Die Grundlagen des Deutschen Reiches ohne Kaiser, das man später die Weimarer Republik nannte, vzurden gelegt, als es noch einen Kaiser gab.
Freilich hatte die Majestät gegen das Ende einer dreißigjährigen Regierung viel von ihrem Glanz verloren; am meisten im Krieg seit 1914, weil Wilhelm II. die ihm nach preußischer Tradition zustehende Rolle des Obersten Kriegs-herrn nicht ausreichend zu spielen vermochte. Die militärische Führung übernahm die Oberste Heeresleitung, die aus dem preußischen Generalstab hervorging. Sie wurde mit der Zeit auch mehr und mehr zur politisch ausschlaggebenden Instanz. Zur sichtbaren Tatsache wurde diese Position, seit die Heeresleitung Ende August 1916 dem Generalfeldmarschall von Hinden-bürg und seinem Ersten Generalquartiermeister Ludendorff übertragen wurde. Denn die Berufung dieser beiden Männer war kein souveräner Akt der kaiserlichen Kommandogewalt. Vielmehr wurden hier die bevorzugten Helden der patriotischen Volksstimmung, die beiden Auserwählten der öffentlichen Meinung ernannt. Ihre Leistungen auf dem östlichen Kriegsschauplatz hatten ihnen eine Autorität verschafft, die vom Volke ausging und mit der sich der Kaiser abfinden mußte. Die öffentliche Meinung bezeichnete sie als die Führer, die.den viel zu langwierigen Krieg, dessen Leiden sich von Monat zu Monat steigerten, siegreich zu beendigen vermöchten. Der Kaiser mußte ihnen die entscheidende Stellung einräumen, weil es die Nation spürbar verlangte.
Eine mächtige demokratische Kraft
So erhob sich im bisher monarchischen, in man-
cher Hinsicht noch halbfeudalen Deutschland ein überlegener Machtfakor von unmittelbarer Demokratie. Das Kriegsheer erwies sich als mächtige demokratische Kraft. Das alte standesbewußte und streng monarchistische Offizierskorps der Vorkriegszeit war durch Blutverluste empfindlich geschwächt und reichte ohnehin für das Millionenheer, Jas unter die Waffen gerufen wurde, nicht aus. Das „Fronterlebnis" veränderte den Geist; die Kriegsoffiziere fühlten betont national, aber nicht mehr im alten Sinne königstreu. Bei den Mannschaften aber erfuhren Arbeiter und Bauern zum ersten Male ein gemeinsames Schicksal. Sie hielten miteinander den zermürbenden Schützengrabenkrieg durch, solange sie noch an einen Sinn ihrer
Opfer glauben konnten. Als dieser Glaube nach dem Scheitern der großen Offensive in Frankreich im Sommer 1918 ins Wanken kam, wurde das Feldheer revolutionsreif. Es hielt noch stand, aber es wünschte „Schluß zu machen“.
Es merkte, daß es mit den materiellen und physischen Kräften zu Ende ging. Die Feldsoldaten waren nicht weniger erschöpft als die Munitionsarbeiter in der Heimat, die in Berlin schließlich die rote Fahne aufpflanzten. General Groener hatte recht, als er am 9. November 1918 in Spa gewisse Herren des kaiserlichen Gefolges darüber belehrte, daß die zum Volks-heer gewordene Armee mit Begriffen wie „Oberster Kriegsherr“ und „Fahneneid" nicht mehr zu packen sein werde und daß der Plan, mit ein paar Felddivisionen kehrtzumachen und in Berlin die Revolution niederzuschlagen, völlig unrealistisch war. Offiziere mit klarem Blick wußten im Herbst 1918, daß ihre Soldaten, die gegen die Franzosen noch ihre Pflicht taten. weder auf ihre Kameraden im Hinterland noch auf die Arbeiter schießen würden. Damals kam die Parole „Feldgrau schießt nicht auf Feld-grau auf, die später, beim Kapp-Putsch, gegen die Republik ausgespielt werden konnte.
Ein anderer Faktor der Demokratisierung wurde das Parlament. Die kaiserliche Regierung hätte den Reichstag stärken und als Instrument gebrauchen können, um politische Übergriffe der — solange die Siegeshoffnungen bestanden — auf die Volksstimmung gestützten Heeresleitung zurückzuweisen. Die Gelegenheit zum rechtzeitigen Aufbau der parlamentarischen Demokratie fiel der Reichsregierung bei Kriegsbeginn in unerwarteter Weise in den Schoß Taber die Chance wurde nicht erkannt. Die stärkste Partei des Reichstags, die vorher das Kaiserreich als feindlichen „Klassenstaat" abgelehnt hatte, ging in der Stunde der Gefahr plötzlich zu einer patriotischen Haltung über. Die Sozialdemokratische Partei bewilligte am 4. August 1914 die Kriegskredite. Die Kunde davon war so erstaunlich, daß Lenin im Schweizer Exil die erste Meldung, die er vernahm, für eine Mystifikation hielt. Er wollte nicht glauben, daß die von ihm bewunderte deutsche Sozialdemokratie anders auf die Kriegserklärung habe antworten können als mit der Parole des Generalstreiks. Aber die deutschen Marxisten handelten angesichts der Lebensgefahr für den deutschen Staat nicht revolutionär, sondern demokratisch, weil sie die Stimmung der Arbeiterschaft kannten, für die Verteidigung der Heimat gegen die „Dampfwalze" des Zarismus war.
Jetzt hatte die Stunde geschlagen, wo die Regierung des Reiches und Preußens sehr bald mit der Demokratisierung des preußischen Dreiklassenwahlrechts und mit der Parlamentarisierung der Reichsverfassung hätte antworten müssen. Denn die Erfüllung der Wehrpflicht durch jeden Mann aus dem Volke und die Bejahung des Staates durch alle Parteien machten die Be-willigung des gleichen Wahlrechts und die Übertragung der Verantwortung auf die Volksvertretung unerläßlich. Aber es fiel nur das Kaiserwort: „Idi kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche." Die politischen Konsequenzen, die sich daraus ergaben, wurden nicht gezogen, und eine Sternstunde nationaler Einigkeit ging ungenutzt vorüber. Die Versäumnis kann nicht der Regierung allein zur Last gelegt werden. Die ältere Generation der deutschen Parlamentarier war, da die Verfassung die Bildung parlamentarischer Regierungen ausschloß, nicht dafür geschult, staatsmännische Aufgaben zu übernehmen. Der Reichstag hatte nur bedeutende Oppositionsführer hervorgebracht; aber die Zeit Windthorsts, Liebers, Eugen Richters war vorbei. Erst aus einer um 1914 noch jungen, in den siebziger Jahren geborenen Generation traten im Reichstag Männer auf, denen man Regierungsebrgeiz anmerkt. Besonders zu nennen sind da Erzberger vom Zentrum und Stresemann von den Nationalliberalen: beide Vertreter eines andern Typus als die Parteiführer der früheren Zeit. Sie waren in Verwaltungsgeschäften großer Organisationen erfahren und von Haus aus geborene Demokraten. Denn ihre Eltern gehörten weder zum Adel noch zur Bourgeoisie noch zur Akademikerschaft, sondern zum Kleinbürgertum. Sie waren überaus fleißige Arbeiter, und es war frühzeitig erkennbar, daß es Erzberger und Stresemann darauf ankam, die Routine zu erwerben, die sie fähig machte, eine künftige parlamentarische Regierung zu führen. Im Kriege zeigte sich bei den westlichen Nationen, daß die politischen Führer zum Siege aus den Parlamenten aufstiegen: besonders Lloyd George in England, Clemenceau in Frankreich. Es war ein Nachteil für Deutschland, daß die Bahn für einen solchen Aufstieg nicht frei war, denn die Regierungsgeschäfte waren noch der Bürokratie oder Berufsdiplomatie vorbehalten. Es war durchaus ein demokratischer Instinkt mit im Spiele, wenn die parlamentarischen Anwärter der Staats-mannschaft im Reichstage geneigt waren, auf die Seite der Obersten Heeresleitung zu treten, als deren Kriegspolitik in Gegensatz zur offiziellen des Reichskanzlers von Bethman-Hollweg geriet. Erzberger und wesentlich länger noch Stresemann gehörten zu den „Annexionisten", den Anhängern des „Siegfriedens“ und Befürwortern des „unbeschränkten U-Boot-Krieges“, dem sich der Kanzler in nüchterner Einschätzung der deutschen Siegesaussichten widersetzte. Erzberger lernte durch seine Beziehungen zu Wien und zur päpstlichen Kurie um und wurde im Juli 1917 der Urheber der Friedensresolution des Reichstags. Aber bei der gleichzeitigen Aktion gegen den Reichskanzler arbeiteten die parlamentarischen Führer noch mit Ludendorff zusammen, und gegen ihren vereinten Ansturm vermochte der Kaiser Bethmann-Hollweg, dem er vertraute, nicht mehr zu halten. Noch saß die Oberste Heeresleitung am längsten Hebelarm, und der Parlamentarismus hielt sich zurück. Aber das mußte sich ändern, sobald Ludendorff nicht mehr mit Siegesaussichten auftrumpfen konnte. Die Heeresleitung besaß nicht genügend Selbstüberwindung und Einsicht, um ihre Kriegsziele rechtzeitig zu mäßigen und die Parlamentarier, die nun die Führung übernehmen mußten, ausreichend und vorbehaltlos zu informieren.
Voraussetzung für wirkungsvolle parlamentarische Willensbildung
Mit der Friedensresolution erlangte der Reichstag den maßgebenden Einfluß auf die Reichspolitik noch nicht, aber er schuf sich eine der wesentlichsten Voraussetzungen für eine wirkungsvolle parlamentarische Willensbildung: eine dauerhafte Koalitionsmehrheit der drei Parteien, die für die Resolution gestimmt hatten: des Zentrums, der Sozialdemokratie und der Fortschrittlichen Volkspartei. Die National-liberalen blieben abseits oder nahmen eine schwankende Haltung ein; sie wollten sich noch nicht mit einem „Verzichtfrieden“ abfinden. Für Stresemann, der die Parlamentarisierung entschlossener anstrebte als mancher Abgeordnete der Mehrheitsparteien, ist ein Satz bezeichnend, den er im Oktober 1918 im Reichstag aussprach: „Wir traten mit der Überzeugung in den Krieg ein, das deutsche System sei denen der feindlichen Länder überlegen." Erst jetzt also erkannte er die Irrealität der „Siegsriedens" -Politik und suchte wieder den Anschluß an die parlamentarische Mehrheit. Die Führung in dieser war inzwischen logischerweise an die Sozialdemokratie übergegangen, weil sie die stärkste der Parteien und am konsequentesten für einen Frieden ohne Annexionen eingetreten war.
Es war Ende September 1918, als der Abgeordnete Ebert in der Rolle des Hauptwortführers der Reichstagsmehrheit hervortrat. Der Staatssekretär des Auswärtigen Admiral von Hintze hatte im Hauptausschuß des Reichstags am 27. September die Kapitulation des verbündeten Bulgarien nicht mehr verheimlichen können. Da beantragte Ebert die Vertagung der Sitzung, damit die Mehrheitsparteien zur Lage Stellung nehmen könnten. Am nächsten Tage wurde in einer interfraktionellen Besprechung beschlossen, durch Abänderung der Reichsverfassung den Weg für die Bildung einer parlamentarischen Regierung freizumachen. Der Reichskanzler Graf Hertling trat am 30. September zurück. Die Verhandlungen über die Neubildung der Reichsregierung nahm der Vizekanzler von Payer in die Hand.
