher früher als später, zu einer Unterminierung des diktatorischen Charakters des Sowjetregimes führen werde. Es wird hierbei angenommen, daß Menschen, die besser ernährt und besser gekleidet sind, besser wohnen und überhaupt prosperieren, größere geistige Anforderungen an das Regime stellen werden. Solche Menschen würden, so wird vermutet, das Recht der eigenen Meinungsbildung für sich in Anspruch nehmen und möglicherweise sogar die Rechtmäßigkeit einer eigenen Meinungsäußerung gegenüber den staatlichen Behörden in dem Sinn, was diese nun zu tun und etwa nicht zu tun hätten, verlangen.
Zweifellos ist der Anstieg der Lebenshaltung der Bevölkerung der Sowjetunion seit 1953 eine bedeutsame und in hohem Maße begrüßenswerte Entwicklung. Seit dem Tode Stalins hat eine durchaus erhebliche Besserung in der Nahrungsversorgung stattgefunden. Die vielen Stunden, die die Bevölkerung mit dem Schlangestehen vor den Geschäften verwenden mußte, sind gekürzt worden. Die sowjetrussische Hausfrau weiß heute, daß sie in den Geschäften das finden kann, was sie zur Ernährung ihrer Familie benötigt. Die Kosten der Nahrungsmittel sind allerdings im Vergleich zu dem Durchschnittseinkommen der Bevölkerung noch immer hoch, und die Qualität und die Vielfalt der angebotenen Lebensmittel sind im Vergleich zu den Maßstäben des Westens und den Wünschen der Sowjetbevölkerung eher als armselig zu bezeichnen. In den Großstädten steht Bekleidung in verhältnismäßiger Menge zur Verfügung. Die Preise, die zwar noch immer hoch sind, wurden ungefähr auf die Hälfte herabgesetzt, die Qualität wurde verbessert, hauptsächlich durch die Einfuhr höher qualifizierter Waren aus China, Ostdeutschland und der Tschechoslowakei. In Moskau kann heute der Käufer freie Auswahl nach Qualität und Stil treffen, anstatt wie früher gezwungen zu sein, das anzunehmen, was ihm angeboten wurde. Preisherabsetzungen und Ausverkäufe, die früher als inferiore Erscheinungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems verschrieen waren, sind heute auf Einzelfaktoren, wie Fernsehund Radio-Apparate und Schuhe eingeführt worden.
Der Wohnungsbau, lange Zeit hindurch das größte Sorgenkind des sowjetrussischen Volkes, wird in beeindruckendem Ausmaße vorangetrieben, vor allen Dingen in den 150 wichtigsten Industriezentren. Nach dem 1957 aufgestellten Programm werden Millionen von Staatsbürgern von ihren alten, verfallenen Behausungen nach dem „Ein-Raum-pro-Familie-Standard" in neue, saubere, wenn auch keineswegs elegante Wohnungen von zwei, drei oder sogar vier Räumen überführt. Nichts kann mit dem befriedigenden Stolz und der Freude verglichen werden, die die Sowjetmenschen hierbei erfüllt.
Die Bevölkerung der Sowjetunion nützt das Anwachsen der Kaufkraft des Geldes nun in vollem Maße aus. Die Bauern erhalten dadurch einen größeren Geldbetrag und sind in die Lage versetzt, andere, bisher nicht gewohnte Dinge zu kaufen. Die Reform von 1956 hat den Alters-pensionären, die bisher zu einem armseligen Lebensabend verurteilt waren, jetzt nun doch eine erträgliche Einkommensbasis geschaffen, die noch durch gewisse Renten und freie ärztliche Behandlung unterstützt wird. Parallel damit wurde der Mindestlohn auf 300 Rubel (30 neue Rubel) von 1951 erhöht und damit die Kaufkraft von fast einem Drittel der arbeitenden Stadtbevölkerung verstärkt. Auf der anderen Seite aber werden erfolgreiche Kolchosen unter Drude gesetzt, ihre Erträgnisse mit schwächeren Nachbarkolchosen zu teilen. Auf dem Agrargebiet sind seit 1955 nur wenige größere Preissenkungen vorgenommen worden. Immerhin steigt das Durchschnittseinkommen der Sowjet-bürger in erheblichem Maße und wird auch weiter ansteigen, insofern, als die persönliche Einkommenssteuer graduell beseitigt wird, jedoch nicht die weit schwerer zu tragenden Verkaufs-steuern. Immerhin wird die Sowjetbevölkerung, die so lange und so schwer unter den Zerstörungen des Krieges und der Nachkriegsfolgezeit zu leiden hatte, jetzt in die Lage versetzt, einen größeren Anteil an den Ergebnissen der eigenen Arbeit und der erzwungenen Ersparnisse für Zwecke der Investierungen zu erhalten.
