Die außenpolitische und militärische Situation des Deutschen Reiches war beim Ausbruch des ersten Weltkrieges denkbar ungünstig und gefährlich. Der Kampf war nicht nur gegen den französischen „Erbfeind“ und gegen das weiträumige Rußland mit seinen Menschenmassen zu führen. Audi die den Erdball umspannende See-und Handelsmacht des britischen Weltreiches war in die Reihe der Gegner getreten; dazu kamen auf dem Balkan Serbien und in Übersee Japan. Um diese Koalition zusammenzubringen, hatten die Mächte der „Triple-Entente“ ihre weltpolitischen Rivalitäten bereinigt oder zurüdegedrängt — die Westmächte vor allem in Nordafrika, das russische Reich und das britische Imperium in Mittelasien. Nun bot der Krieg die Gelegenheit, den neugegründeten Nationalstaat, der sich nach wenigen Jahrzehnten zur stärksten Militär-und zweitgrößten Flottenmacht und zum ernstzunehmenden Handelskonkurrenten mit Kolonien und militärischen Stützpunkten entwickelt hatte, in seine Schranken zu verweisen. Mit einer Mobilmachungsstärke von 5 726 OOO Mann hatten die Alliierten auf dem europäischen Festland gegenüber 3 48 5 000 Mann der Mittelmächte ein Übergewicht, das in Zukunft noch anwachsen mußte. Betrug doch das Kräftepotential allein ihrer weißen Bevölkerung — einschließlich Übersee — 280 Millionen Menschen gegenüber 118 Millionen der Mittelmächte.
Diesen blieb militärisch nur noch die Chance, in den ersten Wochen und Monaten eine Entscheidung zu erzwingen, d. h. in dieser Zeit in Ausnutzung der langsameren Kräfteentwicklung der Engländer und Russen und durch den Vorteil der geographischen Lage, die eine Operation auf der inneren Linie ermöglichte, die Gegner einzeln zu schlagen. Das setzte freilich eine geniale Führung vor aus, wie man sie höchstens in der Erinnerung an Friedrich des Großen und an den älteren Moltke sowie an die Tradition eines Clausewitz erwarten konnte.
Die Frage drängt sich auf, ob es nicht auch Politisch-diplomatische Mittel gab, die zu einem ür Deutschland günstigeren Verlauf des Krieges beitragen konnten. Die deutsche Staatsführung hatte nicht verhindern können, daß sich die Mächte zu einer so gefährlichen Koalition zusammenfanden; um so mehr stellte ihr der Krieg die Aufgabe, sie durch einen Teilfrieden zu sprengen. Damit ergibt sich die weitere Frage, ob diese Möglichkeit vorhanden war, ob sie von der deutschen Führung erkannt wurde, und warum etwaige Bemühungen darum gescheitert sind. Denn auch mißlungene Aktionen gehören zum Wirkungszusammenhang der Geschichte.
Nachdem jetzt auf dem Umwege über den Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg die deutschen Akten des Ersten Weltkrieges zugänglich geworden sind, rückt ein solches Thema in den Bereich der primären Quellenforschung.
Allerdings birgt die Auswertung des bisher verschlossenen Materials eine Reihe von Gefahren in sich. Hier ist nicht einmal an die Vorstellung gedacht, daß die Akten etwa gar nicht das Eigentliche und Wesentliche enthielten. Denn noch wurde der Schriftverkehr der telefonischen Auseinandersetzung vorgezogen, und es gab auch kaum die Rücksicht auf eine spätere Veröffentlichung der Papiere. Geradezu verwunderlich erscheint es sogar, wie viele und welche Einzelheiten von Männern wie Bethmann-Hollweg, Jagow und Zimmermann handschriftlich entworfen oder mit Korrekturen, Einfügungen und Randbemerkungen versehen wurden. Aber diese Geschäfts-akten sind nur Überbleibsel eines diplomatischen Vorgangs, sie müssen unter Berücksichtigung der Psyche des Empfängers und des Adressaten und der jeweiligen Situation, in ihrer taktischen Bestimmung und unter den zeitlichen Bedingungen verstanden werden. Andernfalls kann es zu vergröbernden und vereinfachenden Schlüssen kommen. So hat die Fülle der in den Archiven aufbewahrten Annexionsprogramme aus dem Schriftverkehr der Instanzen und Interessengruppen bereits zu der Vorstellung einer konstanten und einheitlichen Kriegszielpolitik der deutschen Regierung im ersten Weltkrieg verlockt. Das fügt sich dann ein in die von einer Kontinuität der deutschen Kriegs-zielein den beiden Weltkriegen und in die, daß deren Anfänge bereits in den Jahren vor dem Kriegsausbruch zu suchen seien. Im Zusammenhang unserer Untersuchung wird sich aber zeigen, daß Bethmann gegenüber den Kriegszielprogrammen, die vn verschiedensten Seiten an ihn herangetragen wurden, eine starke Reserve gewahrt und seinerseits kein festes Kriegszielprogramm vertreten hat.
Unter den vielfachen und weitverzweigten Bemühungen der deutschen Diplomatie um eine Anknüpfung nach dieser oder jener Seite erweisen sich die Bestrebungen um einen Sonderfrieden mit Rußland als das Zentralproblem. Die ständigen Versuche, eine Basis für Verhandlungen mit der zaristischen Regierung zu schaffen, waren jedoch nur einer der Wege zu diesem Ziel und die Methoden der klassischen Diplomatie nur eines der Mittel, um den großen Gegner im Osten auszuschalten. Vom Beginn des Krieges an war die deutsche Regierung darüber hinaus bemüht, auch in die inneren Auseinandersetzungen des russischen Reiches einzugreifen und die Feinde des Zarenregimes und des herrschenden Großrussentums zum Kampf zu veranlassen oder wenigstens Aufstände zu entfesseln und Unruhen hervorzurufen.
Eine Analyse dieser revolutionierenden Kampfmittel ist kaum weniger interessant als die Beschäftigung mit den geheimen Bemühungen, den Zaren für einen Sonderfrieden zu gewinnen. Beides stand in Wechselbeziehungen zueinander, sei es, daß mit Rücksicht auf das Spiel der Diplomatie revolutionäre Aktionen gebremst und wieder ausgenommen wurden, wenn die konventionellen Mittel versagten, oder daß man, um den Gegner friedenswillig zu machen, versuchte, seine Kampfkraft zu schwächen. Die Frage war dann allerdings, ob der Zar eher in einer Anlehnung an die deutsche Monarchie den Weg sah, um den Druck der revolutionären Bewegung zu begegnen, oder ob er gerade für seinen Thron fürchten mußte, wenn er sich auf einen Frieden einließ, der nicht die Anstrengungen und Opfer wert war, die das russische Volk gebracht hatte.
Für die Politik der Revolutionierung schienen sich mancherlei Ansatzpunkte zu bieten. Da waren die Fremdvölker in den Randzonen des russischen Reiches, die von den Großrussen mit Russifizierungsmaßnahmen bedrängt wurden: Finnen, Baltendeutsche, Esten, Letten, Litauer, Polen, Weißrussen und Ukrainer und nicht zuletzt die jüdische Bevölkerung; im Kaukasus erschienen christliche Georgier und muslimische Tscherkessen als revolutionäre Potenzen und auch im übrigen Rußland gab es Mohammedaner. Es gab aber auch kein Land, in dem eine sozialistische Umsturzbewegung so verbreitet gewesen wäre wie in Rußland. War das zaristische Regime früher von anarchistisch-nihilistischen Attentaten bedroht worden, so brachten in den letzten Jahren bis unmittelbar in den Wochen vor dem Kriegsausbruch politische Massenstreiks einen Umfang und eine Kraft der sozialistischen Bewegung zum Ausdruck, die nicht nur von der russischen Regierung zu beachten waren.
So ist es der besondere Reiz unseres Themas, daß es in sehr verschiedene soziale Schichten bineinführt. Wir haben es zu tun mit den verwandtschaftlichen Beziehungen der Fürstenhäuser und mit dem Treiben von Hofleuten und Vertrauten des Zarenpaares in Zarskoje Selo. Wir stoßen auf Kontakte des Auswärtigen Amtes zu russischen Diplomaten im neutralen und im feindlichen Ausland, und wir haben uns zu beschäftigen mit Verbindungen von Banken, Industrieunternehmen und deren Agenturen zur russischen Finanzwelt. Es sei aber auch erwähnt, daß Reichskanzler und Staatssekretär sich mitunter auf höchst zweifelhafte Angebote einließen, z. B. das einer Vermittlung zu dem mystischen Kreis um das Zarenpaar, und daß selbst der Gedanke gehegt wurde, Rasputin zu gewinnen — sogar noch als er, wie sich dann erst herausstellte, tatsächlich schon tot war.
Gleichzeitig und in mannigfacher Eigengesetzlichkeit wurden die Verbindungen zu den revolutionären Sozialisten geschaffen, vor allem zu denen der Emigration in Bern und Genf, in Stockholm, Kopenhagen, Bukarest und Sofia. Oft waren die Träger der nationalen Bewegungen, mit denen die deutsche Regierung in Verbindung kam, Personen, die gleichzeitig den sozialen Umsturz propagierten.
Damit ergeben sich auch neue Gesichtspunkte für die Urteilsbildung über die deutsche Führung. Denn es sind die gleichen Personen, die mit den überkommenen Methoden der Diplomatie und gar auf der Basis der monarchischen Solidarität arbeiten und die ebenso dabei sind, das revolutionäre Feuer gegen das Zarenregime anzuzünden. Der Historiker fragt sich schließlich mit einiger Verwirrung, ob hier Beamte der Wilhelmstraße und Offiziere des deutschen Nachrichtendienstes lediglich Kampfmittel der politischen Kriegsführung zum Einsatz brachten oder etwa die Ordnung Osteuropas nach dem Nationalitätenprinzip betrieben. Schließlich befand sich das Deutsche Reich doch in einem Bündnis mit einem Vielvölkerstaat, einem dynastischen Gebilde, das von einer osteuropäischen Revolution unmittelbar gefährdet worden wäre. Und gerade in Deutschland war seit dem Aus-gang des 19. Jahrhunderts und dann angesichts der russischen Revolution von 1905 die Furcht vor einem sozialen Umsturz verbreitet. Für die Bolschewisten um Lenin war es sogar ein Glaubenssatz, daß der imperialistische Krieg die soziale Revolution in Deutschland heraufbeschwören würde.
