Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

„Aber die Frau geht in die Kirche" Bericht über die Religionsausübung in der UdSSR | APuZ 16/1961 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 16/1961 „Aber die Frau geht in die Kirche" Bericht über die Religionsausübung in der UdSSR Eine antisemitische Äußerung aus den Vortagen des Hitler-Putsches von 1923

„Aber die Frau geht in die Kirche" Bericht über die Religionsausübung in der UdSSR

GERD RUGE

Am 9. November und am 16. November 1960 wurde in der Beilage der Artikel von Walter Kolarz „Die Religionen in der Sowjetunion" veröffentlicht (B 45 u. 46/60). Diese wissenschaftlich fundierte Untersuchung wird heute durch einen Anschauungsbericht ergänzt.

I. Rechtgläubige und Sektenanhänger

Hinter dem Torbogen, von dessen heiligen Fresken alte Frauen die verwitterte Farbe abküssen, empfing mich ein rundgesichtiger, freundlich lächelnder junger Mönch, dessen braune Locken tief auf die Schultern fielen. Das Kloster des heiligen Sergius ist das bedeutend-ste im heutigen Rußland. Der Intourist-Katalcg empfiehlt ausländischen Besuchern, das Kloster Sagorsk zu besuchen, und vielleicht werden die Ironie der Geschichte und die Vergeßlichkeit des Menschen eines Tages dazu führen, daß man das Kloster des heiligen Sergius nur noch unter dem Namen Sagorsk kennt — dem Namen, Jen das kleine Örtchen beim Kloster zu Ehren eines verdienten Parteisekretärs verliehen bekam. Für die Pilger, die immer noch zu Hunderten kommen, ist es immer noch das Kloster des heiligen Sergius, wenn auch in verdunkelten Räumen in aller Welt weitgereiste Touristen seine himmelblauen Kuppeln an die Wand projizieren und dazu erklären: „Dies ist das Kloster Sagorsk."

Der freundliche junge Mönch, der mich zun Abt des Klosters führen soll, macht mit mir einen Umweg durch das ehemalige Refektorium. Vierzig oder fünfzig Menschen knien in dem weiten, zur Kirche verwandelten Raum, murmeln Gebete und berühren den steinernen Boden mit der Stirn. Aber das will mir der Mönch nicht zeigen. Er deutet stattdessen mit ausgestrecktem Arm auf die neue Ikone. Auf Glas gemalt und von hinten angestrahlt segnet Chri-stus in hellblauem Gewand, gemalt im sentimentalsten Stil des neunzehnten Jahrhunderts, die Gläubigen. „Ist sie nicht schön? Einer unserer Brüder hat sie kürzlich gemalt“, flüstert der junge Mönch. Ihm scheint sie schöner und eindrucksvoller als die in Jahrhunderten nachgc-dunkelten Bilder der Ikonostase. Wir bleiben einen Augenblick stehen, und dann treten wir durch den Vorraum auf eine schmale Holztür zu. Der Mönch zieht an einem Klingelzug. Im halbdunklen Gang öffnet eine schwarzgekleidete Gestalt; nach wenigen Schritten stehen wir in einem kleinen Büroraum. Auf dem Schreibtisch steht die gleiche kristallene Schreibtischgarnitur wie in Moskauer Hotelzimmern. Aber die Wände sind übersät mit Ikonen aus dem 19. Jahrhundert. Und aus dem Nebenzimmer kommt ein großer, schwarz gekleideter Mann herein. Er mag Mitte Vierzig sein, sein schmales Gesicht ist von einem Vollbart umrahmt. Der junge Mönch stellt mich dem Archimandriten Pimen vor.

Direkt dem Patriarchen unterstellt

Das Kloster des heiligen Sergius untersteht, seiner besonderen Bedeutung wegen, direkt dem Moskauer Patriarchat. Es hat im eigentlichen Sinne keinen Abt, und auch der örtliche Bischof hat keinen Einfluß. Archimandrit Pimen ist direkt dem Patriarchen, dem Oberhaupt der Orthodoxen Kirche Rußlands, unterstellt. In seinem Kloster gibt es sowohl dienende Brüder als auch solche, die die geistliche Akademie besucht haben, aber nicht als Popen in die Kirchen, sondern als Mönchs-Geistliche ins Kloster gingen. Und das Kloster des heiligen Sergius braucht viele Geistliche. Denn an hohen Feiertagen drängen sich die Gläubigen in den drei großen Kirchenräumen und in den kleinen Kapellen. „Zum Fest des heiligen Stifters Sergius sind zehntausend Menschen zu uns gekommen“, erzählt der Archimandrit. „Ostern waren zwanzigtausend Gläubige versammelt — es war kein Platz mehr, daß sie sich hätten bekreuzigen können. Die Zahl der Gläubigen, die sich nach Sagorsk begeben, ist in den letzten Jahren ein wenig gestiegen, vielleicht um fünf bis zehn Prozent. Dementsprechend stieg auch das Einkommen des Klosters aus dem Verkauf von Kerzen, aus den Opferstöcken und aus den Summen, die für besondere Gedenk-Gottesdienste und besondere Gebete gespendet wurden. Das Einkommen des Klosters liegt bei etwa 6 300 000 Rubeln im Jahr."

Archimandrit Pimen erzählt das ohne besondere Bewegung. Ich selbst bin überrascht. Einerseits scheinen mir die Einnahmen des Klosters doch recht ungewöhnlich hoch, höher als ich vermutet hätte. Zum anderen aber hatte ich nach den Berichten westlicher Geistlicher, die die Sowjetunion besuchten, angenommen, »aß die Zahl der Gläubigen in den Jahren seit dem Tode Stalins und wegen der größeren staatlichen Toleranz wesentlich stärker gestiegen sei. Aber Archimandrit Pimen wiederholt: „Fünf bis zehn Prozent.“ Über die Veränderungen, die sich seit 1917 vollzogen haben, spricht er anders als es ausländische Gäste vielleicht erwartet hätten.

Archimandrit Pimen gibt Auskunft

„Früher, vor der Revolution, gab es viele Gleichgültige, die nur zur Kirche gingen, um dort gesehen zu werden. Es gehörte sich eben so, außerdem mußte man in die Kirche geben, weil das der Karriere nützlich war. Jetzt kommen nur noch die wahrhaft Gläubigen. Ihrer Zahl nach sind es weniger als zuvor. Aber der Qualität nach sind es eben echte Gläubige. Unter ihnen ist die Gruppe der einfachen Menschen am größten. Das erklärt sich psychologisch: als Christus auf Erden weilte, kamen die allereinfachsten Leute zu ihm. Es ist mehr das Herz, das zur christlichen Lehre strebt. Aber es kommen auch die Intellektuellen. Es kommen sehr verschiedene Menschen.“

Ob die Orthodoxe Kirche sich in der neuen Umwelt verändert habe, nun, da sie seit vierzig Jahren nicht mehr Staatskirche sei, frage ich. Archimandrit Pimen verneint: „In der Orthodoxen Kirche hat es keine Schwankungen gegeben, auch keine Veränderungen in der Lehre. Nur eine Veränderung gab es: bei der Geistlichkeit. Vor der Revolution war es üblich, daß die Kinder von Geistlichen ebenfalls wieder Geistliche wurden. Das ist jetzt anders. Jetzt kommen die Kinder von Bauern und Arbeitern zu uns. Unter unseren Mönchen sind frühere rzte und Ingenieure, auch ein Taxi-Chauffeur. Um dieser Veränderung wegen bemerkt man unter der Geistlichkeit eine neue Blütezeit." Wie sich die Orthodoxe Kirche, die vor der Revolution als äußerst wissenschaftsfeindlich galt, mit der modernen Welt abgefunden habe, und besonders mit der aufklärerischen, die Naturwissenschaften betonenden Haltung der Russen von heute, erkundige ich mich. „Die Orthodoxe Kirche ist der Meinung, je weiter sich die Wissenschiaft entwickelt, um so mehr Zeichen finden sich für die Existenz Gottes", ist die Antwort des Archimandriten. „Bei Paulus steht, jeder Bürger müsse so viele Kenntnisse haben, daß er einem anderen alle Erscheinungen deuten könne. Einige Kleriker sagen: , Ich kenne keine Art von Kenntnissen, die einem orthodoxen Christen nicht nützlich wären.'So sprach Bischncf Innokentij Chersonskij im vorigen Jahrhundert. In der Auseinandersetzung mit der Wissenschaft hat es keine dogmatischen Veränderungen gegeben." „Die ganze Welt schwankt, aber die Kirdhe ist wie ein Schiff. Die Wellen schlagen über das Schiff, aber die Kirche zieht auf ihrem Weg dahin. Das kann man auch über verschiedene, nicht-orthodoxe Kirchen sagen. Aber die Orthodoxe Kirche“ — Archimandrit Pimen benutzt das russische Wort rechtgläubige Kirche'— „hält sich seit Christus und den Aposteln an unveränderte Regeln und Gesetze, deren Besonderheit es ist, daß sie zu allen Zeiten Gültigkeit hatten. Die Orthodoxe Kirche existiert seit Christus und den Aposteln. Es kam die Zeit, da sich die Römische Kirche abwandte von der uralten Orthodoxie, und in der Römischen Kirche erschienen neue Dogmen. Als Ergebnis dessen entstanden in der Römischen Kirche Gegenströmungen wie der Protestantismus, der das Leben der Kirche wieder auf die alten Positionen bringen wollte. Aber der Protestantismus hatte keine Gelegenheit, die Orthodoxe Kirche kennenzulernen, von der er nur wenig wußte. So erschienen seit Luther auch verschiedene protestantistische Strömungen und Zweige. Das zeigt, daß die Mitglieder dieser christlichen Kirchen jenen stützenden Punkt zu finden suchen, auf dem sie fest stehen können. Aber da sie die Orthodoxe Kirche wenig kennen, suchten sie die Wahrheit auf dem Wege des Intellekts, nicht auf dem der Kirche. Und der Verstand führt nicht zur Wahrheit. So bemerken wir nun das große Interesse, welches der Orthodoxen Kirche besonders in letzter Zeit von anderen Kirchen bewiesen wurde — von Protestanten, Alt-Katholiken und Anglikanern etwa. Man muß sagen, wenn diese Menschen das orthodoxe Leben kennenzulernen suchen, stellen sich ihnen immer einige Schwierigkeiten in den Weg. Denn das innere, geistige Leben der Orthodoxen Kirche kann nicht immer sofort verstanden werden. Christus sagte: . Mein Reich ist nicht von dieser Weit'. Wer aus dieser Welt kommt und die Orthodoxe Kirche verstehen will, wer das innere Leben mit äußerem Maß zu messen versucht, wird nichts verstehen. Um das innere Leben der orthodoxen Kirche wahrhaft zu verstehen, muß man dieses Leben selbst leben.“

Archimandrit Pimen schweigt. Ich weiß nicht, was ich nun für eine Frage stellen könnte. Die Tür öffnet sich, und ganz in Schwarz gehüllt, das bäuerische Gesicht unter dem schwarzen Kopftuch fast verborgen, tritt ein Mädchen von etwa fünfzehn Jahren ein. Schweigend und schnell tritt sie am Schreibtisch vorbei, stellt einen Teller mit einem Apfel und einem Messer vor mich auf den Tisch und verschwindet. Während ich den glänzend roten Apfel schäle und zerlege, stellt Archimandrit Pimen mir einige allgemeine Fragen. Er spricht ein paar Sätze in gebrochenem, akademischen Deutsch, das er als junger Student gelernt hat. Der freundliche kleine Mönch, der mich hereingeführt hat, flüstert dem Archimandriten etwas zu, dann geht ein strahlendes, gemütliches Lachen über das runde, rotbäckige Gesicht des jungen Mannes. Der Archimandrit schenkt mir eine Mappe mit Fotos des Klosters. Ich stehe auf und bedanke mich, der Archimandrit entläßt mich mit einigen freundlichen Worten für den Heimweg. Vor der Tür seines Arbeitszimmers fragt midi der junge Mönch mit halblauter Stimme: „Es ist doch schön für Sie, wenn Sie zur Erinnerung an das Gespräch auch Bilder vom Kloster haben, nicht wahr?“ Draußen hat es zu schneien begonnen. Auf den himmelblauen Kuppeln sitzen weiße Häubchen, und ein alter Mann im schwarzen Mönchsgewand, dessen graue Locken im Winterwind wehen, schließt gerade die Tür der Kirche zu.

Aus der Perspektive eines Studenten

„Er ist eigentlich sehr angenehm, mein Professor. Und mit seinem Sohn komme ich gut aus. Er studiert auch Mathematik“, erzählt Leonid Iwanowitsch, über das kleine Tischchen gebeugt, an dem er und zwei Freunde Eis essen.

„Wirklich, das ist eine gebildete Familie. Aber die Frau geht in die Kirche." Es kommt ihm seltsam vor, daß die Frau eines Mathematik-professors den Wunsch haben sollte, in eine der engen, zur Zeit der Gottesdienste oft übervollen Kirchen zu gehen, in denen es nicht nur nach Weihrauch, sondern mehr noch nach unausgelüfteten Kleidern riecht. Er erinnert sich daran, selbst einmal in der Osternacht zur Kirche gegangen zu sein, es liegt zwei oder drei Jahre zurück. Aber er erinnert sich noch allzu gut. Halb war er aus Neugierde gegangen, halb, weil ihn seine Großmutter immer gedrängt hatte. „Meine Großmutter, nun ja, das ist eine einfache Frau, im Dorf ist sie ausgewachsen. Eine Bildung hat sie nicht mitbekommen. Man kann verstehen, daß sie in die Kirche geht. Sie kennt es nicht anders.“ Aber daß die Frau eines Professors in die Kirche geht, eine Frau, die selbst Philologie studiert hat, will ihm nicht in den Kopf. „Was ist das denn für ein Schauspiel, etwas für Bauern oder Analphabeten. Ich bin in der Jelochowskaja gewesen, in der Kirche, wo der Patriarch selbst in der Osternacht anwesend ist. Ich wäre beinahe gestorben. Am Abend gingen wir hin, meine Großmutter und ich. Stundenlang standen wir da, von der Menge eingekeilt. Schließlich konnte man kaum noch atmen. Dauernd wurde irgendwelchen Frauen übel, rechts und links von uns. Dann reichte einer einen Becher Wasser über die Köpfe weg, ich weiß nicht, ob das geweihtes Wasser war. ich dachte, meine Großmutter übersteht's nicht. Der Geruch, die schlechte Luft, der Weihrauch-dampf. Sonst kann die alte Frau es kaum aushalten, wenn sie im Milchgeschäft zehn Minuten warten muß. Aber sie hat's ausgehalten. Hat sich bekreuzigt, gebetet, hat gesungen. Die ganze Zeit war sie beschäftigt. Aber ich, ich war schon vorher kaputt, ehe der Gottesdienst überhaupt begann. Überall diese murmelnden Frauen. Männer waren ja weniger da. Und schräg vor mir ein fünfzehnjähriges Mädchen, richtiggehend eine Verrückte. Die Augen konnte sie kaum aufmachen, reden konnte sie wohl auch nicht. Immerzu schlug sie das Kreuz und stöhnte. Na also, ich wäre gegangen, noch ehe der Ostergottesdienst anfing. Aber man kann sich ja nicht bewegen. Von draußen drängen die Leute nach, aber gut, deswegen mußte wenig'stens die Tür aufbleiben. Und vom Patriarchen habe ich fast nichts gesehen. Hin und wieder den Kopf von einem alten Mann mit einer Krone auf. Und dann die Popen hinter der Tür in der Ikonenwand. Es war ein bißchen wie in der Oper. Und der Chor oben auf den Balustraden soll ja sonst auch im Bolschoi-Theater singen. Der Baß, der Michailow, ist immer dabei in der Osternacht, hat meine Tante gesagt.“ Leonid Iwanowitsch wandte sich an mich: „Ihr Ausländer kommt ja zu Scharen gelaufen, um dabei zu sein. Für euch ist das ja auch nur Theater, und ihr wundert euch dann über die rückständigen Leute und findet es im übrigen alles sehr hübsch, genau wie in der Oper oder im Märchen. Aber ihr habt ja auch eine Sonderloge in der Kirche. Bei den Altgläubigen sollen sie sogar einen Extra-Balkon gebaut haben, nur damit die Ausländer einen guten Platz haben. Aber eure Frauen sollten mal fünf Stunden lang da unten eingekeilt. stehen. Sie würden schön Atemnot bekommen, verwöhnt, wie sie sind, lind sie wären nicht zum zweitenmal neugierig." „Würde in Deutschland die Frau eines Professors in die Kirche gehen?“ fragte einer der Freunde Leonids. Und als ich sage, daß sogar Professoren selber in die Kirche gingen, zuckt er verwundert die Achseln. Er glaubt, daß ich ihm keine Märchen erzähle — außerdem, es wäre ja kein besonderes Ruhmesblatt für ein kultiviertes Land, wenn die Leute in die Kirche gehen, denkt er. Er wundert sich eher, daß ich so etwas ungeniert zugebe. Was die Frau des Professors angeht, von der Leonid Iwanowitsch erzählte, so hat er für sie eine Entschuldigung. „Im Krieg hat sie damit angefangen, als sie nicht wußte, ob ihr ältester Sohn tot oder gefangen war. Viele Frauen sind damals in die Kirche gegangen. Ob das nun einen Sinn hat oder nicht — irgendwie kann man es vielleicht verstehen. Und sie hat sich eben daran gewöhnt, geht weiter hin.“ „Ich weiß jedenfalls nicht, was ich da sollte", sagt Leonid Iwanowitsch. „Das sind überholte Zauberkunststücke — vielleicht für alte Frauen . . .“ Aber sein Freund droht ihm lachend mit dem Finger: „Denke an deinen Bruder und sei vorsichtig! Heirate erst mal selbst! Dann wird sie dich vielleicht auch in die Kirche zerren.“