Unterdessen reiste Hintze zur Obersten Heeresleitung nach Spa und hatte am 29. September eine Unterredung mit Hindenburg, Ludendorff und Oberst Heye, dem Chef der Operationsabteilung. Höchst bestürzt vernahm er aus Ludendorffs Munde, daß die Kampflage den sofortigen Abschluß eines Waffenstillstands nötig mache. Am 1. Oktober, als die Parlamentarisierung in Berlin beschlossene Sache war, versammelte Ludendorff in Spa seine Abteilungs-Chefs und erklärte ihnen, daß man mit einem strategischen Durchbruch des Feindes rechnen müsse. Dann werde das Westheer in Auflösung zurückfluten und die Revolution nach Deutschland tragen. Um eine solche Katastrophe zu vermeiden, habe die Heeresleitung Kaiser und Reichs-regierung aufgefordert, „daß ohne jeden Verzug der Antrag auf Herbeiführung eines Waffenstillstandes gestellt werde beim Präsidenten Wilson von Amerika zwecks Herbeiführung eines Friedens auf der Grundlage seiner Vierzehn Punkte". Jetzt würden, so fuhr er fort, Männer in die obersten Reichsämter einziehen, „denen wir es in der Hauptsache zu danken haben“, daß es so weit gekommen sei. Diese Leute könnten nun die Suppe auslöffeln, „die sie uns eingebrockt haben“. Die Äußerungen klingen so feindselig, daß man annehmen darf, Ludendorff habe sich nicht bloß durch militärische, sondern auch durch innerpolitische Motive dazu bestimmen lassen. Parlamentarismus bedeutete den Abschied von dem politischen System, das vor einem halben Jahrhundert im preußischen Konflikt Bismarck und Roon gegen das liberale Abgeordnetenhaus durchgesetzthatten. Man begreift Ludendorffs Denkweise wohl am besten, wenn man unterstellt, daß er meinte, Blutopfer für eine Regierung von „Parteien“ zu bringen, könne man dem Heere nicht zumuten. Auch der Staatssekretär von Hintze wat stark gegen „die Parteien“ eingenommen. In seinen Augen war die Waffenstillstandsforderung zweckmäßig als „stärkstes Druckmittel gegenüber unsinnigen und anspruchsvollen Parteien“. Er kehrte nach Berlin zurück, um die Forderung bei den Regierungsverhandlungen mit zu vertreten.
„Die Parteien" schlugen einen liberal gesinnten süddeutschen Fürsten, den Prinzen Max von Baden, zum Reichskanzler vor. Er stimmte ihrem Programm zu und wurde am 3. Oktober vom Kaiser ernannt. Noch am gleichen Tage stand er vor der schweren Aufgabe, über die Waffenstillstandsforderung Ludendorffs zu entscheiden. Er hielt mit Recht nur ein Friedensangebot ohne Waffenruhe für politisch vertretbar. Denn die an den amerikanischen Präsidenten gerichtete Bitte um Waffenstillstand bedeutete das Eingeständnis der Niederlage und mußte politisch und psychologisch verheerende Folgen haben. Also wäre es darauf angekommen, unter höchster Energieanspannung der Obersten Heeresleitung sofort ihre wahre Stellung anzuweisen, ein dienendes Werkzeug der Reichspolitik zu sein. Aber niemand kam dem Prinzen zu Hilfe. Die Sozialdemokratische Partei drängte zum Frieden. Kein deutscher Bundesfürst kam nach Berlin, um den Standesgenossen zu unterstützen. Hatte sich der Kaiser von der Obersten Heeresleitung beiseite schieben lassen, so hätten doch die Bundesfürsten nicht auch sämtlich zu versagen brauche. Es wäre der Augenbi gewesen, wo sie hätten beweisen können, daß sie wirklich noch Verbündete und nicht bloß Vasallen der preußischen Krone seien. Es ver suchte jedoch keiner einzugreifen, und so zeigte sich, daß das gesamte Bundesfürstentum ebenso wie das Kaisertum reif war zum Abtreten von der Bühne. Unter diesen Umständen gab Max von Baden wider besseres Wissen dem Drude der Heeresleitung nach. In der Nacht zum 4. Oktober ging die Bitte um Vermittlung eines Waffenstillstands an die amerikanische Regierung ab. Der Eindruck war, ganz wie befürchtet, daß Deutschland gezwungen sei zu kapitulieren. Die westlichen Nationen überließen sich einem hemmungslosen Siegestaumel; das deutsche Volk aber war tief entmutigt und fühlte sich von allen, die Siegeshoffnungen genährt hatten, betrogen. Der Zweck, dem Feldheer sogleich Ruhe zu verschaffen, wurde nicht erreicht, weil sich ein Notenwechsel zwischen Amerika und Deutschland einen Monat lang hinzog, ehe eine deutsche Waffenstillstandskommission die Erlaubnis erhielt, mit dem feindlichen Oberkommando in Frankreich zu verhandeln. Ludendorff entzog sich der Verantwortung, indem er am 26. Oktober in einer Unterredung mit dem Kaiser, die er bezeichnenderweise in höchst unehrerbietige Formen führte, seine Entlassung aus der Obersten Heeresleitung erzwang. Am 22. Oktober versammelte sich das Plenum des Reichstages, um die Verfassungsänderungen im Sinne der Parlamentarisierung zu beschließen. Sie erhielten am 28. die Unterschrift des Kaisers und wurden am 29. im Reichsanzeiger publiziert.
Bei den Verhandlungen im Reichstag sagte Ebert als Redner der Sozialdemokratischen Partei: „Die besitzenden Klassen sollten froh sein, wenn der deutsche Volksstaat sich im Wege friedlicher Reform entwickelt. Blicken Sie nach Rußland und seien Sie gewarnt.“ Er wies mit diesen Worten darauf hin, daß es um die Frage der bloßen Verfassungsänderung schon nicht mehr ging, sondern um die Entscheidung, entweder die rechtsstaatliche Kontinuität zu wahren oder auf den Weg der politischen und so-zialen Revolution zu geraten. Denn vor der östlichen Grenze des Reiches stand die Weltrevolution auf dem Sprunge. Seit einem Jahre (7. November 1917) waren in Rußland die Bolschewiki an der Macht. Die kaiserlich-deutsche Regierung und die Oberste Heeresleitung hatten das ihre getan, um ihnen in den Sattel zu helfen. Denn ohne ihre Erlaubnis und Unterstützung wäre Lenin nicht imstande gewesen, mit einer Anzahl seiner Freunde aus der Schweiz nach Petersburg zu gelangen. Nunmehr, nach einem Jahre, glaubte er, habe die große Stunde des Sieges seiner Sache auch in Deutschland geschlagen. Am 3. Oktober 1918 schrieb er an das Allrussische Exekutivkomitee der Bolschewiki:
„Die Krisis in Deutschland hat eingesetzt. Sie wird unweigerlich mit dem Übergang der politischen Macht in die Hände des deutschen Proletariats enden.“ Nach dem Zeugnis seiner Frau erlebte er in den Tagen vom 8. bis 11. November die Nachrichten über den Zusammenbruch des Kaiserreichs und die Bildung der Berliner Revolutionsregierung in einer wahren Hoch-stimmung. Dies bedeutet aber nicht, daß die deutsche Bewegung von Moskau aus dirigiert worden wäre. Dazu fehlte es an ausreichenden Verbindungen. Die Prophezeiung, das deutsche Proletariat werde die Macht erobern, entsprang der vorgefaßten Überzeugung Lenins vom notwendigen Sieg der Revolution im Geschichtsverlauf. Das Dazwischentreten eines sozialdemokratischen Parteiführers war für dieses Geschichtsbild keine effektive Größe. Ein Sozialist wie Ebert, der Deutschland demokratisieren wollte, aber dem Reichskanzler Max von Baden in einem Gespräch gestand, daß er die soziale Revolution hasse, war in Lenins Augen nur ein ohnmächtiger Lingeist und ein schändlicher Verräter.
Abdankung des Kaisers unvermeidlich
In Berlin planten die „Revolutionären Ob-leute", Funktionäre der radikalen Opposition gegen die gemäßigten Gewerkschaftsführer in den Rüstungsbetrieben, einen Putsch. Der sozialdemokratische Parteivorstand erhielt Kenntnis von ihrem am 2. November mit 22 gegen 19 Stimmen gefaßten Beschluß, für den 11. einen bewaffneten Aufstand vorzubereiten. Um ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen, hängte die Parteiführung, die Abdankung des Kaisers herbeizuführen, die auch Prinz Max für unvermeidlich hielt. Allen Berliner Einflüssen aber hatte sich Wilhelm II. entzogen, indem er nach Spa reiste. Er tauchte unangemeldet bei der Obersten Heeresleitung auf, durchaus nicht zur Freude Hindenburgs und des neuen Ersten Generalquartiermeisters Groener, der am gleichen Tage gerade die schwierige Nachfolge Ludendorffs antrat. Je weniger der Kaiser einsehen wollte, daß er sich selbst überflüssig gemacht hatte, um so dringender war den sozial-
demokratischen Führern daran gelegen, die Heeresleitung für ihre Politik zu gewinnen. Als Groener am 5. November nach Berlin kam, um an einer Sitzung des Kriegskabinetts der Reichs-regierung teilzunehmen, wurde eine Aussprache über die Kaiserfrage vereinbart. Am 6. mittags traf er die Führer der Sozialdemokraten, an ihrer Spitze Ebert und Scheidemann, in der Reichskanzlei. Sie warben ihn nicht für die Abschaffung der Monarchie, sondern hofften, sie werde sich erhalten lassen, wenn die Krone auf den minderjährigen ältesten Enkel Kaiser Wilhelms übertragen werde, für den eine Regentschaft eingerichtet werden könne. Groener ging nicht darauf ein, erklärt aber in seinen Memorien ausdrücklich: „Wenn man mir irgendeine Entscheidung als Schuld anrechnen will, so ist es diese, daß ich mich damals nicht auf die Seite von Ebert geschlagen habe, um mit Hilfe der Mehrheitssozialisten die Monarchie zu retten. Ob der Versuch geglückt wäre, ist natürlich die Frage, aber die damals versammelten Führer der Mehrheitssozialisten waren bereit, sich für die Monarchie einzusetzen. Meine Ablehnung nahm ihnen gewissermaßen die Rückensicherung durch das Heer; erst darauf schwenkten sie nach links ab, um ihren Einfluß auf die Massen zu erhalten." Diese Worte Groeners und die Haltung der Sozialdemokraten bezeugen mit aller Bestimmtheit, was das Gebot der Stunde war: der Zusammenschluß der beiden großen demokratischen Kräfte, die sich entwickelt hatten, des Volksheeres und der parlamentarischen Parteien, deren Führung jetzt bei den Sozialdemokraten lag. Ludendorffs Feindseligkeit gegen die Parteien hatte schon schweren Schaden angerichtet. Aber auch Groener konnte sich nicht so rach entschließen, wie die Parteiführerschaft handeln mußte, um die Berliner Arbeiter nicht aus der Hand zu verlieren. Am 7. November verlangten Parteivorstand und Reichstagsfraktion der Sozialdemokraten vom Reichskanzler ultimativ die Bekanntgabe der Abdankung des Kaisers. Aber Prinz Max konnte keine Erklärung aus Spa erlangen. Seit Anfang des Monats war schon die Gehorsams-verweigerung der Matrosen der Kriegsflotte im Gange. In Kiel brachte das geschickte Eingreifen des Abgeordneten Noske Beruhigung; aber man konnte nicht verhindern, daß die Werftarbeiter und Schiffsbesatzungen in Hamburg, Bremen, Wilhelmshaven angesteckt wurden und die Bewegung sich von da aus ins Landesinnere auszubreiten suchte. Die Reichsregierung ließ den Eisenbahnverkehr von Hamburg nach Berlin einstellen, so daß sich die Agenten der Meuterei zum Fußmarsch nach der Hauptstadt entschließen mußten. Aber es war zu erwarten, daß sie am Abend des 9. November eintreffen würden. Der Nachteil der Bahnsperre war, daß Tausende von Urlaubern, die sonst weitergefahren wären, in Berlin liegen blieben. Sie konnten in den Kasernen, wo man auf solchen Andrang nicht vorbereitet war, ihre Löhnung und Verpflegung nicht erhalten und formierten in ihrer Unzufriedenheit am 9.früh, einem Samstag, einen Zug durch die Stadt. Dadurch kamen die Arbeiter in Bewegung, die sich in den Betrieben zum Streik zu sammeln begannen. Entscheidend wurde, daß die zur Aufrechterhaltung der Ordnung nach Berlin geholten Truppen versagten und sich den Demonstranten anschlossen. So brachen die Stützen der Ordnung, ehe die Sendlingc on der Wasserkante Hetzreden halten und ehe die Verschwörer, die erst am 11. November losschlagen wollten, das Signal geben konnten. Es war kein politischer Putsch, sondern eine psychologische Katastrophe.