Die Stellung der deutschen Regierung zu den in unserer Untersuchung behandelten Aufgaben und Problemen erscheint also in vielem widerspruchsvoll. Oft läßt sich auch nicht erkennen, ob es sich um die Politik etwa des Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Amt handelt, die nur vom Reichskanzler eine kürzere oder eine längere Zeit gedeckt wurde. Immer wieder sind die Wandlungen der strategischen Lage zu berücksichtigen und der Gegensatz militärischer und politischer Denkweise sowie die Rivalität militärischer und politischer Institutionen, ja auch der militärischen Behörden in der Heimat und im Felde. Vor allem gehört in den Kreis unserer Betrachtung das Verhältnis der regierenden Bürokratie zu dem komplexen und in mannigfachen Farben schillernden Machtfaktor, „öffentliche Meinung“ genannt, die, von nationalen Leidenschaften getrieben, ein emotionales Element in die Staatspolitik brachte. Schon Bismarck war von ihr beeinflußt worden; eine seiner folgereichsten Taten, die Annexion von Elsaß-Lothringen, die er später selbst zum Teil als eine Fehlentscheidung erkannt hat, geschah unter dem Druck der populären Forderung und strategischer Interessen. Mit beiden Kräften und ihren Repräsentanten hat sich die politische Führung im ersten Weltkrieg von Anfang an immer wieder auseinandersetzen müssen. Bethmann-Hollweg jedenfalls hat es immer wieder empfunden, daß die Handlungen der Regierungen sogar schon vor Ausbruch des Krieges unter der Herrschaft überpersönlicher Gewalten standen, deren Wirksamkeit soviel mächtiger sein kann als die des Einzelmenschen.
I. Kapitel Nation und Regierung nach dem Kriegsausbruch
Der Reichskanzler v. Bethmann-Hollweg und der Staatssekretär des Auswärtigen v. Jagow haben sich nach dem Ersten Weltkrieg mehrfach zu der Frage versäumter Friedensmöglichkeiten geäußert, so auch zu der eines Separatfriedens mit Rußland. Von Anfang an, sagte Jagow vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuß 1), habe die Reichsleitung versucht, „nachdem die Marneschlacht verloren war und der Friede immer dringlicher wurde“, nach allen Richtungen auszublicken, ob sich nicht eine Friedensmöglichkeit böte, und zwar ohne sich von vornherein auf einen allgemeinen oder auf einen Ost-oder Westfrieden festzulegen: „Wir haben nehmen wollen, was wir kriegen konnten". Auch Bethmann-Hollweg schreibt von diesen Sondierungen, die auf verschiedenen Wegen und mit verschiedensten Mitteln bei den westlichen wie bei den östlichen Gegnern angestellt worden seien, um „wenigstens nach einer Seite hin Luft“ zu haben und um für die Seite zu optieren, die eine Möglichkeit zum Frieden böte
Bethmann-Hollweg lenkt in seinen Erinnerungen den Blick auch auf die Problematik solcher Bemühungen: einerseits mußte er Friedens-und Verhandlungsbereitschaft zeigen, um frie-dcnswilligen Minoritäten in feindlichen Ländern zum Sieg über militante Elemente zu verhelfen, andererseits aber „Schwächeallüren“ vermeiden; so habe er Reichstagsreden gehalten, die im Ausland als Zeichen ungerechtfertigter Siegeszuversicht verstanden wurden. Vor allem hätten die „zwangsläufigen Auswirkungen" des Kriegsfurors die Möglichkeit nahezu aller Friedens-versuche begrenzt, „die einen im Keime er-stickt und das Schicksal der anderen besiegelt“. Er beklagt, daß ihm dadurch die „Beweglichkeit und Wandelbarkeit der Kabinettspolitik“ früherer Jahrhunderte gefehlt habe: „Die Maschine der Kriegsleidenschaft, zu Kriegszwecken geschaffen und zu immer größerer Macht ausgestaltet, hat die Politik der Staaten in der einmal eingeschlagenen Richtung festgehalten“.
Damit ist ein Problem der Epoche angedeutet, das die Politik und alle Versuche zur Verständigung der Völker und Wiederherstellung des Friedens belastet hat. Es handelte sich in diesem „Zeitalter des Imperialismus“ nicht nur um den Drang nach Rohstoffquellen, Absatzmärkten und Einflußgebieten für Kapitalinvestierung, um Auswirkungen eines Wandels der Produktionsverhältnisse im Zuge der Industrialisierung und rapiden Bevölkerungszunahme. Zu den Bedingungen, unter denen die Diplomaten zu arbeiten hatten, gehörte auch, daß die Idee der Nation eine Veränderung ersah-ren hatte. Mit fortschreitender Demokratisierung und Politisierung des öffentlichen Lebens waren Kraftbewußtsein und nationaler Ehrgeiz der Völker gewachsen, und damit Geltungsdrang und Prestigebedürfnis. Im Gegensatz zum nationalen Ethos der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das auch die anderen Völker als Organismen in ihren Lebensbedingungen anerkannte, hatte jetzt das Vaterland einen so absoluten Wert erhalten, daß sich das politische Denken fast ausschließlich an dieser Idee orientierte.
Kräfte des Emotionalen und Unbewußten gewannen mehr als bisher Anteil an den politischen Auseinandersetzungen der Völker. Hinzu kam das Eindringen einer mehr naturalistisch orientierten Weltanschauung in das gesellschaftlich-politische Leben. Mit der biologischen Lehre des Darwinismus erhielten die Machtauseinandersetzungen der Nationen den Charakter eines Kampfes ums Dasein, in welchem die Überwältigung des Schwächeren durch den Stärkeren als ein Selektionsprozeß der Natur erschien.
Obersteigerung des Nationalismus
Je mehr aber Macht und Ruhm der eigenen Nation zum absoluten Wertmaßstab der Politik wurden und sich im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Triebkräften der Nationalismus zum Imperialismus steigerte, desto schwerer wurde es für die Regierungen, Konflikte nach den Regeln der Kabinettspolitik im Ausgleich der Interessen zu lösen. Im gleichen Maße verschärften sich die historischen Gegensätze wie die deutsch-französischen, die russisch-österreichischen auf dem Balkan und andere auf dem Felde der Weltpolitik. Nicht dynastischer Ehrgeiz bedrohte den Frieden und erschwerte das Zusammenleben der Völker, sondern dieser rivalisierende Nationalismus. Bismarck hatte ihn gebändigt, indem er die jeweiligen Mächte gegeneinander ausbalancierte; auch seine Kolonialpolitik stand in funktionellem Zusammenhang mit diesem kontinentaleuropäischen System. Nach seinem Sturz fehlte ein Regulativ für die Staatenwelt. Als diese sich am Ende des Jahrhunderts durch die beiden außereuropäischen Mächte, Japan und die USA, zu einem Weltstaatensystem erweiterte, war der Anteil der populären Leidenschaften noch vermehrt worden. Schon die Vorkriegskrisen und dann die Julikrise von 1914 sind Beispiele dafür, daß der Staatsräson von nationalem Prestigebedürfnis und von der Rücksicht auf nationale Leidenschaften Schranken gesetzt wurden. Beim Kriegsausbruch aber steigerte sich der Nationalismus zu gegenseitigem Haß der Völker. In jenen Wochen wurde er mit seiner emotionalen Eigengesetzlichkeit zu einer Triebkraft, die nicht nur die Gemüter beherrschte, sondern auch von den Regierungen und Interessengruppen in den Dienst der Krieg-führung gestellt werden konnte und wurde, um dann wiederum auf deren Entschließungen rückzuwirken. Und da bei allen Völkern der Glaube an das sittliche Recht des Krieges und die Über-zeugung verbreitet war, für eine gute Sache zu kämpfen, gewannen materielle und machtpolitische Ziele unschwer den Schein moralischer Berechtigung.