Taufzermonien

Leonids Bruder ist keineswegs fromm geworden. Er war auch nur zweimal in der Kirche, zur Taufe seiner beiden Kinder. Und auch seiner Frau, die in einem Baubüro arbeitet, war die Taufe nicht so wichtig. Aber ihre Mutter hat darauf bestanden. „Mein Schwager hat seine Tochter nicht taufen lassen“, sagt einer der Studenten. „Aber jetzt wollen die Großeltern das Enkelkind nicht küssen, weil es nicht getauft ist. Sonst sind sie sehr nett zu ihm, verwöhnen es, aber küssen wollen sie es nicht . ..“

Sonntag mittags sind die Moskauer Kirchen erfüllt vom Geschrei kleiner Kinder. Großmütter schaukeln dick vermummte Täuflinge im Arm. Mütter stellen sich in weitem Halbkreis um das Taufbecken vor der Ikonenwand auf. Eben noch haben die Gläubigen hier im halbdunklen Kirchenraum dicht aneinander gedrängt gestanden und im Kerzenschein und Weihrauchduft ihr „Gott sei uns gnädig" gesungen. Die letzten ziehen noch in langen Schlangen an den Heiligenbildern vorbei, um sie zu küssen: Alte Frauen mit schwarzen Kopftüchern, jüngere Frauen, halb bäuerisch, halb städtisch gekleidet. Die meisten sind über vierzig Jahre alt. Wenig Männer sind unter ihnen. Ab und zu sieht man ein feingeschnittenes Gesicht unter grauem Haar. Seltener geht ein junger Mann im billigen Straßenanzug, die Ballonmütze in den Händen drehend, zwischen den Frauen. Hin und wieder tauchen aus dem Strom der Gesichter im halbdunklen Raum die wirren Haarschöpfe und brennenden oder erloschenen Augen geistig Verwirrter auf. Und dann verklingt das Schlurfen der vielen Füße, und die kleine Kirche ist erfüllt vom Chor der Säuglingsstimmen.

Bis zu 25 Täuflinge habe ich in der kleinen Kirche in der Brussowskaja-Gasse gezählt, die da gleichzeitig aus Decken und Steckkissen gewickelt wurden. Sie alle werden gemeinsam in einer großen Zeremonie vom Popen getauft, einem großgewachsenen Mann von etwa vierzig Jahren, mit schöner Stimme, schwarzem Bart und langem schwarzem Haar. Die Mütter stehen im Halbkreis um ihn herum, die nackten Säuglinge nur in die Decke eingeschlagen, während der Pope einen Eimer heißes und einen Eimer kaltes Wasser im großen Taufbecken mischt. Die Säuglinge schreien im Arm der Mutter, wenn der Pope an ihnen vorbeigeht, sich den Namen des Kindes zuflüstern läßt, um ihn in die Taufformel einzuflechten und wenn er dem Säugling mit einem Schwämmchen die Wundmale Christi auftupft. Mit dem geübten Griff einer Kinder-schwester stellt er zwanzig Säuglinge nacheinander in das Wasser des Taufbeckens, ehe er ihnen die Taufhemdchen über den Kopf zieht.

Es sind die Mütter, die mit den Täuflingen auf dem Arm vor dem Popen stehen und gemessenen Schrittes hinter ihm das Taufbecken um-schreiten, aber fast immer sind es die Großmütter, die hinter ihnen stehen und Regie führen. Sie sagen, was mit der Locke geschehen muß, die der Pope dem Säugling abgeschnitten hat. Sie geben ihren Töchtern und Schwiegertöchtern einen kleinen Stoß, wenn sie ans Taufbecken herantreten müssen. Die jungen Mütter selbst scheinen den Ablauf des Rituals oft zu kennen. Häufig sieht es so aus, als verstünden sie auch den Sinn nicht. Und die jungen Väter stehen ein paar Schritte zurück und schauen oft verständnislos zu. Sie unterhalten sich halblaut oder schauen mit einer gewissen Neugier zu, was mit ihrem Sprößling geschieht. Man sieht es ihnen an, daß sie der Taufe hauptsächlich aus Respekt vor den Großeltern zugestimmt haben. Immerhin, es ist ihrer Karriere nicht förderlich, wenn sie, ihre Kinder taufen lassen. Einem Arbeiter oder einem kleinen Angestellten wird es nichts schaden, wahrschein-lieh wird sich niemand darum kümmern. Aber ein höherer Beamter, ein leitender Ingenieur, ein Parteifunktionär gar, kann unangenehme Fragen gestellt besommen. Und irgendwo notiert jemand einen Minuspunkt, wenn es sich herum-spricht, daß die Familie zur Kirche geht.

Gelegentlich kommt es vor, daß sich ein Erwachsener taufen läßt. In der kleinen Kirche in der Brussowskaja-Gasse sah ich einmal, wie ein junger Mann von achtzehn oder zwanzig Jahren getauft wurde. Er war ein bißchen verlegen, denn ein paar Männer, die in einer Ecke des Kirchenraumes standen kommentierten jeden seiner Schritte mit halblauten Bemerkungen. Der junge Mann, der seiner Kleidung nach wie ein einfacher Arbeiter aussah, sah sich immer wieder nach ihnen um, während der Pope das Taufbecken hinter eine spanische Wand trug, wo sich die Taufzeremonie vollziehen sollte. „Ich hätte es nicht getan“, sagte der eine der älteren Männer. „Warum sagt er nicht einfach: Jawohl, ich bin getauft worden, aber der Schein ist im Krieg verloren gegangen'. Das kann ja doch keiner nachprüfen.“ „Und das alles wegen einem Mädchen", sagte ein anderer Mann. Seine Freunde wollten näheres wissen. „Ich weiß doch nichts davon. Aber es wird schon wegen einem Mädchen sein. Besonders die, die frisch vom Dorf kommen, wollen manchmal in der Kirche heiraten.“ Der junge Mann, der getauft werden sollte, konnte fast jede dieser Bemerkungen mithören. Das war ja nicht angenehm, aber er zeigte sich nicht halb so geniert wie zwei zehnjährige Jungen, die sich an einem anderen Tage, von der Großmutter geführt, dem Prozessionszug der Mütter mit den Säuglingen anschließen mußten. „Die gehen ihr Leben nicht mehr in die Kirche“, flüsterten zwei junge Väter, deren Säuglinge getauft wurden.

Kein Aufschwung, der ins Auge fällt

Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie tief die Religiosität noch im russischen Volk verwurzelt ist. Zweifellos ist die Zahl der Gläubigen, die der Orthodoxen Kirche anhängen, stark zusammengeschrumpft. Wenn sie sich an hohen Feiertagen in den Kirchen eng zusammendrängen müssen, wenn die Zuspätgekommenen keinen Platz mehr finden und auf der Straße stehen müssen, dann kann das Bild der überfüllten Kirchen den ausländischen Besucher täuschen. Denn die Zahl der Gläubigen in einer einzelnen Kirche mag sehr groß sein — die Zahl der Kir-kaum chen selbst ist ungewöhnlich gering. In Moskau gibt es etwa fünfzig, durchweg sehr kleine Kirchen — bei einer Bevölkerung von fünf bis sechs Millionen Menschen. Unzählige Kirchen sind geschlossen worden. Sie sind zu Lagerschuppen geworden oder verfallen allmählich, nachdem die wertvollen Baumaterialien herausgerissen worden sind. Andere blieben als Museen erhalten, aber selbst das ist nur eine verhältnismäßig kleine Zahl der vielen Kirchen von historischem Wert, die es einst in Moskau gab. Manche sind zu Wohnhäusern geworden. Auf jeder der kleinen Kuppeln einer alten Kirche am Moskwa-Ufer, schräg gegenüber vom Kreml, ragen ein bis zwei Fernsehantennen in die Luft. Hinter den Kirchenfenstern sieht man kleine, verschmutzte Tüllgardinen, ein paar Töpfe stehen auf der Fensterbank, und eine Katze liegt schnurrend zwischen ihnen. Aber es kann auch geschehen, daß man vor einer geschlossenen oder verfallenen Kirche ein kleines Grüppchen älterer Frauen sieht. Sie haben ein Kreuz an die Kirchenmauer gelehnt und singen halblaut.

Einige Kirchen, die geschlossen worden waren, sind wieder für den Gottesdienst geöffnet worden. Aber außerhalb von Moskau gibt es in den Städten mit einer halben Million oder einer Million Einwohner höchstens einmal eine Kirche. Manchmal findet sich in kleinen Dörfern ein Holzkirchlein, dessen Zwiebelturm frisch gestrichen ist. Wahrscheinlich sind seit Stalins Tod eine Reihe von Kirchen neu gebaut worden. Und sicherlich ist die Zahl der Gläubigen auf dem Dorf verhältnismäßig größer als in den großen Städten. Die alten Kirchenfeste jedenfalls kennen die Bauern noch ganz gut, und die Zahl der Arbeiter, die an solchen Festtagen nicht zur Arbeit kommen, ist sicherlich nicht klein. Auch wer nicht besonders kirchenfromm ist, legt gern einen Festtag ein, an dem der Wodka fließt. Und selbst in den großen staatlichen Hotels Moskaus kann man im Frühjahr die traditionelle Fastmahlzeit der Orthodoxen Kirche bestellen: dünne Hefepfannkuchen mit Kaviar, zerlassener Butter und saurer Sahne. Sogar Osterkuchen gibt es, wie sie die Gläubigen in die Kirche tragen und weihen lassen. Aber mit der Religion hat das noch etwa ebensoviel zu tun, wie wenn Chruschtschow vom Jüngsten Gericht spricht oder einen Bibelspruch zitiert. Vielleicht hat der Partei-und Regierungschef diese Worte von seiner Großmutter in einem kleinen ukrainischen Dorf gelernt; vielleicht hat er bei einem Popen das Lesen und Schreiben gelernt, mit religiösen Traktaten als erster Buchstabierstütze. Die Rede der einfachen Leute ist noch voll von Worten, die aus der Bibel stammen. Sie wissen es selbst nicht und glauben, es seien russische Sprichworte.

Es gibt keinen Maßstab, an dem sich ablesen ließe, wieviele Menschen sich heute in Rußland zur Orthodoxen Kirche bekennen. Die Zahl der Menschen, die zur Kirche kommen, ist in den letzten Jahren wieder gestiegen, das ist richtig. Aber das braucht nicht zu bedeuten, daß die Kirche neue Gläubige gewonnen hätte. Wahrscheinlich sind es Menschen, die sich in den Jahren vorher nicht zur Kirche wagten.

Atheistische Propaganda wird ignoriert

Die Orthodoxe Kirche tut nichts oder wenig, um neue Anhänger zu gewinnen. Sie hat keine Möglichkeit, junge Menschen direkt anzusprechen. Religionsunterricht zu erteilen ist verboten, sie kann nur hoffen, daß gläubige Eltern mit ihren Kindern zur Kirche kommen, oder daß Erwachsene den Popen bitten, sie in den Glauben einzuführen. Aber der Pope darf nicht mehr als drei Menschen gleichzeitig zum Unterricht um sich versammeln, und außerdem: die Popen sind vorsichtig geworden. Nach langen Jahren der Kirchenverfolgung hat das orthodoxe Patriarchat seinen Frieden mit dem Sowjet-staat gemacht. Die Kirche verzichtet auf jeden Versuch, außerhalb des Kirchenraumes selbst der antireligiösen Propaganda entgegenzuwirken. Sie verhält sich, als nehme sie die Existenz dieser Propaganda nicht zur Kenntnis. „Wer glauben will, kann glauben. Wer nicht glauben will, kann atheistische Propaganda machen“, so einfach erläutert mir ein Dorflehrer das Prinzip der Glaubensfreiheit. Die jungen Menschen kommen kaum mit der Orthodoxen Kirche in Berührung. Kein kluger und gebildeter Priester spricht mit ihnen oder versucht, den Bruch zwischen ihrer glaubensfeindlichen Erziehung und den Lehren der Kirche zu überbrücken. Immer wieder freilich finden sich einzelne, die aus innerem Bedürfnis nach Gott suchen, und manche von ihnen finden zur Orthodoxen Kirche. Aber die meisten jungen Leute, selbst wenn religiöse Gedankengänge sie anziehen sollten, wenden sich nicht leicht an bärtige Popen, die ihnen wie weltfremde Priester eines ganz auf äußerliche Wirkung abgestellten Kultes erscheinen.

Die Orthodoxe Kirche kann Außenstehenden keine jener zumeist unausgesprochenen Fragen beantworten. Der Staat und die Partei tun es unaufhörlich. Zwar sind den offiziell zugelassenen Religionsgemeinschaften nach Stalins Tod gewisse Erleichterungen gewährt worden, aber zugleich wurde die antireligiöse Propaganda, von der man seit Beginn des Zweiten Weltkrieges weniger gehört hatte, wieder angekurbelt. Im Schulunterricht, bei den Jungen Pionieren, in Zeitungen und Zeitschriften wird jeder junge Sowjetbürger stets und ständig über die Unsinnigkeit religiöser Vorstellungen belehrt. Äußert einer — schon mit einiger Unsicherheit — den Gedanken, es müsse doch wohl einen Gott geben, der die Harmonie des Weltalls geschaffen habe, oder doch wenigstens ein göttliches Prinzip, dann bekommt er eine Antwort, gespickt mit wissenschaftlichen Fachausdrücken, die die Mechanik der Himmelskörper und wissenschaftliche Hypothesen ihrer Entstehung enthalten. Wenn Leute an das Übernatürliche glauben, so liegt das daran, daß ihnen die Gesetze der Natur und der menschlichen Gesellschaft nicht recht bekannt seien, lautet die Antwort. Und der Fragesteller kann sich entscheiden, ob er als unverständig oder ungebildet dastehen will. Die Frage, was hinter den von der Wissenschaft erklärten Phänomenen steht, wird dann nur noch selten gestellt. Der Fragesteller ist von den komplizierten und wissenschaftlichen Erklärungen ohnehin schon überwältigt. Und nichts hilft ihm in solchen Diskussionen. Im Gegenteil, alle Denkgewohnheiten, die er im Laufe seiner Erziehung angenommen hat, stehen ihm entgegen. Nirgends findet er sich in seinen Gefühlen bestätigt. Die wenigsten jungen Menschen können hoffen, mit einem religiösen und zugleich „gebildeten" Menschen ihrer Umwelt ins Gespräch zu kommen.