Während dieser Vorgänge in den Straßen bildeten sich in den Betrieben und Kasernen Arbeiter-und Soldatenräte. Diese setzten einen gemeinsamen Vollzugsausschuß ein, der den Generalstreik proklamierte. Die Sozialdemokraten schickten um die Mittagsstunde eine Deputation bestehend aus Ebert, Scheidemann und Otto Braun, zum Reichskanzler, um ihm zu sagen, daß die Lage die Übertragung der Geschäfte auf ihre Partei verlange. Auf die Frage des Prinzen Max, ob Ebert zur Leitung der Regierung ausersehen sei, antwortete dieser mit Ja. Als sich der Vizekanzler Payer erkundigte, ob Ebert die Führung im Auftrage der Arbeiter-und Soldatenräte oder im Rahmen der Reichsverfassung übernehmen wolle, erklärte er: „Im Rahmen der Reichsverfassung.“ Da berief Prinz Max die anwesenden Mitglieder der Reichsregierung sofort zu einer kurzen Sitzung zusammen, und es wurde beschlossen, dem Abgeordneten Ebert „die Wahrnehmung der Gesdhäfte des Reichskanzlers vorbehaltlich der gesetzlichen Genehmigung" zu übertragen. Prinz Max gab gegen 1 Uhr mittags die Abdankung des Kaisers und den Thronverzicht des Kronprinzen bekannt, ohne von Spa dazu autorisiert zu sein. Er konnte nicht länger warten. Er beabsidhtigte, fuhr er fort, dem ein-zusetzenden Regenten die Ernennung Eberts zum Reichskanzler und die Ausschreibung allgemeiner Wahlen für eine Verfassunggebende Nationalversammlung vorzuschlagen, die über die künftige Staatsform entscheiden möge. Diese Erklärung war verfassungsmäßig nicht korrekt, dennoch aber ein Akt zur Wahrung der Kontinuität. Vor allem war damit für die weitere Entwicklung das Stichwort „Nationalversammlung“ ausgegeben.
Ausrufung der Republik
Eine Stunde später erfuhr Scheidemann, der in den Reichstag gegangen war, daß Liebknecht beabsichtigte. vom Balkon des königlichen Schlosses herunter die Aufrichtung einer deutschen Räterepublik zu verkünden. Zu dieser Proklamation einer „Freien Sozialistischen Republik Deutschland" kam es in der Tat, aber erst später, gegen 4 Uhr nachmittags. Scheidemann bekam vermutlich eine verfrühte Meldung. Er glaubte eilends handeln zu müssen, denn er war beherrscht von dem Gedanken: „Nur nicht auch noch bolschewistischen Wahnsinn in Deutschland!“ So trat er kurz nach 2 Uhr nachmittags, auf den Balkon des Reichstags und rief die demokratische Republik aus. Er hätte dieselbe Wirkung erzielt, wenn er statt der „Republik“, die „Nationalversammlung" proklamiert hätte. Mit Recht machte ihm später Prinz Max Vorwürfe, und Ebert wurde dunkelrot vor Zorn über die schwere Entgleisung.
Er mußte trotzdem Scheidemann in seine Regierung aufnehmen, da dieser schon Staatssekretär im Kabinett des Prinzen Max gewesen war. Neben ihm ernannte er Landsberg und bat die bürgerlichen Staats-und Unterstaatssekretäre, einstweilen ihre Ämter zu behalten. Seine ersten Kundgebungen an die deutschen Bürger, die Behörden und das Heimatheer unterzeichnete er ausdrücklich als „Reichskanzler“, das heißt als verfassungsmäßiger Nachfolger des Prinzen Max. Vom Arbeiter-und Soldatenrat und von der Republik war keine Rede. Selbst das Stichwort „Nationalversammlung" erschien erst in der nächsten Kundgebung, die im Unterschied von den ersten von Scheidemann und Landsberg mit unterschrieben war. Sie enthielt die Nachricht, daß die Unabhängige Sozialdemokratische Partei aufgefordert worden sei, mit in die Regierung einzutreten. Bei der Nationalwahl werde nach dem Proporzsystem verfahren werden, und alle über zwanzig Jahre alten Bürger beider Geschlechter würden das Stimmrecht bekommen. Dies war das zweite revolutionäre Zugeständnis. das nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte, und es ersdieint sogar bedenklicher als die Ausrufung der Republik, weil es bedeutete, daß die politisch geschulten Wählerschichten in die Minderheit versetzt wurden. Die Ausdehnung des Wahlrechts auf sämtliche Frauen und die jungen Leute unter der früheren Alters-grenze von 25 Jahren kam allzu plötzlich und verschaffte verantwortungslosen Demagogen eine zu gute Chance.
Der Eintritt der Unabhängigen Sozialdemokraten in die Regierung Ebert kam erst am frühen Nachmittag des 10. November nach langen Verhandlungen zustande. Die Abgeordneten Haase und Dittmann, und als Vertreter der Revolutionären Obleute Emil Barth, sollten nunmehr mit Ebert, Scheidemann und Landsberg zusammen einen „Rat der Volksbeauftragten“ bilden: alle sechs mit gleichen Rechten, doch verblieb die tatsächliche Führung bei Ebert. Die bürgerlichen Staatssekretäre durften auch jetzt im Amte bleiben, sollten aber nicht zum Rat gerechnet werden. Um 5 Uhr nachmittags traten die Arbeiter-und Soldatenräte der Betriebe und Truppeneinheiten zu einer großen Versammlung im Zirkus Busch zusammen. Hier wurde gegen Liebknechts heftigen Widerspruch die Vereinbarung der beiden sozialistischen Parteien gebilligt und außerdem der . Vollzugsrat" der Arbeiter-und Soldatenräte bestätigt und ergänzt. Die Volksbeauftragten erhielten die Stellung der Reichsregierung. Man machte das Zugeständnis, die Form der russischen Revolutionsregierung nachzuahmen.
Bündnis zwischen Groener und Ebert
Der 10. November war auch der Tag, an dem Kaiser Wilhelm II.frühmorgens von Spa ins holländische Exil fuhr. Die Oberste Heeresleitung fühlte sich nun freier im Handeln, und General Groener beschloß nachzuholen, was er am 6. November noch nicht hatte tun mögen. Er ließ abends auf einem geheimen Draht von Spa zur Berliner Reichskanzlei die Verbindung mit Ebert herstellen und bot ihm die Unterstützung des Feldheeres an, wenn der Rat der Volksbeauftragten gewillt sei, bolschewistischen Umsturz zu verhindern. In Groeners Memoiren heißt es: „Ebert ging auf meinen Bündnisvorschlag ein. Von da ab besprachen wir uns täglich abends auf der geheimen Leitung . . . über die notwendigen Maßnahmen. Das Bündnis hat sich bewährt.“ Es ist hervorzuheben daß es nicht Ebert war, der sich um Hilfe bittend an die Oberste Heeresleitung wandte, sondern daß sich Groener nach dem Abgang des Kaisers ermächtigt fühlte, das nachzuholen, was er nach seiner eigenen Einsicht besser schon am 6. November hätte tun sollen: nämlich sich „auf die Seite von Ebert zu schlagen“. Er übernahm für diesen Schritt die alleinige Verantwortung: „Hindenburg wußte nichts von ihm, billigte ihn aber, nachdem ich die innerpolitische Lage in der Heimat eingehend mit ihm besprochen hatte.“ Die anderen Offiziere der Heeresleitung, darunter Oberst Heye und Major von Schleicher, die später noch eine bedeutende Rolle spielten, gaben „fast ausnahmslos“ ihrem Generalquartiermeister recht. Die ganze Gruppe handelte nicht blind, sondern wohlüberlegt; sie wußte, was sie wollte: „Wir hofften, durch unsere Tätigkeit einen Teil der Macht im neuen Staat an Heer und Offizierskorps zu bringen." Der Führer des Feldheeres und der Führer der Sozialdemokratischen Partei begegneten sich im Handeln nach der politischen Vernunft, die das Übereinkommen der stärksten Motoren der demokratischen Entwicklung verlangte. Die Heeresleitung unter Ludendorff hatte durch ihre Waffenstillstandsforderung die psychologische Katastrophe heraufbeschworen. Glücklicherweise war die Front in Frankreich nicht zerbrechen. Jetzt schuf Groener durch das Bündnis mit Ebert zunächst die Voraussetzung für einen geordneten Rückzug in die Heimat nach Abschluß des Waffenstillstands. Noch wichtiger ist aber, daß er das Heer damit zum Mitbegründer des neuen Staates machte. Nicht die Einsetzung der „Räte“ in Berlin wurde zu markanten Ereignis des 10. November 1918, sondern die Verständigung auf dem Telefondraht von Spa nach Berlin. Von hier aus wurde die Republik zur gemeinsamen Schöpfung der Sozialdemokratie und des Heeres. Die Zusammenarbeit dieser beiden Kräfte mußte damals im Dunkeln gehalten werden; später wurde diese Tatsache geflissentlic verdunkelt. Um so wichtiger ist es, sie für immer ins Gedächtnisbewußtsein des ganzen Volkes zu erheben.
Der Waffenstillstand wurde mit Marschall Foch, dem Oberbefehlshaber der Entente-Armeen, am 11. November abgeschlossen. Er gestand für den Rückzug der deutschen Truppen hinter den Rhein nur die außerordentliche kurze Frist von 31 Tagen, also bis zum 12. Dezember, zu. Es war eine ausgezeichnete Leistung der Heeresleitung, daß er in guter Ordnung und pünktlich durchgeführt wurde. Ihr Sitz war jetzt in Kassel, wo nun darangegangen werden konnte, während der Demobilisierung der großen Masse einzelne Verbände zu formieren, auf die sich die Berliner Regierung zuverlässig stützen konnte. Ebert blieb mehr als sechs Wochen lang darauf angewiesen, vorsichtig la rierend seine Stellung zu halten, während die Anhänger der Revolutionären Obleute und der Ideologen vom Spartakusbund die Straße der Stadt beherrschten. Er war während dieser ganzen Zeit seines Lebens nicht sicher und sehnte natürlich den Tag der Befreiung von diesem Druck herbei. In dieser Lage geschah es, daß er am 11. Dezember am Brandenburger Tor die heimkehrenden Truppen des Gardekorps mit den Worten begrüßte: „Kein Feind hat euch überwunden.“ Angesichts des geordneten Rückzugs auf dem feindlichen Land war dieser Aus-ruf. so wie er gemeint war, nicht falsch und bedeutet jedenfalls keine Bestätigung oder Entschuldigung der infamen Dolchstoßlegende, die später von den Feinden der Republik erfunden wurde. Die Niederlage Deutschlands war durch den Mißerfolg der Ludendorff-Offensive im Sommer 1918 besiegelt, nicht aber durch einen „Dolchstoß“ in den Rücken des Heeres von den Revolutionären herbeigeführt worden. Die psychologische Katastrophe, die zum Zusammenbruch führte, wurde durch die Waffenstillstands-forderung Ludendorffs ausgelöst, die nur als Kapitulation aufgefaßt werden konnte. Daß Deutschland den Krieg nur „politisch verloren“, aber »militärisch gewonnen" habe und »im Felde unbesiegt“ geblieben sei, ist eine Illusion späteren Wunschdenkens, an deren Entstehung Ebert keinen Anteil hat.
Kurz nach Weihnachten 1918 standen endlich im Umkreis von Berlin Regierungstruppen zum Eingreifen bereit. Die Volksbeauftragten der Unabhängigen Partei, die sich zu einer solchen Maßnahme nicht entschließen wollten, traten am 20. Dezember zurück. An ihre Stelle wurden Noske, den Ebert aus Kiel herbeirief, und der Gewerkschaftsführer Wissell in das Regierungskollegium ausgenommen, so daß die Sozialdemokratische Partei nunmehr allein die Verantv/ortung übernahm. Am 31. Dezember hob dies Ebert in einer Erklärung zum Jahresabschluß hervor, in der er sagte, daß Deutschland zwar jetzt zum ersten Male eine reine Parteiregierung habe, alle Bürger aber gewiß sein könnten, daß diese sich als Beauftragte des ganzen Volkes fühle. Es bedürfe einer homogenen Regierung, um den Aufgaben der Stunde gewachsen zu sein. Die Wahlen zur Nationalversammlung, deren Termin auf den 19. Januar angesetzt war, müßten entscheiden, ob das Gesamtvolk diese Regierung oder eine andere wünsche.
