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Deutschlands weltpolitische Sonderstellung in den zwanziger Jahren | APuZ 19/1961 | bpb.de

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APuZ 19/1961 Mao Tse-tung und seine Erben Probleme der Nachfolgeschaft in Peking Deutschlands weltpolitische Sonderstellung in den zwanziger Jahren

Deutschlands weltpolitische Sonderstellung in den zwanziger Jahren

WERNER CONZE

Durch die Niederlage des Deutschen Reichs und Österreichs-Ungarns wurde die seit der napoleonischen Zeit nicht zur Ruhe gekommene deutsche Frage neu und verschärft gestellt. Sie trat damit in ihre eigentliche Krisis ein. Das galt sowohl für Deutschlands innere Gestaltung wie für die Stellung der Deutschen in der Welt — mitten in der allgemeinen Unruhe der Staaten und Nationen im Zeichen des Imperialismus und der Revolution.

Die gewandelte Lage und die Sonderstellung der besiegten Deutschen können nur am Gegen-bild des in drei Jahrzehnten vor 1914 zur Welt-macht aufsteigenden Deutschen Reiches verstanden werden. Aufstieg, Gipfel und Absturz Deutschlands waren das Erlebnis nur einer einzigen Generation, die dies alles mit sich geschehen lassen mußte, aber doch wohl nur begrenzt dazu in der Lage war, zweimal den raschen Wechsel zum Gipfel hin und vom Gipfel herunter begreifend mitzuvollziehen. Drei Zitate mögen diesen doppelten Wandel verdeutlichen:

Wenige Wochen vor dem Tode Kaiser Wilhelms L, am 6. Februar 1888, sagte Bismarck im Reichstag: „Jede Großmacht, die außerhalb ihrer Interessensphäre auf die Politik der anderen Länder zu drücken und einzuwirken und die Dinge zu leiten sucht, die periklitiert außerhalb des Gebietes, welches Gott ihr angewiesen hat; die treibt Machtpolitik und nicht Interessenpolitik. Die wirtschaftet auf Prestige hin. Wir werden das nicht tun." Bismarck wies in der gleichen Rede auf Deutschlands gefährdete Lage in der Mitte Europas hin, die zur Wachsamkeit und Tätigkeit zwinge, auf daß der erreichte Status quo gegen alle möglichen Koalitionen gehalten werden könne.

Schon sieben Jahre später gab Max Weber in seiner Freiburger Antrittsrede der Reichsgründung in der Mitte Europas einen anderen Sinn: „Wir müssen begreifen, daß die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte.“

Am 24. November 1918 schließlich schrieb Max Weber an Crusius, daß die Deutschen wie 1648 und 1807 noch einmal von vorne anfangen müßten. Schon die nächste Generation werde den Beginn der Wiederaufrichtung erleben. „Mit einer weltpolitischen Rolle Deutschlands ist es vorbei; die angelsächsische Weltherrschaft — ah c'est nous qui l’avons faite’, wie Thiers zu Bismarck zu unserer Einheit sagte — ist Tatsache. Sie ist höchst unerfreulich, aber; viel Schlimmeres — die russische Knute! — haben wir abgewendet." Amerikas Weltherrschaft sei unabwendbar. „Hoffentlich bleibt es dabei, daß sie nicht mit Rußland geteilt wird. Dies ist für mich Ziel unserer künftigen Weltpolitik, denn die russische Gefahr ist nur für jetzt, nicht für immer beschworen. Im Augenblick ist natürlich der hysterische, ekelhafte Haß der Franzosen die Hauptgefahr.“

Die drei Zitate umspannen in genau 30 Jahren jenes doppelte, widersprüchliche Genera-tionserlebnis des Aufstiegs und des Absturzes. Es sind zugleich die Jahre der Regierungszeit Wilhelms II. Noch 1888 sollte das Reich Bismarcks nach dem Willen seines Gründers Abschluß einer europäischen Veränderung und eingefügt in das traditionelle europäische Staaten-system sein. Dieses Reich sollte Interessenpoli-tik innerhalb des ihm in der europäischen Mittellage von Gott, d. h. unverrückbar, gesetzten Maßes treiben. Es sollte jedoch auf Maditpolitik verzichten, d. h. auf alle Bemühungen, seine wachsende Stärke zur Überschreitung dieses Maßes einzusetzen und damit sich selbst und andere zu gefährden.