Bethmann-Hollweg hat die Gewalt der großen Zeitströmungen — gewissermaßen als Entschuldigung für die Fehler der Regierungen — einmal aufgezählt: „Der Imperialismus, Nationalismus und wirtschaftliche Materialismus, der während des letzten Menschenalters in der großen Linie die Politik aller Nationen bestimmte, setzte ihnen Ziele, deren Verfolgung für jede einzelne Nation nur auf Kosten eines allgemeinen Zusammenstoßes möglich war". Ohne diese allgemeine Konstellation sei auch die „wahnsinnige Leidenschaftlichkeit“ nicht erklärbar, die den vom Kriege nicht ergriffenen Ländern keine Ruhe gelassen habe, „bevor sie nicht selbst in das Blutbad untergetaucht waren“
Die deutsche Regierung hatte beim Ausbruch des Krieges erklärt — und das war auch die Überzeugung der weitaus überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes —, daß die Waffen ergriffen würden, um das Reich vor dem Ansturm der Gegner zu verteidigen. Männer wie Bethmann, Jagow oder Wilhelm II. hatten keine auch nur latenten Hegemonialziele. Sie waren auf die abschüssige Bahn des Krieges geraten durch den Mechanismus der Bündnissysteme sowie durch falsche Beurteilung der Reaktion der Kabinette auf die von der deutschen Politik bezogene Position und in Unterschätzung der Kraft der nationalen Leidenschaft der Völker. Mit dem Vormarsch der deutschen Truppen in Frankreich und der gleichzeitigen Bewährung der deutschen Kriegskunst im Osten entwickelte sich aus dem nationalen Enthusiasmus der Mobilmachungstage ein Mythos deutscher Unbesiegbarkeit und das Bewußtsein einer Kraft und Macht der Nation, und damit der Anspruch, ihr auch für die Zukunft den Platz zu sichern, der ihrer Größe und ihrer Kultur gebühre. Es wuchs der Glaube, daß dem deutschen Volke mit diesem Kriege vom Schicksal noch eine größere Aufgabe gestellt worden sei, als sich dem Ansturm der Feinde zu erwehren. War in der Begeisterung der Augusttage die Hoffnung entstanden, daß mit dem Einheitsbewußtsein aller Schichten der Durchbruch zu einer neuen sozialen Lebensform kommen würde, so schien der Krieg nun auch einen tieferen Sinn zu erhalten, wenn damit künftige Geschlechter davor bewahrt würden, wieder in eine so gefährliche Situation zu geraten. Aus der Not der Macht-verteidigung war die Aufgabe der Machtsiche-rung und nun der Anspruch auf Änderung der Machtverhältnisse im Staatensystem erwachsen
Flut der Annexionsforderungen
Die Regierung wurde jetzt von Persönlichkeiten der Wirtschaft und der Politik, darunter auch von Reichstagsabgeordneten, mit Vorschlägen der „Grenzverbesserungen“ oder „Grenzerweiterungen“, sei es im Westen oder im Osten, außerdem Forderungen auf Kriegsentschädigungen geradezu bestürmt. Um nur zu nennen, was Anfang September Matthias Erzberger vorschlug: Annexion Belgiens und des französischen Küsten-gebiets bis Boulogne und der Erzgebiete von Longwy und Briey, Auflösung des russischen Reiches in seine nationalen Bestandteile mit Polen und den russischen Ostseeländern als deutschen Vasallenstaaten und der Ukraine als einem österreichischen, dazu einem deutschen Kolonialreich in Mittelafrika, zu dem der belgische und der französische Kongo gehörten
Die hochgespannten Illusionen und das gesteigerte Kraftbewußtsein der ersten Kriegswochen fanden auch ihren Niederschlag im Schriftverkehr der Wilhelmstraße. Damals war die Regierung der Vereinigten Staaten bemüht, den Frieden zu vermitteln, um sowohl einen Sieg des militaristischen Deutschlands wie eine russische Vorherrschaft in Europa zu verhindern
Der Betrachter, der die spätere Entwicklung kennt, ist geneigt, an dieser Realität solche Konzeptionen und Programme zu messen und sie dementsprechend zu beurteilen und zu verurteilen. Man wird sich jedoch die strategische Lage vor Augen halten, wie sie der politischen Reichs-leitung erschien, als sie sich mit solchen Kriegs-zielen befaßte. Der 9. September 1914 war der Tag, an dem vor den Toren von Paris der deutsche Operationsplan scheiterte. Das war zu dieser Stunde aber weder Zimmermann in Berlin noch Bethmann-Hollweg im Hauptquartier bekannt. Beide rechneten noch mit der feldzugs-entscheidenden Vernichtungsschlacht in Frankreich und damit, daß das Westheer dann in einem raschen Frontwechsel im Osten eingesetzt würde. Da sie, wie wir hörten, auch erwarteten, daß sich jedenfalls bei einem deutschen Vormarsch die von den Großrussen unterdrückten Fremdvölker, wie Finnen, Polen und Ukrainer, erheben würden, ist es schon verständlich, wenn man sich in der deutschen Regierung Gedanken über die künftige Gestaltung Osteuropas machte: daß hier Pufferstaaten entstehen würden und auch mit einem Zurückverlegen der Grenze die russische Gefahr gebannt werden könnte. Am Ende des Krieges sollten es dann die Alliierten sein, die in diesem Raum dem Nationalitätenprinzip zur Durchführung zu verhelfen suchten.
Kriegsziele der Entente
Dem stehen Pläne der Ententemächte über die künftige Gestaltung der europäischen Staatenwelt gegenüber, die ebenfalls in diesen Septemberwochen von 1914 skizziert wurden. Nachdem Frankreich bereits am 4. August in Petersburg sein Kriegsziel Elsaß-Lothringen angemeldet hatte, das auch von den Engländern anerkannt wurde, verständigten sich die Alliierten in einer gegenseitigen Verpflichtung vom 5. September 1914 darüber, daß sie nur gemeinsam Frieden schließen und keiner von ihnen ohne vorhergehende Vereinbarung mit den anderen Friedensbedingungen festlegen sollten. Es war die logische Folge, daß sie nun begannen, sich über ihre Kriegsziele zu verständigen — noch nicht in vertraglicher Form, aber doch im Gedankenaustausch der Außenminister mit den jeweiligen Botschaftern der Bündnispartner, die wiederum Weisungen von ihren Ministern erhielten. So übermittelte am 14. September 1914 der russische Außenminister Sasonow der französischen Regierung ein Kriegszielprogramm — zunächst nur als „Skizze eines Gemäldes, dessen Einschlag noch nicht gewoben ist", wonach das östliche Ostpreußen an Rußland fiel, ebenso unter dem Schlagwort Königreich Polen das östliche Posen, Schlesien und das österreichische Galizien
Die politischen Traditionen der europäischen Mächte kamen auch zum Ausdrude bei den Verhandlungen über die Auflösung Österreich-Ungarns. Die Russen begründeten dieses Kriegsziel feierlich mit dem Nationalitätenprinzip. „Die territorialen Veränderungen müssen durch den Grundsatz der Nationalität bestimmt werden“, heißt Punkt 2 in Sasonows Programm vom 14. September 1914. Die Franzosen aber zeigten sich weniger an der Zertrümmerung der Donau-monarchie interessiert. Delcasse mußte erst von Iswolski an den „Anachronismus" dieses Staats-gebildes erinnert werden, wobei er unter den Völkern, die zu selbständigen Staaten berufen seien, wohlweislich die Polen ausnahm
Es geht hier nicht darum, mit moralischen Maßstäben zu messen, sondern um die Feststellung, daß auch hier die Sprache der Macht gesprochen wurde, ja eine „Dämonie der Macht“ am Werke war, die offenbar keine anderen Wege zum Frieden zuließ.
Das Machtverhältnis der miteinander ringenden Gruppen hatte sich also gerade an dem Tage verschoben, an dem der Unterstaatssekretär Zimmermann Deutschland stark genug glaubte, um in Berlin dem amerikanischen Friedensvermittler sagen zu können, daß Deutschland mit allen Feinden abrechnen wolle. Am folgenden Tage stand in Koblenz Moltke — um es mit den Worten Gröners als Augenzeugen zu sagen — in trostloser Stimmung vor den Trümmern des großen Planes
Illusionen der Öffentlichkeit
Es sollte auch für alles Folgende von entscheidender Bedeutung werden, daß die Kenntnis der Veränderung der militärischen Situation damals auf einen sehr kleinen Kreis beschränkt blieb und auch gegenüber hohen Amtsstellen streng geheim gehalten wurde
Wir haben uns bemüht, die allgemeinen Bedingungen zu charakterisieren, unter denen das Handeln der Regierungen, insbesondere das der deutschen, damals stand. Es war eine Welt, die von nationalen Leidenschaften bewegt wurde, und in der die „öffentliche Meinung“ eine politische Bedeutung hatte wie nie zuvor. Sie konnte das Erkenntnis-und Urteilsvermögen von maßgebenden Persönlichkeiten im Staat, in der Wirtschaft und in der Wissenschaft beeinflussen, aber auch umgekehrt von Interessengruppen benutzt werden, um Bestrebungen und Ziele zu popularisieren, die den Bedürfnissen der modernen Wirtschaft oder der politischen Position einer Gesellschaftsschicht entsprachen. Ein Staatsmann, der sich aus tieferer Einsicht in die Wirklichkeit der Kriegslage und der Machtverhältnisse der Welt aus sittlichem Verantwortungsbewußtsein um eine Verständigung mit den Kriegsgegnern bemühte, war daher ständig in Gefahr, entweder selbst der Suggestivkraft der nationalen Bewegung zu verfallen oder — wenn er sich dagegen stemmte — von einer so mächtigen Strömung zu Fall gebracht zu werden oder aber er geriet in einen lähmenden Zwiespalt und fand nicht mehr die Kraft und vielleicht auch nicht die Macht zur staatsmännischen Führung der Nation.
Zunächst aber brachte die Entwicklung auf den Kriegsschauplätzen eine Situation, die der militärischen Führung eine entscheidende Aufgabe stellte.