Vielleicht finden die einfachsten und einfältigsten Menschen unter diesen Umständen tatsächlich noch am ehesten zur Orthodoxen Kirche. Ihnen sind die wissenschaftlichen Erklärungen der Aufklärungsredner völlig unverständlich, sie lassen sich durch sie nicht verwirren. Und sie haben auch nicht das Gefühl, das Ansehen eines gebildeten Menschen wahren zu müssen. Prestigeüberlegungen beeinflussen ihre Entscheidungen nicht. Sie treten in die Wärme des Kirchenraums, in dem von ihnen weder Aktivismus noch politisches Bekenntnis erwartet werden. Sie fühlen, daß in Weihrauchdunst und Kerzenschein die Menschen um sie herum freundlicher werden. Und der Pope fordert nichts von den Gläubigen, als daß sie dem Gottesdienst folgen. Die Kirche ist eine Welt für sich. Sie spendet Wärme und das Gebet im Kirchen-raum oder im Zimmereckchen vor der Ikoney, spendet denen Trost, deren Probleme weder der Ortssowjet noch der Parteisekretär lösen können. Für die jungen Menschen aus der Intelligenz ist der Schritt in die Kirche schwerer. Tolstoi oder Dostojewski mögen in jungen Lesern, die ihre Werke gierig verschlingen, eine Saite angeschlagen haben. Aber die Orthodoxe Kirche ist kein Echo, das diesen Ton zurückwirft. Das Interesse an der Religion mag in den jüngst vergangenen Jahren bei manchen jungen Menschen erwacht sein. Aber sie versuchen dann, für sich selbst eine persönliche Antwort zu finden. Sie schaffen sich allgemeine, gefühlsmäßige Vorstellungen, sie spüren die Notwendigkeit, hinter allen wissenschaftlichen und pseudo-wissen-

schaftlichen Erklärungen die Existenz eines höheren Prinzips anzunehmen. Den Schritt zur organisierten Kirche der Orthodoxie vollziehen sie selten, zumal diese Kirche sie ständig zur Pflichterfüllung gegen jenen Staat mahnt, der mit jeder Äußerung den Wert der Religion verneint. Daß die Popen ein faules und gutes Leben führen wollen, erfahren junge Menschen nicht erst aus der kommunistischen Propaganda. — es war schon vor der Revolution eine weitverbreitete Vorstellung, und die klassische Literatur ist ihnen dafür häufig genug eine Bestätigung. „Pope werden, das ist gar kein schlechter Beruf", meint ein junger Student der Moskauer Universität. Und er denkt dabei vielleicht an den wohlgenährten jungen Mann mit rosigem Gesicht und selbstzufriedenem Gesichtsausdruck, der der Geistliche jener kleinen, weißen Kirche ist, die wenige Minuten vom Hochhaus der Universität entfernt am Abhang der Leninberge über dem Moskwa-Fluß steht. Der junge Pope fährt sein Automobil vom Typ Wolga und sieht gar nicht so asketisch und vergeistigt aus, wie es junge Menschen erwarten mögen, die Dostojewski mit Erschütterung gelesen haben.

Der Karriere abträglich

Vielleicht sind es weniger die offiziell vom Staat anerkannten Religionsgemeinschaften, die heute junge Menschen bekehren. Die Orthodoxen und die Altgläubigen sind auch nicht das Hauptziel der antireligiösen Propaganda und administrativer Gegenmaßnahmen des Sowjet-staats. Die offizielle baptistische Kirche, die der Staat anerkennt, ist es eher. Und wenn die Zahl der Baptisten in der Sowjetunion in den vergangenen Jahren stark zugenommen hat, dann liegt die „Schuld“ nicht bei dem Rat der evangelischen Baptisten in der UdSSR, die mit den staatlichen Stellen gute Beziehungen zu halten versuchen. Was in der Provinz geschieht, wo es heute vielleicht zwei Millionen sogenannter Baptisten gibt, entspricht wahrscheinlich nicht den Intentionen der Baptisten-Führer in Moskau. Unter dem Namen „Baptisten“ gibt es eine große Zahl von Sekten, die in Wahrheit alte Sektentraditionen fortsetzen, an denen das alte Rußland so reich war. Und die Sektenanhänger gebärden sich weniger staatsfromm als die Vertreter der offiziellen Kirchen. Sie missionieren und bekehren, sie laden Nachbarn und Fremde zu Betstunden in ihre Häuser. Strafen sind für sie nur gottgewolltes Martyrium. Ihr Fanatismus und das oftmals entfesselte Ritual ihrer halb geheimen Gottesdienste zieht immer wieder Menschen an. In den großen Straflagern der Stalin-Ära haben die Sekten Anhänger gefunden, und die Auflösung der Mehrzahl dieser Lager hat die Sekten-Gläubigen über die ganze Sowjetunion verteilt. Aus Sibirien und von der Moldau-Republik, aus Zentralasien und den baltischen Staaten kommen immer wieder Alarmrufe der örtlichen Parteistellen. Die Zahl der Gläubigen, die sich nicht zu legalen Glaubensgemeinschaften wie den Baptisten oder den Adventisten bekennen, ist nicht zu schätzen. Ihre Mitglieder durchreisen weite Gebiete, um neue Anhänger zu finden. Sie beschränken sich nicht auf Bekehrungsversuche durch das Wort allein. Ihre Anhänger, die in selbstgewählter Armut leben, sind oft zu selbstloser Hilfe bereit, wo die Hilfsmaßnahmen des Staates versagen. Sie bieten jungen Menschen Unterkunft und versuchen, sie allmählich für sich zu gewinnen. Und manchmal, niemand weiß, wie häufig, haben sie damit Erfolg. Junge Arbeiter, die ohne Familie oder Freunde in einer fernen Stadt Zentralasiens oder Sibiriens ankommen, lassen sich überzeugen von der Hilfsbereitschaft armer Leute, die ihnen jene menschliche Freundlichkeit erweisen, die die Funktionäre nicht geben können oder nicht geben mögen.

Aber das sind sicherlich Ausnahmeerscheinungen, und die Partei glaubt, steigender Lebensstandard und eine höhere Allgemeinbildung werden dem religiösen Interesse ein Ende setzen. Bisher sieht es noch immer so aus, als werde diese Rechnung aufgehen. Die Orthodoxe Kirche hat zweifellos mehr Gläubige verloben, als die anderen Religionsgemeinschaften gewonnen haben. Und für den neuen Mittelstand der Sowjetunion ist Religion etwas Rückständiges, das sich eigentlich nur noch bei ungebildeten Leuten findet. Man sieht es günstigenfalls mit einer gewissen verwunderten Toleranz an. Aber so wie man zu Zarenzeiten anstandshalber in die Kirche gehen mußte, wenn man eine gesellschaftliche Stellung zu verteidigen hatte, so gehört es sich heute eben, nicht in die Kirche zu gehen. Es ist der Karriere abträglich. Und bei führenden Staats-und Wirtschaftsfunktionären ebenso wie bei kleinen Parteimitgliedern kann es große Schwierigkeiten hervorrufen.

In der Moskauer U-Bahn unterhalten sich zwei Männer über einen Kollegen. „Der Pawel Antonow in unserem Werk, du weißt doch, der die Wandzeitungen machte, hat ordentlich Ärger bekommen“, sagt der eine, der eine schwarze Ballonmütze auf dem kahlgeschorenen Kopf hat. „Früher hat er doch immer die große Klappe gehabt. Na, und nun wird er nicht einmal mit • seiner Frau fertig. Er ist doch Parteimitglied, natürlich, und zum Redakteur der Wandzeitung hatten sie ihn auch gemacht. Aber seine Frau ist eine Gläubige. Immer geht sie in die Kirche. Eine Ikone haben sie in der Wohnung, richtig mit einer kleinen Öllampe davor. Und seine Töchter hatten ein Kreuz am Hals hängen. Na, so was spricht sich ja rum. Der Pawel Antonow kann natürlich nichts dafür, aber schließlich ist er ja das Familienoberhaupt. Der Parteisekretär hat von der Sache gehört, es gab eine Versammlung, Pawel bekam seinen Verweis. Na, das wäre noch nicht so schlimm gewesen, aber sie haben ihm gesagt, er soll seine Frau umerziehen. Wenn sie in drei Monaten noch immer in die Kirche ginge, dann wäre er seinen Posten als Redakteur los. Was sollte er da machen, der Pawel Antonow? Er nahm die Ikone von der Wand und den Kindern die Kreuze vom Hals, und dann ist ihm seine Frau weggelaufen . . .“ „Das sind Sachen“, schüttelte der andere Arbeiter seinen Kopf. „Nur gut, daß meine nicht so eine ist.“

II. In Zentralasien

In den engen Gassen zwischen den niedrigen, flachen Lehmhäusern der Altstadt von Taschkent, zwanzig Minuten Autofahrt entfernt von dem Prunkbau des neuen Opernhauses, liegt gegenüber der kleinen Moschee das hellgetünchte Gebäude der Barak-Chan-Medresse, des theologischen Seminars der Moslems im sowjetischen Zentral-Asien. Flache Gebäude umschließen den Hof, und in einer der niedrigen Zellen warten zwei Männer auf mich: Der eine im dunklen Wintermantel westlichen Schnitts, mit einem zartblauen Turban auf dem Kopf und hohen Reitstiefeln aus rotem, feinem Leder, der andere in grauem, hochgeschlossenen Anzug, aus dessen Brusttasche ein Füllfederhalter ragt, und mit einem kleinen schwarzen Käppi auf dem Kopf. Der jüngere von beiden, er mag wenig mehr als vierzig Jahre alt sein, ist Mufti Baba-chanow, Oberhaupt der Moslems in Zentral-asien und Kasachstan, Vorsitzender des Moslem-Kats der Region. Der alte Mann mit weißem Bart und buschigen Augenbraunen, der neben ihm sitzt, ist sein Vertreter, der Vorsitzende der Moslem-Verwaltung für die Republik Usbekistan, zugleich Lehrer in der Medresse. Beide sind durchaus bereit, einem ausländischen Gast Erklärungen über die Lage der Mohammedaner in der Sowjetunion abzugeben. Sie haben Übung darin, denn alle Ausländer, die Zentralasien besuchen, werden von Intourist in die Moscheen geführt. Viele besuchen die Medresse Barak-Chan und im Gästebuch der Bibliothek findet man Eintragungen in vielen Sprachen. Syrische Besucher schrieben: „Wir haben uns davon überzeugt, daß die Moslems in der Sowjetunion völlige Religionsfreiheit genießen und daß alle Leute zufrieden sind.“ Ein amerikanischer Professor trug sich mit folgendem Kommentar ein: „Ich bin froh, daß ich mit meinen eigenen Augen die große Zahl der Gläubigen in ihren Moscheen gesehen habe. In Amerika wird behauptet, in der Sowjetunion gebe es keine Glaubensfreiheit. Solche Verleumdungen sind bedauerlich.“ Der Mufti von Zentralasien und der Chasi von Usbekistan scheinen entschlossen, sich alle Mühe zu geben, auch in dem Gespräch mit mir dafür zu sorgen, daß kein Zweifel an der Freiheit der Moslems zurückbleibt. Vielleicht ist der gute Eindruck, den sie bei Ausländern hervorrufen, ein Alibi für sie in den Verhandlungen mit staatlichen Stellen der Sowjetunion. Schließlich hat die Sowjetregierung ja ein Interesse daran, daß die mohammedanischen Völker in Asien und im nahen Osten nicht durch Berichte über die Verfolgung von Moslems in der Sowjetunion abgeschreckt werden. So führt man die Besucher in die Moscheen, so schicken mohammedanische Würdenträger aus Taschkent ausführliche Briefe an Zeitungen in Pakistan oder Indonesien, in denen sie den Nachweis zu führen versuchen, die religiöse Freiheit der Mohammedaner sei seit der Revolution noch gewachsen.

Mufti Babachanow erklärt mir, daß der Islam in der Sowjetunion praktisch keinerlei Beschränkungen unterliege. „Alle Moscheen Zentral-asiens und Kasachstans gehören zu unserem Moslem-Rat. Die Geistlichen werden von uns eingesetzt, und wir sind die oberste Autorität. Wir haben auch zwei theologische Schulen, eine, Mir-i-Arab in Buchara, die andere hier in Taschkent beim Rat selbst. In Buchara sind achzig Studenten, die neun Jahre lang eine höhere Ausbildung erhalten. Hier in Taschkent haben wir siebenjährige Studien.“

Geistlicher oder Funktionär?

Der Mufti hat ein durchaus modernes Gesicht. Der schmale Bart, der sich ums Kinn zieht, scheint nur eine zusätzliche Verzierung. Er gibt diesem Gesicht keinen fanatischen Ausdrude. Dieser Mann, der ohne die Stimme zu heben oder zu senken, ohne auf eine Frage zu warten, weiter erzählt, wirkt eher wie ein schlauer und geschickter Diplomat, nicht so, wie man sich vielleicht einen Mufti von Zentralasien vorstellt. „Wir stehen in lebendiger Verbindung mit den Moslems in aller Welt. 1944, 1945 und 1946 hat es Pilgerfahrten nach Mekka gegeben. Und seit 1953 sind dann wieder Pilger in die heiligen Städte aufgebrochen. 1956 haben wir eine neue Ausgabe des Koran herausgebracht, — in einer Auflage von dreitausend Exemplaren.

Und in naher Zukunft werden noch einmal zehntausend gedruckt werden."

Daß die Zahl der Pilger, die aus der Sowjetunion nach Mekka und Medina reisen dürfen, äußerst klein ist, sagt der Mufti nicht. Aber zufällig weiß ich aus einem früheren Gespräch an anderem Ort, daß 1957 und 1958 nur vierzig Mohammedaner, dem Gebot des Islam folgend, in die heiligen Städte pilgern durften, — sorgfältig ausgewählte Vertreter, die die Staatsorgane einer solchen Reise für würdig befanden, und die vor den Millionen von Mohammedanern, die aus anderen Ländern nach Mekka pilgerten, die Freiheit des Islam in der Sowjetunion demonstrierten. Wenn man bedenkt, daß sich vor der Revolution mindestens dreißig Millionen Menschen im jetzt sowjetischen Gebiet zum Islam bekannten, dann ist eine Koran-Auflage von dreitausend Exemplaren nicht besonders hoch. Immerhin war es die erste in zwanzig Jahren. Die Zahl dreitausend kam mir besonders niedrig vor, weil eines der Mitglieder des Moslem-Rats für Zentralasien und Kasachstan in einem Propaganda-Text für Pakistan geschrieben hatte: „ 1956 wurde eine neue Koran-Ausgabe herausgegeben. Sie wurde sehr schnell verteilt, und zwar nicht nur an die Gläubigen in der Sowjetunion, sondern auch in anderen Ländern. Außerdem gibt der Moslem-Rat regelmäßig Kalender und andere religiöse Veröffentlichungen heraus. Die Sowjetregierung leistet den religiösen Zentren des Islam in dieser wichtigen Arbeit große Hilfe, stellt ihnen Druckereien, Papier und andere technische Hilfsmittel zur Verfügung."

Mufti Babachanow drückt sich gern allgemeiner aus. Er spricht vom Wiederaufbau von Moscheen, von der Wiederherstellung der Mausoleen islamischer Heiliger, vom Neubau von Gotteshäusern. Die Angaben, die er macht, sind mehr als doppelt so hoch als die, die ich ein wenig früher von einem mohammedanischen Geistlichen in privatem Gespräch erfuhr. Aber dafür vermeiden es der Mufti und sein Stellvertreter sorgfältig, genaue Zahlen zu nennen, — sosehr ich auch immer wieder nachfrage. „Nun ja, große Moscheen, in denen sich die Gläubigen nur am Freitag versammeln, gibt es wohl etwa zweihundert“, meint der Mufti. „Dann gibt es die kleinen Moscheen, in denen sich die Gläubigen zum täglichen Gebet versammeln; nun, das sind jedenfalls über tausend. In jeder großen Moschee sind ungefähr drei Geistliche, in den kleinen je einer. Außerdem gibt es viele Religionslehrer.“ Wieviele Geistliche es denn nun tatsächlich gebe, frage ich noch einmal, nun schon recht drängend. Der Mufti und der Chasi schütteln zweifelnd und nachdenklich die Köpfe. Dann sagt der Chasi: „Es sind sehr viele Geistliche. Wissen Sie, es sind so viele Geistliche, daß ich gar nicht genau weiß, wieviele es sind, aber seien Sie sicher, es gibt genug Mullahs für die Gläubigen. Die religiösen Bedürfnisse können befriedigt werden. Nein, nein, es gibt genug Geistliche.“

Wie groß denn wohl die Zahl dieser Gläubigen sei, möchte ich wissen. Ob die Mehrzahl der Einwohner Zentralasiens und Kasachstans — soweit sie nicht Russen oder Ukrainer sind — noch dem Islam anhängen. Wieder antwortet der Chasi: „In Taschkent kann man die Mehrheit der Einwohner zu den Gläubigen zählen. In den Dörfern ist die Zahl der Gläubigen natürlich noch größer. Im Fastenmonat Ramadan sammeln sich bei den großen Moscheen zwanzig-bis dreißigtausend Menschen. An anderen Tagen beten sie vielleicht daheim. Die Gläubigen-zahl hat nicht abgenommen seit der Revolution. Der Islam nimmt immer, was das Leben bietet, paßt sich an und stellt sich darauf ein. Er gibt jedem Menschen die Freiheit zu beten, wie er will, und der Sowjetstaat verweigert niemandem diese Freiheit."