Neue schwere Unruhen, deren man durch Verhandlungen mit den Radikalen nicht Herr wurde, führten am 11. Januar zum Einmarsch der »Noskegarden“ in Berlin. Noske hatte als eine Art Kriegsminister der Volksbeauftragten den Oberbefehl übernommen, damit nicht die Betrauung eines Generals den Klassenhaß verschärfte. Er war sich aber klar darüber, welchem Ruf er sich damit bei den Arbeitern aussetzte: er übernahm die Aufgabe mit den Worten: „Meinetwegen, einer muß der Bluthund sein“. Am 13. waren die Regierungstruppen Herren der Lage in ganz Berlin; am 15. wurden Liebknecht und Rosa Luxemburg, die verhaftet worden waren, auf dem Transport ins Gefängnis getötet. Durch den Terror, den die Linksradikalen ausgeübt hatten, war in weiten Kreisen der Bevölkerung eine Stimmung erzeugt, die dieses Ende der prominentesten revolutionären Führer nicht beklagen konnte. An Rosa Luxemburg wurde unzweifelhaft ein roher Mord verübt; bei Lieb-knecht ist es möglich, daß er sich irgendwie widersetzt hat. Er war kein fähiger Politiker, sondern mehr ein moralischer Phantast, der wie ein exaltierter Prophet Aufruhr gepredigt hatte für das unerreichbare Ideal einer klassenlosen Einheitsrepublik. So sehr seine Beseitigung moralisch zu verurteilen ist, war es politisch nicht ohne Logik, daß ihn der besinnungslos von ihm entfesselte Strudel selbst verschlang. Dagegen war Rosa Luxemburg kein flackerndes Irrlicht, sondern ein zwar einseitiger, aber klarer Geist. Sie hätte bei längerem Leben vielleicht im deutschen Kommunismus die kritiklose Unterwerfung unter den russischen Bolschewismus verhindern können. Daß ihre Ermordung nicht nur ein Verbrechen, sondern auch eine Torheit war, ahnten die Mörder nicht. Wie groß aber die Ignoranz über die russische Gefahr bei sonst urteilsfähigen Männern war, bewiesen deutsche Wirtschaftsführer und Generale, die den bolschewistischen Agenten Radek, der damals auch verhaftet wurde, im Gefängnis besuchten, um sich von ihm erzählen zu lassen, daß Lenin der große Verbündete Deutschlands gegen die Siegermächte werden wolle.
Reibungslose Durchführung der Nationalwahl
Die Frucht des Sieges der Regierungstruppen war die reibungslose Durchführung der Nationalwahl am 19. Januar, auch an Orten, wo noch linksradikale Machthaber am Ruder waren. Das Wahlergebnis enthüllte ihre zahlenmäßige Schwäche in ganz Deutschland. Die soeben am Jahresende gegründete Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) hatte Wahlenthaltung beschlossen. Die Unabhängigen erhielten 22, die Mehrheitssozialisten 163 Sitze, die bürgerlichen Parteien von rechts bis links aber 236. Die Nationalversamlung bekam also keine sozialistishe Mehrheit, die meisten Ländervetretungen auch nicht. Daß es im roten Mitteldeutsch-land — Sachsen, Thüringen und im Industrie-und Bergbaugebiet von Halle-Merseburg — anders stand, änderte am Gesamtresultat nichts. Die Volksbeauftragten beriefen die Nationalversammlung nicht nach Berlin, sondern nach Weimar, damit ihre Verhandlungen nicht durch Straßendemonstrationen gestört würden. Die sozialdemokratische Regierung machte einer Regierung der „Weimarer Koalition" (Sozialdemokraten, Zentrum und bürgerliche Demokraten) Platz. Ebert wurde zum Reichspräsidenten gewählt. Die Kommunisten versuchten eine erste Machtprobe. Um Weimar unter Drude zu nehmen, riefen sie am 24. Februar in Mitteldeutsch-land, am 3. März auch in Berlin zum Generalstreik auf. Da griffen Noskes Truppen von neuem ein und erzwangen am 8. März das Ende des Streiks. Die parlamentarische Republik in Deutschland war bei ihrem Entstehen keineswegs „schwad"; sie wußte sich durchzusetzen. Lenin, der die deutschen Vorgänge sehr aufmerksam verfolgte, mußte erkennen, daß sie seinen Erwartungen nicht entsprachen. Er hatte im Dezember den Berliner Revolutionären zu-gefunkt: „Laßt euch keine Nationalversammlung ausschwatzen.“ Aber das Weimarer Parlament war zusammengetreten. Die Münchner Räterepublik im April 1919 erregte bei Lenin neue Hoffnungen. Aber ehe es ihm gelang, genaue Informationen über sie zu erhalten, war sie schon wieder unterdrückt. Unter den deutshen Kommunisten, die aus dem Spartakus-bund kamen, gab es auch noch viele, die der russischen Führung wenig vertrauten. Noch bei der Gründung der Dritten Internationale in Moskau im März 1919 war der deutsche Vertreter Eberlein beauftragt, dagegen aufzutreten. Als er die Gründung nicht verhindern konnte, enthielt er sich der Stimme. Auch unter den deutschen Radikalen, die trotz ihres Gewalt-glaubensdoch in westlichen demokratischen Begriffen dachten, empfanden manche die Fremd-artigkeit der Begriffe Lenins, die östlicher, pseudoreligiöser, vielleicht sogar kryptoreligiöser Orthodoxie entstammten. Aus solcher Orthodoxie heraus wagte Lenin noch im Sommer 1919 Prophezeiungen, daß die soziale Revolution spätestens in einem Jahre in Deutschland siegreich sein werde, denn Deutschland war doch das Vaterland der Heilslehre, an die er glaubte. Das beruhte aber nicht auf realpolitischen Informationen oder realpolitischer Macht. Lenin schickte sich erst an, diese zu erwerben. Die Dritte Internationale sollte vor allem ein Werkzeug für Deutschland werden. Sie sollte den deutschen Kommunisten vorhalten, daß in Rußland das „Proletariat“ gesiegt habe, in Deutschland aber verraten und geschlagen worden sei. Diesem Argument zu widerstehen, war schwer. Daß ihm die deutschen Kommunisten erliegen würden, darüber war sich Ebert klar. Um so mehr sah er die große Gefahr für Recht und Freiheit in Deutschland aus dem Osten heraufziehen.
Politiker dagegen, die nicht durch die Schule der Arbeiterbewegung gegangen waren, hielten meist den Feind im Westen für die Hauptgefahr: die Siegermächte, deren Truppen jetzt bis zum Rhein, und an einigen Stellen noch darüber hinaus, auf deutschem Boden standen. Der Mehrheit der Patrioten war der Gedanke eines Gegensatzes der deutschen Kultur zum Zivilisationsgeist des Westens seit Generationen eingeimpft. Ein antiwestlicher Affekt des deutschen Kulturbürgers, der längst bestand, war im Kriege noch gesteigert worden. Nur in den breiteren Volksschichten war dieser Affekt unbekannt. Eingangs wurde schon betont, daß die patriotische Haltung der Sozialdemokratie am 4. August 1914 auf die Stimmung des Volkes zurückzuführen war, das sich gegen die Heere des Zarismus verteidigen wollte. Auf diese Stimmung ging auch die außerordentliche Popularität Hindenburgs zurück. Er wurde für das Volk zum „Retter", weil er es vermochte, die Ostgrenze vor den Russen zu schützen. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Kreisen, die „Gott strafe England!“ sagten oder im Schulunterricht gelernt hatten, an den französischen Erbfeind zu glauben, den man wieder einmal „siegreich schlagen“ müsse, fühlten die breiten Schichten die Bedrohung von Heimat und Lebensart aus dem Osten kommen. So setzte sich in der Wahl der beispielhaften Heldengestalt ein echtes Volksgefühl durch, und zwar, weil es Widerstände zu überwinden galt, um so entschiedener. Aber leider war dieser Held ein Nur-soldat und ohne jede staatsmännische Fähigkeit. Er brachte der Obersten Heeresleitung einen politischen Kredit ein, der das gesunde Maß überstieg. Neben ihm stand, für die Willensbildung meist maßgeblicher, Ludendorff, in dessen Voreingenommenheit gegen die parlamentarischen Parteien wiederum der antiwestliche Affekt zum Vorschein kam. Vor der Notwendigkeit des Bündnisses mit den Parteien hatte sich ja Ludendorff feindselig verschlossen, und erst Groener verhalf der guten Erkenntnis zum Durchbruch.
Zwischen Annahme und Ablehnung des Versailler Friedens
In allen patriotisch gesinnten Kreisen wurde nun aber die Abneigung gegen die westlichen Siegermächte aufs stärkste angefacht, als im Mai und Juni 1919 die Bedingungen des Versailler Friedens den Deutschen vorgelegt wurden. Die Nationalgesinnten, und mit ihnen vor allem die Offiziere, verlangten von der Weimarer Nationalversammlung die unbedingte Ablehnung der „Schmachartikel", besonders der Anerkennung der deutschen Kriegsschuld und der Auslieferung sogenannter Kriegsverbrecher. Außerdem sträubten sich „Deutsche Volks-räte“ in den östlichen Provinzen Preußens aufs heftigste gegen die Landabtretungen an Polen, die der Friede vorsah. Sie drohten mit gewaltsamer Erhebung zum Schutz der alten Grenzen. Nach der Gefährdung des Reiches, die den Einmarsch der Franzosen ins Ruhrgebiet mit sich bringen würde, und nach den Folgen, die eine Isolierung der süddeutschen Länder haben mußte, fragten sie wenig. Die staatsbewußten Preußen sahen im Osten den „Kern“, den man retten müsse, während man West-und Süddeutschland äußerstenfalls „vorübergehend“
verloren geben könne. Die Erhaltung des besonderen preußischen Staatsbewußtseins in Deutschland galt vielen als eine höchst patriotische Tugend, die andererseits in der Fortdauer des bayerischen Staatsbewußtseins nur einen Anachronismus sehen wollten. Der zur Zeit amtierende preußische Kriegsminister Reinhardt war zwar württembergischer Herkunft, aber trotzdem der Auffassung, daß Altpreußen der Kem des Deutschen Reiches sei, der bevorzugt verteidigt werden müsse. Er geriet in politischen Gegensatz zu seinem Landsmann Groener. Die Oberste Heeresleitung hatte ihre Hauptaufmerksamkeit ebenfalls dem Osten zugewandt, weil Gefahren von Polen drohten und weil deutsche Truppen noch in den baltischen Gebieten und in der Ukraine standen. Sie hatten deshalb ihren Sitz von Kassel nach Kolberg verlegt.
Aber Groener ließ sich nicht von dem damals beliebten historischen Vergleich der Lage Deutschlands von 1919 mit der nach dem Tilsiter Frieden von 1807 bestechen und glaubte nicht, daß eine nationale Erhebung wieder von Ostpreußen ausgehen könne. Lehnte Deutschland die Versailler Bedingungen ab, so war nach Groeners Überzeugung gewiß, daß Frankreich sofort den Waffenstillstand aufkündigen und ins Innere Deutschland einmarschieren werde.
Er stellte fest, daß militärischer Widerstand dagegen unmöglich war. Eine Umfrage ergab, daß die in den östlichen Provinzen stehenden Truppen, im Gegensatz zu den großen Worten gewisser Patrioten, weder gerüstet noch gewillt waren, wieder Krieg zu führen. Die Franzosen hätten ohne Schwierigkeit bis über die Elbe marschieren und sich mit den Polen vereinigen können. Dann wäre das Deutsche Reich ausgelöscht worden.