2. Die versäumte militärische Chance im Osten
Am 3. November 1914 erkannte die Oberste Heeresleitung, daß die an der Marne preisgegebene Operationsfreiheit nicht mehr zurückzugewinnen war
In diesem Augenblick aber ergab sich aus den Entwicklungen auf den Kriegsschauplätzen eine strategische Gesamtsituation, die den Deutschen noch eine operative Chance gab. Der Zwang zur Defensive im Westen schuf mit der Möglichkeit einer Verringerung der Truppenstärke Voraussetzungen für offensive Kriegführung im Osten. Dort rollte die jetzt auf 45 Armeekorps angewachsene russische „Dampfwalze“ bedrohlich auf Galizien und das oberschlesische Industriegebiet zu, um von da aus, dem russischen Operationsplan entsprechend, zum Vorstoß auf Berlin einzuschwenken
Seit Wochen hatten die österreich-ungarische Armeeführung und Regierung sowie Hindenburg und Ludendorff gedrängt, den Schwerpunkt der Kriegführung nach dem Osten zu verlegen
Während nun Ober-Ost die Operation für den lO. /'ll. November vorbereitete, war der Abmarsch der Verstärkungen von der Westfront aber erst 14 Tage später vorgesehen
Unentschlossenheit Falkenhayns
Nun aber schürzten sich die Ereignisse zu einem Knoten, den mit einem schnellen Entschluß zu durchhauen Falkenhayn sich nicht bereitfand. Denn der neue Angriff auf Ypern am 10. November, der, wie oben angedeutet, nur einem taktischen Ziele galt, brachte eine Niederlage, die an Opfern noch überstieg, was bisher auf den Schlachtfeldern von Flandern geschehen war. Dagegen bestätigte die gleichzeitig — also am 10. /11. November — einsetzende Umfassungsoperation im Osten die Richtigkeit der von den Ostführern der OHL immer wieder vorgetragenen Konzeption, die ja auch Falkenhayn am 7. /8. November eingesehen hatte. Es eröffneten sich mit einem Siege bei Kutno am 11. November Perspektiven für eine strategische Vernichtungsschlacht im Sinne Schliessens. Der Weg war frei für eine deutsche Flügelbewegung, die — kaum anders als es der Kriegsplan im Westen vorgesehen hatte — das feindliche Heer von der Flanke und vom Rücken her umfassen konnte. Die Russen waren damals mit fast ihrer gesamten mobilen Macht einer solchen Umklammerung ausgesetzt, ohne die verkehrstechnischen Möglichkeiten zu Truppenverschiebungen, wie sie den Franzosen in der Marne-Schlacht zur Verfügung gestanden hatten, und hätten sich auch kaum noch dem deutschen Zugriff durch einen Rückzug in die Tiefen ihres Raumes entziehen können. Das wäre allenfalls mit dem anderen der beiden vom russischen Generalstab vorbereiteten Aufmarschpläne möglich gewesen; eben der war aber nicht in Kraft gesetzt worden in der Erwartung, daß die Deutschen ihre Hauptmacht nach Frankreich werfen würden
Auch im großen Hauptquartier war man sich in diesen Tagen der Chance im Osten bewußt. Der Konflikt, in dem sich Falkenhayn befand, aber auch der Starrsinn, mit dem er an der Fehlentscheidung im Westen festhielt, spiegeln sich in einer Gesamtbesprechung wider, zu der er die Generalstabschefs der Westarmeen am 12. November berufen hatte
Als sich Falkenhayn in der Frühe des 18. November endlich zur Einstellung des Angriffs auf Ypern entschloß, sah er sich nur noch in der Lage, ein allmähliches Herausziehen und den Abtransport von abgekämpften Divisionen anzuordnen, die nun am rechten Flügel abkömmlich waren. Auch das geschah, ohne daß er sagen konnte, in welchem Umfange und zu welchem Zeitpunkte sie im Osten eintreffen würden. An eine Freigabe weiterer Kräfte sei in Erwartung feindlicher Durchbruchsversuche — die dann in den folgenden Wochen auch unternommen wurden _ nicht zu denken. In schroffem Gegensatz zu seinem großen Plan der Ostoffensive vom 8.
November hatte der Generalstabschef am 18. November nun auch die Hoffnung auf eine militärische Kriegsentscheidung im Osten aufgegeben. Auch dort kam für ihn nun nur noch eine hinhaltende Kriegführung in Betracht. Wie er au diesem 18. November Hindenburg auf die Anfrage nach den versprochenen Verstärkungen mitteilte, hielt er im besten Falle ein Zurückdrängen der Russen hinter den Na-rew-und Weichselbogen oder auf ihre Brückenköpfe und die Rückeroberung Galiziens für erreichbar
3. Die Idee des Sonderfriedens mit Rußland
Es war am 15. November, als Falkenhayn dem Staatssekretär der Marine gestand, daß der Übergang zum „Positionskrieg" im Westen doch ein Weiterkommen auch im Norden fraglich erscheinen lasse; man müsse sich daher im Westen darauf beschränken, die jetzige Stellung zu halten, um Truppen nach dem Osten werfen zu können: „Die ganze Situation sei schwierig und ernst“
In diesem Gespräch der beiden Repräsentanten von Heer und Marine ist der Ansatz für eine Linie der deutschen Außenpolitik erkennbar, die wenn auch zeitweise zurücktretend, bis zur russischen Märzrevolution fortgesetzt werden sollte. Auch die Problematik dieser von Tirpitz verschlagenen „politischen Lösung“ trat hervor: die Tatsache nämlich, daß das Bündnis mit dem habsburgischen Nationalitätenstaat und mit dem Osmanischen Reich als Besitzer der Meerengen die Verständigung mit Rußland erschwerte. Demgegenüber tauchte jedoch das Argument einer deutsch-russischen Interessengemeinschaft gegen England auf, mit dem die deutsche Diplomatie dann auch am Zarenhofe operiert hat.
18. November 1914: Kein vollständiger Sieg mehr möglich
Drei Tage später — am 18. November — kam es zu einer grundsätzlichen Aussprache zwischen Falkenhayn und Bethmann-Hollweg
Der Reichskanzler mußte also wenige Monate nach dem Kriegsausbruch feststellen, daß, nach den „allerdings stets reservierten“ Mitteilungen des Generalstabs — keine Chancen für einen militärischen Sieg mehr bestanden. Allenfalls werde der Krieg wegen allgemeiner gegenseitiger Erschöpfung ohne ausgesprochene Niederlage der einen oder der andern Partei enden. Er meinte aber auch damit rechnen zu müssen, daß der Krieg durch etwaige niemals ausgeschlossene militärische Rückschläge eine „im ganzen für uns ungünstige" Wendung nehmen würde. „Nimmt man alles in allem, so muß man trotz aller Zuversicht die Situation als ernst bezeichnen“. Unter diesen Umständen, so informierte Bethmann-Hollweg den in Berlin amtierenden Unterstaatssekretär Zimmermann, habe er sich „dem fortgesetzten Drängen des Generals v. Falkenhayn auf Separatverständigung mit Rußland“ nicht entziehen können. Man müsse also versuchen, „Rußland abzusprengen". Es würde wohl, meinte er, dem Gedanken des Generalstabschefs folgend, auf eine Verständigung mit Rußland über den Status quo hinauslaufen, d. h. daß die Verhältnisse dort „im wesentlichen so blieben wie vor dem Kriege“.
Allerdings gab es da noch ein militärisches Problem zu lösen. Der Kanzler griff wohl die Anregungen des Generalstabschefs mit auffälliger Bereitwilligkeit auf und war vielleicht sogar tiefer und aufrichtiger von der Notwendigkeit diplomatischer Verhandlungen überzeugt als dieser, der unter der Auswirkung eines seelischen Schocks und nach dem Scheitern der militärischen Pläne nach einem Ausweg suchte. Aber Bethmann war nicht bereit, die ihm von der militärischen Führung gestellte Aufgabe zu übernehmen, ohne daß diese die dafür erforderlichen militärischen Voraussetzungen schuf. Denn zunächst sah er gar keine Anzeichen, daß Rußland zu einer Verständigung bereit sei. Wenn Falkenhayn Bereitwilligkeit von einem erneuten Sieg Hindenburgs erwartete, so würde das nach Bethmanns Dafürhalten nicht aus-reichen.
Hier liegt denn auch der schwache Punkt der Falkenhaynschen Argumentation und eine gewisse Unaufrichtigkeit seines Ansinnens an die Diplomatie. Offensichtlich wurde die entscheidende Frage der militärischen Voraussetzungen von ihm bagatellisiert. Ohne entscheidend geschlagen zu sein, sollten sich die Russen auf einen Sonderfrieden einlassen, und zwar auf einen Frieden, der ihnen knapp den Status quo gewährte. Immerhin war von einer Kriegsentschädigung und sogar von einer strategischen „Grenzkorrektur“ die Rede, hinter der sich offenbar der Wunsch nach einem „Grenzschutz-streifen" für das exponierte Ostpreußen durch die Annexion der Njemen-Narewlinie verbarg, ein Wunsch, der sogar von den ausgesprochenen Anhängern deutsch-russischer Verständigung vertreten wurde
Mögliche Rückwirkungen deutscher Verhandlungsbereitschaft
Der Kanzler fürchtete aber auch, daß eine deutsche Initiative von der gesamten Tripleentente als Schwäche ausgelegt werden würde. Hier wird ein Problem angesprochen, das nahezu alle deutschen Friedenssondierungen überschatten sollte: die — nicht unberechtigte — Sorge, daß Verhandlungsbereitschaft den Eindruck erweckte, als ob Deutschland auf einen baldigen Friedensabschluß angewiesen sei. Es bestand die Gefahr, daß jedes Zeichen eines solchen Bedürfnisses dem Gegner eine propagandistische Waffe liefern und — wie es Bethmann in diesem Falle für Frankreich befürchtete — — eher etwaige Friedensneigungen ersticken würde. Wir werden uns noch mit der Taktik Bethmanns beschäftigen, gerade dann, wenn er einen Weg zum Frieden zu finden suchte, die Stärke der deutschen Position vorzutäuschen.
Unsere Bemühungen, die Motive und Ziele dieser Friedenspolitik zu erfassen, erfordern aber auch einen Blick darauf, was sich Falkenhayn und was sich Bethmann für die weitere Entwicklung des Krieges davon erhofften. Wie Bethmann die Ansichten des Generalstabschefs wiedergibt, sollte der Ostfriede nicht einmal dazu dienen, den Sieg über Frankreich zu erringen, der Deutschland im Westen einen Ausgleich für den Verzicht im Osten geben würde. Zwar hielt es Falkenhayn dann für möglich, Frankreich und England entscheidend zu schlagen, er rechnete aber damit, daß Frankreich nach einem russischen Separatfrieden klein beigeben würde. Mit einem ehrenvollen Frieden, der seine territoriale Integrität im wesentlichen wahre, könne dann der Weg zu einer deutsch-französischen Verständigung geöffnet werden. Das biete dann die Möglichkeit, den Krieg gegen England als den eigentlichen Gegner zu führen und Deutschland durch Kriegsgewinne auf kolonialem Gebiet zu entschädigen. Es ist die po-litische Konzeption von Tirpitz, die hinter solchen Erwägungen steht und die sich hier mit dem Wunsche verbindet, den offensiven Land-krieg an beiden Fronten einzustellen.