Auswirkungen des höheren Lebensstandards auf Innen-und Außenpolitik
Für die Welt außerhalb der Sowjetunion besteht nun aber nach wie vor die eine große Frage: Wird die verbesserte Lebenshaltung dazu führen, daß der Kreml die bisherige allgemeine Linie seiner inneren und äußeren Politik wandelt? Wird die verbesserte Lebenshaltung dazu führen, daß das Sowjetregime seine internationalen Ambitionen, die in der Deklaration der 81 kommunistischen Parteien auf der War-schauer Dezemberkonferenz 1960 und von Chruschtschow in seiner programmatischen Rede vom 6. 1. 1961 verkündet wurden, wandelt?
Seit 1953 hat der Kreml einen größeren, wenn auch immer noch bescheidenen Anteil an den allgemeinen Einkünften für die Bedürfnisse der Bevölkerung zur Verfügung gestellt. Die sowjetrussischen Einnahmequellen werden von vielerlei Seiten in oft widerstreitenden Anforderungen in Anspruch genommen. Auf seiner Reise durch die Vereinigten Staaten im Jahre 1959 versprach Chruschtschow ein bedeutsames Ansteigen der für die Herstellung von Verkaufsgütern benötigten Kapitalien. Er kündigte für den Januar 1961 weitere erhebliche Kapitalbeträge an. Jedoch können die hierfür benötigten Kapitalbeträge nur dann gefunden werden, wenn auf anderen Sektoren der staatlichen Planung, wie z. B. auf dem Sektor der Schwerindustrie, des Militärbudgets und auf dem Sektor des immer noch bescheidenen Programms der auswärtigen Wirtschaftshilfe bestimmte Einschränkungen vorgenommen werden. Es darf hierbei nicht vergessen werden, daß der Prozeß der Entwicklung der „leichten Industrie" sich durchaus langsamer vollzieht als das Anwachsen der Schwerindustrie.
Im Jahre 1960 entschloß sich eine Zeitung der Sowjetunion zu einem höchst ungewöhnlichen Schritt. Das Blatt druckte einen „Brief an den Herausgeber“ ab, in dem die Frage gestellt wurde, ob es nicht besser wäre, weniger für den Bau von Sputniks und mehr für den Wohnungsbau auszugeben. Natürlich wurde der ungenannte Verfasser des Briefes sofort von der offiziellen Propagandamaschinerie angeklagt, wobei bestritten wurde, daß hier überhaupt eine Konfliktslage vorliege. Die Sowjetbürger, die jetzt endlich die ersten Anzeichen für die seit langem versprochene bessere Lebenshaltung erleben, erwarten naturgemäß sehnsüchtig den Tag, an dem nach den Versprechungen von Chruschtschow die sowjetrussische Lebenshaltung die des amerikanischen Volkes übertroffen haben wird. Selbstverständlich würden die heute lebenden Russen mit großer Freude erfüllt sein, wenn ihre Lebenshaltung die Westdeutschlands oder der Tschechoslowakei erreicht hätte. Die Schlagworte von „Prosperität“ und „Friede“ üben in der Sowjetgesellschaft eine mächtige Wirkung aus, ebenso wie auch anderswo. Aber die Wirkung dieser Schlagworte ist naturgemäß in der Sowjetunion doch eine ganz andere als in Ländern, in denen freie, repräsentative Institutionen ihre Geltung haben.