Als die Siegermächte die Annahme der Friedensbedingungen ultimativ verlangten, fiel die von Scheidemann geführte Weimarer Koalitionsregierung auseinander und trat zurück. Die Abgeordneten der Nationalversammlung gerieten in schärfsten Zwiespalt; in sämtlichen Parteien waren die Meinungen in der Frage „Annehmen oder Ablehnen“? geteilt. Schließlich setzte sich Erzberger, da nichts anderes übrig bleibe, am entschiedensten für die Annahme des Ultimatums ein, das am 23. Juni ablief. Kurz vor Mittag dieses Tages telefonierte der Reichspräsident Ebert nach Kolberg und bat um Auskunft über die Haltung der Truppen. Groener schloß sich den Argumenten Erzbergers an und gab sein Votum zugunsten der Annahme des Friedensvertrags. Hindenburg ging während des Gesprächs aus dem Zimmer und überließ die Verantwortung seinem Generalquartiermeister allein. Nach dieser Auskunft nahm eine aus den meisten Abgeordneten des Zentrums und der Sozialdemokratie bestehende Mehrheit von 237 gegen 138 Stimmen den Diktatfrieden an.
Scheidemann und Landsberg blieben bei den Gegnern, kamen daher für die neue Regierung nicht in Betracht. Diese wurde von Sozialdemokraten und Zentrum allein gebildet, ohne die bürgerlichen Demokraten. Reichskanzler wurde der sozialdemokratische Gewerkschaftler Bauer.
Aber der führende Kopf war selbstverständlicherweise von nun an Erzberger, der das Reichsfinanzministerium übernahm. Der Friede wurde von zwei Vertretern der neuen Regierung am 28. Juni in Versailles unterzeichnet.
Es hätte Groener zur Warnung dienen müssen, daß Hindenburg, der ihn am 23. Juni allein handeln ließ, sogleich am 24. Juni den Oberbefehl über das Heer niederlegte. Der General-feldmarschall war bei all seiner nach außen oft imponierenden Unerschütterlichkeit doch kein zuverlässiger Charakter. Groener selbst, der die beste Gelegenheit hatte, ihn genau kennenzulernen, charakterisierte ihn in einem Privatbrief vom März 1935 wie folgt: „Bei dem Kaiser-vortrag, bei dem (1914) die Wahl Hindenburgs zum Oberbefehlshaber der 8. Armee erfolgte, war ich anwesend und kann bestätigen, daß der einzige Grund für seine Wahl der Umstand war, daß man von seinem Phlegma absolute Untätig-keit erwartete, um Ludendorff völlig freie Hand zu lassen. . . . Aber trotz Phlegma und Untätigkeit war der Alte ruhmsüchtig, nicht nur im Kriege, sondern bis an sein Ende.“ Man wird Hindenburg zugute halten dürfen, daß die ungeheure Popularität, die er genoß, eine sehr große Versuchung zur Ruhmsucht war. Aber wenn Groener ihn durchschaute, dann hätte er sich nicht zum Herold des Hindenburg-Ruhmes machen dürfen. Indem er dies tat, beging er einen Fehler, der sein eigenes staatsmännisches Werk an der Wurzel traf. Er hatte gewiß keinen Anlaß, die wahre Gestalt Hindenburgs ohne Not zu enthüllen, aber auch kein Recht, Hindenburg wider besseres Wissen zu verherrlichen. Bei der Abschiedsfeieer, die für den scheidenden Generalfeldmarschall in Kolberg veranstaltet wurde, trug er durch seine Rede wesentlich dazu bei, daß Hindenburg wie ein Triumphator nach Hannover fahren konnte, wo er seinen Wohnsitz nahm. Die Hindenburglegende verschleierte, daß der Sieger von Tannenberg doch schließlich der Besiegte des ganzen Krieges war. Indem Groener die Vorstellungen der Kriegspropaganda erneuerte, die besser hätten absterben sollen, ließ das Dunkel der Gefühlspolitik herein. Er bekam sehr bald die Quittung dafür durch die Dolchstoßlegende, die sich auch gegen ihn richtete. Denn er wurde verdächtigt, vor Meuterern und Landesverrätern kapituliert zu haben. Hindenburg rührte keinen Finger für ihn. Er machte sich schon wenige Monate später vor der Öffentlichkeit die Dolchstoßlegende zu eigen.
Sanktionierung der Dolchstoßlegende
Daß er sich die bittersten Entscheidungen regelmäßig von Groener hatte abnehmen lassen, erwähnte er nie. Hindenburg und Ludendorff erschienen im November 1919 vor einem Ausschuß der Nationalversammlung, der die Verantwortlichkeit für die Niederlage untersuchen sollte, als Zeugen. Dabei verlaß Hindenburg ein Schriftstück, das er nicht selbst verfaßt hatte, wonach das Heer von den Parteien und vom Volk im Stich gelassen worden sei. Mit dieser Erklärung, für die er die Beweise schuldig blieb, qualifizierte er sich in den Augen all derer, die bequemerweise alle Schuld den Vertretern des neuen Staates zuzuschieben trachteten, zum „Ersatzkaiser“, dem es zustehe, die Führung wieder zu übernehmen. In den Kreisen der politischen Rechten begann man ihn als geeigneten Kandidaten für die Reichspräsidentenschaft anzusehen. Im März 1920 ließ beim Kapp-Putsch ein Offizier der aufständischen Brigade Ehrhardt seine Leute sprechen: „Als Reichspräsident soll neuerdings wieder eine Parteigröße festgelegt werden auf sieben magere Jahre, der als Mensch wahrscheinlich keine Größe ist. Wir haben vom Schlapphut genug. Wir wollen einen Präsidenten, der einen Helm trägt und ehrwürdig ist, einen, bei dem uns das Herz höher schlägt und die Augen leuchten, wenn er im Auto vorüberfährt: Hindenburg.“
Die Nosketruppen, die der Nationalversammlung den Weg gebahnt und die linksradikalen Aufstände niedergeschlagen hatten, waren nach der Konstituierung der Reichsregierung zur „Vorläufigen Reichswehr“ formiert worden.
Noske selbst gehörte als Reichswehrminister den Kabinetten Scheidemann und Bauer an.
Groener trat bald ins Privatleben. Seine Kommandostelle in Kolberg wurde am 30. September 1919 aufgelöst und ins Reichswehrministerium übergeführt. Am weiteren Ausbau der Reichswehr war er nicht beteiligt, und seine klare Erkenntnis der politischen Lage Deutschlands fiel nicht mehr ins Gewicht. Er sagte in einem Vortrag, den er im Mai 1919 vor den Offizieren der Obersten Heeresleitung in Kolberg hielt: „Ich habe mich damit abgefunden, daß Deutschland zu einer Macht zweiten Ranges durch diesen Krieg herabgesunken ist.“ Den siegreichen Westmächten könne man nur dann Widerstand leisten, wenn man sich mit Rußland verbinde. „Aber ich fürchte", fuhr er fort, „daß wir diesen Akt auf die Minusseite unserer politischen Bilanz zu buchen hätten. Denn in diesem Falle gibt es nur einen ganzen Entschluß, nämlich: wenn man überhaupt mit den Sowjets gehen will, die Weltrevolution zu machen und den Bolschewismus auch bei uns einzuführen, das heißt sich selbst zu morden, ehe man langsam an Entkräftung stirbt.“ Aber im Gegensatz zu Groener konnte sich der größte Teil der deutschen Offiziere in keiner Weise damit abfinden, daß Deutschland den Rang einer führenden Großmacht nicht mehr einnehmen sollte.
Ein Hauptanliegen der künftigen Reichswehrpolitik wurde es, Deutschland als Machtstaat wiederaufzurichten. Da dieses Ziel nur im Kampf gegen den Versailler Frieden verfolgt werden konnte, schien eine Anlehnung an die Sowjetunion doch vielen erwünscht, nur daß sie dabei hofften, man werde mit der Moskauer Regierung und der sowjetischen Armee auch ohne die Auslieferung Deutschlands an die proletarische Weltrevolution zusammengehen können. Damit wurden die Grundlagen der Verständigung Groeners mit Ebert verlassen. Die meisten Vertreter des Heeres dachten nicht daran, das die Heeresleitung für die im November 1918 gelegten Grundlagen des neuen Staates mit der Sozialdemokratischen Partei zusammen verantwortlich war. Lind es war doch seitdem noch nicht einmal ein Jahr vergangen. Am 1. September 1919 schrieb der Dienstälteste der Reichswehrkommandeure, General von Lüttwitz, an den Minister Noske einen Brief, in dem sich die viel-sagende Wendung fand: „Auch heute ist die Armee Fundament der Staatsgewalt.“ Das entsprach der preußischen Tradition, aber nicht der soeben gegründeten staatlichen Wirklichkeit. Zwei Faktoren: die Truppen und die parlamentarischen Parteien hatten zusammen die Fundamente der Weimarer Republik gelegt. Sie mußten auch weiter zusammenwirken, wenn sich der Staat erhalten sollte.
Weimarer Koalition innerlich nicht gefestigt
Die Bedingungen für die Zusammenarbeit der beiden Hauptfaktoren hatten sich jedoch auch auf der Seite der parlamentarischen Parteien nicht zureichend weiterentwickelt. Die Weimarer Kolition war zwar zahlenmäßig stark; sie verfügte in der Nationalversammlung über eine Dreiviertelmehrheit. Aber sie war innerlich nicht gefestigt. Bei der Beratung der neuen Reichsverfassung, in die man nach der Konstituierung der demokratischen Republik im Februar 1919 sogleich eintrat, herrschte die einheitsstaatliche, unitarische Tendenz derart vor, daß die föderalistische Bayerische Volkspartei unzufrieden war; und angesichts des Friedensdiktats der Sieger im Juni konnten sich die liberalen Demokraten nicht überwinden, ihren Anteil an der Verantwortung zu übernehmen. Es machte keinen guten Eindruck, daß sie nach einigen Monaten, als das Zentrum und die Sozialdemokraten die Kastanien aus dem Feuer geholt hatten, in die Regierung Bauer mit drei Ministern (Schiffer, Koch-Weser und Gessler) wieder eintraten.
Diese „Deutsche Demokratische Partei“ war im November 1918 gegründet worden, unmittelbar nachdem Ebert einen Vertreter der bürgerlichen Linken, den Berliner Professor Preuß, mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs betraut hatte. Die Gründer, zu denen zum Beispiel der Berliner Bankdirektor Hjalmar Schacht und der Heidelberger Professor Alfred Weber gehörten, beabsichtigten, die liberalen Parteien des Kaiserreichs, Fortschrittliche Volkspartei und Nationalliberale, zusammenzufassen und eine große Sammelpartei des Bürgertums als Gegengewicht gegen die Arbeiterparteien zu errichten. Sie begingen aber den Fehler, Stresemann auszuschließen, weil er noch im letzten Kriegsjahre die Politik des „Siegfriedens" vertreten hatte. Aber gerade Stresemann, der im Reichstag neben Erzberger am bewußtesten parlamentarischen Führerehrgeiz entwickelt hatte, ließ sich natürlich nicht verdrängen. Er sammelte die mehr nach rechts neigenden Teile der Liberalen und gründete im Dezember 1918 die „Deutsche Volkspartei". Sie blieb bei den Wahlen wesentlich schwächer als die Deutschen Demokraten, errang aber Fraktionsstärke in der Nationalversammlung. Stresemann machte an der Seite der „Deutschnationalen Volkspartei“, der Nachfolgerin der Konservativen und Freikonservativen, schwarzweißrote Politik. Bis zum Kapp-Putsch und noch darüber hinaus warb er für die Wiederherstellung der Monarchie, wobei er als Thronkandidaten an den deutschen Kronprinzen dachte, den die Sozialdemokraten im November 1918, als sie noch die Monarchie zu erhalten suchten, für unannehmbar erklärt hatten. Da im Bürgertum, ebenso wie beim Militär, die nationalistische Stimmung rasch zunahm und mit dem
Nachlassen der Angst vor sozialem Umsturz die Anwandlungen von republikanischer Gesinnung wieder schwanden, hatten die Demokraten allen Anlaß, die Konkurrenz der Deutschen Volkspartei zu fürchten, die ihnen ja denn auch bei den nächsten Wahlen einen großen Teil ihrer Wähler wegnahm. Aus den Wahlrücksichten wird es verständlich, daß die Partnerschaft der Demokraten in der Weimarer Koalition mindestens zeitweise unzuverlässig wurde.
Die „Bayerische Volkspartei" war am 12.