Ausdruck eines neuen Lebensgefühls

Sieben Jahre später war es nicht abseitige Professorenbesserwisserei, die Bismarck verächtlich abgelehnt hätte, sondern Ausdruck des neuen Lebensgefühls im liberalkonservativen deutschen Bürgertum in einer neuen weltpolitischen und weltökonomischen Lage, wenn Max Weber im Gegensatz zur Bismarckschen Deutung die Reichsgründung als Ausgangspunkt einer notwendigen deutschen Weltwadttpolitik bezeichnete. Weltpolitik oder Weltmachtpolitik wurde seitdem zur Parole bei Nationalkonservativen, Nationalliberalen und Nationaldemokraten, zu denen sich Friedrich Naumann gesellte, nachdem ihm die konsequente Fortführung der Begriffsverbindungen mit dem Wort „national" zu den Nationalsozialen oder auch Nationalsozialisten mißglückt war. Mochte in den Äußerungen dieser breiten bürgerlich-imperialistischen Strömung auch viel uns heute erschrecken-de Maßlosigkeit ausgesprochen worden sein, so ist doch zuerst und vor allem zu betonen, daß deutsche Weltpolitik anders als noch zur Zeit Bismarcks sich aus einer gewandelten Stellung Deutschlands in der Welt ergab, insofern als die deutsche Wirtschaft dabei war, andere, z. T. ältere Wirtschaftsgroßmächte „einzuholen und zu überholen" Neben der älteren Wirtschaftsmacht Großbritannien und den noch rascher alle anderen überholenden Vereinigten Staaten trat das junge Deutsche Reich an die Spitze der Großmächte und wurde damit zur Weltmacht im Staatensystem, das sich von Europa über die ganze Erde ausweitete. Daß Deutschland als neue Weltmacht auch Weltpolilik zu treiben hatte, war daher nur selbstverständlich. Das damit neu gestellte Problem bestand nur darin, was darunter zu begreifen war und wie nunmehr das Maß zu setzen war, das sich auch jetzt mu-tatis mutandis aus der von Bismarck so klar hervorgehobenen deutschen Mittellage ergab. Diese alte Mittellage hatte immer noch eine einengende Wirkung. Denn im Gegensatz zu den nach der außereuropäischen Welt offenen Großmächten, stieß das Deutsche Reich überall an Land-grenzen im alten, engen Europa und war dem Zweifrontendruck Frankreichs und Rußlands ausgesetzt. Deutschlands Meere aber waren nur offen, wenn Großbritannien es zuließ, und zwar nicht nur deswegen, weil es in der Flottenstärke überlegen war, sondern vor allem, weil seine Lage im Kriegsfall die Blockade gegen Deutschland begünstigte, in dieser neuen Situation einer absichtslos gewonnenen Weltmacht, die nur im Frieden weiter zu entwickeln war und doch — wiederum absichtslos — den Krieg in Reiz und Gegenreiz heraufführen half, reagierte die offizielle deutsche Außenpolitik unsicher und zwiespältig. Sie stand zwischen Bismarckschem Maßhalten und alldeutscher Großmannssucht mitten dazwischen und vertrat damit die diplomatische Tradition nicht mehr angemessen und instinktsicher. Teils nahm sie die kommende Einkreisung oder Isolierung Deutschlands zu „pomadig“ (Bülow), teils neigte sie zu effektvollem, aber wirkungslosem Auftrumpfen, ohne doch mehr, als es auch bei anderen Nationen üblich war, mit der überlieferten ultima ratio der Politik, dem Krieg, zu spielen oder gar auf ihn hinaus zu wollen.

Hegemonie oder Gleichgewicht

So schlitterte sie wie die anderen in den großen Krieg hinein. Dies Hineinschlittern aber hatte für alle eine seit Jahren vorgeschriebene Richtung. Für Großbritannien vor allen anderen ergab sich diese Richtung aus der Überlegung, daß die potentiell einholende und überholende . Weltmacht nicht dadurch zur Aktualisierung ihrer Stärke gebracht werden durfte, daß ihre europäisch-kontinentale Vormachtstellung einfach hingenommen wurde. Die deutsche Hegemonie aber mußte mit großer Wahrscheinlichkeit das Ergebnis eines rein europäischen Krieges sein, wenn England nicht gegen Deutschland eingriff. Die deutsche Vorherrschaft in Europa war gewiß nicht gewollt gewesen; aber der Gedanke daran mußte sich einstellen, wenn der Krieg tatsächlich ausbrach und die Waffenerfolge großen Raumgewinn brachten. Als das geschah, leuchtete für einen kurzen historischen Moment in der Tat ein deutsch geführtes Mitteleuropa auf, das, im Sprachgebrauch Friedrich Naumanns, als „politischer Großbetrieb“ zwischen dem atlantischen und dem russisch-eurasischen Weltmachtblock der Zukunft als dritte kraft stehen sollte. Bei einer solchen Sicht war die Idee des europäischen Staatensystems mit der Balance der von außen ungefährdeten europäischen Staaten endgültig aufgegeben zugunsten eines deutschen Übergewichts in Europa. An die Stelle eines auf die ganze Erde ausgeweiteten europäischen Staatensystems, wie es in der Gedankenwelt der Europäer bis 1914 bestanden hatte, trat also in der Mitteleuropa-Konzeption, die den deutschen Sieg voraussetzte, ein Weltstaatensystem, in dem es nach Friedrich Naumanns Auffassung nur noch einige wenige Mittelpunkte geben, konnte, „an denen wirklich regiert wird: London, New York, Moskau (oder Petersburg)“ stünden fest. Fraglich sei es, ob ein solcher Machtmittelpunkt auch in Ostasien entstehen werde. Die gegenwärtige Entscheidungsfrage aber — und darin sah Naumann den Sinn des Krieges — sei die, „ob zwischen Rußland und England ein eigenes mitteleuropäisches Zentrum sich halten kann oder nicht. Die Menschheitsgruppe Mitteleuropas spielt um ihre Weltstellung.“