Demgegenüber ist der Gedankengang Bethmanns komplizierter und undurchsichtiger, zum mindesten schwerer zu verstehen. Denn er malt einmal das Bild, daß Deutschland um den Preis des Status quo im Osten „gegen Westen hin die uns passenden Zustände" schaffen und, wenn es dies für richtig halte, selbst ein etwaiges Friedensangebot Frankreichs zurückweisen könne. Deutschland könnte Frankreich dann, so heißt es sogar, „militärisch so auf die Knie zwingen, daß es jeden von uns gewünschten Frieden annehmen muß, und zugleich, wenn die Marine hält, was sie verspricht, England unseren Willen aufzwingen". Im Widerspruch dazu will er in seinem, wie er es nennt, „Räsonnement" aber nicht verschweigen, daß auch im Falle der Absprengung Rußlands „die Hoffnung auf einen absoluten Sieg über Frankreich und England nicht ganz ungewagt“ sei. Er könne auch in keiner Weise beurteilen, ob die Marine überhaupt für eine gewisse Dauer imstande sei, England die Lebensmittelzufuhr abzuschneiden. Es war die Tragik dieses Reichskanzlers, daß er von Anfang an die Schwierigkeiten und Hindernisse sah, die einem russischen Separatfrieden entgegenstanden, und daß er sich aus dieser Einsicht heraus später — freilich vergeblich — gegen Maßnahmen gesträubt hat, die eine solche Verständigungspolitik durchkreuzen mußten, um wieder den Vorwurf auf sich zu laden, dadurch den Sonderfrieden mit Rußland verhindert zu haben.
Der Friedensvorschlag Falkenhayns erweckte bei Bethmann-Hollweg aber auch den Verdacht, „daß dabei noch andere Kalküls mitsprechen“: der Wunsch nämlich, „für alle Fälle die Schuldfrage günstig zu regulieren". Das ist eine Anspielung darauf, daß die militärische Führung hier die Verantwortung für die weitere Entwicklung und das Odium etwa für einen schlechten Kriegsausgang der Diplomatie zuschieben will.
Später, als die Bemühungen um den russischen Frieden im Sommer 1915 scheitern, wird Falkenhayn dem Kanzler prompt den Vorwurf machen, daß die politische Leitung den richtigen Zeitpunkt für die Anknüpfung mit Rußland versäumt habe. Bethmann weist deshalb mehrmals auf den militärischen Ursprung seines „Rä-sonnements" hin, daß es auf „ganz nüchternen und überdies durch die Umstände beeinflußten Erwägungen“ der OHL beruhe — im Einzelnen nennt er die Offensivkraft der Franzosen, die schwierige Stellung bei Ypern und den „momentanen sehr peinlichen Mangel an Artillerie-munition“. Das habe die OHL so beeindruckt, daß sie „jedenfalls eine ausgesprochene Kriegs-freudigkeit nicht mehr zeigt“.
Damit erscheint die Aussprache zwischen Kanzler und Generalstab am 18. November 1914 nicht nur als ein bedeutsamer Tag in der Geschichte der deutschen Außenpolitik des Ersten Weltkrieges, sondern auch als ein instruktiver Beitrag zum Thema Politik und Kriegsführung. Das wird noch deutlicher, wenn man sich der Vorgänge erinnert, die sich in den letzten Tagen vor dem Kriegsausbruch in Berlin abgespielt hatten
Nun war die militärische Aktion gescheitert, um deretwillen sich die politische Leitung am 31. Juli der anlaufenden Kriegsmaschinerie unterworfen hatte. Und nun verlangte die militärische Führung von der Diplomatie eine Aktion, deren Wirkungskreis, wie die politische Leitung sehr wohl erkannte, durch die Eigengesetzlichkeit des militärischen Ablaufes Grenzen gezogen waren. Die diplomatische Offensive setzte nach Bethmanns Ansicht eine militärische Offensive voraus, und zwar nach Meinung der politischen Führung eine weitergreifende als die militärische Führung für möglich hielt. *
4. Ein dänisches Vermittlungsangebot
Am gleichen Tage, an dem in Charleville Generalstabschef und Reichskanzler über den Sonderfrieden mit Rußland sprachen, schien sich ein Weg zu bieten, mit den Russen ins Gespräch zu kommen. Die Initiative, die Bethmann-Hollweg vermeiden wollte und die auch von Rußland kaum zu erwarten war, kam nun von dritter Seite. Am 18. November erschien beim deutschen Gesandten in Kopenhagen, Graf Brockdorff-Rantzau, und zwei Tage später in Berlin bei dem Generaldirektor der Hapag, Albert Ballin
Albert Ballin hatte sich auf dem Gebiet der internationalen Handelsschiffahrt als ein besonders erfolgreicher Verhandlungsführer erwiesen und es dabei verstanden, auch widerstreitende internationale Interessengegensätze auszuglei-dien. Bülow bezeugt ihm nicht nur scharfen Verstand, sondern „einen Verstand mit Res-sourcen“ — „er wußte und fand immer einen Ausweg“
Der Kriegsausbruch hatte den Generaldirektor der Hapag besonders hart getroffen. Geradezu „erschrocken“ aber war er „über die uferlosen Gedanken, denen nicht nur die Berliner, sondern auch hervorragende Männer aus Rheinland und Westfalen sich hingeben“ und darüber, daß die Wut gegen England — „und zumal hier in Hamburg“ — so maßlos sei
Deutsch-englische Verständigung?
Auch Ballin machte sich Gedanken über den Friedensschluß, was um so mehr ins Gewicht fiel, als er ja sowohl mit Bethmann-Hollweg als auch mit Tirpitz und Admiral v. Müller, dem Chef des Marinekabinetts, in unmittelbaren persönlichen Beziehungen und im Gedankenaustausch stand und vor allem auch das Ohr des Kaisers hatte. Ballin vertrat den Gedanken der deutsch-englischen Verständigung und wollte den Kampf um die deutsche Weltgeltung lediglich mit wirtschaftlichen Mitteln führen. Darum war er sogar ein Gegner des Schlachtflottenbaus gewesen, in dem er den eigentlichen Grund des deutsch-englischen Zerwürfnisses sah
In Charleville, wo die Niederschrift dieser Unterredung am 24. November dem Kaiser vorlag, von dem sie noch am gleichen Tage an Falkenhayn und von diesem dem Reichskanzler übermittelt wurde
Schwerste Bedenken der politischen Reichsleitung
An dem von militärischer Seite forcierten Beschluß, ohne Verzug auf einen russischen Separatfrieden hinzuarbeiten, vermochte es nichts mehr zu ändern, daß am 27. November innerhalb der politischen Reichsleitung noch einmal schwerste Bedenken erhoben wurden. Der Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amtes, Zimmermann, legte in einer umfangreichen Denkschrift
Erst wenn dazu die deutschen Kräfte nicht ausreichen sollten, gab Zimmermann zu, daß ein Separatfriede mit Rußland in Frage käme. Aber er machte ihn von zwei Bedingungen abhängig. Einmal müßten Deutschlands Bundesgenossen ihm zustimmen können, und zum anderen bestand er auf der Notwendigkeit militärischer Vorleistungen im Osten. Hierfür wies Zimmermann jedoch einen anderen Weg als Falkenhayn und Bethmann-Hollweg, die vor allem an Operationen in Polen gedacht hatten, und er griff damit zugleich eine strategische Kontroverse wieder auf, die bereits seit einiger Zeit zwischen militärischer und politischer Leitung bestand. Zimmermann glaubte, Rußland sei nur durch einen Feldzug gegen Serbien separatfriedensreif zu machen, der die Russen in ihrer angemaßten Rolle als Protektoren aller Slawen kompromittieren würde und sie ihrer panslawistischen Balkanhoffnungen, vor allem der Hoffnung auf Konstantinopel und die Meerengen beraubte. Hätte Deutschland durch den Serbienfeldzug, auf den auch die Österreicher drängten, erst die serbische Nordostecke bereinigt und die Versorgung der Türkei sichergestellt, so werde Rußland voraussichtlich für „billige Friedensbedingung“, also etwa territorialen Status quo und eine mäßige Kriegsentschädigung, zu haben sein
Wie hinter Falkenhayns Eröffnungen vom 18. November die englandfeindliche und rußlandfreundliche Konzeption Tirpitz’ als des vielleicht markantesten Vertreters einer deutschen „Ostorientierung“ sichtbar wurde, so waren auch Zimmermanns Ansichten in einer politischen Konzeption begründet, die das Urteil über eine aktuelle Angelegenheit weitgehend beeinflußte. Zimmermann war ein Vorkämpfer der deutschen Orient-und Balkanpolitik und grundsätzlich antirussisch eingestellt. Er hielt die russischen „Expansionsgelüste", die „panslawistischen Treibereien" für unabänderlich, die nicht nur Österreich und die Türkei, sondern das Reich selbst in seiner Existenz bedrohten. Für den Gedanken eines Verständigungsfriedens mit Rußland sprach er sich daher nur unter großen Vorbehalten und sozusagen als letzte Möglichkeit aus.