Ein sichtbares Ergebnis der in der letzten Zeit eingetretenen Besserungen der Lebenshaltung ist offensichtlich die Popularität von Chruschtschow, die einen von Stalin niemals erlebten Höhepunkt erreicht hat. Sein Eifer, r . unter das Volk zu mischen, seine Bereitscial, immer wieder seine politischen Pläne und Ziele zu erläutern, seine volkstümlichen Manieren, all das bringt ihm weithin Popularität im Volke ein. Eine weitere Folge der Verbesserung der allgemeinen Lebensbedürfnisse ist ferner in der wachsenden Glaubwürdigkeit zu sehen, die die Sowjetpropaganda unter dem Volk im allgemeinen findet. In früheren Zeiten, als Stalin erklärte, die Sowjetunion habe die höchste Lebenshaltung in der ganzen Welt erreicht, reagierten seine Untertanen instinktiv nur mit Furcht vor neuen Opfern und neuen Unterdrük-kungen. Abgesehen von einigen Berufsgruppen und den industriellen Managern, die unter Stalin einen höheren Lebensstandard erreichten, sah die Masse des Volkes keine Anzeichen für eine Bestätigung seiner kühnen Behauptungen. Die Skepsis, die das Volk der heimatlichen Propaganda entgegenbrachte, übertrug sich damals auch auf die Sphäre der internationalen Politik.
Im allgemeinen sind, so erklären jedenfalls die „Analytiker“ der öffentlichen Meinung, die Menschen über diejenigen Ereignisse, an denen sie unmittelbar Anteil nehmen und die sie unmittelbar beobachten können, am besten unterrichtet. Dagegen finden es die Menschen schwierig, sich ein unabhängiges Urteil über die generellen Angelegenheiten des eigenen Volkes zu verschaffen. Außer denjenigen Ländern, in denen die Menschen Zugang zu dem fortgesetzten Stromvon verläßlichem Informationsmaterial haben, finden es die Menschen schwierig, sich ein verläßliches Urteil über Ereignisse und Probleme der äußeren Welt zu bilden. Das wachsende Vertrauen, mit dem heute die Sowjetmenschen die Worte ihres Ministerpräsidenten in allen inneren Angelegenheiten akzeptieren, überträgt sich auch auf den Glauben, mit dem sie sein Bild der Weltereignisse anzunehmen bereit sind. Anstatt nun den Wunsch nach freiem Zugang zu den Informationsquellen und freier Meinungsäußerung zu stärken, hat die steigende Lebenshaltung offenbar zur Folge, daß das allgemeine Vertrauen in die Propaganda der Partei gestiegen ist. Das Ansteigen der allgemeinen Lebenshaltung hat schließlich Chruschtschows Verfügung, die Energien und die Treue seines Volkes zu mobilisieren, weiter über sein außen-politisches wie innenpolitisches Programm hinaus gestärkt.
Das Verhältnis neuer Bildungsschichten zum Regime
Heute stellt sich die Frage, ob die ideologische Herrschaft der Partei durch die bemerkenswerte Ausdehnung der mittleren und höheren Bildung auf breitere Schichten des sowjetrussischen Volkes unterhöhlt wird, wenn tatsächlich das langsame, wenn auch ständige Anwachsen des materiellen Wohlstandes dazu geführt hat, daß eine der Hauptquellen der Spannung zwischen den Führern und den Geführten sich gelöst hat. Einige Beobachter der sowjetrussischen Entwicklung erklären, daß das Sowjetregime heute dabei sei, sich sein eigenes Grab zu graben. Die Ausdehnung der Bildung auf weitere Volksschichten wird nach ihrer Auffassung dazu führen, daß nicht nur eine größere Anzahl von Menschen in die Lage versetzt wird, dem System in wirkungsvollerer Weise zu dienen, sondern daß darüber hinaus unvermeidlicherweise der Geist unabhängigen, fragenden Denkens und kritischen Urteilens umsichgeifen werde und damit früher oder später die ideologische Kontrolle der Partei zerstört werde. Zweifellos liegen selbst auf dem Wege der streng kontrollierten Sowjetpresse sichtbar gewordene Anzeichen für aufgetretene Erscheinungen der Skepsis und Meinungsverschiedenheiten vor. Offensichtlich waren viele Studenten durch die Ereignisse des Jahres 1956 in Ungarn tief erschüttert — jedenfalls in Moskau und Leningrad. Es hat Studenten gegeben, die Zweifel an der offiziellen Erklärung der Regierung äußerten, nach der der Volksaufstand in Ungarn auf „imperialistische Intrigen“ zurückzuführen sei.