Mit diesen Worten hatte Naumann unter dem Aspekt der Machtverteilung auf der Erde Deutschlands Situation um 1915 wohl zutreffend bezeichnet. Welch schwindelerregender Weg war von 1888 bis 1915 zurückgelegt worden! Noch 1871 hatte Bismarck, dem nationalstaatlichen Drängen nachgebend, das Reich abschließend in die europäische Balance eingefügt und damit dem Nationalstaat in Europa sein Maß gesetzt. Dann war Deutschland mit den anderen europäischen Mächten der Ausweitung von Wirtschaft und Politik, damit aber von Handelsflotte und Kriegsflotte, über die ganze Erde gefolgt, ohne einem irgendwie systematischen Plan zu folgen. Die Welt bot zwar nach 4er letzten kolonialen Aufteilung, an der Deutschland noch gerade ohne besondere Anstrengung mit beteiligt gewesen war, keine Expansionsmöglichkeiten mehr. Wohl aber war die Welt weit genug, die Wirtschaft im friedlichen Wettbewerb weiter wachsen zu lassen. Trat jedoch der Krieg ein — im tiefsten bewirkt durch die elementare deutsche Machtdynamik einerseits, die auf Eindämmung oder Brechung dieser Dynamik gerichtete Tendenz der älteren Weltmächte andererseits —, dann ging es um die Entscheidung für Deutschland: entweder als Welt-macht nun nicht nur durch Wirtschaft und Handel, sondern auch durch militärische Macht endgültig bestätigt zu werden oder zu unterliegen und damit aus der Reihe der Weltmächte auszuscheiden; schließlich gar, wie Naumann es ausdrückte, „Trabantenvolk“ eines der „Großstaaten" zu werden Deutschlands Aussichten im Land-und Seekrieg waren schlecht, weil es durch die Fronten auf dem Kontinent und durch die Blockade zur See total eingeschnürt war. Aber gerade in einer solchen Lage, in der die Zeit für die nach außen offenen Mächte arbeitete, weil sie ihr Potential von außen auffüllen konnten, lag es für eine große Macht wie Deutschland, die gerade zum Selbstbewußtsein ihrer wachsenden Kraft gekommen war, begreiflicherweise nahe, die Lösung nicht in einem rechtzeitigen Frieden mit Verzichten zu suchen, sondern die große Kraftprobe des „Alles oder nichts“ zu wagen. Die Alternative war bewußt bejaht worden. Sie blieb bestehen bis zum Sommer 1918 und erwies sich — wiederum im Reiz und Gegenreiz sich ausschließender Kriegsziele — stärker als alle Versuche einer mittleren Linie, wie sie die Mehrheitsparteien des deutschen Reichstages im Juli 1917 in ihrer Friedensresolution öffentlich proklamiert hatten. Auch war es in der Kampfsituation verständlich, daß bei dieser starr festgehaltenen Alternative die eine der beiden Möglichkeiten, nämlich die Niederlage, so weitgehend aus dem Bewußtsein ausgeschaltet wurde, daß nur der Sieg oder allenfalls ein Kompromißfriede unter gleich Starken in der Vorstellung der meisten Deutschen haftete. Als dann im Herbst 1918 die Niederlage plötzlich unausweichlich zur Gewißheit wurde, da wurde selbst diese Gewißheit von vielen nicht für möglich gehalten, und es begann die deutsche Flucht vor der neuen Lage oder der deutsche Trotz, „im Unglück nun erst recht" es wagen zu müssen, in Zukunft nicht „ 1918“ anzuerkennen, sondern „ 1914“ als eigentlich angemessene Ausgangsstellung Deutschlands in der Welt anzusehen. So ergab sich, stärker als je zuvor, eine Kluft zwischen der wirklichen weltpolitischen Lage und dem Bewußtsein von der deutschen Situation inmitten einer gewandelten Welt.

Versailles erklärt nicht alles

Wie war diese Situation? Die Antwort darauf ist in Deutschland seit 1919 meist durch Hinweis auf den Friedensvertrag von 1919, das . Diktat" von Versailles, gegeben worden. Das geschah in den 20er Jahren durch alle deutschen Parteien, am stärksten auf der Rechten, mit besonderer Übersteigerung aber dann durch den Nationalsozialismus. Weil dies so war, trat in der Zeit nach 1945 eine gewisse Unsicherheit in der Antwort auf unsere Frage ein. Denn man wollte nicht Thesen Hitlers weiterschleppen; man hatte auch ein richtiges Gefühl dafür, daß Versailles allein und monokausal als Antwort wohl ungenügend sei, daß die agitatorisch pejorativ gesehene Verbindung von Versailles und Demokratie sicher nicht zulässig sei, daß die Friedensbedingungen von 1919, verglichen mit der vertragslosen deutschen Not der Jahre nach 1945, gar nicht so hart gewesen seien, ja daß es sich mehr um einen heute schwer begreifbaren deutschen Versailles-Komplex gehandelt habe als um einen ungerecht harten Friedensvertrag, der objektiv gesehen gar nicht so erbarmungslos und niederschmetternd gewesen sei. Auch scheute man sich in der Ohnmacht, Unsicherheit und Scham nach 1945 den Schatten von Versailles allzusehr zu beschwören, da es darauf ankam, die Freundschaft mit Frankreich und einen fortschreitenden europäischen Zusammenschluß wenigstens im freien Westen nicht durch nationalistische Reminiszenzen zu gefährden. Es scheint mir, daß wir heute genug Abstand haben, sowohl gegenüber der Versailles-Mißdeutung Hitlers wie gegenüber der Versailles-Scheu einer Nach-Hitler-Zeit. Die Antwort auf unsere Frage scheint mir darin zu bestehen, daß Versailles so hart gesehen werden muß, wie es in der Tat gewesen und erlebt worden ist, daß Versailles aber nicht ausreicht, um Klarheit in unserer Frage zu gewinnen.