Orientierung nach Wunschbildern
Mochte die Frage der Sprengung der Entente von der Kriegssituation her betrachtet nur eine taktische Maßnahme sein, die sich daran orientierte, welcher Gegner der schwächste war und für den Separatfrieden als besonders zugänglich galt, so waren doch die tiefergehenden Konsequenzen einer deutschen West-oder Ostorientierung von der Separatfriedensfrage nicht zu trennen. Bezeichnend ist, daß bei den verantwortlichen Männern das kritische Urteil über die Situation an einem Punkt aussetzte und durch das Schema oder Wunschbild der vorgegebenen politischen Konzeption ersetzt wurde. Waren Tirpitz-Falkenhayn hinsichtlich einer Verständigung mit Rußland unkritisch und auffallend optimistisch, so daß sie den Widerspruch der politischen Leitung herausforderten, so war Zimmermann es nicht minder, wenn er umgekehrt meinte, am leichtesten werde ein Separatfriede mit Frankreich zu erzielen sein. Die Hauptschwierigkeit jeder deutsch-französischen Verständigung, Elsaß-Lothringen, wurde von ihm nicht einmal erwähnt. Bietet sich hier ein Blick in einen grundsätzlichen Gegensatz innerhalb der außenpolitischen Führung, so ist auch das Verfahren aufschlußreich, mit dem der Friedensschritt eingeleitet wurde. Die Sprachregelung gegenüber dem Vermittler und damit gegenüber dem Gegner, wie auch die für den Bundesgenossen verraten das taktische Bedürfnis, den Anschein der Schwäche zu vermeiden. Gegenüber der Wiener Regierung ist man einmal bemüht, die Angelegenheit zu bagatellisieren. Tschirschky sollte den Eindruck vermeiden, „als ob wir der Sadie einen wirklich ernsten Charakter beilägen“. Und zum andern wird das Friedensbedürfnis dem Gegner zugeschoben. Das dänische Anerbieten sei ein „Symptom für die allgemeine Lage“
Sollte mit solchen Formulierungen verhindert werden, daß das Friedensbedürfnis der deutschen Regierung als Schwäche ausgelegt wurde, so verschwieg man gegenüber Ballin, Andersen und König Christian und ebenso gegenüber der Wiener Regierung ausdrücklich, daß Deutschland das Angebot der Vermittlung eines allgemeinen Friedens benutzen wollte, um einen Separatfrieden mit Rußland zu erreichen. Denn daß es darum ging, verraten die Akten mit aller Deutlichkeit. „Seine Majestät wünscht dringend, ebenso wie Herr von Falkenhayn, Separatverständigung mit Rußland“, hieß es in Bethmanns Telegramm vom 25. November an das Auswärtige Amt
In Kopenhagen reagierte man schnell. Andersen kam sogar noch früher, als er in einem ersten Telegramm angab; sein König, so berichtete er, habe ihn noch am späten Abend in seinem Haus ausgesucht, um ihn zu bewegen, sofort abzureisen
Hoffnung auf die Mutter des Zaren
Es charakterisiert diese diplomatische Aktion der deutschen Regierung, daß der Reichskanzler seine Hoffnung auf die Mutter des Zaren setzte. Nach seiner Interpretation der Äußerungen Andersens ging die „Demarche“ des dänischen Königs überhaupt auf sie zurück. Er sei überzeugt, meldete Bethmann auch dem Kaiser, daß die Zarinmutter den Friedensgedanken betreibe, während in London nur die Mutter des Königs den Wunsch nach Frieden zum Ausdruck gebracht, Grey dagegen lediglich in allgemeinen Redewendungen den Wunsch geäußert hätte, daß Deutschland und England zusammengehen müssen
zu bezeichnen wäre. Aber auch nach seinem Urteil ständen ihr die Sorgen um den Sohn und den Thronerben höher als ihre „heimatlichen Gefühle“.
Der Blick des Historikers fällt hier auf die Sphäre des russischen Hoflebens mit ihren Intrigen und Machtkämpfen, und wir werden auch noch von weiteren Versuchen der deutschen Politik hören, hier einzudringen, um mit einflußreichen Persönlichkeiten in Verbindung zu kommen. Ob die Zarinmutter wirklich gegen Nikolai Nikolajewitsch gearbeitet hat, ist nicht recht ersichtlich; aber aus dem Briefwechsel zwischen Zar und Zarin läßt sich erkennen, daß diese, die Schwester des Großherzogs von Hessen, im Oktober 1914 den Kampf gegen den Höchstkommandierenden begonnen hatte, angetrieben von Rasputin und seiner Verehrerin Anja Wirubowa, der Vertrauten der Zarin. Sie verdächtigten den Großfürsten, sich mit einer Palastrevolution an die Stelle des Zaren setzen zu wollen
5. Bethmann-Hollweg zwischen Vernunft und „öffentlicher Meinung"
Die deutschen Bemühungen um den russischen Sonderfrieden, die von nun an eine wesentliche Rolle in der deutschen Diplomatie des Ersten Weltkrieges spielten, beruhten also auf der gemeinsamen Erkenntnis der militärischen und politischen Führung des Kaisers, daß der Krieg gegen die Koalition der Feinde mit militärischen Mitteln nicht zu gewinnen war. Dieses Eingeständnis änderte im Grunde alles.
Es verlangte einen grundsätzlichen Wandel der strategischen Konzeption, aber auch der politischen Methoden, womit nun neue große Unsicherheitsfaktoren ins Spiel kamen. Während die Regierung bereit war, die außenpolitischen Folgerungen zu ziehen, versäumte sie das aber für die Innenpolitik. Denn die Erkenntnis der Lage bedeutete doch, daß der die Innenpolitik beherrschende von dem unerschütterlichen Vertrauen auf „Schwert und Schild“ getragene Kriegsenthusiasmus auf falschen Voraussetzungen beruhte — jedenfalls mit den Erwartungen und in der Gestalt, zu der er sich in den Wochen des Vormarsches in Frankreich entwickelt hatte.
Während aber an der Richtigkeit der Einsichten vom 18. November im Kreise der Eingeweihten bald kein ernsthafter Zweifel mehr laut wurde, blieben sie doch ein sorgsam gehütetes Geheimnis, so sorgsam, daß wir erst heute, also nach mehr als vier Jahrzehnten, durch den F . blick in die Akten davon erfahren.
Wenn das volle Ausmaß der eingetretenen Wendung auch geheim blieb, erforderte die Einleitung einer Separatfriedenspolitik gegenüber Rußland von der Regierung einen innenpolitischen Stellungswechsel zumindest in zwei Fragen: sie mußte annexionistischen Kreisen Zurückhaltung auferlegen, um sie auf die Enttäuschung vorzubereiten, die ihnen ein eventueller status-quo-Sonderfriede mit Rußland bereiten würde, ferner auch um den Russen die Furcht vor zu hohen deutschen Forderungen zu nehmen, die ihre Verhandlungsbereitschaft negativ beeinflussen mußte. Hierfür hätte die Regierung der rußlandfeindlichen Propaganda steuern müssen, die sie selber bei Kriegsbeginn gefördert hatte, um die Sozialdemokraten für den „Verteidigungskrieg“ gegen die östlichen „Barbaren“ zu gewinnen. Darüber hinaus wäre eine mäßigende Einwirkung zur Abkühlung der innenpolitischen Atmosphäre überhaupt nötig gewesen — zur Vorbereitung auf einen Frieden, der nicht auf Grund eines überwältigenden deutschen Waffensieges geschlossen werden würde.
Da dies alles unterblieb, berauschte sich die Öffentlichkeit, bis in die Spitzen der Parteien und Verbände hinein, nach wie vor an der Tatsache, daß Deutschland, äußerlich betrachtet, militärisch glänzend dastand, daß seine Truppen beachtliche Siege errungen hatten und sich fast überall auf feindlichem Boden befanden. Diesen täuschenden, aber handgreiflichen Beweisen deutscher Stärke und dem fast alle Volksschichten beherrschenden Mythos deutscher Unbesiegbarkeit stand nun der Versuch einer nüchternen, den Realitäten entsprechende Regierungspolitik entgegen.
Uns beschäftigt im folgenden die Frage, ob und wie es der Regierung Bethmann-Hollweg gelang, in dem Dilemma zwischen den Realitäten des Krieges draußen und dem irrealistischen Kriegsoptimismus im Innern einen Ausgleich zu finden.
Die Zeit Ende November/Anfang Dezember 1914 war durch erhöhte innenpolitische Aktivität gekennzeichnet. Am 2. Dezember sollte der Reichstag zu seiner zweiten Kriegstagung zusammentreten, um einen weiteren Kriegskredit in Höhe von fünf Milliarden Mark zu bewilligen. Die Abgeordneten strömten aus den verschiedenen Landesteilen und — soweit sie im Felde standen — von den Fronten nach Berlin, Fraktionsgespräche fanden statt, man suchte den politischen Meinungsaustausch und vor allem genaue Informationen über den Stand der Lage und das was „oben“ vorging. Denn niemand schien wirklich Bescheid zu wissen, und man erging sich in Spekulationen und Vermutungen.
In den Ministerien drängten sich Abgeordnete und Besucher. Der Kanzler selbst, am 28. November aus dem Großen Hauptquartier nach Berlin zurückgekehrt, mußte Vertretern der Fraktionen und der Verbände Rede und Antwort stehen. Die Kanzlerrede in der Reichstagssitzung wurde mit Spannung erwartet
Auseinandersetzungen um das Schicksal Belgiens
Die Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf das Schicksal des besetzten Belgiens. Die auf der Rechten und bei den Mittelparteien stark vertretenen „Annexionisten“ drängten sich immer offener mit der Forderung hervor, „den blutgetränkten Boden zu behalten“. Vom Kanzler wußte man, daß er keine „blinde Annexionspolitik" wollte
Das Dilemma der Regierung wurde noch lähmender, weil Bethmann den tieferen Grund für seine Zurückhaltung nicht zu nennen wagte. Es ist daher aufschlußreich zu vergleichen, was der Kanzler in wenigen Tagen zu verschiedenen Gremien und Personen über die Lage sagte und wie er sich genötigt sah, sich auf den jeweiligen Gesprächspartner einzustellen. Da sind seine Äußerungen in der Sitzung des preußischen Staats-ministeriums am 28. November. Weil er den Annexionisten ihr Hauptargument, die scheinbar günstige, siegverheißende militärische Lage Deutschlands, nicht zu entreißen wagte, versuchte er wenigstens hier dem realpolitisch einzig relevanten Grundsatz Anerkennung zu verschaffen, daß die eventuellen Friedensbedingungen vom Grad der militärischen Stärke bei Friedensschluß abhängig gemacht werden müßten. Aber vom Ernst der militärischen Situation sprach er nur andeutungsweise und umging den Kern, das Scheitern des strategischen Planes und die Unmöglichkeiten eines deutschen Waffensieges bei der gegenwärtigen Mächtekonstellation. Er bekundete nur vorsichtige Zweifel daran, daß Deutschland Erfolge erringen werde, die es ihm erlaubten, über die Welt zu disponieren. Es sei schon eine ausreichende Gewähr für den künftigen Frieden, sagte er in Anlehnung an sein „Raisonnement" vom 19. November, wenn Deutschland konstatiere, daß selbst eine derartige feindliche Koalition wie die gegenwärtige es nicht zu überwinden vermöge.