Die im Verhältnis zur Sowjetunion erheblich freiere Interpretation des Marxismus in Polen, ist nicht ohne Rückwirkung in der Sowjetunion geblieben. In den großen russischen Städten sind heute auswärtige Delegationen und Touristen zu einem alltäglichen Anblick geworden. Die offizell geförderten Kanäle der Information, wie die amerikanische Ausstellung von 1959 und die polnische Kunstausstellung, sind nicht ohne weitreichenden Einfluß auf die Bevölkerung geblieben, obwohl die amtlichen Stellen alles unternommen hatten, um die Ausstellungen in dem Sokolinikipark zu diskreditieren, bevor sie noch eröffnet wurden.
Chruschtschows Wutausbruch im November 1958 gegen Studenten, die Zweifel und abweichende Meinungen äußerten, war schließlich nicht ohne Ursache. Chruschtschow ist sich bewußt, daß gerade innerhalb der jungen Generation, die seit der letzten Säuberungswelle ausgewachsen ist, Tendenzen vorliegen, über den amtlich zugelassenen Rahmen des offiziellen Parteidogmas hinauszugehen. Es kommt immer wieder vor, daß Studenten der Parteiideologie gegenüber Langeweile zeigen, dagegen äußerst Bereit sind, sich andere Informationen zu verschaffen, als sie ihnen durch die offiziellen Kanäle geboten werden. Die Forderung, die Chruschtschow im Jahre 1958 aufstellte, nach der alle Studenten vor dem Abschluß der höheren Ausbildung sich einem „produktiven“ zweijährigen Arbeitseinsatz in einer Fabrik oder einer Kolchose zu unterziehen haben, war schließlich nur der Ausdruck seines Ressentiments und seiner Beunruhigung angesichts der Haltung, die nun ein Teil der Studentenschaft gegenüber der offiziellen Parteipropaganda einnimmt. Als die Anordnungen von Chruschtschow, beginnend mit dem akademischen Jahr 1959/60, in die Praxis umgesetzt werden sollten, wurde tatsächlich auf den angeordneten Arbeitseinsatz für Studenten des Ingenieurfachs, der geistigen Wissenschaften und der Medizin sowie für die Studenten der Technologie aller Art verzichtet. Die volle Last dieser neuen Regelung haben daher die jenigen Studenten zu tragen, die ihre wissenschaftliche Ausbildung auf solchen Gebieten suchen, die von besonderer ideologischer Bedeutung sind, wie soziale Wissenschaften, Humanismus, Rechtswissenschaft und Journalismus. Die wichtigste Bestimmung dieser neuen Regelung besteht nun naturgemäß darin, daß jeder Student nach seinem zweijährigen Arbeitseinsatz für „produktive Arbeit“ eine politische Empfehlung einer „sozialen Organisation“ vorweisen muß, worunter tatsächlich nur die kom-munistische Partei oder die kommunistische Jugendorganisation gemeint sind. Im Jahre 1958 erklärte Chruschtschow, daß jeder Student, der Unzufriedenheit mit dem Sowjetsystem zeigt, aus der akademischen Welt ausgestoßen werden soll, um den Söhnen oder den Töchtern von Bauern und Arbeitern Platz zu machen, die ein echtes Verständnis für das ihnen vom Staat gewährte Privileg der höheren wissenschaftlichen Ausbildung besäßen.
Der Geist der Unzufriedenheit und des forschenden Suchens wie der abweichenden Meinung. wird selbstverständlich in jedem totalitären System ein eigenständiges Leben führen. Denn das Bedürfnis nach individueller Urteilsbildung und nach Aufrichtigkeit ist tief in einem jeden Menschen verwurzelt. Dieser Geist des fragenden Zweifels und der eigenen Meinungsbildung hat vermutlich in der Sowjetunion verschiedene Wurzeln, entspringt der Langeweile, Familientradition, dem Einfluß der großen russischen Literatur oder der Wirkung erlittenen Unrechts.