Statt dessen führt uns die oben zitierte Brief-stelle Max Webers weiter. Unmittelbar nach der Niederlage, die Weber in ihren vollen Konsequenzen, im Grunde gemäß der vorhin bezeichneten Alternative von Weltmacht oder Ohnmacht anerkannte, sah er gleichwohl Deutschland auch jetzt wieder in der Weltpolitik und nicht in der europäischen Enge. Folgerichtig mußte es sich, wenn Max Weber recht sah, auch nach 1918 für Deutschland um Weltpolitik handeln, wenn auch nicht um Weltmachtpolitik, mit der es „vorbei" war. Durch den Weltkrieg war entschieden worden — so schließen wir im Anschluß an und im Einklang mit Max Webers Aussage —, daß Deutschland ein für alle mal aus dem Rang einer der ersten drei Weltmächte gestrichen war und daß das Deutsche Reich nun nur in einen zweiten Rang wiederaufsteigen konnte, im Schatten der durch den Weltkrieg herbeigeführten Weltherrschaft der Vereinigten Staaten, von der nicht feststand, ob sie nicht eines Tages mit Rußland geteilt werden mußte. Das war die der weltgeschichtlichen Situation der Jahre nach 1917 gemäße Sicht. Nicht nur Deutschland, sondern Europa und das traditionelle europäische Staatensystem hatten damals ihre alte Rolle abgeben müssen.

Das führte in der Tendenz nicht nur zu einer neuen Machtverteilung, bei der Europa aus der politischen Mitte der Erde herausgedrängt wurde und womöglich in naher Zukunft sogar in die Pufferzone beider Weltblöcke geraten konnte, sondern es bedeutete im Programm oder in der Prognose eine neue Epoche der Weltgeschichte durch ein oder zwei erdumspannende Internationalismen. Von Amerika aus verkündete Wilson das Ende der alten balance of power, d. h.des Systems diplomatisch rivalisierender und sich militärisch verbündender Staaten, deren politische ultima ratio der Krieg gewesen war; er setzte dagegen den Gedanken der Community of power, d. h.des Zusammenschließens der Vielheit von Macht in eine Einheit von Macht, oder des Aufgebens uneingeschränkter Souveränitätzugunsten eines großen Bundes der Nationen, durch den der Friede zwischen den Staaten und die demokratische Freiheit innerhalb der Staaten endgültig gesichert sein sollten.

Von Rußland aus hatte Lenin gleichfalls den Frieden proklamiert, meinte Frieden aber nicht als demokratische Friedensorganisation auf der Grundlage eines territorialen, nationalen und sozialen Status quo, von dem aus eine glück-hafte Evolution möglich sein sollte (wie bei Wilson), sondern als Atempause, um die sozialistische Revolution in Rußland zu stabilisieren und über die Grenzen Rußlands als Weltrevolution hinauszutragen. Es sollte Krieg sein um dieser Revolution willen — Krieg aber nicht mehr zwischen Staaten des ausbalancierten Systems, sondern Krieg horizontal durch diese Staaten hindurch in einer Kombination von Klassenkampf und Heereskampf, Krieg ohne Scheidung von innen und außen, von Zivil und Militär, Krieg mit allen Mitteln und auf allen Gebieten eines total politisierten Lebens. Am Ende dieses in einer Kette von Unruhen und Kriegen zusammengefaßten Weltbürgerkriegs sollte auch bei Lenin der die bisherige Geschichte aufhebende Weltfriede stehen, der Weltfriede einer klassenlos und staatenlos werdenden Gesellschaft.

Beide großen Programme, die Demokratie Wilsons ebenso wie der Kommunismus Lenins, waren erdumspannend gemeint. Da sie sich prinzipiell ausschlossen, war ein Kompromiß zwischen ihnen kaum denkbar. Blieben sie beide als Weltprogramm erhalten und stand zukünftig hinter beiden eine Weltmacht, so war damit ein Weltdualismus zum Ausdrude gebracht, der entweder durch Kampf oder durch Ideologieabbau und daraus folgende Kompromißbereitschaft eines Tages zu seiner Auflösung drängen konnte. Beide Programme — irenisch harmonisierend das eine, dialektisch kompromißlos das andere — warben um alle Völker der Erde. Diesem Werben wohnte von beiden Seiten die vollständige Negation des bisherigen europäischen Staatensystems mit seinen überlieferten politischen und militärischen Methoden inne — gleichgültig, ob dieses Staatensystem noch europäisch begrenzt oder auf die ganze Erde bezogen wurde. Beide Programme bedeuteten utopisch die Überwindung der „bisherigen Geschichte". Geistig waren sie beide europäischen Ursprungs. Politisch zielten sie beide auf das Ende Europas. Europa selbst hatte sie durch seinen europäischen Krieg, der zum Weltkrieg geworden war, aus der Welt des Gedankens in die politische Wirklichkeit gebracht. Blieben sie in dieser wirksam, dann war das Ende Europas im Sinne des alten Konzerts der Staaten besiegelt.

Die Sonderstellung Deutschlands

Die Sonderstellung Deutschlands in dieser Konstellation bestand nun darin, daß auf die deutsche Nation und ihre mögliche Führerrolle in einem Großreich „Mitteleuropa" die Anstrengungen der beiden großen Rivalen der Zukunft in erster Linie gerichtet waren. Wilson setzte das gewaltige Kriegspotential der Vereinigten Staaten gegen Deutschland ein, um diese in seinen Augen stärkste antidemokratische Weltmacht militärisch zu brechen, ihrer „autokratischen“ Führung zu entledigen, sie sicher für die demokratische Verfassung zu machen und in die kommende Friedensliga der Nationen als unschädlich gemachtes, zivilisiertes Mitglied einzufügen. Lenin aber war davon überzeugt, daß seine Revolution nur dann zur erfolgreichen Weltrevolution werden konnte, wenn Deutschland von ihr erfaßt und die Deutschen für sie eingesetzt wurden. So konzentrierte sich der tieferliegende Entscheidungskampf zwischen 1917 und 1919 auf Deutschland, das zu gewinnen für jede der beiden Seiten von Bedeutung war.