Der Mufti erhebt sich, um sich zu verabschieden. Er muß hinüber in die Moschee. Dort warten einige tausend Gläubige auf ihn. Es ist Ramadan, der Monat des hohen religiösen Festes, und auf dem Hof hatten die Gläubigen ihre Gebetsteppiche ausgebreitet; manche einen wirklichen Teppich, andere einfach ein Stück Sackleinwand. Die Moschee ist sehr klein, und so muß sich die Mehrzahl der Gläubigen auf dem Hof versammeln, auf dem ein Frühlings-regen große Pfützen zurückgelassen hat. Sie hören die Stimme des Mufti über eine Lautsprecheranlage, und was er ihnen zu sagen hat, ist eine Mahnung zur Toleranz und Demut. Er fordert sie an diesem Festtage dazu auf, ihre religiösen Übungen so vorzunehmen, daß sie sich in der Öffentlichkeit nicht störend bemerkbar machen. Es sei nicht recht, daß manche Gläubigen sich vor den Nachbarn mit der Häufigkeit ihrer religiösen Übungen brüsten, sagt er den Männern, die auf dem Hofe knien. Es sei auch nicht nötig, beim Tode eines Verwandten in jene schallenden Klageruf auszubrechen, wie man sie früher bei mohammedanischen Beerdigungen durch das ganze Stadtviertel hörte. Nicht auf die Zahl der Gebete und nicht auf die Lautstärke der Klage-rufe komme es an, sondern auf Intensität eines Gebets, das genauso gut still sein könne.

Ein junger Usbeke

Der junge Usbeke, der mich als Übersetzer zum Mufti begleitet hat, schaut seine knieenden Landsleute von oben herab an. Fast scheint es, als sei es ihm peinlich, mir dieses Bild zeigen zu müssen, — obwohl er sicher weiß, daß die in den Zeitungen so hart kritisierten „religiösen Überbleibsel“ von Intourist als Propaganda-Schauspiel den Fremden gern vorgeführt werden. Aber vielleicht glaubt er auch wie viele seiner Kollegen und Kolleginnen in anderen Intourist-Büros der Sowjetunion, daß die Ausländer eben etwas Exotisches sehen wollen: das alte Ruß-land mit Bauersfrauen, Mönchen und Kirchen oder den mohammedanischen Osten mit Moscheen und beturbanten Urenkeln Tamerlans. Der junge Usbeke, der Philologie studiert und nebenbei als Fremdenführer arbeitet, zeigt viel lieber den modernen, europäischen Stadtkern von Taschkent, das Kulturhaus der Eisenbahner oder das Textilkombinat. Aber die Fremden wollen eben etwas Exotisches sehen, und Intourist will es ihnen zeigen.

Die Männer auf dem Hof der kleinen Moschee boten freilich nur einen schwachen Ersatz für das, was ein Ausländer in Städten mit so romantischen Namen wie Taschkent, Samarkand oder Buchara zu sehen hofft. Sie waren zum größten Teil europäisch-russisch gekleidet, sie trugen die billigsten Anzüge der staatlichen Konfektion. Nur wenige von ihnen hatten lange, bunt-gestreifte Mäntel an, die mit einem zur Schärpe gebundenen bunten Tuch geschlossen werden und das Nationalkostüm der Usbeken sind. Alle hatten nach mohammedanischer Sitte den Kopf bedeckt: mit kleinen, bestickten Käppis, um die einige sich noch einen weißen oder bunten Turban gewickelt hatten. Es gab würdige alte Männer mit faltigen Gesichtern und weißen Bärten zu sehen und daneben junge Leute mit rasiertem Gesicht. Wenn sich die Knieenden verbeugten und mit dem Kopf den Boden berührten, leuchteten die weichen, roten Ledersohlen ihrer Reiterstiefel auf. Die Gummiüberschuhe, die sie auf der Straße tragen, waren zum Trocknen an die Mauer der Moschee gelehnt worden, ehe die Gläubigen auf ihre ärmlichen Gebetsteppiche traten. Mein usbekischer Begleiter winkte ein paar ältere Männer heran, sprach mit ihnen und schickte sie fort. Nach ein paar Minuten kamen sie zurück. Sie hatten uns beide Stühle gebracht, und der In-tourist-Usbeke nahm neben mir Platz. Wir überragten die Reihe seiner knieenden Landsleute. Ich fragte meinen Begleiter halblaut nach dem Inhalt der Gebete, die die Gläubigen um uns herum murmelten. Mit lauter Stimme antwor-tete er mir achselzuckend, er wisse leider auch nicht, was hier vergehe.

Dabei bin ich ganz sicher, daß der junge Mann einigermaßen Bescheid wußte. Aber ihm lag daran, nicht mit den Landsleuten, die da auf abgetretenen Teppichen oder einem einfachen Sack knieend beteten, identifiziert zu werden. Er war ein moderner junger Mann, er studierte, er gehörte nicht in den Teil der Stadt, in dem man noch in einstöckigen, würfelähnlichen Lehmhäuser wohnt. Zwar lebte er nicht in einem der wenigen neuen Gebäude mit fünf oder sechs Stockwerken. Mit Vater, Mutter und zwei Geschwistern wohnte er in zwei Zimmern eines der kleinen einstöckigen Häuschen, die den einstmals russischen Teil der Stadt ausmachen. Aber er wohnte nicht in einem Lehm-haus, sondern in einem europäischen, aus Steinen gebauten Haus, das ein spitzes Dach aus Wellblech hat. Bis zur Revolution hatten in diesen Häusern nur die Russen, Ukrainer, Juden, Armenier und Greorgier gewohnt, die in das Verwaltungszentrum des vom Zaren eroberten Turkestan gezogen waren. Damals lebten die LIsbeken in den Lehmhäusern des asiaitischen Teils der Stadt. Inzwischen aber hat sich das Bild verschoben: Nur ein Viertel der eine Million Einwohner von Taschkent lebt in der usbekischen Altstadt. Die anderen wohnen in den flachen, weiß oder hellblau gestrichenen kleinen Häusern der Neustadt, die auch längst schäbig und alt geworden sind. Unter ihren grauen oder braunen Blechdächern leben Usbeken genau wie Zuwanderer aus dem europäischen Westen der Sowjetunion.

Die Russen kamen, um zu „helfen"

Die Zahl der Zuwanderer aber ist seit der Revolution immer stärker angestiegen. Knapp fünfzig Prozent der Einwohner von Taschkent seien Usbeken, meint der Intourist-Führer. Aber es scheint ihn nicht zu stören, ebenso wenig wie die Tatsache, daß die meisten Professoren der Universität, an der er studiert, Russen oder Ukrainer sind. Er erinnert sich nur an das, was er in den sowjetischen Schulbüchern gelesen hat, wenn man ihn nach dem Basmatschi-Aufstand fragt, — nach den mehr als zehnjährigen Kämpfen, in denen Turkestan nach der Revolution um seine Unabhängigkeit von Moskau kämpfte. Für ihn waren das keine Unabhängigkeitskämpfe. Die reichen Begs, die Großgrundbesitzer, so hat er gelesen, hätten vom rüdeständigen Klerus und von den ausländischen Imperialisten unterstützt, den Versuch gemacht, das Volk zu unterdrücken und Turkestan von der jungen Sowjetunion abzureißen. Er geht sogar noch weiter: Selbst den Begriff „Turkestan“ scheint er für eine imperialistische Erfindung zu halten. Die Sowjetunion hat das weite, von Turk-Völkern besiedelte Gebiet in mehrere Sowjet-Republiken aufgeteilt. Aus den Stammesunterschieden wurden Nationalitätenunterschiede, aus Dialekten eigene Sprachen gemacht. Es ging darum, das von Moslems bewohnte Gebiet Zentral-Asiens aufzuspalten, damit es sich nicht als geschlossener Block fühlen und entdecken konnte, daß seine Verwandtschaft zur mohammedanischen Welt größer ist als zum Sowjetstaat, der das Erbe des Zaren-Imperiums antrat. Aber für den jungen Usbeken, der mich durch Taschkent begleitet, ist das längst vergangene Geschichte. Er blickt nach Moskau, nicht nach Mekka, und der Gedanke, daß die vielen Russen in Staatsstellungen, Wirtschaftsverwaltungen und Forschungsinstituten Ausdruck einer neuen Art von Kolonialherrschaft sein könnten, ist ihm unverständlich. Kolonialismus ist eine westliche Erscheinung, es gibt sie nur dort, wo ein weißes Volk ein farbiges beherrscht und ausbeutet. In der Sowjetunion wird niemand ausgebeutet, hat der junge Usbeke gelernt. Und außerdem fehlt seiner Ansicht nach ein wesentliches Merkmal des Kolonialismus: Rußland und Zentralasien sind nicht durch ein Meer getrennt. „Die Russen sind da, um uns zu helfen", sagt er. Das ist nicht nur ein Ergebnis der kommunistischen Propaganda, die das Bewußtsein des jungen Mannes geprägt hat. Es hängt auch zusammen mit dem Auftreten der russischen Administratoren und Ingenieure. Gewiß, sie sind stolz auf ihre Leistungen, und sie sprechen von den Usbeken, Kasachen oder Turkmenen oft wie von unverständigen Kindern. „Die Usbeken haben keine Lust zu arbeiten. Sie wollen den ganzen Tag in der Tee-stube sitzen und grünen Tee trinken", sagen sie. Lind sie berichten, was sie alles für die Usbeken getan haben: Sie haben den Baumwollanbau modernisiert, Eisenbahnen gebaut, Universitäten und Fachschulen errichtet, Seuchen bekämpft und nach Öl gebohrt.

Privilegien für bessere Leistungen

Sie sprechen von der Hilfe, die sie den Völkern Zentral-Asiens leisten, so, wie ein einsichtiger englischer Kolonialbeamter früher über Indien gesprochen hätte. Aber sie empfinden sich nicht als Kolonisatoren, und wenn sie von der Sowjetregierung eine bevorzugte Behandlung verlangen — bessere Bezahlung, besser Unterkunft — dann tun sie es nicht, weil sie eine weiße Haut haben. Sie halten Privilegien für die verdiente Belohnung ihrer Leistungen. Und sie leben nicht in so augenscheinlicher Trennung von der einheimischen Bevölkerung wie es westliche Ingenieure in Afrika oder Asien tun. Keiner von ihnen würde das, was ich vor der russisch-orthodoxen Kirche von Samarkand erlebte, als Beispiel zitieren wollen, und dennoch scheint es mir besonders typisch für den grundlegenden Unterschied im Stil des westeuropäischen und russischen Kolonialismus. Samarkand ist viel orientalischer als Taschkent. Viel mehr Menschen leben in den flachen Lehm-häusern, an deren fensterlosen Fassaden sich die schmalen Gassen einer orientalischen Kasbah entlangziehen. Und im russischen Teil der Stadt sind die Häuser ärmlicher als in Taschkent. Es gibt kein Gebäude mit mehr als zwei Stockwerken. Die Straßen sind schmal und vielfach ungepflastert. In dieser kleinen russischen Provinzstadt, die an die alte Hauptstadt des Riesen-reiches Tamerlans angebaut wurde, steht eine orthodoxe Kirche. Sie ist zur Zeit des Sonntags-gottesdienstes gefüllt. Man sieht in ihr mehr Männer als in den Kirchen Moskaus, und sie tragen recht ordentliche, gutgepflegte Sonntagsanzüge. Vielleicht ist die Orthodoxe Kirche für manche Russen im Herzen Zentral-asiens doch noch ein Symbol ihrer andersartigen Nationalität und Tradition. Daraus könnte es sich erklären, daß die Kirche von Samarkand nicht nur die Frauen anzieht. Und man könnte daraus schließen, daß sich die Russen in Usbekistan als besondere Gruppe fühlen, die ihre Traditionen wahren muß und den Einheimischen gegenüber ein Bild der Geschlossenheit bieten will, so, wie es die Europäer in Afrika oder Asien halten. Aber dann tritt man aus der Kirche auf den eingezäunten Vorplatz, und hier sitzen die Ärmsten der Armen; in Lumpen gehüllte Frauen mit einem Kind auf dem Schoß, Geistesgestörte in zerrissenen Anzügen, gebückte alte Männer mit blinden Augen. Sie strecken die Hand aus, sie halten den Vorübergehenden ihre speckigen Schirmmützen hin. „Im Namen Christi, im Namen der Barmherzigkeit, eine kleine Gabe für einen armen Mann“, leiern sie mit unbewegter Stimme ihren Spruch herunter. Die Leute, die aus der Kirche kommen, geben ihnen ein paar Kopeken oder einen Rubel. Sie tun es auf die natürlichste Weise der Welt. Sie handeln, als sei es nicht verwunderlich, daß vor der Orthodoxen Kirche in Samarkand Bettler sitzen. Aber der Besucher aus Westeuropa hat Grund zur Verwunderung: Er könnte sich nicht vorstellen, daß vor einer katholischen Kirche in Algier oder Leopoldville, vor einer protestantischen Kirche in Delhi oder Djakarta weiße Bettler sitzen dürfen. Ihre Landsleute hätten sie längst fortgeschickt, zurück ins Mutterland oder wenigstens irgendwohin, wo sie den Augen der Eingeborenen entzogen sind. Ihre Landsleute aus Westeuropa täten das nicht um der christlichen Barmherzigkeit willen, sondern weit eher, weil es eben unmöglich ist, die Würde des Europäers vor den Eingeborenen herabsetzen zu lassen. Für die meisten russischen Siedler in Zentralasien gibt es solche Überlegungen nicht. Und wenn russische Spezialisten oder Ingenieure in Zentralasien mit Arbeitern umgehen müssen, denen technisches Denken völlig fremd ist, so reißt ihnen nicht die Geduld. Die Ingenieure kommen schließlich aus einer Umwelt, deren Menschen vor gar nicht langer Zeit selbst der modernen Technik verständnislos gegenüberstanden. Nach Zentralasien wie in asiatische Staaten jenseits der Sowjetgrenzen gehen russische und ukrainische Ingenieure ohne das Gefühl der Überlegenheit, mit dem westeuropäische Techniker farbige Arbeiter behandeln.

Die Arbeiter in Textilfabriken oder die Angestellten der Wirtschaftsverwaltung empfinden es in Usbekistan jedenfalls nicht so, als seien sie ein Volk zweiter Ordnung. Die meisten Russen, die bei ihnen arbeiten, leben nicht viel besser als sie selbst, daß sie eine grundsätzlich andere Stellung einnehmen könnten. Die Wissenschaftler und Ingenieure, die aus Moskau oder Kiew geschickt werden, sehen die Lage vielleicht ein wenig anders. Für sie ist Zentralasien eine rückständige Provinz, aus der man etwas machen muß. Und sie denken an Moskau zurück als an die große Lichterstadt in einer anderen Welt.

Eselsherden und Jagdbomber

In einer der modernsten Düsenverkehrsmaschinen der Welt habe ich mich mit solchen Spezialisten unterhalten. Die Tu-104 stand auf einem Militärflughafen nicht weit von der afghanischen Grenze, und sie stand dort zwölf Stunden, ehe die Wetterverhältnisse den Weiterflug nach Taschkent ermöglichten. Da wir — der militärischen Objekte wegen — die Maschine nicht verlassen durften, hatten wir viel Zeit zu Gesprächen. Ein paar russische Geologen fragten mich nach dem Lebensstandard im Westen aus. Manchmal schaute ich während des Gesprächs aus dem Fenster der Maschine: Rechts eine endlose Reihe von Jagdbombern modernsten Typs, links eine weidende Eselherde. Manchmal ritten ein paar Frauen in bunten Nationaltrachten auf kleinen Eseln vorbei, zu einem kleinen Dorf, dessen Umrisse ich in der Ferne erkennen konnte. Dort lagen die flachen, niedrigen Lehmhäuser, in denen auch heute noch der überwiegende Teil der Bevölkerung Zentralasiens wohnt.