Wissenschaftlicher Fortschritt und ideologischer Konformismus
Das Problem der Nutzbarmachung des wissenschaftlichen Fortschritts für die ideologische Gleichförmigkeit des kommunistischen Denkens ist in der Sowjetunion kein neues Problem. Es bestand in den verschiedensten Formen von Anbeginn des kommunistischen Regimes. Die kommunistische Partei und ihre einzelnen Organe haben im Laufe ihrer Herrschaft verschiedene Wege und Mittel entwickelt, um die junge Generation auf den Weg orthodoxer Karrieren zu leiten, die vom Staat hoch honoriert werden und gefährlichen Gedankengängen nicht ausgesetzt sind. Aber jede staatliche Kontrolle kann niemals den Grad voller Perfektion erreichen, und Unterdrückung potentieller Meinungsverschiedenheit führt zu Folgerungen und verlangt einen Preis, wenn auch dieser Preis heute geringer ist als zu Stalins Zeiten. Nach wie vor besteht in der Sowjetunion das Problem, wie man eine „uniforme, nicht diskutierbare“ Propaganda derart gestaltet, daß sie für die jungen Menschen nicht nur interessant, sondern auch schmackhaft ist, nachdem die Propaganda ihren anfänglichen Heiligenschein wissenschaftlicher Unfehlbarkeit verloren hat. Deutlich kam diese Entwicklung in dem langen und ermüdenden amtlichen Dekret über die Führung der Propaganda zum Ausdruck, das im Januar 1960 veröffentlicht wurde.
Ausländische Beobachter gewinnen immer mehr den Eindrude, daß intellektuelle Fragestellungen sich hauptsächlich in den wenigen großen Städten ausbreiten und im wesentlichen auf die soziale Schicht der Söhne und Töchter hochgestellter, verantwortlicher Kommunisten beschränkt ist. Dieses Bedürfnis nach besserer Unterrichtung — als die offiziellen Kanäle es ermöglichen — und der Geist des fragenden Forschens nehmen häufig die Form des Wunsches an, sich selbst über alles unterrichten zu können und selbst sich durch Lektüre zu überzeugen. Es kommt darin ein wachsender Verdacht zum Ausdruck, daß die von der kommunistischen Partei vorgenommene Auswahl des Informationsmaterials keineswegs vollständig und nicht immer sehr intelligent sei. Bei einigen jungen Menschen äußerst sich dieser Drang in dem Wunsch nach größerer Mannigfaltigkeit und Farbe in dem grauen Leben des Alltags oder nach den faszinierenden Werken der Literatur, der Kunst und intellektueller Erzeugnisse, wie sie der Westen besitzt und auch „freundschaftliche Staaten“ wie Indien. Bei anderen jungen Menschen tritt dieses Bedürfnis in einer weniger attraktiven Gestalt zu Tage wie in dem Verhalten des besonderen Typus der Nachkriegsjugend, die als die „stiliagi“ oder die „teddyboys" bekannt sind, und die versuchen, die Manieren, die Kleidung und den Haarschnitt ihrer westlichen Altersgenossen nachzuäffen. Selbstredend versucht die Sowjetpropaganda, dieses Interesse an westlichen Formen den Launen und der Mode dieser „stiliagis“ gleichzusetzen und dann diese jungen Menschen als „hooligans“ abzutun — ein amerikanischer Ausdruck, der bereits seit langem in Rußland nationalisiert worden ist.