November 1918 in Regensburg von den Abgeordneten Heim und Schlittenbauer, die bisher dem bayerischen Zentrum angehört hatten, ins Leben gerufen worden. In München hatte eine Aufstandsbewegung, die nicht bloß von Arbeitern und Soldaten, sondern auch von Bauern getragen worden war, die königliche Regierung schon vor der kaiserlichen in Berlin vom Platze gefegt. Die bayerischen Bauern waren aufs tiefste erbittert über die von Berlin aus dirigierte Kriegswirtschaft. Ihre traditionell monarchische Gesinnung brach zusammen, als sie erkannten, wie macht-und entschlußlos das bayerische Königtum gegenüber Ludendorff und der Reichsregierung war. Allermindestens nach der Selbstausschaltung Kaiser Wilhelms durch seine Abreise von Berlin nach Spa wäre ein kraftvolles Wort vom bayerischen Throne herunter, daß man die Interessen seines Volkes nun selbst wahrnehmen müsse, völlig gerechtfertigt gewesen. Es verstrich noch eine Woche, dann benützte der Schriftsteller Eisner, Wahlkandidat der Unabhängigen für eine in München fällige Ersatzwahl zum Reichstag, die Unzufriedenheit zu einem Handstreich, der in der Nacht vom 7. zum 8. November den bayerischen Thron umstürzte. Eisner proklamierte den „Freistaat Bayern“ und zeigte, im Unterschied von den Aufständen der Matrosen in Kiel und der Soldaten und Arbeiter in Berlin, sofort ein politisches Ziel. Er proklamierte am Morgen des 8. November eine neue Außenpolitik: „Die demokratische und soziale Republik Bayern hat die moralische Kraft, für Deutschland einen Frieden zu erzielen, der es vor dem Schlimmsten bewahrt. Die letzte Umwälzung war notwendig, um im letzten Augenblick durch die Selbstregierung des Volkes die Entwicklung der Zustände ohne allzu schwere Erbitterung zu ermöglichen, bevor die feindlichen Heere die Grenzen überfluten oder nach dem Waffenstillstand die demobilisierten deutschen Truppen das Chaos herbeiführen." Vom Klassenkampf der Sozialisierung oder gar von der Diktatur des Proletariats war in diesem Aufruf kein Wort zu lesen. Die Sicherheit der Person und des Eigentums wurde für jedermann feierlich verbürgt. Eisner bildete ein bayerisches Ministerkabinett aus vier Mehrheits-und zwei Unabhängigen Soizaldemokraten, sowie zwei linksbürgerlichen Fachministern. Sein Blick war nicht auf Moskau, sondern offensichtlich auf Amerika gerichtet; er erwartete von Wilson gutes Wetter für diese preußenfreie Revolutionsregierung in München. Am 15. November trat er mit einem Regierungsprogramm hervor, in dem er sich zur „Selbstbestimmung schen Reiches in „Vereinigte Staaten von Deutschland“ bekannte. Dieser Aufruf zu einer föderalistischen Umgestaltung blieb auch im außerbayerischen Süddeutschland nicht ganz ohne Echo. Am 21. November gab die sozialdemokratische Landesregierung von Hessen eine Entschließung bekannt, in der es hieß: „Wir wollen nicht anstelle der glücklicherweise vernichteten preußischen Militärautokratie eine einseitige preußische Diktatur eintauschen."
Daraufhin berief der Rat der Volksbeauftragten für Montag, den 25. November, eine Konferenz der Landesregierungen, die in der Berliner Reichskanzlei zusammentrat. Inzwischen hatte Eisner aber den schweren Fehler begangen, diplomatische Dokumente zu veröffentlichen, mit denen er die Schuld der kaiserlichen Regierung am Ausbruch des Krieges von 1914 nachweisen wollte. Die Publikation war nicht aktentreu und daher nicht wirklich beweiskräftig. Sie wurde aber von den Ententeregierungen aufgegriffen, um ihre Behauptung von der Alleinschuld Deutschlands, also die „Kriegsschuldlüge“ des späteren Versailler Friedensvertrags, zu stützen.
Daß Eisners Veröffentlichung Deutschland schweren Schaden zufügen werde, war realpolitischen Köpfen von vornherein klar. So blieb er schon auf der Länderkonferenz vom 25. November isoliert und verdarb sich alle Aussichten, gehört zu werden. Des Nachdenkens wert ist freilich die Frage, ob nicht die Friedensmacher in Paris besser daran getan hätten, Eisner zu stützen, statt seine Fehler auszunützen. Eine Föderalisierung Deutschlands wäre Europa vermutlich bekömmlicher gewesen als seine Nieder-haltung durch den nachfolgenden Diktatfrieden.
Clemenceau und Lloyd George kamen nicht auf den Gedanken einer vorausschauenden Politik mit Hilfe föderalistischer Kräfte. Später stützten die Franzosen, besonders am Rhein, einen moralisch nicht einwandfreien und unzeitgemäßen Separatismus, während sie im November und Dezember 1918 die Möglichkeit gehabt hätten, nicht nur Eisner zu helfen, sondern auch die Arbeiterräte vieler Landesteile in föderalistischem Sinne zu beeinflussen. Statt dessen lehnten sie jede Zusammenarbeit mit ihnen ab und behandelten die ganze Bewegung der deutschen Linken als eine bloße Finte der im Herzen unverändert militaristisch gesinnten Nation.
Eisner verlor nach seinem außenpolitischen Mißerfolg sehr bald allen Boden im bayerischen Volke. Bei den Landtagswahlen am 12. Januar erlitt seine Partei, die Unabhängigen, eine schwere Niederlage. Sein föderalistisches, aber nicht sein sozialistisches Erbe übernahm die Bayerische Volkspartei, die die stärkste aller bayerischen Parteien wurde. Statt ihr nach demokratischen Prinzipien die Führung zu überlassen, suchte Eisner, um an der Macht zu bleiben, den Zusammentritt des Landtags solange wie möglich hinauszuzögern. Als es endlich am 21. Februar zur Eröffnung kam, wurde er auf dem Wege zum Parlament von einem jungen adeligen Offizier erschossen. Diese Bluttat war eine ebensolche Torheit wie die Ermordung Rosa Luxemburgs und Liebknechts. Die Landtagssitzung wurde von Anhängern Eisners unter neuem Blutvergießen gesprengt. Schwere Spannungen dauerten wochenlang an. Sie endeten am 6. April mit der Ausrufung einer Räterepublik in München, während die sozialdemokratische Landesregierung, die man gebildet hatte, nach Bamberg verlegt werden mußte. In der Räterepublik dominierten anfangs Anhänger Eisners, vor allem aber anarchistische und syndikalistische Ideologen. Erst später rissen die Kommunisten Levien und Levine eine Zeitlang die Führung an sich. Als sie eben wieder verdrängt worden waren, rückten die von der Bamberger Regierung aufgebotenen Truppen heran, darunter Preußen und Württemberger, die am 1. Mai der radikalen Gewaltherrschaft ein Ende machten. Die Bayerische Volkspartei beging den Fehler, sich auch nach diesen Wirren aus der Landesregierung herauszuhalten, obwohl sie die stärkste Partei des Landtags war. So konnte sie auf die Entstehung der Weimarer Verfassung im wesentlichen nur durch ihre kleine Fraktion in der Nationalversammlung einwirken. Das staatsbewußte Land Bayern als solches brachte sein Gewicht nur ungenügend zur Geltung. Die Folge war, daß die Weimarer Politiker auf eine angemessene Stellung Bayerns innerhalb der demokratischen Staatsordnung Deutschlands zu wenig Rücksicht nahmen und damit den Keim zu einer langdauernden Spannung zwischen der Weimarer Republik und deren zweitgrößtem Bundesland legten, zu der es aus dringenden Existenzgründen nie hätte kommen dürfen.
Wenig Berücksichtigung der Länderinteressen
Das demokratische Problem in Deutschland war nicht so einfach gelagert, daß der wirkliche Volkswille von einer nur in Norddeutschland aufgebrachten Mehrheit dargestellt werden konnte. Wohl braucht die Demokratie das Mehrheitsprinzip, aber sie tut wohl daran, ihm auch Grenzen zu setzen durch hündischen Geist unnd föderative Institutionen. Sie muß die Eigenbestimmung selbstbewußter Minderheiten anerkennen und schützen. Ein Majorisierungsprinzip ist undemokratisch. Blickt man auf die Realität der politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, so war Bayern ein Land mit demokratischen Lebensformen; der preußische „Kern“ im Nordosten aber, der angesichts der Versailler Friedensbedingungen seine Selbsterhaltung über alles andere stellte, war es nicht. Die führenden Politiker der Republik, deren Aufgabe ja gerade die Demokratisierung Deutschlands war, hätten also jeder Entfremdung zwischen der Reichsgewalt und Bayern unbedingt vorbeugen müssen. Jedoch die Weimarer und später erst recht die Berliner Unkenntnis und Unbedenklichkeit trugen wesentlich dazu bei, Bayern in eine geradezu unnatürliche Rolle zu drängen. Es wurde zur „Ordnungszelle“ der Reaktionäre, zum Asyl der nationalistischen Todfeinde der Republik, zum Asyl der nationalistischen Todfeinde der Republik zum Hauptquartier Ludendorffs. Die Verstimmung Bayerns war so dauerhaft, daß sie sich noch 1925 bei der Reichspräsidentenwahl auswirkte. Ohne die Stimmen der Bayerischen Volkspartei wäre nicht Hindenburg zum Nachfolger Eberts gewählt worden, und die Geschichte der Weimarer Republik wäre doch wahrscheinlich anders verlaufen, wenn in der Staatskrise von 1932 ein zuverlässiger Republikaner an der Spitze des Reiches gestanden hätte.
Eisner, der, wie wir sahen, das Reich in die Vereinigten Staaten von Deutschland umwandeln wollte, erreichte es im Verein mit anderen Länderregierungen noch, daß am 25. Januar 1919 eine zweite Staatenkonferenz zusammen-trat und die Mitbestimmung der Reichsverfassung durch die Länder forderte. Gegen den unitarischen Entwurf des Professors Preuß waren nicht nur die Süddeutschen, die Sachsen, Mecklenburger und Hanseaten, sondern auch die Preußen, weil der Entwurf vorsah, den preußischen Großstaat in kleinere Einheiten aufzulösen. Die Mitbestimmung der Länder hätte eine Einschränkung der Souveränität der Nationalversammlung bedeutet. Dazu war Ebert, damals noch Vorsitzender der Volksbeauftragten, nicht bereit. Beim Zusammenbruch des Kaiserreichs hatten nur zwei Wege noch zur Wahl gestanden: der des LImsturzes und der der Erhaltung der Rechtsordnung durch das Instrument der Nationalversammlung. Ebert hatte darum recht, wenn er an der uneingeschränkten Souveränität der Nationalversammlung festhielt. Aber er wünschte nicht, die Länder mundtot zu mähen.