Die sowjetischen Geologen, die in diesem Gebiet nach Öl und anderen Bodenschätzen suchen sollten, hatten viele Fragen: Was verdient ein Professor, ein Angestellter, ein Arbeiter? Was kosten ein Anzug, ein Motorrad, ein Kilo Brot? Und was ich auch sagen mochte, der Hauptsprecher dieser Gruppe gab immer die gleiche Antwort: Also ungefähr wie bei uns! Nur als wir von den Wohnverhältnissen sprahen, und als die Differenz nun tatsächlich etwas zu groß war, meinte er: „Na ja, Deutschland hatte eben immer schon eine hohe Wohnkultur.“

Seine Kollegen waren nicht ganz so selbstsicher. Sie waren auch etwas offener. Und wenn der linientreue Geologe manchmal etwas allzu-sehr auftrumpfte, wenn man in meinem Gesicht die Zweifel allzu deutlich sah, machten sie eine kleine Zusatzbemerkung: „In Moskau, natürlich." In Moskau gab es die Motorräder, die Eisschränke, die vielen Fernsehgeräte, auf die sie hinwiesen. In Moskau waren die Anzüge gekauft, die sie für teures Geld bekommen hatten. „Hier in Zentralasien — na ja", sagten sie. Und dann sahen wir durch das Fenster des damals modernsten Düsenflugzeuges der Welt auf die weidenden Esel und die Lehmhäuser am Horizont.

Es waren nur ein paar Leute an Bord, denen man ansah, daß sie aus Zentralasien stammten. Sie saßen meistens zusammen und sprachen usbekisch miteinander. Ein großgewachsener alter Mann mit mildem Gesicht, den ein kleines Abzeichen am Rockaufschlag als Mitglied des Obersten Sowjet von Usbekistan auswies, kam einigemale mit einer Keksschachtel herüber, um meiner Frau und mir etwas anzubieten. Die Stewardessen hatten nur noch Mineralwasser und Bonbons an Bord, und der kleine Vorrat an trockenem Schwarzbrot und Kaviar, den einer der Geologen unter allgemeinem Gelächter aus einem der Kühlfächer der Bordküche organisierte, war kein Ersatz für drei Mahlzeiten. Ein paar russische Techniker vertrieben sich die Zeit damit, dem alten Usbeken die seltsamsten Gründe für die Unterbrechung des Flugs zu erzählen. Er hörte sie unbewegten Gesichts an, man wußte nicht recht, ob er ihnen glaubte oder nicht. Aber offenbar hatte er einen Teil unseres Gesprächs mitgehört. Als ich mir vorne im Gang des Flugzeugs etwas Bewegung machte, kam er mir nach. In schwerfälligem Russisch, mit unbewegter Stimme, sagte er: „Aber Sie müssen auch wissen, daß unsere Kolchosniki zu den reichsten der Sowjetunion gehören. Wenn ein Baumwoll-Kolchos hier gut arbeitet, dann verdienen die Bauern eine Menge Geld. Und wir leben auch nicht in einer Welt von gestern. Wir haben unsere eigenen Universitäten, und die Kader unserer Wissenschaftler wachsen ständig.“

In den zwölf Stunden, die wir auf dem Militärflugplatz Karschi warteten, hat der alte Mann nicht viel mehr gesagt. Weder zu mir noch zu einem anderen Passagier, noch zu seiner Frau. Aber das, was er gesagt hatte, war sicherlich ebenso richtig wie die Bemerkungen der russischen Geologen. Es war ebenso richtig wie der Eindruck westlicher Besucher, denen natürlich in erster Linie die Lehmhäuser und die Esels-herden auffallen. Vom Westen aus gesehen, von Moskau aus gesehen, wirken diese Gebiete im sowjetischen Zentralasien grau, reizlos, unmodern, ja rückständig. Aber vielleicht ist die Perspektive falsch. Der alte Mann, mit dem ich sprach, muß die Entwicklung anders sehen. Er ist noch im Mittelalter geboren worden, in jenem Mittelalter des Islam, das in Zentralasien bis vor 3 5 bis 40 Jahren herrschte. Und wer von der sowjetischen Grenze nach Süden bliebt, der bemerkt einen erstaunlichen Unterschied. Die Spitzenprojekte des sowjetischen Entwicklungsplans für Zentralasien sind zweifellos allem weit voraus, was sich etwa in Persien oder Pakistan anbahnt. Für die besten Felder im sowjetischen Baumwollgebiet findet man nach Ansicht westeuropäischer Experten tausend Kilometer jenseits des Gebirges, in Pakistan, nichts Gleichwertiges. Eine Stadt wie Taschkent wirkt — verglichen mit den Städten anderer Länder Asiens — ungeheuer modern. Das mag mit dem kühleren Klima Zusammenhängen, aber zweifellos fehlt außer dem Reiz des Exotisch-Bunten auch alles das, was den Europäer in anderen asiatischen Städten an Schmutz und Scheußlichkeit abschreckt.

Man trifft selten einen Einheimischen

Was an wissenschaftlicher Arbeit zur Erschließung der kargen Steppengebiete und der verborgenen Bodenschätze geleistet wird, ist ungeheuer. Eines ist dabei bemerkenswert: In den Instituten, die man besuchen kann, trifft man selten einen Einheimischen. Im Institut für Karakulzucht, das in Samarkand liegt und das einzige der Welt ist, habe ich zwei Usbeken gesehen. Sie standen in einem Konferenzraum und legten Stapel von Karakulfellen vor uns aus, nicht eigentlich eine wissenschaftliche Betätigung. Die anderen Mitarbeiter, die an spektroskopischen Instrumenten standen oder hinter dicken Bleischürzen im radiophysikalischen Labor experimentierten, waren Russen, Ukrainer, Juden. Und dieser Eindruck ist typisch für die Beobachtungen, die fast alle Ausländer in Zentralasien gemacht haben.

Man mag es in der Sowjetunion nicht gerne hören, aber es ist schon so: Die Erschließung Zentralasiens kann man als einen Erfolg russischer Kolonisationsarbeit bezeichnen. Die Zahl der Russen und Ukrainer, die in Zentralasien leben, ist ständig gestiegen, nicht zuletzt auch durch die gigantischen Neulandprojekte. Seit der Zarenzeit, in der dieser Prozeß begann, hat sich sein Tempo noch gesteigert. Nur trägt er jetzt einen anderen Namen: Brüderliche Hilfe der Völker der Sowjetunion. Und kein Zweifel: So sehen auch die Russen, die an einflußreicher Stelle in Zentralasien arbeiten, ihre Aufgabe. Sie sprechen mit Stolz und Zuneigung von dem, was sie aus Usbekistan gemacht haben und was sie für die Bevölkerung getan haben. Und tatsächlich gibt es allerlei, auf das sie stolz sein können. Die fast völlige Ausrottung gewisser orientalischer Krankheiten zum Beispiel. Oder auch die Tatsache, daß es bei den Leuten unter vierzig bestimmt so gut wie keine Analphabeten mehr gibt. Eine der wichtigsten Fragen für die Zukunft aber wird es sein, in welchem Maße eine Intelligenz, die den Völkern Zentralasiens entstammt, nun künftig selbst in den Universitäten lehren, in den wissenschaftlichen Instituten forschen und in den hohen Verwaltungsstellen die künftige Entwicklung bestimmen wird.

Eines ist dabei freilich zu bedenken: Die Erziehung unter dem Sowjetsystem hat die Bindung dieser Intelligenz an die Tradition ihres Volkes weitgehend zerstört. Ihre Ausbildung ist sowjetisch, das heißt, in den Grundzügen von der russischen Tradition geformt. Die orientalische Literatur Zentralasiens ist durch den Sozialistischen Realismus ersetzt worden, der sich formal an die klassische russische Literatur anschließt, um nur ein Beispiel zu nennen. Der Bruch mit der Überlieferung und mit den Volkssitten war wahrscheinlich unumgänglich, wenn die Lebensformen in so kurzer Zeit dem europäischen Teil der Sowjetunion angeglichen werden sollten.

Der Abstand, das sieht man von Moskau aus, ist immer noch gewaltig. Aber der technische Fortschritt ist gleichfalls ungeheuer. Für ein ori-

entalisch-asiatisches Land ist Zentralasien hochmodern. Die Frage ist: Wird es diesen Fortschritt mit dem Verlust seiner nationalen Eigenheiten bezahlen müssen? Niemand kann heute sagen, wie stark in der Jugend ein Nationalgefühl überlebt hat, und ob sich die Menschen in Zentralasien vielleicht eines Tages als ein „junges Volk“ empfinden werden, das sich von den russischen Lehrmeistern abzugrenzen ver-sucht. Anzeichen dafür hat es in der jüngeren Vergangenheit gegeben. Aber sie wirken klein und unbedeutend, wenn man sie mit den tiefen Veränderungen vergleicht, die sich seit vierzig Jahren im gesellschaftlichen Leben, in der Kultur und auch im Familienleben Zentralasiens vollzogen haben.

Erwachendes Gefühl der Zusammengehörigkeit

Die Erinnerung daran, daß es eine Welt des Islam gibt, die von Nordafrika über den Nahen Osten bis Indonesien und eben auch bis nach Zentralasien reicht, wird freilich nicht nur von den mohammedanischen Geistlichen wachgehalten. In den letzten Jahren, in denen Moskau die Früchte der arabischen Revolution gegen den westlichen Kolonialismus zu ernten hoffte, ist in der sowjetischen Presse immer häufiger von der Verbundenheit der Völker Zentralasiens mit den Völkern des Nahen Ostens geschrieben worden. Im Theater von Taschkent wurde ein Theaterstück gespielt, das die Unterdrückung der Algerier durch Frankreich zum Thema hatte. Natürlich soll den Menschen in Zentralasien dadurch bewiesen werden, daß sie ihr Glück nur unter der Sowjetherrschaft finden können, und daß die Sowjetunion die Freiheitsbemühungen der farbigen Völker unterstützt. Aber zugleich ist durch diese Propaganda vielleicht auch bei der einheimischen Intelligenz wieder ein Zusammengehörigkeitsgefühl erwacht, das seine eigenen Interessen im Unabhängigkeitsstreben der Völker des Nahen Ostens erkennt. Die Kritik an nationalistischen Verirrungen usbekischer Intellektueller, die sich gelegentlich in sowjetischen Zeitungen finden, könnte darauf hindeuten. Aber es scheint so, als sehe die Sowjetregierung keinen Anlaß zu großen Bedenken. Sie hat eine zuverlässige Garde zentralistischer Kommunisten und Beamten. Und sie verläßt sich darauf, daß die jungen Usbeken so stolz sein werden, am Erfolg des Sputniks teilzuhaben, daß die Anziehungskraft der Kaaba immer schwächer wird. Die Sowjetunion benutzt eine Stadt wie Taschkent heute als Aushänge-Schild für Asien. Immer wieder werden farbige Besucher-Delegationen durch das riesige Textil-Kombinat geführt, von dem es heißt, es produziere doppelt soviel Baumwollstoff wie die gesamte Textil-Industrie Österreichs. Immer wieder stehen junge Inder oder Indonesier vor dem riesigen grauen Backsteinklotz des großen Theaters, dessen Säulen und Wandelgänge mit Steinmetzarbeiten geschmückt sind, in denen sich usbekisch-islamische Stilelemente mit dem Prachtstreben des Sozialistischen Realismus verbinden. Man zeigt den Besuchern das Breitwand-Kino, dessen Fassade einer Medresse, einer geistlichen Schule, gleicht. Selbst hölzerne Verkaufspavillons in den Parks der Stadt, der Blumenladen gegenüber dem Stalin-Denkmal zum Beispiel, sind mit moscheeähnlichen Kuppeln verziert. Hieran könne man die kulturelle Eigenständigkeit Usbekistans mit eigenen Augen sehen, erklären die Intourist-Führer. Und die Gäste aus Asien nicken, wenngleich ihnen die Industriewerke mehr imponiert haben und Ordnung und Sauberkeit den tiefsten Eindruck hinterließen. Nicht alle Besucher sind unkritisch. Ägypter, die zusammen mit Prä-sident Nasser Zentralasien besuchten, verhehlten ihre Bewunderung nicht, aber sie bemerkten . einschränkend, als Vorbild für den Aufbau eines islamischen Staats könnten sie die Republiken Zentralasiens nicht ansehen.

Wieviel ist in der modernen Sowjetwelt Zentralasiens vom Islam geblieben? Wieviel ist zerstört worden, ohne daß bisher gesagt werden könnte, die moderne Zivilisation habe die rückständige religiöse Kultur beiseite gedrängt? Die Stadt Taschkent mag das Vorbild für die künftige Entwicklung sein. Buchara dagegen, einst eine Hochburg des Islam, ist heute ein kleiner, trostloser Ort, in dem die zügellose Macht-und Prachtentfaltung einer alles beherrschenden mohammedanischen Geistlichkeit durch die weniger sichtbare Gewalt des Partei-und Staatsapparates ersetzt worden ist. Fünfzig geistliche Hochschulen hatte es um die Jahrhundertwende in Buchara gegeben. Einige von ihnen kann man heute noch sehen. In der einen befindet sich das Hotel des Ortssowjets, und in den schmalen fensterlosen Zellen, in denen früher geistliche Studenten den Koran lasen, werden nun die Vertreter der Baumwoll-Kolchosen untergebracht, wenn sie zu Delegierten-Versammlungen kommen. In einer anderen Medresse ist das Standesamt untergebracht — tritt man durch den Spitzbogen des Eingangs, steht man im Halbdunkel einer großen Stalin-Statue gegenüber. In der Moschee Divanbegi hört man abends die Billardkugel klicken. Die Moschee ist ein Agitationspunkt der Partei. An ihren Wänden hängen Bilder aus dem Leben Lenins, und auf roten Transparenten stehen keine Koran-Sprüche, sondern die Parolen der Partei. Die Männer, die unter der hohen Kuppel der Moschee zusammenkommen — und meistens sind es nicht sehr viele —, scheinen allerdings am Billard mehr interessiert zu sein als an der Politik.

In einer geistlichen Schule

Der Weg zur Medresse Mir-Arab in Buchara, einer der beiden geistlichen Schulen Zentral-asiens, führt auch an ein oder zwei modernen Häusern vorbei. Aber meistens geht es durch dunkle Torbogen, die früher den Händlern als Basare dienten und durch enge, ungepflasterte Straßen, die von fensterlosen Lehmwänden eingeschlossen sind. Der größte Teil der Bevölkerung lebt noch in den typisch usbekischen Häusern, in einer Stadt, die mehr Ähnlichkeit mit der Kasbah einer nordafrikanischen Stadt als mit irgendeinem Ort in der Sowjetunion hat. Zur Straße zeigen sie nur eine oft wunderbar geschnitzte Holztür. Geht man spät nachts durch diese Stadt, so schlagen von Hof zu Hof die Hunde an, manchmal läuft ein herrenloser Esel über den Weg. Aber die Medresse Mir-Arab, so sehr sie ihr altes Aussehen bewahrt hat, ist keineswegs unmodern. Die Studenten studieren neben mohammedanischer Theologie auch moderne Naturwissenschaft, und mitten auf dem Hof der ehrwürdigen Medresse aus dem 15. Jahrhundert, eingerahmt von den Kuppeln, Bogen und dem Minarett, hängt zwischen zwei Pfosten ein Volleyball-Netz ausgespannt. In dieser Stadt, in der die mohammedanische Geistlichkeit einst über riesige Summen verfügte, lebt man in der einzigen noch bestehenden Medresse mönchisch bescheiden. Die Studenten wohnen zu viert in den kleinen fensterlosen Zellen, deren Türen sich in den Hof öffnen. Selbst der Leiter der wissenschaftlichen Studien hat nur eine solche kleine Zelle zur Verfügung. In ihr steht ein Schreibtisch, ein runder Tisch mit drei Stühlen, und ein Sofa, das als Bett hergerichtet ist. Ein Schüler bringt uns runde usbekische Fladen-brote, Honig, Tee und eine zähflüssige Süßigkeit, die in den Tagen des Ramadan aus Eier-schnee und Honig hergestellt wird. Er bringt sie in einer roten Butterdose aus Kunststoff, und der Lehrer packt ein großes Stück Wintermelone aus einem Blatt Zeitungspapier, um es mir anzubieten — gleichermaßen bescheiden und gastfreundlich. Dieser Leiter der wissenschaftlichen Studien an der Medresse Mir-Arab ist ein durchaus moderner Mann. Seine drei Töchter besuchen die Oberschule, eine studiert bereits Mathematik. Er hat nichts gegen das Erauenstudium. Aber zu Beginn dieses Jahrhunderts noch war der Versuch, junge Menschen in den Naturwissenschaften zu unterrichten, ein fluchwürdiges Verbrechen, das im Emirat Buchara mit schweren Strafen belegt wurde.