Etwas deutlicher, aber auch ohne auf die entscheidenden Punkte zu kommen, sprach Bethmann-Hollweg sich gegenüber den Führern der Sozialdemokraten, Scheidemann, Haase und Molkenbuhr am 29. November aus
Am 1. Dezember, einen Tag vor der Reichstagsrede, sprach der Kanzler vor der „Freien Kommission“ des Reichstags. Dort fiel auf, daß seine Ausführungen „auf die Note einer gewissen Resignation gestimmt" waren. Seine Beteuerungen der Zuversicht für die Zukunft klangen gezwungen und hatten deshalb auch keinen rechten Erfolg. Die Mitglieder des Bundesrates bekamen denselben Eindrude. Die Sitzung wurde übrigens als streng vertraulich bezeichnet, „weshalb sich der Kanzler wohl etwas offener gab"
Eine Irreführung des Reichstags
Die mit großer Spannung erwartete Reichstagsrede am 2. Dezember stand nun aber in einem bemerkenswerten Gegensatz zu seinen bisher zitierten Äußerungen. Denn sie trug — nach dem Urteil der rechtsstehenden Deutschen Tageszeitung — „das Gepräge fester Entschlossenheit und markiger Entschiedenheit“, und „das gesamte Haus zollte dem Kanzler einen Beifall, wie er wohl im Deutschen Reichstag kaum je gehört worden ist“
Bethmann-Hollwegs Rede enthielt viel klangvolles patriotisches Pathos; ihm verdankte er den begeisterten Applaus und die gute Presse selbst auf der Rechten. Aber sie hatte wenig konkreten politischen Inhalt und bot so gut wie keine Informationen über die wirkliche Lage Deutschlands. Vor dem Hintergrund der Stimmung in der politischen und militärischen Spitze ist es nicht übertrieben, sie als Irreführung des Reichstags zu bezeichnen. Wir werden darauf noch näher einzugehen haben.
Bemerkenswert war der gegenüber Rußland gemäßigte Ton der Rede, um so mehr, als ja der Kriegsbeginn ganz im Zeichen der Rußlandfeindschaft gestanden hatte. Im August/September hatte Bethmann seiner Reichstagsrede und anderen Äußerungen einen einseitig antirussischen Akzent gegeben und die planvolle Perfidie gebranntmarkt, mit der dies am Krieg allein schuldige Land den Weltbrand vorbereitet und entfesselt hatte. Dabei hatte maßgeblich, aber nicht ausschließlich die innenpolitische Erwägung mitgesprochen, die Sozialdemokratie mit ihrer Feindschaft gegen den reaktionären Zarismus für den Krieg zu gewinnen. Auch in internen Überlegungen trat damals die Rußlandfeindschaft des Kanzlers deutlich hervor, und während er seiner gescheiterten englandfreundlichen Politik nachtrauerte, ent-warf er insgeheim schon Pläne für einen künftigen westlichen Friedensblock, der England, Frankreich und Deutschland gegen den „barbarischen russischen Koloß“ einigen sollte
Vergleicht man damit die Reichstagsrede vom 2. Dezember, so ist der Umschwung unverkenns bar. Rußland trug jetzt nur noch die „äußere" Verantwortung für den Krieg, und auch sie traf nur die Männer, „die die allgemeine Mobilmachung der russischen Armee betrieben und durchgesetzt haben". Die „innere" Verantwortung und die bewußte Kriegsmache wurde jetzt hingegen mit unversöhnlicher Schärfe England zugeschoben, mit dem der Kanzler seitenlang ins Gericht ging. Durch sein hinterhältiges diplomatisches Spiel habe England erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß in Petersburg die Militärpartei die Oberhand gewinnen konnte
An diesem Stellungswechsel mag man ablesen, daß die Regierung inzwischen nicht nur auf die Linie einer russischen Separatfriedenspolitik eingeschwenkt war, sondern auch, daß die Tirpitzsche Konzeption einer deutsch-russischen Verständigung mit antienglischer Spitze in der deutschen Führung den maßgeblichen Einfluß gewonnen hatte
Zur Frage des zukünftigen Friedens und der Ergebnisse des Krieges nahm Bethmann nur kurz in vagen und zurückhaltenden Wendungen Stellung. Er stellte das Schlagwort vom „Verteidigungskrieg" in den Vordergrund, in welchem alle Deutschen fest Zusammenhalten müßten, und knüpfte daran die Hoffnung, daß die durch den Krieg wiedergefundene Einheit erhalten bleiben würde, was als erste Andeutung einer inneren Neuorientierung nach dem Kriege verstanden worden ist
Auf die außenpolitische Gestaltung des Friedens, d. h. auf die strittige Frage der Kriegsziele ging der Kanzler praktisch nicht ein. Nur in der Schlußformel sagte er, man müsse ausharren, „damit Kinder und Enkel in einem stärkeren Deutschland frei und gesichert gegen fremde Drohung und Gewalt an der Größe des Reiches weiterbauen können", und: „wir halten durch, bis wir Sicherheit haben, daß keiner mehr wagen wird, unseren Frieden zu stören"
Hinsichtlich der Kriegsziele zog Bethmann sich also auf das Stichwort „Sicherung“ zurück, nachdem er in den vorangegangenen Monaten zeitweilig stärkere Ausdrücke gebraucht hatte, und verschleierte seine vorsichtige Zurückhaltung durch markige Rhetorik. Wie weit er aber den Begriff „Sicherung" jetzt faßte, zeigt seine eben zitierte Äußerung vor dem preußischen Staatsministerium: es sei schon eine ausreichende Gewähr für den künftigen Frieden, wenn Deutschland konstatiere, daß selbst eine derartige feindliche Koalition wie die gegenwärtige es nicht zu überwinden vermöge — also ohne durch territoriale Annexionen handgreifliche „Sicherungen“ zu erhalten.
Für seine mitreißenden, stolzen, aber wenig konkreten Worte dankte das Haus dem Kanzler mit einer einmütigen Ovation. Es war jedoch nur ein rhetorischer Augenblickserfolg, mit dem der sonst nicht gerade als redegewandt geltende Kanzler bewies, daß er den „markigen“ Sprach-stil durchaus beherrschte, wenn es darauf ankam. Die Stellungnahmen der Fraktionen zeigten, daß man sich mit den allgemeinen Andeutungen des Kanzlers zum Kriegszielproblem nicht mehr zufrieden gab, sondern diese auf der Suche nach präziseren Formulierungen sehr verschieden interpretierte. Jedenfalls kann keine Rede davon sein, daß die Regierung einen einhelligen Rückhalt im Reichstage hatte, wie die dem Kanzler dargebrachte Ovation vermuten lassen könnte.
Für die Sozialdemokraten griff Haase das Stichwort vom „Verteidigungskrieg" auf, um die Zustimmung seiner Partei zum Nachtrags-kredit zu begründen. Zu den erwarteten Ergebnissen des Krieges äußerte er sich wie folgt: „Wir fordern, daß dem Kriege, sobald das Ziel der Sicherung erreicht ist, ein Ende gemacht wird, durch einen Frieden, der die Freundschaft mit den Nachbarvölkern ermöglicht". Es folgte ein Passus, der indirekt die Opposition der Sozialdemokraten gegen den Annexionismus zum Ausdruck brachte
Einen ganz anderen Akzent hatte die Erklärung des Abgeordneten Spahn, der als Sprecher aller übrigen Parteien erklärte: „In dem uns freventlich aufgedrungenen schwersten aller Kriege wollen wir durchhalten, bis ein Friede errungen ist, der den ungeheuren Opfern entspricht, welche das deutsche Volk gebracht hat, und der uns dauernden Schutz gegen alle Feinde gewährt"
Reichstagspräsident Kaempf bemerkte zum Schluß der Sitzung, durch die Annahme des Nachtragskredits zeige das deutsche Volk, „daß es den Krieg, der uns aufgezwungen worden ist, bis zu dem Ende fortsetzen will, das wir uns gesetzt haben"
Hier wurde der Friede ausdrücklich von der Befriedigung gewisser deutscher Ansprüche, ob sie nun „Entschädigung für gebrachte Opfer“, „Sicherung“ oder anders genannt wurden, abhängiggemacht. Genau umgekehrt war der mehrfach erwähnte Gedankengang des Kanzlers. Für ihn waren die Kriegsziele etwas Sekundäres, nicht Feststehendes, weil abhängig von den militärischen Kräfteverhältnissen beim Beginn der Friedensverhandlungen. Letztere möglichst schnell herbeizuführen und den Krieg zu beenden, blieb sein hauptsächliches Anliegen. Insofern bestätigte unsere Untersuchung die Richtigkeit der am Anfang angeführten späteren Aussagen Bethmann-Hollwegs und Jagows. Die Arbeit an der Wiederherstellung des Friedens erweist sich geradezu als die Kontinuität der Bethmann-
sehen Politik, die zwar in den späteren Jahren infolge des Übergewichtes und der politischen Aktivität der militärischen Leitung nicht so evident aus den Akten hervorgeht, sich aber immer offenbarte, wenn der Verfolgung dieses Zieles nichts entgegenzustehen schien.