Das Eigentümliche der deutschen Lage nach 1919 ist darin zu sehen, daß sich die Deutschen dem Anruf des revolutionären Ostens widersetzten, während sie sich gleichzeitig im Jahre 1919 bei den Wahlen mit 3/4 Mehrheit der Demokratie im westlichen Sinne zuwandten und ihnen gleichwohl auf der Pariser Friedenskonferenz die Einfügung in den entstehenden Weltfriedensbund der demokratischen Nationen verwehrt wurde. So wurde auch der Anruf des de-mokratischen Westens entwertet, und die Deutschen sahen sich isoliert und ausgestoßen in der Kleinlichkeit und Kleinräumigkeit deutsch-europäischer Streitfragen, weit entfernt von den weiträumigen Vorstellungen einer gestern noch real erschienenen Weltpolitik. Nach den Kriegsillusionen waren auch die Nachkriegshoffnungen vergangen.

Rückzug der ideologischen Weltmächte aus Europa

Beide ideologischen Weltmächte waren also bei ihrem Zugriff auf Deutschland gescheitert und zogen sich, die eine absichtlich, die andere notgedrungen, von Europa zurück. Wilson drang mit seinem Programm politischer Welterlösung bei den assoziierten Siegermächten nicht durch, weil sie ihre Staatsräson, wie sie sie auffaßten, allein oder vorwiegend zur Richtschnur ihres Handelns auf der Friedenskonferenz machten; und er verlor endgültig seine weltpolitische Rolle, weil seine eigene Nation sich ihm entzog und mit großer Mehrheit 1920 den Präsidentschaftskandidaten des Isolationismus wählte. Die Amerikaner zögerten, in eben dem Moment, als ihnen die Führerrolle auf der Erde zugefallen war, diese Rolle zu spielen. Sie traten dem neuen Völkerbund nicht bei, sie überließen das geschlagene Deutschland der Gewalt seiner europäischen Sieger in einem mehr oder weniger französisch bestimmten Europa, und sie verweigerten die Verantwortlichkeit für die Gesamt-ordnung der Erde, für die Wilson sie zum Kriegseintritt veranlaßt hatte. Das Scheitern Wilsons und die amerikanische Abstinenz von intensiver Weltpolitik waren wohl die Hauptursache dessen, daß Deutschlands junge demokratische Verfassung weltpolitisch ohne Stütze blieb, mochte auch der sogenannte Wilson-Frieden realpolitisch nie Aussicht auf Verwirklichung gehabt haben. In den öffentlichen Reden Wilsons war er ebenso Wirklichkeit gewesen wie in den Hoffnungen deutscher Demokraten, die alsbald zusammen mit Wilson bezichtigt wurden, durch ihre Unfähigkeit den Weg vom Wilson-Frieden zum Clemenceau-Frieden schuldhaft freigegeben zu haben. Weltpolitik im Sinne des Max-Weber-Zitats, d. h. unter und mit der amerikanischen Weltherrschaft, war den Deutschen nach 1919 versagt, weil die Konsequenz der amerikanischen Kriegsbeteiligung von den Amerikanern selbst nicht gezogen worden war.

Weltpolitik unter und mit der Weltrevolution Lenins aber wollten die Deutschen und wollten auch die Führer der sozialistischen deutschen Arbeiterbewegung weit überwiegend nicht betreiben. Die sozialdemokratische Reichsregie-rung und die Oberste Heeresleitung mit den Freikorps unter politisch rechts stehenden Offizieren verbündeten sich gegen die Revolution von links, die in die Leninsche Weltrevolution hätte einmünden können, wenn sie erfolgreich gewesen wäre. Das deutsche Volk bejahte in den Wahlen diese Entscheidung. Der Bolschewismus wurde abgewehrt und blieb abgewehrt durch alle Jahre der Weimarer Republik hindurch. Gleichwohl blieb das revolutionäre Ruß-land den Deutschen politisch näher als das wieder fern gewordene Amerika — nicht nur, weil die KPD alsbald zu einer starken Bürgerkriegs-formation in sowjetrussischer Abhängigkeit wurde, sondern auch weil die Stellung Deutschlands in Europa durch den Wiederaufstieg Rußlands erheblich berührt wurde.

Immerhin schien Europa, das hieß das Europa der westlichen Siegerstaaten, zunächst mehr oder weniger unter sich zu bleiben. Der Völkerbund wurde zwar gegründet und enthielt in seinem Statut wie in seiner ihm innewohnenden Idee viel von dem, was Wilson gewünscht hatte. Doch waren in ihm weder die Vereinigten Staaten noch Sowjetrußland, noch das besiegte Deutschland vertreten, und faktisch wurde er von Frankreich und Großbritannien politisch bestimmt. Kein Wunder, daß diese neue internationale Organisation von der Mehrzahl der verwundeten und enttäuschten Deutschen nicht als Beginn eines Weltfriedensbundes der Vereinten Nationen, sondern als Instrument der Besiegelung des Unrechts von Versailles angesehen wurde. Der Völkerbund sollte, so sahen es die Deutschen, mit dazu dienen, die neuen Grenzziehungen zu sanktionieren, bei denen das demokratische Prinzip des nationalen Selbstbestimmungsrechts bewußt und eingestandenermaßen vorwiegend zugunsten der gegen Deutschland und Ungarn stehendenStaaten, kaum jedoch im deutschen Sinne angewandt worden war. Dabei stand vor allen einzelnen Grenzfragen an erster Stelle das Verbot des Anschlusses Deutsch-Österreichs an das Reich, obwohl sich alle anderen Teile des zerfallenen Österreich-Ungarns ihren Nationalstaaten angeschlossen oder, wie im Falle der Tschechoslowakei, einen neuen Nationalstaat gebildet hatten.