Angesichts der allgemeinen offiziellen Betonung der völligen Übereinstimmung der Meinung und der Haltung, die sich sogar bis zu lokalen puritanistischen Versuchen ausdehnt, buntfarbige Sporthemden und weibliche Hosen auf den sonst so eleganten Promenaden von Sochi zu verbieten, würde es nun tatsächlich merkwürdig sein, wenn nicht einige mutige, geistig lebendige junge Menschen ihre „Unterschiedlichkeit" von der übrigen Masse auf verschiedenen Wegen deutlich zum Ausdruck bringen würden, wobei einige das in einer mehr intellektuell betonten Weise ausdrücken als andere. Im großen und ganzen jedoch scheint die Sowjetjugend in hohem Maße „konformistisch“ zu sein. Es darf nicht übersehen werden, daß die akademische Schulung auf denjenigen Gebieten, die politisch gefährliche Gegenstände behandeln wie Geschichte, Volkswirtschaft und Rechtswissenschaft, auf eine relativ geringe Zahl sorgfältig überwachter Studenten beschränkt ist. Die große Mehrheit der Studenten, und meistens gerade die fähigsten, wird durch hochdotierte Stipendien und verheißungsvolle Karrieren auf die technisch-wissenschaftlichen Gebiete abgelenkt. Für diese weit verbreitete Schicht der Studenten endet das Studium der Geschichte der Welt oder der ausländischen Literatur mit dem 15. Lebensjahr, und auch das, was sie bis dahin vorgesetzt bekamen, wurde ihnen in sorgfältig vorbereiteten Dosen serviert. Was in der Sowjetunion unter dem Namen „soziale Studien“ läuft, ist tatsächlich nichts anderes als die Geschichte der kommunistischen Partei, die Theorie der Partei sowie das laufende Programm der Partei mit den üblichen Hinweisen auf das, was zu tun oder nicht zu tun, zu denken oder nicht zu denken ist. Die weitverbreitete feststellbare Apathie eines Teiles der Jugend gegenüber der Partei-Ideologie, die durch eine öde Propaganda in die Köpfe der Jugend eingehämmert wird, ist vermutlich ein weit ernster zu nehmender Vorgang als etwa bewußte Meinungsverschiedenheiten.
Geburt eines neuen Chauvinismus
Das System der Kontrolle und des Anreizes, mit dem die kommunistische Partei der Sowjetunion eine Gleichförmigkeit der öffentlichen Meinung mit den Auffassungen und den Zielen der Partei zu erreichen sucht, erfährt nun eine Stärkung durch den Zug nationalen Stolzes, der überall bemerkbar ist und der vielfach die Form von Chauvinismus annimmt. Sowjet-russiche Studenten zeigen sich erstaunt, wenn ihnen mitgeteilt wird, daß die Moskauer Untergrundbahn nun keineswegs die erste gebaute Untergrundbahn sei. Sie sind überzeugt, daß die sowjetrussischen Sputniks nun endgültig die Überlegenheit des kommunistischen Systems erwiesen haben. Die meisten Sowjetbürger nehmen die Ausdehnung des kommunistischen Systems auf andere Länder als einen natürlichen und sogar wünschenswerten Vorgang an, ohne sich dabei der Methoden der Kontrolle bewußt zu sein, die hierbei angewandt werden, oder des tief verwurzelten Hasses, der durch diese Methoden allenthalben hervorgerufen wird. Die sowjetrussischen Staatsbürger können sich andere Systeme, vor allen Dingen solche, die freie Entscheidung zulassen, gar nicht vorstellen. Während häufig von den Sowjetbürgern ein geradezu gieriger Neid auf den westlichen Komfort, westliches technisches Zubehör und Kraftwagen gezeigt wird, proklamieren sie gleichzeitig in voller Ehrlichkeit die unbestreitbare Überlegenheit und den unvermeidlichen Triumph des Sowjetsystems. Es braucht nicht weiter erwähnt zu werden, daß sie selbstverständlich über die Schwächen des amerikanischen Lebens, wie wirtschaftliche Schwankungen, Arbeitslosigkeit, ungleicher Zugang zu den höheren Ausbildungsformen und regionalen Widerstand gegen die Gewährung der Gleichberechtigung an Neger-abkömmlinge, gut unterrichtet worden sind. Dagegen zeigen sie sich völlig unvorbereitet und unausgerüstet, die Schwächen des Sowjetsystems zu erörtern. Nach ihrer Auffassung sind bisher vorhandene Schwächen durch das Post-Stalin-Regime beseitigt worden oder werden unvermeidlicherweise mit dem Anwachsen des materiellen Wohlstandes verschwinden. Die Anwesenheit westlicher Touristen in den Straßen der sowjetrussischen Städte wie der, wenn auch nur beschränkte, Zugang zu westlichen