So wurde beschlossen, eine Länderkommission zur Abfassung eines zweiten Verfassungsentwurfs zu bestellen, der neben dem von Preuß der Nationalversammlung vorzulegen war. So kamen die Länder zur Geltung und erreichten schließlich, daß die Einrichtung des Reichsrats, einer Ländervertretung neben der Volksvertretung in der Verfassung vorgesehen wurde. Bayern erkannte den Grundsatz der Souveränität der Nationalversammlung schließlich an. Es sah ein, daß es seine Reservatrechte aus der Bismarckschen Verfassung, das Heeres-, Eisenbahn-und Postreservat, nicht behaupten konnte. Auch das Biersteuerreservat wurde schließlich gegen eine Entschädigungssumme aufgegeben. Die Abgeordneten der Bayerishen Volkspartei, mit Ausnahme von Dr. Heim, gehörten am 31. Juli 1919 mit zu der qualifizierten Mehrheit, die die Weimarer Verfassung annahm. Sie taten es mit Bedenken, weil die Verfassung zwar niht geradezu unitaristish, aber doh zu wenig föderalistish ausgefallen war. Aber sie überwanden die Bedenken aus gutem Willen zum nationalen Ganzen. Die Bayerishe Volkspartei bildete in Weimar eine Arbeitsgemeinshaft mit der Zentrumsfraktion. Eines ihrer Mitglieder, der Abgeordnete Mayer aus Kaufbeuren, wurde Minister im Reihskabinett des Kanzlers Bauer. Der tatsählihe Führer dieser Regierung war aber der Reihsfinanzminister Erzberger. Er benutzte die eben in Kraft getretene Reihsverfassung, um unter Hinweis auf die unübersehbaren Reparationsverpflihtungen, die das Reih im Friedensvertrag auf sih genommen hatte, niht nur die Steuergesetzgebung, sondern auch die Steuerverwaltung den Ländern zu nehmen und einheitlich auf das Reich zu übertragen. Das Gesetz über die Reichsfinanzverwaltung vom 10. September und die Reichsabgabenordnung vom 13. Dezember 1919 waren Maßnahmen eines konsequenten Unitarismus, weil sie die staatliche Selbständigkeit der Länder mit Aushöhlung bedrohten. Als Erzberger auch noch am 4. Januar 1920 in Stuttgart eine Rede hielt, in der er, neben der stichhaltigen Begründung mit den zu erwartenden Reparationslasten, ganz offen zugab, daß es ihm um einen Schlag gegen die unpraktische und unmoderne Eigenbrötelei der Länder gehe, kündigte die Bayerische Volkspartei ihre Arbeitsgemeinschaft mit dem Zentrum und trat aus der Reichsregierung aus. Die bayerischen Föderalisten fühlten sich durch die Rücksichtslosigkeit dieses ganzen Verfahrens tödlich verletzt, und zwar um so mehr, als der Stoß auch noch durch einen Zentrumspolitiker von süddeutscher Herkunft geführt wurde. Da wurde für ihr Gefühl Bayern das Opfer eines bösgemeinten und hinterhältigen Verrats.
Die Haltung des Zentrums
Der Vorwurf eines Prinizpienverrats gegen das Zentrum wurde 1918 zuerst von konservativ und kaisertreu empfindenden Katholiken erhoben, die sich darüber empörten, daß sich die Partei bei einer Tagung ihres Reichsausschusses in Frankfurt am Main am 30. Dezember für die republikanische Staatsform aussprach. In dieser Erklärung hieß es: „Die neue Ordnung darf nach dem Sturze der Monarchie nicht die Form der sozialistischen Republik erhalten, sondern muß eine demokratische Republik werden.“ Ihr lag also offenbar die richtige Erkenntnis zugrunde, daß man nur noch zwischen den beiden Verfassungen der Räterepublik und der parlamentarischen Republik zu wählen hatte. Die Statistik der Nationalwahl, die drei Wochen später stattfand, beweist, daß ohne das Zentrum eine sozialistische Mehrheit gewählt worden wäre, die zwar nicht das russische Beispiel nachgeahmt, aber doch eine andere Verfassung als die Weimarer beschlossen hätte. Das Zentrum war zu fest bei seinen Wählern verwurzelt, als daß den Sozialdemokraten hier ein wesentlicher Einbruch gelungen wäre. Bereits bei der Friedensresolution von 1917, dann bei der Parlamentarisierung des Kaiserreichs hatte das Zentrum maßgeblich mitgewirkt. Umso stärker fiel es auch bei der Schaffung der Weimarer Verfassung ins Gewicht. Die Partei hatte dem Hohenzollernkaisertum Loyalität bewahrt, solange es bestand. Nachdem es sich selbst das Grab geschaufelt hatte, gab es keinen Anlaß und keine Möglichkeit, seine Wiederherstellung anzustreben. Solche Katholiken, die darin einen Prinzipienverrat sehen wollten, mußte das Zentrum ziehen lassen. Sie schlossen sich in nicht ganz geringer Zahl der Deutschnationalen Volkspartei an, aber sie fielen im ganzen wenig ins Gewicht. Jetzt kam aber nun, als das Zentrum die Erzbergersche Finanzgesetzgebung unterstützte, der Vorwurf des Prinzipienverrats von der Seite der bisher verbündeten Bayerischen Volkspartei, weil das alte Programm vom März 1871 tatsächlich föderalistische Grundsätze aufgestellt hatte. Doch ergibt die Analyse der praktischen Zentrumspolitik, daß man von Anbeginn schon die Bedeutung der Sätze im Programm nicht zu hoch einschätzen darf. Die Zentrumsorganisation umfaßte ursprünglich nicht das ganze Reich, sondern hauptsächlich das Gebiet des ehemaligen Norddeutschen Bundes. In Bayern gab es während des Kulturkampfs die selbständige Partei der „Patrioten“; in Baden eine „Katholische Volkspartei“. Erst 1887 und 1888 traten an die Stelle dieser Gruppen eine „Bayerische“ und eine „Badische Zentrumspartei". In diesen Gegebenheiten der Parteigeschichte liegt der hauptsächliche Beweggrund, das föderalistische Programm aufrechtzuerhalten. In der praktischen Politik aber zeigt schon bei den Verfassungsberatungen von 18 71 der Zentrumsantrag, die kirchenpolitischen Artikel der preußischen Verfassung in die Reichsverfassung aufzunehmen, eine unitarische Tendenz. Nur durch die Reichspolitik konnte das Zentrum hoffen, die katholische Kirche von den staats-kirchlichen Fesseln zu befreien, die ihr in vielen Bundesstaaten auferlegt waren. In Ländern wie Sachsen, Mecklenburg, Braunschweig und anderen herrschten die evangelischen Landeskirchen, und die katholische Religionsübung war stark eingeschränkt. Das wurde in der Kulturkampfzeit natürlich nicht besser. Das föderalistische Organ des Bismarckreiches, der Bundesrat, blieb bis zum Weltkrieg das Hindernis, an dem die Aufhebung des Jesuitengesetzes scheiterte. Das Zentrum kämpfte für die Gleichberechtigung der katholischen Kirche in ganz Deutschland. Dieses Ziel konnte es im Rahmen der ursprünglich rein und später weit überwiegend evangelischen Bundesstaaten nie erreichen, sondern nur mit Hilfe der Reichsgesetzgebung. Als das Kaiserreich zusammenbrach und die Verfassung der Republik geschaffen wurde, war die Stunde gekommen, in der die Gleichberechtigung der Kirche im ganzen Reiche durchgesetzt werden konnte. Das Zentrum konnte gar nicht anders, als in diesem entscheidenden Punkte unitaristisch zu denken, und darum auch die Weimarer Verfassung mitzuberaten und mitzunutzen. Von einem Prinzipienverrat kann keine Rede sein. Die deutschnationalen Katholiken, die nicht begreifen wollten, daß die Republik vom Standpunkt der Kirche dem Kaiserreich vorzuziehen sei, waren nur eben Leute, die bei den Begriffen des spezifisch bismarckisch-wilhelminischen Patriotismus verharrten. Für das Bayerische Zentrum waren dagegen die kirchenpolitischen Fragen immer anders gelagert gewesen als für das Reichszentrum. Die Wege seiner Nachfolgerin, der Bayerischen Volkspartei, trennten sich vom Zentrum erst recht aus realpolitischen Gründen. Prinzipien wurden dabei auf beiden Seiten nicht verraten.
Unüberwindlicher Gegensatz auf dem Gebiet der Kulturpolitik
Die Koalition, die das Zentrum in Weimar mit den Sozialdemokraten einging, war die beste parteipolitische Basis, die es für den neuen Staat geben konnte. Beide Partner verfügten über eine große Anhängerschaft im Volke, und beide durften sich auf die Treue ihrer Wähler sicherer verlassen als alle anderen. Beruhte der Bestand der Republik vom Anfang her auf der Verständigung der Heeresleitung mit dem Parlament, so muß man in der Koalition der beiden großen und gefestigten Parteien, der Sozialdemokratie und des Zentrums, die zweite Existenzbedingung sehen. Die Weimarer Verfassung sicherte der Kirche Gleichberechtigung und Freiheit. Hätte sich die Sozialdemokratie entschließen können, einem Reichskonkordat und einem Reichsschulgesetz zuzustimmen, das die Zentrumspartei befriedigte, dann hätte die Koalition dauerhaft bleiben können und hätte wohl immer Aussicht gehabt, eine Mehrheit im Reichstag als Basis einer stabilen Reichsregierung zusammenzubringen. Die Weimarer Republik wurde ein schwacher Staat, weil parlamentarische Regierung ohne parlamentarische Mehrheit ein Widerspruch ist. Zur parlamentarischen Mehrheit genügten nie die Kräfte der Sozialdemokratie für sich allein. Das zeigte schon die Wahl zur Nationalversammlung im Januar 1919, als das Vertrauen zur Partei Eberts am größten war. Die Sozialdemokratie und das Zentrum aber gemeinsam hätten auch später Erfolg haben können. Auf dem Gebiet der Sozialpolitik wäre die Verständigung bei dem starken Einfluß der Christlichen Gewerkschaften im Zentrum wohl immer wieder erreichbar gewesen. Der unüberwindliche, stets hemmende Gegensatz bestand auf dem Gebiet der Kulturpolitik. Hier blieb die Sozialdemokratie immer zu sehr im Bannkreis der „liberalen“, in Wirklichkeit modernistischen „Weltanschauung" und ihrer antikirchlichen Wissenschaftsgläubigkeit; hier war sie im Grunde zu wenig Arbeiterpartei und vor allem zu wenig Staatspartei der Republik. Nur das Dauerbündnis der „roten“ mit der „schwarzen“ Volkspartei hätte die parlamentarische Republik gemehr Vorurteile in der Sozialdemokratie gegen das Bündnis mit den „Roten", aber es gab viel mehr Vorteile in der Sozialdemokratie gegen das Bündnis mit den „Schwarzen". Diese Vorurteile, im Zusammenwirken mit den Traditionen des Klassenkampfgedankens, verschuldeten in der Sozialdemokratie das Versagen des staatspolitischen Instinkts. Während die Freien Gewerkschaften schon am 14. November 1918 einer Vereinbarung mit den Arbeitgeberverbänden zustimmten, die den Achtstundentag und angemessene Tat le festsetzte, den Klassenkampf also entschärfte, entschloß sich die Sozialdemokratische Partei niemals zu einem vorbehaltlosen Bekenntnis zur Weimarer Republik. Niemals erzog sie die Arbeiter dazu, in diesem Staate wirklich „ihren“ Staat zu erkennen. Es blieb, wie im 19. Jahrhundert, bei Phantasien vom proletarischen „Zukunftsstaat“. Demokratie sollte nur der „Weg", aber das „Ziel“ sollte erst ein zukünftiger Sozialismus sein. Gerade darum konnte bei den Arbeitern die Anfälligkeit für linksradikale und kommunistische Parolen nie überwunden werden. Während sich die Militärkreise nach dem Versailler Frieden dem Wahn verschrieben, sie seien „im Felde unbesiegt" heimgekommen und hätten das Zeug, den deutschen Machtstaat zu erneuern, kam den meisten Sozialdemokraten das Bekenntnis zur parlamentarischen Republik als einer optimalen politischen Endform niemals überzeugend auf die Lippen. Dem Reichspräsidenten Ebert war es ernst damit. Er erhob das Deutschlandlied des alten Demokraten Hoffmann von Fallersleben zur Nationalhymne, aber es mitzusingen, fiel den meisten Genossen allezeit schwer. Wenn die Reichswehr reaktionären Einflüssen anheimfiel, so lag das nicht zum wenigsten mit daran, daß die Sozialdemokratie das alte Mißtrauen der Arbeiter gegen die Soldaten auch in der Republik fortwuchern ließ. Wäre sie truppenfreundlicher geworden, so hätten die Offiziere kaum die Möglichkeit gefunden bei der Rekrutierung Leute aus republik-feindlichen oder indifferenten Schichten zu bevorzugen. Auf dem Magdeburger Parteitag von 1929 war es der preußische Minister Severing, der diese Abstinenz offen kritisierte, und Julius Leber sagte bei anderer Gelegenheit, die verhängnisvolle Spannung zwischen der Arbeiterklasse und der Wehrmacht sei „ein gewaltiger Passivposten der Republik“, für den die Schuld keineswegs bloß auf der Seite der Reichswehr liege. Genau so ein Passivposten war auch die kulturpolitische Voreingenommenheit der Parteien gegeneinander, die staatspolitisch hätten zusammenstehen müssen. Sie war bei der Sozialdemokratie gegen die „Schwarzen“ am größten und am schädlichsten.