Die Moslems in Zentralasaien haben sich inzwischen anpassen müssen. Als der Muezzin auf dem Hof der Medresse die Studenten zum Gebet rief, fragte uns der weißbärtige alte Mann in hellblauem Gewand und weißem Turban, der die geistliche Schule leitete, ob wir am Gottesdienst teilnehmen wollten. Jawohl, auch meine Frau könne mitkommen, sagte er, als ich ihn fragend ansah. Und ob wir in der Moschee fotografieren wollten? Ich hätte nie gewagt, eine solche Bitte auszusprechen. Auf der anderen der Grenze, in Persien, waren ein Jahr vorher zwei Amerikaner von einer erregten Menge in Stücke gerissen worden, weil sie eine Moschee von außen fotografierten. In Buchara wird man gefragt, ob man Theologie-Studenten beim Ramadan-Gebet fotografieren wolle. Und als ich im halbdunklen Portal der Moschee fragte, ob wir unsere Schuhe ausziehen sollten, sah mich der junge Student, der mich führte, ungläubig an: „Ja, wenn Sie das tun wollen ..

Im dunklen Raum der Moschee lagen etwa fünfzig junge Männer auf den Knien. Sie wiederholten die Worte des Vorbeters, verbeugten sich nach Mekka zu. Sie waren zusammengekommen, um bis zum Morgengrauen zu beten. Aber nach einer Dreiviertelstunde gab es eine kurze Unterbrechung. „Sie werden nicht die ganze Nacht hierbleiben wollen", sagte der Student zu mir. „Wir haben eine kleine Pause gemacht, damit Sie die Moschee verlassen könce

Die Moschee von Buchara

In den dunklen, unbeleuchteten kleinen Gassen der Stadt suchte ich nach einer öffentlichen Moschee, in der sich Gläubige aus der Stadt zum Ramadan-Gebet versammelt hatten. Buchara war reich an Moscheen, ist heute noch reich an Moscheen. Aber in ihnen finden keine Gottesdienste mehr statt. Einige der alten Moscheen sind zerfallen, andere von architektonischem Wert werden wieder aufgebaut — als museale Zeugen usbekischer Kultur. Ich suchte vergebens nach einer Moschee, in der gebetet wurde. Ich fragte die wenigen Leute, die ich noch auf der Straße traf. Diejenigen, die mir antworteten, waren Russen. Ja, es werde wohl noch eine Moschee geben, meinten sie, irgendwo hinter der Feuerwache. Ich suchte weiter, stieß schließlich auf den Kolchos-Markt, an dessen Eingangstor ein Mann zusammengekauert auf einem Stuhl hockte. Im gelben Licht einer Straßenlaterne sah er gefährlich aus: Sein eines Auge war mit einer schwarzen Binde verdeckt, der Turban zerdrückt und schmutzig, der Mund fast zahnlos. Aber er zeigte mir eine kleine, ungepflasterte Gasse. An ihrem Ende waren ein paar Esel an den Zaun gebunden. Und hinter dem Zaun war die Moschee: ein kleiner Raum, in dem nicht mehr als dreißig Gläubige Platz gefunden hatten. Sechzig oder siebzig Menschen knieten auf ausgebreiteten Säcken, die ihnen als Gebetsteppiche dienten. Sie knieten unter einem hölzernen Dach, das auf ein paar Trägem neben der Moschee errichtet worden war. Von der Decke hing eine Glühbirne herab. Das war die Moschee von Buchara.

Als ich zu meiner Unterkunft zurückging, wurde im einzigen Restaurant von Buchara gerade geschlossen. Hinter den Plüschportieren des Eingangs, eines schwachen Abglanzes der plüschbeladenen Pracht von Moskau, taumelten drei junge Usbeken hervor. Sie waren zweifellos betrunken. Für sie hatte das religiöse Verbot des Alkohols keinen Sinn mehr, und die Nüch-Seite ternheitspredigten der Partei wirkten auch nicht. Daß der Alkohol in den Moslem-Gebieten der Sowjetunion heute ebenso ein Problem ist wie westlich des Ural, hatte ich schon in Samarkand gesehen. In den Schaufenstern der Geschäfte an der Hauptstraße waren seltsame Fotografien aufgestellt. Betrunkene Gesichter starrten den Vorbeigehenden an, und unter jedem Bild standen Name und Adresse des Säufers oder der Säuferin, die die Polizei erwischt und im Ausnüchterungsraum gleich fotografiert hatte.

Ob die Moralgesetze des Islam auf dem Dorfe wirksamer sind als in den Städten, in denen sich das Leben weit stärker verändert hat, läßt sich schwer sagen. Es ist unmöglich für einen Ausländer, das Leben in den kleinen Dörfern kennen zu lernen. Selbst der Wunsch, Kolchosen zu besuchen, ist mir in Zentralasien abgelehnt worden. Dafür durfte ich einen ehemals berühmten Wallfahrtsort, eine Autostunde von Buchara entfernt, besuchen, das Grab eines Heiligen, das früher viele Pilger anzog. In Buchara gibt es noch keinen Intourist-Vertreter, der ausländischen Reisenden ein Auto besorgen könnte. Der Mann, der sich um uns kümmern sollte, gehörte wohl zum Exekutiv-Komitee des Stadtsowjets, denn meistens hatte er keine Zeit und als Entschuldigung gab er gewöhnlich Sitzungen an. Er sah aus wie ein Beduine — groß, hager, mit dunklem, schmalem Gesicht. Er war bereit, uns zu dem Wallfahrtsort zu bringen, den ich aus einem alten Reiseführer herausgesucht hatte. Er organisierte einen alten Wagen mit einem Fahrer, der als wilder Draufgänger über die von der Hitze ausgetrockneten Straßen mit ihren steinharten Wagenspuren brauste. Ein scharfer Wind jagte große Staubwolken durch die Wagenfenster. Wie ein gelber Nebel lag der Staub in der Luft. Ob das ein Sandsturm sei, fragte ich. Aber der Fahrer lachte nur. Der richtige Samum sei das noch lange nicht. Den gehe es nicht in der großen Oase um Buchara, sondern erst hundert Kilometer entfernt, wo die Wüste beginnt. Die Oase Buchara ist nicht so romantisch wie ihr Name. Hinter den Ruinen der alten Stadtmauer, wo einstens das Samarkander Tor stand, wird die Landschaft gelb-grau und eintönig. Ein paar zwei-und dreistöckige Mietskasernen stehen verloren herum — Arbeiterwohnhäuser. Gegenüber, hinter einer hohen Lehmmauer, liegen einige Lagerschuppen und Häuser in russisch-europäischem Stil, die von einem großen und gutgepflegten Obstgarten umgeben sind. Außerhalb der Lehmmauer ist die Landschaft grau. Die Felder werden zur Baumwollaussaat vorbereitet. Einige stehen unter Wasser. Kleine Gräben, Kanäle und Dämme durchziehen das Land. Die Maulbeerbäume, die an ihnen gepflanzt sind, stehen noch kahl und sehen wie alte Weiden aus. Scharen von Frauen unter großen Kopftüchern, aber ohne Schleier, arbeiten mit der Hacke in der drückenden Hitze.

Ab und zu sieht man einen Traktor. Auf dem Feldweg kommen uns Eselreiter entgegen. Ein alter Mann hat ein Kind vor sich auf den Sattel gesetzt. Kleine Jungen versuchen ihren Esel durch Stockschläge zu größerem Tempo anzutreiben. Am Wegrand weiden ein paar Kühe.

Sie fressen das zwei Finger hohe Gras, das zwischen grauen, heidekrautähnlichen Pflanzen wächst. Wo die Arme des Kanalsystems nicht hinreichen, wächst kein Halm. Der trockene Boden wird in kleinen Staubwolken hochgeris-

sen, wenn ein hochrädriger Eselkarren vom Felde auf den Weg einbiegt. Die Frauen und Kinder auf den Wagen haben bunte Kleider an, längsgestreifte Mäntel, wie sie zur Nationaltracht gehören. In der, grau-gelben Landschaft sind sie die einzigen fröhlichen Farbflecken.

Ein Heiligengrab

Nur in den Dörfern gibt es ein paar große, schattenspendende Bäume. Zwischen den gelb-braunen Lehmhäusern, auf deren flachen Dächern die Hausbewohner Brennholz und Stroh geschichtet haben, spielen Kinder, Karakul-Lämmer, kleine Esel und Hunde. Irgendwo im Dorf steht ein hölzerner Triumphbogen mit rotem Stern: das Zeichen der Kolchose. Ganz plötzlich taucht ein großes Gebäude aus der flachen, grauen Landschaft auf: Die Ruine einer Medresse. Daneben, weiß getüncht und gepflegt, eine kleine Moschee und der weiße Turm des Minaretts. In Zinnkrügen steht Wasser bereit für die rituellen Waschungen. Von einer alten Holztür mit reichem Schnitzwerk hängt eine große alte Petroleum-Laterne. Holzgeschnitzte Pfeiler tragen ein vorgezogenes Dach, dessen Decke mit einem Muster von leuchtend-bunter Grundfarbe verziert ist. In der Mitte des Hofs neben dem steineren Grabmal des heiligen Beha-ed-Dins, sind zwei hohe Pfosten aufgerichtet, die wie Telegrafenstangen aussehen. Zwei große schwarze Troddeln hängen herab und zeigen an, daß hier ein Heiliger begraben liegt.

Die Decke des Innenraums der Moschee ist mit stilisierten Blumenornamenten von unendlicher Farbenpracht bemalt. Auf dem Fußboden liegen wertvolle Teppiche. An der Wand hängt ein kleines Bild der Kaaba von Mekka. Einer der zwanzig Moslems, die im Jahr zuvor nach Mekka pilgern durften, hat es mitgebracht. Und mitten im Raum der Moschee, von der farbenprächtigen Holzdecke herab, hängt der Aluminium-Kronleuchter, den es in allen Flughafen-Restaurants der Sowjetunion gibt. Er unterscheidet sich nur in einer Kleinigkeit von der üblichen Produktion: die Fassungen für Glühbirnen sind abgeschraubt worden, stattdessen ist er mit Kerzen besteckt. Elektrischen Strom gibt es in dieser Gegend noch nicht.

Ein alter Scheich in weitem, blauem Mantel, mit weißem Turban und großem weißen Bart, erwartet uns. Er spricht kein Russisch. Einige Daten aus der Geschichte der Moschee hat er in arabischer Schrift auf einem Zettel aufgezeichnet. Der Mann, der uns aus Buchara mitgegeben wurde, kann die Schrift mit Mühe lesen. „Ich bin 1905 geboren worden, in der Schule habe ich noch Arabisch gelernt. Nach 1920 war ich auf einer modernen Schule. So weiß ich ein bißchen davon, und ein bißchen davon.“ Er hat drei verschiedene Schriften in seinem Leben gelernt: Zuerst die arabische. Dann, nach 1920, lehrte man ihn die lateinische Schrift, in der die usbekische Sprache unter Zuhilfenahme einiger russischer Buchstaben geschrieben wurde. 1941 schließlich wurde die russische, kyrillische Schrift offiziell eingeführt, und nur durch einige lateinische Buchstaben ergänzt. Aber er hat in dieser Zeit nicht nur die Schrift wechseln müssen.

Auf den Treppenstufen des Minaretts vor der Moschee schläft ein Mann im Turban. Aus den Wohnzellen, die um einen kleinen Hof ange-ordnet sind, treten einige junge Männer. Sie nehmen Spitzhacken und Hämmer auf und gehen zum verfallenen Bau der großen Moschee. Mit bloßem Oberkörper arbeiten ungefähr fünfzehn Männer am Fuß oder im Gemäuer des riesigen Gebäudes. Durch die Gänge der Nekropolis, in deren zusammengefallenen Steinmauern die Khane von Buchara beigesetzt sind, rollt eine Schubkarre. Fünfzehn Studenten der geistlichen Hochschule von Buchara und einige Geistliche sind dabei, die große Medresse wieder aufzubauen. Fünfmal am Tage beten sie in der kleinen Moschee. Manchmal kommen einige Bauern aus dem nahen Kolchos dazu. „Die Leute im Dorf sind fast alle gläubig“, sagte einer der jungen Studenten, der mit bloßem Oberkörper und einer Lammfellmütze auf dem Kopf alte Steine richtete. „Aber sie können nicht immer zum Gebet kommen. Sie haben viel Arbeit. Aber freitags ist in der kleinen Moschee kaum Platz genug.“

III. Rat für Angelegenheiten religiöser Kulte

„Rat für Angelegenheiten religiöser Kulte“ steht auf einem Metallschild am Eingang eines ehemaligen Kaufmannspalais. Nach längeren Bemühungen erst war es mir gelungen, vorgeladen zu werden. Vor einer Sibirienreise, bei der ich einige Lama-Klöster in Burjätien besuchen wollte, sollte man mir beim „Rat für religiöse Angelegenheiten" erzählen, was aus den Lama-Buddhisten der Sowjetunion geworden sei. Die Genehmigung, ihre Klöster zu besuchen, verweigerte man mir später. Und auch das Gespräch, das ich im „Rat für Angelegenheiten religiöser Kulte“ führte, war nur ein Ersatz für das Interview, um das ich ursprünglich nachgesucht hatte. Statt des Lama Jeschi Dordschi Scharapow, der als geistliches Oberhaupt der Buddhisten in der Sowjetunion den Titel „Ban-dido Cham-Bo Blama“ führt, saß mir Leonid Alexandrowitsch Prichodko gegenüber, Mitglied des Rats für Angelegenheiten religiöser Kulte und Spezialist für Religionsgemeinschaften des Orients, also Buddhist und Moslem. Der etwa 45 Jahre alte Mann hatte ein eckiges Gesicht, nach dem Schnitt seiner Augen konnte man annehmen, daß unter seinen Vorfahren Burjäten waren. Er hat kurzgeschnittenes dunkles Haar und sieht in einem durchschnittlichen, grauen Straßenanzug nicht annähernd so interessant aus wie der Bandido Cham-Bo Blama, den ich einmal von ferne auf einer Versammlung von Friedenskämpfern in Moskau sah. Damals war das religiöse Oberhaupt der sowjetischen Lamaisten in weite, gelbe Gewänder gehüllt, wie es einem buddhistischen Mönch zukommt, und er erregte einiges Aufsehen, als er, tief in seinen Gewändern wühlend, einen großen Wecker herauszog, um nach der Uhr zu sehen. Aber Lama Jeschi Dordschi Scharapow weilt nur selten in Moskau, sagte man mir, und so möchte ich doch mit Leonid Alexandrowitsch Prichodko vorlieb nehmen. Er wisse über alles Bescheid.

Er war im übrigen ein freundlicher, aber vorsichtiger Mann. Während er sprach, schrieb am Ende des langen grünen Tisches ein kleiner, grauhaariger Mann jedes Wort mit. Dabei wollte der Funktionär für religiöse Angelegenheiten gar nichts Besonderes sagen. Aber vielleicht hatte er seine Berufserfahrungen im Ministerium gesammelt, in dem man weiß, wie wichtig es ist, für alle Aussagen einen Zeugen zu haben.

Der „Rat für Angelegenheiten religiöser Kulte“ ist eine der beiden Regierungsstellen, die sich mit den Angelegenheiten der Glaubensgemeinschaften offiziell und direkt befassen. Diezweite Stelle ist der „Rat für Angelegenheiten der Orthodoxen Kirche“, der entsprechend ihrer Bedeutung eine Sonderstellung eingeräumt ist. Leonid Prichodko erklärte mir, was seine Dienststelle für Funktionen hat.

„Der Rat ist dem Ministerrat der Sowjetunion angegliedert und besteht aus fünf Personen: dem Vorsitzenden, seinem Stellvertreter und drei Ratsmitgliedem. Seine Hauptaufgabe ist es, Verbindung mit den Leitern der Religionsgemeinschaften zu unterhalten und mit ihnen jene Probleme zu erörtern, deren Lösung von der Regierung abhängt. Sehen Sie, die Moslems wollen jetzt ein neues Gebetbuch herausgeben, brauchen Papier, wenden sich an uns. Wenn wir nichts Staatsgefährdendes in dem Gebetbuch finden, werden wir ihnen helfen. Wir besorgen Visa für Pilger, die nach Mekka fahren wollen. Wir haben Ende 1955 die Visa besorgt für eine Buddhisten-Delegation, die am allbuddhistischen Kongreß in Nepal teilnahm. Das war übrigens die erste Reise einer buddhistischen Delegation seit der Existenz dieser Religion in Rußland. Wir besorgen für die Religionsgemeinschaften in so einem Fall auch die Devisen. Sie kommen zu uns, wenn sie eine Kirche bauen wollen und Material brauchen. Sie beantragen bei uns Autos für ihre Organisationen. Das ist die eine Seite. Die zweite Funktion unseres Rates ist: Wir achten darauf, daß die Gesetze des Sowjet-staates nicht verletzt werden. Wir studieren diese Religionen, wenn wir mit ihren Leitern zusammen sind. Aber in innere Angelegenheiten mischen wir uns nicht ein.“

Leonid Prichodko setzt noch zwei Sätze dazu, meint dann aber, die könnte ich wieder streichen. Er hatte gesagt, der „Rat für Angelegenheiten religiöser Kulte" habe keinerlei administrative Funktion. Wenn seine Mitglieder eine Verletzung der Sowjetgesetze sähen, wendeten sie sich an die zuständigen Regierungsorgane. Aus irgendeinem Grunde schien ihm dieser Zusatz überflüssig.