Informationsquellen bringen dem durchschnittlichen sowjetrussischen Bürger weniger zum Bewußtsein als früher, daß er von allen Informationen abgeschnitten ist, die einen zum offiziellen System gegensätzlichen oder gar gefahrvollen gedanklich provokativen Charakter tragen. Selbst der Strom an sich gleichgültiger ausländischer Besichtiget der Sehenswürdigkeiten scheint dem russischen Staatsbürger die Bestätigung zu bringen, daß sein Vertrauen, Chruschtschow tue alles, was in seinen Kräften stehe, um die Spannungen zu vermindern und die Aussicht auf den Frieden zu stärken, berechtigt sei. Selbst so tiefgehende Ausbrüche von Furcht und Groll, wie sie bei Pasternak im „Dr. Schiwago“ zum Ausdrude kamen, scheint das sowjetrussische Kontrollsystem vertrauensvoll von der eigenen Befähigung überzeugt zu haben, alle derartigen Äußerungen von Zweifel oder abweichender Meinungsbildung, die innerhalb einer geringen Mehrheit der Jugend auftauchen, nicht nur festzustellen und im Zaume zu halten, sondern auch, falls notwendig, unterdrücken zu können. Die kommunistische Partei ist sich dieses Problems, das sie während der ganzen Dauer ihrer Existenz heftig geplagt hat, zwar bewußt, jedoch durch die neuesten Manifestationen keineswegs über Gebühr alarmiert. Im Gegensatz zu dem wunschbedingten Denken einiger ausländischer Beobachter ist die kommunistische Partei vertrauensvoll überzeugt, daß sie in der Lage ist, einen Teil der jungen Generation für den Dienst im Staat auszubilden, insbesondere auf dem Gebiet des Ingenieurwesens und der Naturwissenschaften, ohne daß hierbei allzu viele sich von dem Pfad der ideologischen Orthodoxie, gestützt heute durch nationalen Stolz und sogar Arroganz, entfernen.
Ein Fazit: die Stabilität des Regimes wächst Zu welcher Erkenntnis führt nun dies alles? 1. Zu der Einsicht, daß das Sowjetsystem, mit dem der Westen es in den jetzt begonnenen sechziger Jahren unseres Jahrhunderts zu tun haben wird, aller Voraussicht nach einen hohen Grad politischer Stabilität bewahren wird, die allerdings auf Voraussetzungen und Methoden beruht, die sich wesentlich von den unseren unterscheiden. Die sowjetrussische Diktatur wird kaum in der nächsten Zeit durch interne Kämpfe innerhalb der obersten Führungsschicht in Stücke auseinanderbrechen oder die Kontrolle über das Volk verlieren oder die kommunistische Ideologie aufgeben. Die Struktur der kommunistischen Partei der Sowjetunion ist heute besser ausgerüstet, eine neue Nachfolgekrise zu überstehen, als dies im Jahre 195 3 der Fall war. Zweifellos werden Namen und Programm sich ändern. Aber die Konzeption der allein herrschenden Partei, die die Berechtigung ihrer absoluten Herrschaft in dem Monopol über die „Wahrheit" und die weitere geschichtliche Entwicklung findet, ist gestärkt worden. — 2. Die sowjetrussische Führerschaft wird ihre entscheidende Herrschaft über Leben und Tod ihrer Un-tanen nicht aufgeben, obgleich diese Machtausübung heute in neuer gemäßigter Gestalt erfolgt. Die sowjetrussischen Führer werden wiederum zum Terror greifen, falls sie das für die Durchsetzung ihrer Ziele als notwendig ansehen, aber sie zweifeln daran, daß dieses notwendig sein wird. Je mehr die stalinistische Methode des Terrors im Gedächtnis der Sowjet-bürger verschwindet, um so stärker und aktiver wird das Vertrauen und um so nachdrücklicher die Zusammenarbeit, die die Sowjetführung dem Volke entlockt. Geringfügige Strömungen abweichender Meinungsbildung können heute durch ein begrenztes Nachlassen der Kontrolle über das intellektuelle Leben aufgefangen werden, wobei hier Methoden der Unterdrückung angewandt werden können, die weniger grausam zu sein brauchen als in der Vergangenheit. — 3. Die gemeinsame, von der kommunistischen Partei und dem Volk geteilte Sehnsucht nach einem Anstieg der Lebenshaltung löst sehr alte Spannungen, die zwischen Partei und Volk bestanden, und vermindert die Gegensätze zwischen der Lebensweise in Rußland und im Westen. Es ist zu erwarten, daß hierdurch noch stärkere Kräfte ausgelöst werden, um nun den Anteil an der wachsenden Wohlfahrt weiter zu erhöhen, den das Regime gegenwärtig der „rechtmäßigen Loyalität und harter Arbeit gewährt.