Das Zentrum freilich wurde von Erzberger nicht glücklich geführt, weil er zuviel persönliche Angriffsflächen bot. Ein persönlicher Gegner, der frühere kaiserliche Staatssekretär und nunmehrige deutschnationale Abgeordnete Helfferich, verstand es, ihn Anfang 1920 in einen Prozeß zu verwickeln, der Erzberger weit mehr, als er's verdiente, in ungünstigem Lichte erscheinen ließ. Die nationalen Leidenschaften waren gerade besonders aufgewühlt, weil die Westmächte nach der Ratifizierung des Friedens nun mit ihren Auslieferungs-, Entwaffnungsund Reparationsforderungen ernst machten. Die Deutschnationalen verlangten die Auflösung der Nationalversammlung, die den Willen des Volkes nicht mehr repräsentiere. Die verfassungsmäßige Reichstagswahl und die verfassungsmäßige Wahl des Reichspräsidenten durch das Volk dürften nicht mehr aufgeschoben werden. Der Friedensvertrag bestimmte die Truppenzahl der Reichswehr mit 100 000 Mann. Sie war aber zur Zeit noch viel stärker; darum fühlten sich viele Soldaten mit Entlassung bedroht und forderten, die Regierung dürfe den Vertrag nicht ausführen. In dieser Lage ereignete sich der Kapp-Putsch.
Fehlschlag des Kapp-Putsches
Am frühen Morgen des 13. März 1920 marschierte die Marinebrigade Ehrhardt, die ihre Auflösung zu erwarten hatte, vom Truppenübungsplatz Döberitz nach Berlin und stellte sich einer Putschregierung zur Verfügung, an deren Spitze der ostpreußische Generallandwirtschaftsdirektor Kapp trat. Nicht nur Ludendorff, sondern auch einzelne Reichswehrkommandeure wie General von Lüttwitz traten auf ihre Seite.
Es gelang nicht, der meuternden Brigade, wie es sich gehört hätte, militärisch entgegenzutreten.
Denn ein Kriegsrat der Kommandeure, den der Wehrminister Noske einberief, lehnte unter Führung des Generals von Seeckt das Eingreifen ab, da man den Truppen nicht zumuten dürfe, auf ihre Kriegskameraden zu schießen. Allerdings gingen die Generale auch nicht zu Kapp über. Sie schnitten dem Putsch, wie Lüttwitz später sagte, damit „die Sprungsehnen durch“. Aber sie zwangen auch die Reichsregierung, die Berlin verließ und sich erst nach Dresden, dann nach Stuttgart zurückzog, andere Mittel anzuwenden. Das schärfste war der Aufruf der deutschen Arbeiterschaft zum Generalstreik. Ihm gegenüber war die Putschregierung machtlos.
Alle urteilsfähigen Köpfe sahen dies voraus. In Berlin verweigerte die Ministerialbürokratie Kapp die Mitarbeit, und die Banken gaben ihm kein Geld. Am 17. März gab er seine Sache verloren; die ablehnende Haltung der Reichswehrgenerale beraubte ihn seiner letzten Hoffnungen. Durch diese Passivität trugen zweifellos auch sie dazu bei, daß der Putsch fehlschlug. Aber ihre Aufgabe wäre natürlich gewesen, ihn gleich anfangs aktiv zu ersticken und nicht abzuwarten, wie sich die verfassungsmäßige Regierung mit andern Mitteln selber half.
Der Generalstreik erwies sich als eine zweischneidige Waffe, weil er von den Linksradikalen dazu benutzt werden konnte, die einmal in Gang gebrachte Bewegung der Arbeiter wieder auf Sozialrevolutionäre Ziele zu richten und weiterzutreiben. In Berlin gelang es am 23. März den Streik zu beendigen, aber in Mittel-deutschland und im Ruhrgebiet dauerte er fort. Ebert mußte jetzt die Reichswehr gegen die Arbeiter aufmarschieren lassen. Da gelang es dem als Reichskommissar für Rheinland und Westfalen eingesetzten sozialdemokratischen Abgeordneten Severing, zwischen dem General von
Watter und den aufständischen Arbeitern zu vermitteln. Dadurch wurde die Bürgerkriegs-gefahr überhaupt gebannt, zumal sogar Levi, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, das Severing-Abkommen billigte, weil er im Falle der Ablehnung eine Niederlage der Arbeiter voraussah. Levi versprach sich von einer gemäßigten Haltung bessere Erfolge und war sogar bereit, eine stärker nach links orientierte Reichsregierung indirekt zu unterstützen. Eine solche wurde von Legien, dem Vorsitzenden der Freien Gewerkschaften, vorgeschlagen. Anstelle der Weimarer Koalition sollten die Sozialdemokraten einerseits mit den Christlichen Gewerkschaften, andererseits mit den Unabhängigen Sozialdemokraten eine neue Regierung bilden.
Vielleicht hätte sich hier eine Aussicht eröffnet, die Gegensätze zwischen den Arbeiterparteien zu überbrücken und dem parlamentarischen Staat eine sozialistische Orientierung ohne Diktatur nach russischem Muster zu geben. Der Plan scheiterte an den Ideologen des linken Flügels der Unabhängigen, Däumig und Genossen, die sich nicht durch das Zusammengehen mit den „Noskes“ beschmutzen wollten. Dabei opferten die Sozialdemokraten die Person Noskes, der am 25. März zurücktreten mußte, weil die Reichswehr gegen die Brigade Ehrhardt versagt hatte. Sie gaben damit eine der staatspolitisch wichtigsten Positionen preis, weil sie keinen Ersatz für Noske hatten. Zum Reichswehrminister wurde das bisherige Kabinettsmitglied für Wiederaufbau berufen, der frühere Nürnberger Oberbürgermeister Geßler, der zu den Deutschen Demokraten gehörte. Er blieb acht Jahre auf diesem Posten, war von gutem Willen beseelt, aber nicht stark genug, zumal er nur die schwächste der Weimarer Parteien vertrat, die bald immer schwächer wurde. Die Sozialdemokratie konnte die Stellung, die sie durch Noske innegehabt hatte, nie wieder gewinnen. Auch der Kanzler und der Vizekanzler der bisherigen Regierung, Bauer und Erzberger, mußten zurücktreten. An ihre Stelle traten der Sozialdemokrat Hermann Müller und der Demokrat Koch-Weser. Als Finanzministcr wurde Erzberger durch seinen badischen Kollegen Wirth abgelöst.
Eine wesentlich stärkere Stellung als der Reichswehrminister errang der General von Seeckt, den Ebert zum Chef der Heeresleitung ernannte, weil ihm zuzutrauen war, daß er die Verwirrung bei den Truppen beseitigen und eine straffe Ordnung schaffen werde. Seeckt, der auf putschende Frontkameraden nicht hatte schießen wollen, mit ihnen aber auch nicht gemeinsame Sache gemacht hatte, verlangte jetzt öffentlich von seinen Soldaten, daß sie ihren Eid auf die Reichsverfassung ernstzunehmen hätten. Er stimmte später, im August 1920, auch dem Gesetz über die Auflösung der Frei-korps und Selbstschutzverbände zu, das besonders in Bayern auf entrüstete Ablehnung stieß. Er ließ sich von den Ludendorff-Anhängern als Verräter an der preußischen Tradition beschimpfen, die er in Wirklichkeit gerade zu bewahren hoffte. Er war nur eben zu der Überzeugung gelangt, daß dies nunmehr unter der republikanischen Verfassung am besten möglich sein werde. In diesem Sinne erneuerte die Heeresleitung Seeckts, obwohl er persönlich im Herzen Monarchist blieb, die Partnerschaft mit Ebert, zu der sich im November 1918 Groener entschlossen hatte. Im Offiziersstande schieden sich von nun an die einsichtsvolleren Elemente von den unbemehrbaren nach dem Typus Ludendorff. Den Einlenkenden konnte die Reichswehrführung anvertraut werden; die Sturen wurden in die Freikorps abgedrängt, die, unter Ausnützung der Spannung zwischen München und Berlin, ihren besten Tummelplatz jetzt in Bayern fanden. Ludendorff selbst verlegte seinen Wohnsitz dorthin.
Innenpolitische Schwäche, außenpolitische Schlappe
Am 6. Juni 1920 fanden, nach der Auflösung der Nationalversammlung, die Reichstagswahlen statt. Die Weimarer Koalition verlor die Mehrheit, weil die Demokraten eine schwere Niederlagen gegen die Deutsche Volkspartei erlitten, und auch die Sozialdemokraten viele Sitze an die Unabhängigen verloren. Sie glaubten im Interesse ihrer Partei auf die Regierungsposition verzichten zu sollen, um sich in ungebundener Stellung bei den Arbeitern mehr Kredit zu verschaffen. Das war nach dem Verzicht auf das Reichswehrministerium der zweite schwere Fehler. Eine Partei, die berufen ist, den Staat zu gestalten, muß die Macht im Staate festhalten, auch wenn sie Einbußen bei der Wahl hinnehmen muß. Durch die Abstinenz der größten staatstragenden Partei, die sich bei den späteren Kabinettsbildungen meist wiederholte, kam es dahin, daß die Regierungsbildung der Minderheit der bürgerlichen Mittelparteien überlassen blieb. Der neue Reichskanzler Fehrenbach vom Zentrum nahm die Deutsche Volkspartei in seine Regierung auf. Aber er besaß im Reichstag keine Mehrheit, und das bedeutete, daß der Parlamentarismus in Widerspruch zu sich selbst geriet. Je mehr ein solcher Zustand zur Regel wurde, um so schwächer mußte die Weimarer Republik werden. Dazu kam, daß das Kabinett Fehrenbach gleich zu Anfang eine außenpolitische Niederlage erlitt. Es hatte im Juli 1920 mit den Siegermächten auf einer Konferenz in Spa zu verhandeln und suchte sie vergebens davon zu überzeugen, daß Deutschland bei seiner Gefährdung, sowohl im Inneren durch Aufstände wie an der Ostgrenze durch übermäßige polnische Ansprüche, mit einem Heer von 100 000 Mann nicht auskommen könne, vielmehr wenigstens 200 000 Mann brauche. Außerdem ging es noch um Kohlenlieferungen, zu denen Deutschland durch den Friedensvertrag verpflichtet war. Dabei verdarb der als Sachverständiger beigezogene Ruhrindustrielle Stinnes durch herausforderndes Auftreten alle Verständigungschancen. Die schon fast beherrschend gewordene nationalistische Stimmung in Deutschland wollte den Siegern eine mildernde Revision des Friedens abtrotzen, und das war nicht die Methode, die damals zum Ziele führen konnte. Eingepreßt zwischen außenpolitischem und innerpolitischem Druck wurde die Reichsregierung noch unsicherer, als sie es schon dadurch war, daß sie keine parlamentarische Mehrheit hatte. Damit wurde aber das Parlament selbst zu einer unstabilen Größe. Die Heeresleitung der Reichswehr, die das erkannte, fing daher an, ihren Partner nicht mehr in der Regierung, sondern in der Person des Reichspräsidenten zu suchen, dessen Stellung weit fester geblieben war und an dessen staatsmännischen Fähigkeiten General Seeckt nicht zweifelte. Die verfassungsmäßigen Rechte Eberts waren so groß, daß er die Staatsautorität eine Zeitlang von sich aus wahren konnte, wenn der Reichstag versagte. In den folgenden Jahren zeigte sich, daß nicht mehr das Parlament, sondern der Präsident und das Heer in Partnerschaft die Stützen des Staates wurden. (Wird in der nächsten Ausgabe der Beilage fortgesetzt).
Politik und Zeitgeschichte
AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:
Waldemar Besson: „Franklin D. Roosevelt, der New Deal und die neuen Leitbilder der amerikanischen Politik"
Walter Bußmann: „Der deutsche Reichs-und Nationsgedanke im 19. und 20. Jahrhundert"
Indira Gandhi: „Indien heute"
Charles de Gaulle: „Memoiren"
Philip E. Mosely: „Mythen und Realitäten"
Hans Friedrich Reck: „Die indischen Parteien"
Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"
Wolfgang Schlegel: „Preußisch-deutsche Geschichte als politisch-pädagogisches Problem"
Egmont Zechlin: „Separatfriedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche zur Ausschaltung Rußlands im 1. Weltkrieg" (II. Teil)