Wohltaten des Kulturlebens

Ich hätte gerne gewußt, wieviele Lamaisten es noch in der Sowjetunion gibt. Aber Prichodko winkt ab: „Wir sind eine Regierungsstelle, die sich nicht in innere Angelegenheiten einmischt. Eine Zählung der Gläubigen gibt es nicht, in ihre Kennkarten wird nichts Besonderes eingetragen. Daher können wir keine Zahlen angeben. Übrigens, selbst die Religionsfunktionäre wissen es meist nicht." Stattdessen gibt er einen gedrängten Überblick über den Buddhismus in der Sowjetunion: „Wir haben hier den lamaistischen Zweig dieser Religion, dem die Burjäten anhängen. Vor der Revolution waren nicht alle Burjäten Buddhisten. Die Westburjäten waren orthodox. Im übrigen gab es viel Schamanismus. In den Jah-ren nach der Revolution aber wuchsen die burjatische Kultur und die Wirtschaft, daher ist der Einfluß von Schamanismus und Buddhismus zurückgegangen. Lamaismus und Schamanismus sind verbunden mit Völkern niedriger Kultur. Damals waren die Burjäten Viehzüchter und überhaupt sehr primitiv. Jetzt genießen sie alle Wohltaten des Kulturlebens. Es gibt Städte. Es gibt eine höhere Lehranstalt in Ulan Ude, auch Theater und so weiter. Folglich änderte sich auch die buddhistische Religion. Früher gab es große Klöster. Die Lamas wurden hauptsächlich unter Kindern ausgewählt, die in solchen Klöstern erzogen wurden. In manchen Klöstern gab es sogar einen sogenannten . lebenden Gott'. Jetzt aber gibt es keine Familie in Burjätien mehr, die die weltliche Bildung ihres Kindes dagegen eintauschen würde, daß das Kind sein ganzes Leben im Kloster verbringt."

Ob es überhaupt noch Klöster in der Sowjetunion gäbe, oder ob meine Informationen überaltert seien, erkundigte ich mich. Es gibt sie noch, sagt Leonid Prichodko, auch wenn sie natürlich nicht mehr das seien, was sie einmal waren. „Das buddhistische Zentrum in Burjat-Mongolien liegt im Dorf Iwolga, zwanzig Kilometer von Ulan-Ude. Zur Sowjetzeit schon wurde dort ein Kloster gebaut. Es gibt da eine Anzahl von Mönchen, einige Dutzend. Sie betreuen die Bezirke, völlig frei, und auf Bitten Gläubiger machen sie auch Kulthandlungen. Bei großen religiösen Festlichkeiten kommen sie im Kloster zusammen, um sich am Gottesdienst zu beteiligen. Noch ein Kloster wird wiederhergestellt, am Gänse-See, wo früher das Oberhaupt der Lama-Buddhisten lebte. Jetzt haben die Buddhisten um Rückgabe dieses Klosters gebeten. Sie wollen es wiederherstellen. Es war im Bürgerkrieg zerstört worden. Soweit uns bekannt, soll das buddhistische Zentrum dorthin verlegt werden. Auch das Kloster bei Agingskoje ist in gutem Zustand — nicht das, was es vor der Revolution war, natürlich. Jetzt gibt es dort weniger Gebäude und weniger Mönche. Aber die Bedürfnisse der Bevölkerung sind voll befriedigt. Weder von der Regierung noch von der Bevölkerung Burjätiens haben wir Anträge und Äußerungen, daß man dort mehr Klöster will. Die religiösen Bedürfnisse sind also voll befriedigt.'

Da Burjat-Mongolien Sperrgebiet ist, läßt sich nicht nachprüfen, wie bedeutend die Reste der alten Lama-Klöster heute noch sind. Von den lamaistischen Geistlichen hört man gewöhnlich nur, wenn es darum geht, Besuchern aus buddhistischen Ländern Asiens zu imponieren. Als der burmesische Ministerpräsident U Nu die Sowjetunion besuchte, holte man den Vorgänger des jetzigen Oberhauptes der Lamaisten, den altersschwachen und kranken Lobsang Nima Darmai nach Moskau und stellte ihn dem Staatsgast vor. Als Prinz Norodom Sihanuk von Kambodscha in die Sowjetunion reiste, empfing ihn das heutige Oberhaupt der sowjetischen Buddhisten. Zum Welt-Buddhistenkongreß nach Nepal reiste eine sowjetische Delegation, die anschließend nach Indien weiterfahren und an einem Gottesdienst teilnehmen durfte, den damals noch der Dalai Lama und der Pantschen Lama gemeinsam leiteten. Und 1957 fuhr der Bandido Cham-Bo Blama mit einer Sowjet-Delegation nach Ceylon zum internationalen Friedenskongreß. Seit jener Zeit, in der sich die Sowjetunion besonders nachdrücklich um Einfluß in Asien bemühte, unterhält das Oberhaupt der sowjetischen Lamas Verbindungen mit Glaubensgenossen im Kambodscha, Thailand, Indien, Ceylon, Burma, China und der Mongolei. Leonid Prichodko sieht darin freilich keine Unterstützung der sowjetischen Politik, sondern vielmehr ein Zeichen von Glaubensfreiheit. Früher habe es überhaupt keine Verbindung zwischen den Buddhisten des alten Rußland und dem Ober-haupt des Lamaismus in Tibet gegeben, meint er. Lind als ich ihn an den hochgebildeten Burjäten Dordschiew erinnerte, der zwischen dem Zarenhof und Lhasa vermittelte, um eine russisch-tibetische Allianz zustande zu bringen, winkte der Funktionär für religiöse Angelegenheiten ab. „Das war wohl mehr zufällig. Dordschiew nannte sich einen Vertreter des Dalai Lama. Aber über seine Tätigkeit ist nichts bekannt.“

Nicht bekannt beim „Rat für Angelegenheiten religiöser Kulte“ ist auch, was eigentlich aus gläubigen Buddhisten geworden ist, die zum kalmückischen Volk an der unteren Wolga gehören. In ihrem Tempel bei Sarepta befanden sich Kultgeräte, die der Dalai Lama geschickt hatte. Aber das Reitervolk der Kalmücken-Steppe hatte im Zweiten Weltkrieg nicht viel Sowjetpatriotismus bewiesen. Und zur Strafe war das gesamte Volk der Kalmücken deportiert und zerstreut worden. Seine Republik wurde aufgelöst, sein Name verschwand aus den Sowjet-Lexika. Erst 1958 wurde den Kalmücken wieder erlaubt, aus der Verbannung zurückzukehren. Leonid Prichodko findet eine einfache Formel für die tragische Geschichte der Kalmücken: „Die kalmückische Republik existierte einige Zeit nicht. Sie ist erst jetzt wieder geschaffen worden. Wir wissen nicht, wie dort die Lage ist und ob ein Bedürfnis nach Religion besteht. Bisher haben wir weder Klagen noch Anfragen bekommen. Vermutlich wird das Volk erst die Wirtschaft wieder aufbauen, und falls nachher ein religiöses Interesse besteht, werden wir nach Maßgabe der Bedürfnisse eine Entscheidung treffen. Bisher haben wir noch keinerlei Anfragen, und Tempel werden nur geschaffen, wenn sie nötig sind.“

Auf eine moderne Basis gestellt

Ich fragte ihn wieder nach den Burjäten. Ob er glaube, daß dort heute noch Lamas leben, die als Wiedergeburten früherer Geistlicher oder gar Inkarnationen eines Gottes verehrt werden. Prichodko schüttelt den Kopf: „Davon ist uns nichts bekannt. Meiner Ansicht nach gibt es keine, bei den Burjäten gab es überhaupt nur sehr wenige. Der Buddhismus hat sich stark vom Geisterglauben gereinigt. Das Volk ist so kultiviert, daß es nicht mehr an Wiedergeburten glaubt. Die buddhistische Religion ist bei uns jetzt auf eine moderne Basis gestellt worden. Es gibt keine Wahrsager mehr, auch keine Astrologie. Und die tibetanische Medizin ist ausgestorben. Wissen Sie, die blühte, als es dort noch keine Ärzte gab. Jetzt gibt es Ärzte und Veterinäre. Viele haben Hochschulbildung, die meisten Mittelschulbildung. Tibetanische Medizin braucht man also nicht mehr. Überhaupt hat sich enorm viel geändert. Ich bin selbst in Transbaikalien geboren, stamme aus dem burjat-

mongolischen Nationalkreis. Aber ich war dreißig Jahre lang nicht mehr bei den Burjäten. 1956 kam ich wieder hin und konnte das Leben nicht wiedererkennen. Früher gab es nur Jurten-Zelte, heute Häuser. Und jedes Haus hat ein Grammophon. Das gehört sozusagen zur burjätischen Familie. Früher wollte jeder Burjäte einen Lama in der Familie haben. Es gibt heute Betten mit Laken, — das Land ist nicht wiederzuerkennen. Das beeinflußt natürlich auch das Verhältnis der Leute zur Religion. Die Burjäten sind jetzt keine Nomaden mehr, also müssen sie Heu ernten, — und das war früher eine Sünde. Das Wetter beeinflußt die Wirtschaft, deshalb mußten früher viele Gebete für das Wetter gesprochen werden. Aber jetzt hat man Maschinen, da braucht man die Gebete nicht. Die Wirtschaft ist wetterunempfindlich geworden, also verschwinden auch viele Formen der Religion. Lamaismus ist bequem für Viehzüchter, aber schon vor der Revolution begann der Ackerbau in diesen Gebieten, und das widerspricht dem Lamaismus.'

Ein Gebiet, in dem der Lamaismus vorherrschte, ist aber nach wie vor überwiegend von Reiter-und Hirtenvölkern bewohnt, das einstige Tannu-Tuwa, das bis Anfang der dreißiger Jahre ein selbständiger Staat zwischen der Sowjetunion und China war. Ob sich die Verhältnisse dort genauso geändert hätten, erkundigte ich mich. „Ja, in der Tuwinischen Autonomen Republik gibt es Buddhisten. Aber wie-viele es sind, was sie machen? Wissen Sie, das ist ein neues Gebiet. Die Verbindungen sind schlecht, man kann es nur mit dem Flugzeug erreichen. Fünfhundert Kilometer von der Hauptstadt Kisel gibt es Gläubige, aber wir haben weder Bitten noch Beschwerden von ihnen erhalten. Ein Lama aus Tuwa studiert heute bei Groß-Lama Scharapow. Tannu-Tuwa kam eben erst spät zur Sowjetunion, es ist in seiner Kultur noch zurückgeblieben. Über Klöster kann ich da nichts sagen. Jedenfalls waren die Lamas dort sehr rüdeständig. Und außerdem gibt es außerhalb der Klöster noch die Steppen-Lamas Sie gehen nicht in das Gelübde der Ehelosigkeit ein, sondern sie haben Familien und führen ihre Wirtschaft. Sie kommen auch nicht zu gro-Gen Gottesdiensten ins Kloster. Darum weiß ich gar nicht, wieviel Lamas es in der Sowjetunion gibt. Bei den Moslems ist das übrigens ebenfalls unklar. Wir kennen nur die Zahl der Geistlichen in den Moscheen." Ich frage Leonid Prichodko, welche Vorkenntnisse er eigentlich mitgebracht habe, um zu einem der fünf Mitglieder des „Rates für Angelegenheiten religiöser Kulte" ernannt zu werden. Und woher er seine Kenntnisse über den Lamaismus habe. „Wissen Sie, ich bin seit zehn Jahre beim Rat. Man kommt mit den Funktionären der Religionsgemeinschaften zusammen, unterhält sich. So wird man zum Experten.“ Und was er denn vorher gemacht habe, ehe er Religionsexperte wurde? „Im Krieg war ich in der Armee, wurde verwundet, danach hatte ich mit wirtschaftlichen Angelegenheiten zu tun. Ich arbeitete für ein Ministerium." Für welches Ministerium denn?, möchte ich wissen. „Ach, für ein Ministerium.“

Ich bedanke mich für die Auskünfte und verabschiede mich. Ich frage nicht noch einmal, in welchem Ministerium der Religionsexperte gearbeitet hat. Aber wenn man in Moskau von einem Ministerium ohne Namen spricht, dann kann man mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß es mit Fragen der Staatssicherheit befaßt ist.

Die Lamaklöster habe ich leider nicht gesehen. In Sibierien muß ich nicht viel weiter als eine Autostunde vom Kloster Aginskoje entfernt gewesen sein. Aber das sowjetische Innenministerium hat mir die Reiseerlaubnis dorthin abgelehnt.

IV. In Birobidschan

Das erste, was an dem Bahnhof auffällt, an dem ich aussteige, sind die hebräischen Schriftzeichen unter dem in kyrillischen Buchstaben geschriebenen Namen Birobidschan. Ich gebe meinen Koffer am Handgepäckschalter ab und mache mich auf die Suche nach dem Stadt-sowjet, um mir eine Unterkunft besorgen zu lassen. Vor dem Bahnhof liegt ein Platz mit einer kleinen Grünanlage: hier blühen wieder bunte Blumen. Unter grünen Bäumen kommt man am Kino vorbei und dann zur Hauptstraße, die den Namen des jüdischen Dichters Scholem Alejchem trägt. Die Straße ist gepflastert, an ihr liegt hinter einem hohen Zaun ein zweistöckiges altes Holzhaus, in dem die Stadtverwaltung sitzt. Ich irre in den halbdunklen Gängen herum, bis ich das Vorzimmer des Exekutivkomitees finde. Sein Sekretär sieht sich meinen Ausweis an, er erinnert sich an ein Telegramm, mit dem ich mich von Moskau aus angemeldet hatte. Nun war ich zwei Tage zu früh gekommen, weil man mir Abstecher von der Reise-route untersagt hat, und so hat er kein Zimmer im Ortsgasthaus reserviert. Immerhin, er ist bereit, einmal anzurufen. Bei ihm sei ein Genosse aus Deutschland, der ein Zimmer benötige, sagt er. Am anderen Ende der Leitung scheint man Schwierigkeiten zu machen, aber der Sekretär gibt sich alle Mühe. Ich solle nur meinen Koffer vom Bahnhof holen und zum Gasthaus gehen, man werde schon Platz für midi finden, sagt er schließlich. Während ich das Haus verlasse, schaue ich mir noch schnell die Tafel mit den Namen der Mitarbeiter des Stadt-sowjet an. Über fünfzig Prozent der Namen sind jüdischen Ursprungs, registriere ich. Das ist interessant, weil man in den Botschaften in Moskau herumrätselt, welchen Anteil die jüdische Bevölkerung in diesem Gebiet noch stelle, das man ihr vor dreißig Jahren zur Besiedelung, 2ur Schaffung einer eigenen nationalen Sowjetrepublik, überlassen hatte. Draußen sehe ich, daß die Verwaltung des Ortssowjet immerhin in kyrillischen und hebräischen Buchstaben ihre Schilder malen läßt. Straßennamen, Kino und Restaurants sind ebenfalls in beiden Schriften engegeben. Das Hotel liegt an der Leninstraße. Es ist ein zweistöckiges Haus, in dessen dunker staubiger Empfangshalle eine dicke Russin inter dem Schalter sitzt. Jetzt sei kein Zimmer rei, aber im Laufe des Tages würde wohl jemand ausziehen, meint sie, und das erste Zimmer solle ich dann bekommen. Da meldet sich aus dem Halbdunkel des Raumes eine brüchige Stimme: Er warte doch schon am längsten und ihm komme das erste Zimmer zu, sagt ein alter Mann. „Hier ist ein ausländischer Genosse, den der Stadtsowjet eingewiesen hat, er bekommt das nächste Zimmer", sagt die Verwalterin barsch. Ich setzte mich auf einen Stuhl, um ein wenig abzuwarten. Plötzlich fragt der alte Mann auf deutsch, wo ich herkomme. Er sei selber Deutscher, erzählt er mir, aber er habe seit fast zwanzig Jahren nicht mehr deutsch gesprochen. Der alte Mann stammte aus der Wolga-Republik, wie sein Vater und Großvater war er Lehrer in einem der deutschen Dörfer gewesen. Als die deutschen Truppen die Sowjetunion angriffen, war er gerade auf einer Dienstreise in Wladiwostok. Er wurde festgehalten und später eingezogen. Seine Familie sei an der Wolga zurückgeblieben, und er habe sie seitdem nicht mehr wiedergesehen, er lebe jetzt auf einem kleinen Kolchos an der Grenze des jüdischen Autonomen Oblast, eine Tagesreise von Birobidschan entfernt, und er sei nur in der Stadt, um sich einen Krankenschein ausstellen zu lassen, damit er einige Wochen zur Erholung fahren könne. In zwei Tagen werde er wohl die ärztliche und anderen Kommissionen abgeklappert haben. Dann fahre er zum Kolchos zurück, wo seine Frau wohne. Hier macht der alte Mann eine Pause. Das sei nämlich das Schwierigste, das mit seiner Frau. Er habe eine Russin geheiratet. Und nun habe er kürzlich Post bekommen von seiner Tochter. Sie sei mit den deutschen Truppen nach Westen gegangen und lebe heute in der Bundesrepublik. Über das Rote Kreuz habe sie ihm geschrieben, und von ihr habe er erfahren, daß auch seine erste Frau noch lebe. Sie sei in der Sowjetunion, in einem kleinen Ort am Altai-Gebirge, wo noch viele Deutsche leben. Der alte Mann schüttelte den Kopf. Er habe seiner Tochter geschrieben, daß er zum zweiten Male geheiratet hat, eine Russin. Und seine Tochter sei darüber so böse, daß sie ihm nicht mehr schreiben wolle. Er wisse nun auch nicht, was er tun solle. Er freut sich jedenfalls, einmal wieder deutsch zu sprechen, denn sonst gebe es weit und breit keinen Deutschen in der Gegend.