Den Gedanken, Maßnahmen und Verhandlungen Bethmann-Hollwegs im Dezember 1914 nadizugehen lohnt sich, weil aus ihnen schon deutlich wird, wie der Kanzler auf dem Wege zu seinem Ziel immer wieder durch die öffentliche Meinung, durch politische und wirtschaft-liehe Interessengruppen — später dann durch die 3. OHL — zu Rüdesichten, Zugeständnissen, sogar zur Kapitulation gezwungen wird. Seine Politik nahm aus diesem Grunde jenes wider-spruchsvolle Gesicht des taktischen Lavierens an.
Daß aber in der Spahnschen Formulierung nicht nur eine Nuance der Meinung, sondern tatsächlich eine der Regierung entgegengesetzte Ansicht zum Ausdruck gebracht wurde, geht aus dem Folgenden noch deutlicher hervor.
Bethmanns Widerstand gegen die Forderungen nach der Annexion Belgiens hatte ihm die verschärfte Opposition von Politikern der Mitte und der Rechten eingetragen — darunter Stresemann und sein Parteifreund Bassermann —, die im Einklang mit einigen rechtsstehenden Zeitungen in diesen Wochen eine systematische Hetze gegen den Kanzler betrieben. Die Führer der Nationalliberalen bemühten sich sogar, diesen Kanzler zu stürzen, der — als „Flaumacher“ — nicht geeignet wäre, das deutsche Volk zum Siege zu führen, weil ihm der Glaube an den Sieg fehlte und er nicht der Mann wäre, „der in seiner Person die große Zeit lebendig“ mache
Besonnenere Abgeordnete der bürgerlichen Linken erkannten die Richtigkeit der Bethmannsehen Zurückhaltung und die dringende Notwendigkeit, der Regierung den Rücken zu stärken. Sie unternahmen daher den Versuch, die zustimmenden Erklärungen der Fraktionen zur Bewilligung des Nachtragskredits zu einer Vertrauenserklärung für die Regierung auszubauen. Als jedoch der Abgeordnete Haussmann in der interfraktionellen Besprechung der nichtsozialistischen Parteien vorschlug, in ihre gemeinsame Erklärung zur Regierungsvorlage einen Passus aufzunehmen, der das „Vertrauen zur Reichs-regierung“ aussprechen sollte, stieß er auf den geschlossenen Widerstand der Rechten und des überwiegenden Teiles der Nationalliberalen
Regierung ohne überzeugenden Rückhalt
Die Kontroverse über den Annexionismus enthüllte hier erneut, daß die Regierung über keinen zuverlässigen innenpolitischen Rückhalt verfügte. Sie hatte durch das vielzitierte Zusammenrücken der Parteien bei Kriegsausbruch, durch die wiederhergestellte „Einheit von Volk und Führung" so gut wie nichts an politischer Kräftigung und echter Führungsautorität profitiert. Gehör und Echo fand sie nur, wenn sie sich der vorherrschenden Stimmung anpaßte. Nichts ist bezeichnender für die Stellung der Regierung als das Paradoxon, daß der Reichstag dem Kanzler eine Ovation für seine „markige“ Rede darbrachte und ihm gleichzeitig das Vertrauen verweigerte. Und wie der deutsche Reichstag die „Einheit von Volk und Führung“ verstand, brachte sein Präsident Kaempf zum Ausdruck, wenn er nach der Abstimmung erklärte, das deutsche Volk sei „geeint in allen Parteien, einig in allen Ständen, einig unter der Führung des Heeres und der Marine und der obersten Heeresleitung, Seiner Majestät des Kaisers“
Wie aber stand es mit dem Verhältnis des Reichskanzlers zur OHL? So einig die militärische und politische Führung in der Erkenntnis der Lage waren, so hatte sich doch von Anfang an der Gegensatz ergeben, daß der Generalstabschef in der Überzeugung von der militärischen Schwäche der Mittelmächte von der Diplomatie den Weg zur Verständigung mit Rußland erwartete, ohne daß es vollständig besiegt war. Dem Gedankengang des Kanzlers entsprach dagegen, was ihm Ballin in jenen Tagen schrieb, der als Vermittler dieses Friedensversuches einer der ganz wenigen Eingeweihten und um den Erfolg besorgt war. „Das ginge alles“, schrieb ihm Ballin, „wenn Rußland wirklich am Boden läge, — aber — wenn Euer Excellenz die heutige Situation betrachten — kommt Ihnen da nicht der Gedanke, daß heute Rußland immer noch sich sagen muß, daß es in einem Gesamtfrieden bessere Geschäfte zu machen hoffen darf als in einem an sich höchst blamablen Separatabkommen“? In einer lediglich ungünstigen Kriegslage würde sich der Zar vielmehr „trotzig“ gegen jede Vermittlung sträuben.
Für seine Auffassung fand der Kanzler nun Hilfe bei einer anderen militärischen Stelle, bei der, die nach den Vorgängen der letzten Wochen am meisten Grund hatte, an den Fähigkeiten Falkenhayns zu zweifeln, den Führern von Ober-Ost. Am 6. Dezember ließ er sich in Posen von Hindenburg und Ludendorff noch einmal sagen, was er selbst bereits Falkenhayn und dem Kaiser vergeblich entgegengehalten hatte: daß eine Bereitschaft der Russen zu einem Sonderfrieden, größere militärische Erfolge der Mittelmächte im Osten voraussetze. Nach der Meinung von Ober-Ost kam der Separatfriede sogar nur nach völliger Niederwerfung Rußlands in Betracht, die aber auch anzustreben wäre, um beim Friedensschluß strategisch begründete Ansprüche auf polnisches Gebiet durchsetzen zu können
Unter diesen Umständen wurden nun Ansätze eines Zusammenspiels zwischen dem Kanzler und Ober-Ost sichtbar, mit dem Ziel, Falkenhayn als Generalstabschef durch Hindenburg und Ludendorff zu ersetzen. Der Generaladju-dant des Kaisers, von Plessen, stellte am 8. und 12. Dezember fest, daß der Kanzler um die Zukunft besorgt sei, und daß er kein Vertrauen mehr zu Falkenhayn, wohl aber zu Ludendorff habe, und der Chef des Militärkabinetts von Lynker weiß zu berichten, daß Bethmann ihn für den Plan der Berufung der beiden Ostführer zu gewinnen suchte
Bei diesen hier in ihren ersten Anfängen sichtbaren Bemühungen ging es dem Kanzler nicht einfach darum, einen militärischen Führer, zu dessen strategischen Fähigkeiten er kein Vertrauen hatte, durch einen besseren zu ersetzen, sondern darum, daß die militärischen Voraussetzungen für den Kurs der Außenpolitik geschaffen wurden, den er sogar auf Drängen der militärischen Führung eingeschlagen hatte. Falkenhayn glaubte zwar noch, Ober-Ost anfeuern zu müssen, die Offensive in Nordpolen nicht versanden zu lassen, da „ein Erfolg vermutlich den Krieg entscheiden würde"
Der Fehler in dieser paradoxen und bei den Verhältnissen doch nicht unlogischen Rechnung, die das Ziel hatte, an Stelle der fehlenden Autorität der zivilen Regierung eine militärische Autorität in Dienst zu nehmen, wurde erst später offenbar, als Hindenburg und Ludendorff Falkenhayn ersetzt hatten: daß nämlich die neue militärische Führung ihrerseits mit umfangreichen Annexionsforderungen aufwartete und keineswegs für einen vom Kanzler vorausgesehenen „mageren Frieden" zu haben war.
Die Rolle Stresemanns
Mit der Belastung des militärischen Problems ging der Kanzler am 8. Dezember in eine Besprechung, in der ihm sozusagen der Annexionismus in Person gegenübertrat. Bethmann hatte den Reichstagsabgeordneten Stresemann, damals Vorsitzender des Bundes der Industriellen und zweiter Vorsitzender der Nationalliberalen Partei, und den Landrat Roetger, den Vorsitzenden des Zentralverbandes Deutscher Industrieller eingeladen, um sich über die Auffassung Bericht erstatten zu lassen, „die die im Kriegsausschuß vereinigte Deutsche Industrie für den Fall eines siegreichen Krieges als die ihrige betrachtete"
Nun brachten die beiden Annexionisten aber unverblümt vor, daß sie die Abtretung Polens, Kurlands und Estlands von Rußland erwarteten. Jedoch was Bethmann über Polen sagte, läßt nicht darauf schließen, daß er solche Absichten gehabt habe, „Wir würden uns dann (d. h. nach dem Abzug der russischen Truppen — Anm. d. Vers.) in Polen wohnlich einrichten, bis wir entweder einen Einzelfrieden mit Rußland, wie ich hoffe, oder einen Frieden mit unseren sämtlichen Gegnern schließen können“. Das deutete eher darauf hin, daß der Kanzler mit der Besetzung Polens ein „Faustpfand“ zu gewinnen hoffte, das er in Separatsfriedensverhandlungen mit den Russen ausspielen konnte. In der Denkschrift des preußischen Innenministers vom 29. Oktober, die für die Verständigung mit Rußland eintrat, dabei aber den „Grenzschutzstreifen" um Ostpreußen erstrebte, wird in dieser Richtung operiert. Man solle, hieß es da, von Rußland anfangs viel mehr fordern, „um das eigentlich Gewünschte so erhalten zu können, daß Rußland vor der Welt und sich das Landopfer an der Grenze verhältnismäßig leicht verschmerzen kann. Nicht Sympathie, sondern gesundes Interesse gebietet die möglichste Schonung Rußlands beim Friedensschluß"