Deutschland sah sich auf Europa zurückgeworfen und war doch aus Europa ausgeschlossen. Statt neuer Weltpolitik war das Deutsche Reich eingeschnürt, nicht allein durch die Bestimmungen der Friedensverträge von Versailles und St. Germain, sondern außerdem durch Frankreichs neue, gegen Deutschland gerichtete Militärbündnisse mit Polen und der Tschechoslowakei. Der Blick der Deutschen wurde eingeengt auf das Dreieck Paris—Warschau—Prag. Was für ein Kontrast zur Mitteleuropa-Konzeption von 1915! Und was für ein Kontrast zu den sich bereits anbahnenden weltpolitischen Wandlungen!

In solcher Lage mußte zunächst alles darauf ankommen, das Verhältnis zu Frankreich aus dem Zustand eines kalten Krieges herauszuführen. Dies aber konnte nur mit Unterstützung Großbritanniens geschehen; und Ausgleich mit Frankreich hieß zugleich Aufnahme des Deutschen Reichs in den Völkerbund. Bekanntlich hat Stresemann 1925/26 dies Ziel erreicht, indem er als Gegengabe die Garantie des Reichs für den Status quo an der deutschen Westgrenze einschließlich der Entmilitarisierung des Rhein-landes bot und damit das französische Sicherheitsbedürfnis befriedigte. In Locarno wurde dies im Herbst 1925 völkerrechtlich festgelegt. Der Friede schien nun wirklich geschlossen zu sein. Das bisher isolierte und verfemte Deutschland war wieder eingefügt worden. Doch wohin? Und unter welchen Bedingungen?

Zwischen Völkerbund und Sowjetunion

Es war eingefügt in den Völkerbund, der ein Torso war. Eingefügt in Europa, für das die Stunde des Zusammenschlusses gekommen war, wie viele meinten, und das doch trotz des Völkerbundes noch immer vielfältig zerspalten war in saturierte und unbefriedigte, in verbündete und isolierte, in ausgerüstete und abgerüstete Staaten, von denen viele Nationalitätenstaaten waren, die Nationalstaaten sein wollten und damit ein fortdauerndes Unbehagen an der zerrissenen „Europa irredenta“ hatten. Deutschland hatte sich in Locarno mit den Saturierten zusammengetan und hatte sich im Westen selbst als befriedigt erklärt; im Osten und Südosten hatte es aber nach wie vor — und zwar offiziell — seine Wünsche nach Grenzrevisionen, wenn auch unter der Versicherung, sich der Gewaltanwendung enthalten zu wollen. Deutschland hatte also teil sowohl am saturierten wie am unbefriedigten Europa. Stresemann strebte nach dem Ziel der Vereinigten Staaten von Europa. Auch Briand tat das. Nur waren die Konzeptionen der beiden politischen Freunde so weit unterschieden wie die Staatsinteressen Frankreichs und Deutschlands in bezug auf die Fragen der Gestaltung Europas. Mehr als das: Deutschland stand auch zwischen dem Völkerbund-Europa, dem es sich anschloß, und der gegen den Völkerbund gerichteten revolutionären Sowjetmacht, mit der es den Vertrag von Rapallo geschlossen hatte. Zwar hatte Stresemann dem sowjetrussischen Druck (gegen Locarno) widerstanden und war trotz der Drohungen, Warnungen und Lockungen ierins nach Locarno gegangen. Aber dort handelte er, indem er den russischen Druck als Trumpf ausspielte, Einschränkungen der sogenannten Sanktionspflicht des Reichs als Völkerbundsglied im Falle eines Konflikts mit Rußland ein, und ein halbes Jahr nach dem Vertragsabschluß in Locarno schloß er mit den Russen den Neutralitätsund Freundschaftsvertrag von Berlin. So stand Deutschland, ausbalanciert zwischen West und Ost, zwischen dem Genfer Völkerbund und dem bolschewistischen Rußland. Innenpolitisch jedoch, d. h. in seiner parlamentarisch-demokratischen Verfassung, ferner durch die außenpolitischen Bindungen, die Stresemann eingegangen war, und finanziell durch die Verquickung von Reparationen und amerikanischen Krediten, war Deutschland westlich gebunden; aber das Gegengewicht der Möglichkeiten, die die Sowjetunion diplomatisch, wirtschaftlich und militärisch bot, wurde — dank der Zweigleisigkeit der russischen Politik — ausgenutzt, insofern als mit Rußland als Staat unter Staaten paktiert, von Rußland als der Schutzmacht der Kommunistischen Partei jedoch Abstand gewahrt wurde.

Daß diese Sonderstellung Deutschlands als Teilhaber am befriedeten und am friedlosen Europa sowie als befreundete Macht Großbritanniens und Frankreichs einerseits, der So-Sowjetunion andererseits nicht von Dauer sein konnte, würde sich aus einer eingehenderen Konstellationsanalyse der damaligen Lage klar ergeben. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, daß die beiden Riesen, die USA und die SU, wieder stark auf Europa zukamen. Dann aber mußte alles wieder in weitere weltpolitische Dimensionen geraten; und dies um so mehr, als die deutsche Wirtschaft trotz aller Kriegs-und Nachkriegsbelastungen in einem bemerkenswerten Ausmaß wieder expandierte. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen jener Jahre vor 1930 sind unter diesen Aspekten von besonderer Bedeutung. Hier gab es Ansätze nicht nur auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet, sondern auch in der Sozial-und Wirtschaftsverfassung sowie im kulturellen und wissenschaftlichen Bereich. Gemeinsame geistige Traditionen, wirtschaftspolitische Interessen und analoge Zwänge der modernen Lebensweise wirkten in der gleichen Richtung, nämlich einer geistigen Annäherung und einer Minderung der durch den Weltkrieg so überbetonten politisch-ideologischen Gegensätze. Doch wurde all das jäh unterbrochen durch die Weltwirtschaftskrise und überspült durch die nationalsozialistische Welle in Deutschland, die erst infolge der Wirtschaftskrise zu einer solchen Gewalt ansteigen konnte, daß Hitler pseudo-legal das Erbe der labilen Republik von Weimar antreten konnte.

Der Weg in die Isolierung

Damit trat ein grundlegender Umbruch der deutschen Stellung in der Weltpolitik ein, die gerade zur Zeit der Wirtschaftskrise sich in einer gewissen Schwebelage mit Tendenzen zu stärkerer Annäherung Deutschlands an eine atlantisch-westliche Interessengemeinschaft befand. Hitlers Außenpolitik war in ihrer ersten Phase auf gewaltsam erzwungene Revisionen der Friedensverträge von 1919 gerichtet. Das bedeutete aber, da die Feindschaft zum Bolschewismus stärker denn je betont wurde, daß Stresemanns Brückenstellung zwischen West und Ost aufgegeben und statt dessen tiefe Gräben der Isolierung nach West und Ost hin gezogen wurden. Freilich blieb dies noch jahrelang verschleiert. Denn nach Westen hin verstand Hitler zu täuschen und hinzuhalten, so daß erstaunliche Brük-

kenschläge über die neu aufgerissenen Gräben bis zum Herbst 193 8 immer wieder gelangen. Danach erst wurden spät, sehr spät, die Folgerungen aus der nun sichtbaren Tatsache gezogen, daß Hitler sich wirklich vermaß, Deutschland aus eigener Kraft, unzulänglich unterstützt, allenfalls durch die beiden gleichfalls unbefriedigten, expansiven Mächte Italien und Japan, nicht nur aus der Einengung von Versailles zu befreien, sondern zur gewaltsamen Ausweitung des „Lebensraumes" überzugehen, wie er es in seinem Buch „Mein Kampf" einst deutlich genug gesagt hatte. Gewiß hatte Hit-ler sich den Gang der Handlung glücklicher vorgestellt, als es dann wirklich geschah, weil er die Kette lokalisierter Einzelaktionen im Osten fortzusetzen hoffte, in der Meinung, daß die Westmächte moralisch schwach seien, und in der Absicht, die gewaltsame Ausdehnung des Reichs zunächst jedenfalls nur nach Osten, nicht aber nach Westen hin zu betreiben. Als aber der große Krieg ihm dann doch (in seiner Terminologie) aufgezwungen wurde, nahm er ihn zuversichtlich und verbissen auf sich, ja weitete ihn aus freien Stücken aus, indem er am 22. Juni 1941 den Krieg gegen Rußland eröffnete. Deutschland sollte es aus eigener Kraft schaffen. Der Schatten des Jahres 1917 mit den Namen Wilson und Lenin, mit den beiden großen Welt-ideologen und den inzwischen weiter erstarkten großen Weltmächten schien weggewischt zu sein. Das Deutschland niederhaltende Klein-Europa von 1919 mit dem Dreieck Paris—Warschau—Prag aber war dem Vergessen preisgegeben. Mochte dieses Europa von 1919 nun in der Tat gefallen sein, und zwar ohne Aussicht auf Wiederherstellung seines schon in den 20er Jahren künstlich überhöhten Gewichts, so war es doch ein vermessener Gedanke, die Welt durch drei Have-nots aus den Angeln zu heben und sowohl die Sowjetunion als auch die amerikanische Macht als gering und morsch zu verachten.

Blinder Trotz und nationale Selbstbespiegelung

Hitlers verstiegener Versuch, das Rad der Geschichte gewaltsam zurückzudrehen, stellte eine Möglichkeit deutscher Weltpolitik dar, die schon von 1919 bis 1933 im nichtoffiziellen Deutschland in großen Massen der politischen Rechten, einschließlich sehr vieler demokratischer Wähler des Jahres 1919, virulent gewesen war. Eine Möglichkeit freilich kaum im Sinne von etwas möglicherweise Realisierbarem, wohl aber im Sinne von etwas für möglich, ja erwünscht Gehaltenem. Die so begriffene Möglichkeit einer deutschen Trotzpolitik nach allen Seiten hin wurde schon nach 1919 in furchtbarer Verblendung populär als Alternative zur sogenannten Erfüllungsoder Verzichtpolitik gesehen, als deren Vertreter auch Stresemann, ja gerade Stresemann galt. Hitler hatte sich dieser Stimmung des deutschen Allein-und Selbst-könnens bedient. Sie entsprang einer Haltung des blinden Trotzes und der nationalen Selbstbespiegelung, wie sie wohl allen Völkern in ihrer Phase nationalrevolutionärer Bewegung eigentümlich ist, wie sie aber gerade bei den Deutschen im Zusammenhang mit ihrem Gipfel-und Absturzerlebnis von 1918 besonders krampf'haft gesteigert worden war. Vieles wirkte hier geistesgeschichtlich nach. Es ist dabei nicht nur zu denken an die Fernwirkungen von 1813 („Das Volk steht auf, der Sturm bricht los") oder von 1870 (der Nationalfeiertag der Schlacht von Sedan als Symbol deutscher Unbesiegbarkeit mit der Gefahr der Überschätzung militärischer Leistung auf Kosten der politischen), auch nicht an die nationalbürgerlichen Bewegungen, wie sie sich bei den Alldeutschen, dem Flottenverein und anderen Verbänden, schließlich in der Vaterlandspartei äußerten und bis zu völkischantisemitischen Wahnlehren sich steigerten, auch nicht nur an die heute vielberufene und doch schwer einheitlich zu fassende „Konservative Revolution", sondern auch an sogenannte christlich-nationale Propaganda im Zentrum, der BVP und der Christlichen Gewerkschaften, ja schließlich auch an ein gewisses weltpolitisch-ideologisches Dilemma, in dem sich die SPD befand, wenn sie die Leninsche Ausprägung des Marxismus ablehnte und doch in den sogenannten „kapitalistischen“ Demokratien wenig Geistesverwandtes fand, so daß auch sie, so fern sie auch einer blinden Trotzhandlung stand, doch teilhatte an einer in die 20er Jahre weit hineinreichenden politisch-ideologischen Isolierung der Deutschen in der Welt. Auch dies gehört zur deutschen Sonderstellung nach 1919. Beide Tendenzen, der Trotz nationaler Selbst-befriedigung in politischer Isolierung einerseits und die Vernunft weltpolitischer Einfügung im zweiten Rang andererseits lagen gegeneinander volkspsychologisch im Rennen, als die Weltwirtschaftskrise ausbrach und damit die Gefahr aufs höchste anstieg.

Weg der Vernunft wurde verfehlt

Indem durch Hitler die unrealisierbare Möglichkeit der Autarkie-und Trotzpolitik zum Teil mit Hilfe der Deutschen selbst, zum Teil über die Köpfe der Deutschen hinweg durchgesetzt worden war, wurde der Weg zu einer Katastrophe für viele europäische Völker und für die Deutschen selbst beschritten. Die großen Gegner Deutschlands aus dem Ersten Weltkrieg waren noch einmal durch Hitler zusammengezwungen worden. Für die Sowjetrussen war es ein taktisch erwünschtes Zwischenspiel der Koexistenz, für die Vereinigten Staaten unter Roosevelt war es mit der illusionären Hoffnung auf eine demokratische Evolution in der Sowjetunion verbunden. Der Unterschied zu 1918 bestand für Deutschland nur darin, daß die bolschewistische Macht nicht aus Europa herausgekämpft, sondern durch Hitler und Roosevelt eingelassen war, und ferner darin, daß die Weltrivalen von 1917 nun nicht aus Europa herausgingen, sondern in Europa ihre Machtsphären abgrenzten..

Beide trafen sich in Deutschland und hielten nun — anders als 1918 — Feindberührung in Deutschland. Nachdem das Deutsche Reich zwischen 1918 und 1944 den Weltdualismus nicht als für sich verbindlich anerkannt hatte, hatte der Versuch, eine dritte Kraft oder gar eine oberste Kraft zwischen den beiden weltweit wirkenden Riesen zu werden, mit der deutschen Teilung geendet. Eine geteilte Nation in einer gespaltenen Welt des Kalten Krieges, dessen Anerkennung wir nicht in einer erneuten Flucht vor der Wirklichkeit ausweichen können, und eine geteilte Nation in einer kommenden Welt der Vereinten Nationen, in der es keine geteilten Nationen mehr geben soll — das steht als Ergebnis am Ende der Epoche der beiden deutschen Weltkriege.

In den 20er Jahren gabelte sich der Weg deutscher Weltpolitik; der Weg des Maßes und der Vernunft stand offen, aber er wurde verfehlt. Der Weg führte in den Abgrund. Doch die Geschichte der deutschen Nation ist weitergegangen und steht heute von neuem mitten in der 1917 angebrochenen Entscheidungssituation. Es scheint nur, daß heute nicht nur Regierung und Opposition in Westdeutschland, sondern auch das deutsche Volk im ganzen besser als in den 20er Jahren begriffen haben, daß deutsche Politik heute nur Weltpolitik in einer schnell sich wandelnden Welt sein kann; Weltpolitik im zweiten Rang ohne souveräne Eigenmacht, aber auf jeden Fall Politik und Engagement. Denn sich aus dem Rennen der Großen herauszuhalten und den drohenden Zugriff des totalitären Machtmißbrauchs zu ignorieren, wäre ebenso eine deutsche Flucht, wie es die Politik des Trotzes und der Selbstüberschätzung einst gewesen ist.

Politik und Zeitgeschichte

AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Waldemar Besson: „Franklin D. Roosevelt der New Deal und die neuen Leitbilder der amerikanischen Politik"

Karl Buchheim: „Die Weimarer Republik"

Walter Bußmann: „Der deutsche Reichs-und Nationsgedanke im 19. und 20. Jahrhundert"

Indira Gandhi: „Indien heute“

Philip E. Mosely: „Mythen und Realitäten"

Hans Friedrich Reck: „Die indischen Parteien"

Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"

Wolfgang Schlegel: „Preußisch-deutsche Geschichte als politisch-pädagogisches Problem"

Egmont Zechlin: „Separatfriedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche zur Ausschaltung Rußlands im I. Weltkrieg"

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bismarck, Gesammelte Werke 13, S. 331. — Max Weber, Gesammelte Schriften, 2. Ausl., Tübingen 1958, S. 23. — Ebenda, 1. Ausl., S. 483 f.; vgl. dazu Wolfgang Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890— 1920, S. 314 ff.

  2. Dies hier zeitlich vorweggenommene Wort Stalins ist nur insofern anachronistisch, als der „Plan" fehlte. Im übrigen aber handelt es sich um den prinzipiell ähnlichen Vorgang des industrie-wirtschaftlichen Wachstums einer nachholenden Nationalwirtschaftinnerhalb des Industrialisierungsprozesses der Erde.

  3. Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1915, S. 165.

  4. Ebenda, S. 165.

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