Eine Stadt im Sumpf

Zu meiner Beruhigung werden zwei Zimmer gleichzeitig frei. Ich bekomme einen sauberen kleinen Raum mit zwei Betten, es gibt kein fließend Wasser, aber das ist nicht so wichtig. Ich rasiere meinen Zweieinhalb-Tage-Bart und gehe ins Restaurant. Draußen hatten noch hebräische Buchstaben über der Tür gestanden, drinnen gibt es nur eine russische Speisekarte mit den üblichen russischen Gerichten. Dann gehe ich in die Stadt. Erst sehe ich mir die Tafel mit den Namen der verdienten Aktivisten an. Über die Hälfte der Namen sind offensichtlich auch hier jüdisch. Sie überwiegen auf der Tafel der Industrie-Betriebe, aber auch bei der Landwirtschaft sind mehr als ein Drittel der Ausgezeichneten offenbar Juden, vermutlich mehr, denn nicht bei allen Namen läßt sich der Ursprung klar erkennen. Die ausgezeichneten Kolchosen des Bezirks tragen fast alle die gleichen, von der Partei bevorzugten Namen wie in anderen Teilen der Sowjetunion. Aber dann stößt man auf Namen wie „Waldheim", vielleicht stammen sie noch aus den Anfangsjahren der Besiedlung, als die ersten Eisenbahnzüge mit Juden aus Rußland und der Ukraine in das menschenleere, sumpfige Urwald-gebiet kamen, das so groß ist wie Belgien.

Auch Birobidschan liegt mitten im Sumpf, dort, wo die Bira und die Bidschan zusammenfließen. Er beginnt hinter der Scholem Alejchem-Straße, die immer weiter aufgeschüttet wird, damit die Stadt wachsen kann. Im Sumpf entstehen Bauplätze für neue, zweistöckige Stein-häuser. Es gibt auch ein paar dreistöckige Gebäude, wie das hellgelb verputzte Oblast-Komitee der Partei vor einer schönen Grünanlage. Sonst ist die Stadt aus Holz gebaut, aber südlich der Bahnlinie, im eigentlichen Zentrum, stehen keine niedrigen Blockhäuser, sondern zweistöckige Häuser, viele mit überdachten Balkönen. Die meisten von ihnen sehen alt aus und sind reparaturbedürftig. Aber die Stadt ist nicht häßlich. Mit ihren baumbestandenen Straßen erinnert sie an die kleinen Städte Südrußlands, aus denen die Siedler kamen. Sie ist nicht so zufällig und gleichgültig hingebaut wie die meisten Siedlungen in Sibirien. Ich hatte oft gehört, in Birobidschan seien die Juden inzwischen eine Minderheit. Aber das stimmt vielleicht für den Bezirk, sicherlich nicht für die Stadt. Wenn man abends durch die Straßen geht, hört man die Leute, die vor den Haustüren sitzen, jiddisch sprechen. Aber es ist nicht das entstanden, was die früheren jüdischen Siedler erwarteten: ein jüdisches Nationalgebiet jenseits der Mandschurei. Im Restaurant unterhalte ich mich mit einem älteren Mann, der an meinem Tisch sitzt. Er erzählt, daß Birobidschan das einzige Zentrum der Leichtindustrie im Fernen Osten und Ostsibirien sei. Hauptindustrie sei eine Bekleidungsfabrik, dann habe man ein Werk für Auto-und Traktoranhänger, ein Fleischkombinat, eine Schuhfabrik und eine Möbelfabrik, — Werke, wie sie sich in dieser Größe auf mancher Tagereise nicht wiederfänden. „Die jüdischen Handwerker haben etwas aus dem kahlen Stüde Land an der Eisenbahnstrecke gemacht“, sagte der Mann stolz. Und auch auf den Kolchosen, die sie gründeten, arbeiteten sie mit viel Erfolg. Ich frage ihn nach einem jüdischen Kulturleben. Es gebe eine Zeitung, die in jiddisch erscheine, dreimal in der Woche. Sie heiße „Die Schtern“, und sie bringe oft besondere Berichte über die Leistungen und Erfolge jüdischer Arbeiter, die man in der russischen Zeitung von Birobidschnan nicht fände. Die russische Zeitung heißt „Swesda“, also auch Stern. Ob es ein jüdisches Theater gebe, frage ich. Der Mann zuckt die Achseln: „Es ist 1952 aufgelöst worden, — Sie wissen schon, in den schwarzen Jahren.“ Das waren die letzten Lebensjahre Stalins, in denen eine antisemitische Welle über die Sowjetunion ging. Jetzt sei es wieder besser, meint der Mann. Aber eins habe sich nicht geändert: Die Ansiedlung von Juden in Birobidschan werde nicht besonders gefördert. „Die jungen Leute, die hierher geschickt werden, kommen aus allen Teilen der Sowjetunion. Es sind Russen, Ukrainer, Tataren, Armenier, — und es sind natürlich auch Juden darunter.“

Keine Unterstützung des jüdischen Siedlungswerks

Der Mann meint, unter den 120 oder 130 000 Menschen im Oblast Birobidschan seien weniger als die Hälfte, vielleicht nur ein Drittel Juden. „Das ist eine große Enttäuschung für uns, die wir zuerst hierher kamen“, sagt er. 1928 hatte die Sowjetregierung das Land im Amur-Bogen jüdischen Siedlern zur Verfügung gestellt. Als sie in das sumpfige Urwaldgebiet am anderen Ende Asiens aufbrachen, gab es keine Straßen, nur vier oder fünf kleine Dörfer an den Flüssen. Heute liegen 95 000 Hektar Ackerland in diesem Gebiet, und aus den wenigen Holzhäusern am Bahndamm ist eine kleine, leistungsfähige Industriestadt geworden. Aber die Sowjetregierung hat sich unter Stalin nicht entschließen können, das jüdische Siedlungswerk zu unterstützen. Stalin mißtraute den Juden, er fürchtete ihre familiären Beziehungen zu anderen Ländern, haßte ihre kritische Intelligenz. Er nannte sie Kosmopoliten, das Wort wurde bald ein Codename des Antisemitismus, der sich in den letzten Jahren durch Stalins Verfolgungswahn immer mehr verschärfte. Der jüdische Verlag in Moskau wurde geschlossen, jüdische Künstler durften nicht mehr mit jiddischen Werken auftreten. Das großartige jüdische Theater war schon früher aufgelöst worden. Und als unter den verhafteten KremlÄrzten, die nach Stalins Behauptung eine Reihe sowjetischer Führer ermordet haben sollten, viele jüdische Namen waren, fürchtete man den Anfang eines Pogroms. Aber dann starb Stalin, und die Ärzte wurden freigelassen. Die drükkende Glocke des Terrors hob sich, die Menschen brauchten nicht mehr mit dem Schlimmsten zu rechnen.

Ich erzähle dem Mann an meinem Tisch, daß es in Moskau schon einige Male einen „bunten Abend“ gegeben habe, auf dem jiddische Volkslieder vorgetragen und Werke jiddischer Dichter gelesen wurden. Er freut sich sehr. In Birobidschan habe es das noch nicht gegeben, aber vielleicht werde es nun auch kommen. Im Warenhaus habe es kürzlich schon zwei Platten mit jüdischen Volksliedern zu kaufen gegeben.

Ein wenig später stehe ich mit einem jungen Geologen vor der Tür des Gasthauses. Er ist ein Ukrainer, der kürzlich hierher versetzt wurde. Die Stadt sei nicht recht vorwärts gekommen, weil es hier nur Leichtindustrie gebe, meint er. Die sei in den vergangenen Jahren nicht besonders ausgebaut worden, denn der Staat habe sich auf die Schwerindustrie eingestellt. Aber das würde jetzt vielleicht anders werden, denn einmal lege man mehr Wert auf die Produktion von Konsumgütern, und dann gebe es in diesem Gebiet Kohlevorkommen, Eisenerz, Gold. Die Bodenschätze sollten nun erschlossen werden. Nach allem, was ich gehört habe, seien die Vorkommen wohl nicht so bedeutend, bemerke ich. Aber der junge Geologe tut sehr geheimnisvoll. Er scheint es besser zu wissen. Ob denn der jüdische Bevölkerungsanteil wachsen werde, frage ich ihn. „Warum eigentlich?" sagt er. „Wir haben so viele Nationalkreise und Auto-nome Republiken, in denen die Nationalität nach der sie heißen, in der Minderheit ist Wichtig ist, daß die Gebiete erschlossen werden.“ Was denn dann der Sinn eines Jüdischen Autonomen Oblast sei, frage ich. Der Geologe zieht die Schultern hoch.

Am Morgen gehe ich zur Bibliothek des Ob-last. 120 000 Bücher umfaßt sie, erzählt mir die junge Bibliothekarin, darunter etwa 25 000 in jiddischer Sprache. Ob es auch Neuerscheinungen aus den letzten Jahren darunter gebe. „Doch, doch“, sagt die Leiterin, auch Neuerscheinungen seien darunter. Sie läßt mir ein paar Bände geben. Ich kann zwar nicht hebräisch lesen, aber das Impressum auf der letzten Seite ist wie bei allen sowjetischen Veröffentlichungen in Russisch gedruckt. Die Bücher sind im jüdischen Verlag „Der Emmer“ erschienen, und der Verlag wurde 1948 geschlossen. Die Leiterin der Bibliothek wird etwas ungeduldig. Die Spezialistin für jüdische Literatur sei im Augenblick nicht da, aber es gebe bestimmt Neuerscheinungen. Ich bedanke mich für die Auskunft und blättere in den Karteikästen. Dort würde ich auch nichts finden, da ich ja kein Hebräisch könne, meint die Bibliothekarin. Aber immerhin kann ich die arabischen Ziffern der Erscheinungsjahre lesen. Und in drei Karteikästen findet sich nicht einmal ein Datum nach 1948, Später lese ich in einer russischen Zeitung, demnächst werde einer der Mitarbeiter der Zeitung „Schtern" einen Band mit Berichten über Birobidschan in Russisch und Jiddisch herausbringen. Nach offiziellen Angaben ist 1959 auch eine Jubiläums-Ausgabe der Werke Scholem Alejchem erschienen: Und ich erinnere mich an Ilja Ehren-burgs Behauptung, in der Sowjetunion könnten keine Bücher in jiddischer Sprache mehr erscheinen, weil die Deutschen alle Druckereien mit jiddischen Typen zerstört hätten.

Auf der anderen Straßenseite liegt die größte Buchhandlung des Oblast. Ich frage nach einem Buch in jiddischer Sprache. Die Leiterin der Buchhandlung kommt und bedauert. Leider seien keine solcher Bücher vorrätig, aber es gebe sie. Wenn ich etwas Interessantes zum Lesen suche, könne ich diesen Roman mitnehmen. Ich öffne das Buch, es ist von Heinrich Böll. Ich sage der Leiterin, daß ich selber Deutscher sei und ein jiddisches Buch gern als Souvenir erworben hätte. Ob sie nicht noch einmal nachsehen könne. Aber sie bedauert.

Schließung der Schulen

Im Oblast-Museum schaue ich mir die Kurve an, die über den Stand der Schulen Auskunft gibt. Dann frage ich die Leiterin des Museums, eine gut aussehende junge Jüdin, wieviele der 30 000 Kinder in den 162 Schulen in jiddischer Sprache unterrichtet würden. „Es gibt bei uns keine jüdischen Schulen“, sagte sie. „Die letzten wurden Ende der vierziger Jahre geschlossen. Wissen Sie, es bestand kein Interesse mehr. Die jüdischen Schulen standen leer, die russischen Schulen waren überfüllt, da hat man die jüdischen Schulen geschlossen.“ Ob denn im Jüdischen Autonomen Oblast an den Schulen Jid-disch als Nebenfach existiere, wie in den russischen Schulen Jakutiens etwa Jakutisch gelehrt werde. Die Leiterin des Museums schüttelt den Kopf. „Auch daran besteht kein Interesse ‘ meint sie. Natürlich, ich weiß, daß jeder, der vorwärtskommen will, Russisch können muß, weil an den meisten Universitäten nur in Rus sich gelehrt wird. Aber es ist doch zweifelhaft, ob man bei diesem Stand tatsächlich von einer kulturellen Autonomie im sogenannten Jüdischen Oblast sprechen kann. Und die Zeitungsartikel, die gelegentlich in russischen und ukrainischen Zeitungen Birbidschan als ein schöneres kommunistisches Israel, als eine jüdische Heimstätte in der Sowjetunion darstellen, tun das vielleicht, um den Auswanderungsandrang der jüdischen Bevölkerung zu schwächen. Da man ihnen keine kulturelle Autonomie gewährt, werden die Juden in der Sowjetunion tatsächlich diskriminiert. Denn jedes jüdische Kind findet im Klassenbuch seiner Schule die Bemerkung: „Jude", genau wie bei den anderen Kindern „Russe", „Ukrainer", „Lette", „Usbeke", „Tschetschene“ oder „Aserbeidschane" steht. Und das Wort Jude erscheint auch in den Personalausweisen der Erwachsenen. Aber den andern Nationalitäten wird immerhin eine gewisse Autonomie gewährt. Und das Argument, die Juden lebten ja nicht in geschlossenen Siedlungsgebieten, kann nicht gelten, weil es Birobidschan gibt. Wer von den jüdischen Kindern die hebräische Schrift lernt, wer die jiddischen Schriftsteller lesen kann und etwas von der Geschichte des Judentums weiß, hat es zu Hause, bei den Eltern gelernt. Der Sowjetstaat hat es nicht einmal für zweckmäßig gehalten, daß die jüdische Geschichte wie die anderer Nationen nach kommunistischem Schema umgedeutet wurde. „Doch, es gibt noch junge Leute, die jiddisch sprechen, jedenfalls wenn sie zu Hause sind", sagt die Leiterin des Museums. Kürzlich habe man in der Bibliothek einen Abend veranstaltet, auf dem die Gedichte eines ortsansässigen jiddischen Schriftstellers verlesen und Volkslieder gesungen wurden. Es seien auch jüngere Leute da gewesen.

Aus den Lautsprechern auf den kleinen Plätzen erklingen russische Volkslieder, im Kino laufen russische Filme, der kleine Kulturpark auf einer Flußinsel ist voll von Plakaten und Parolen in russischer Sprache. In seiner Mitte liegt, umgeben von fast unberührtem Wald, ein freier Platz mit Sommerkino und Freilichtbühne. Von allen Seiten schauen die überlebensgroßen Bilder des Parteipräsidiums herab. Was gibt es Besonderes in diesem kleinen Bezirk hinter der Mandschurei, das jüdische Siedler aus der Ukraine hierher locken könnte — in eine Stadt, die man im Ödland so aufgebaut hat, daß sie fast einem Städtchen in der Ukraine gleicht?

Die einzige Synagoge

Nördlich der Eisenbahn, wo die Häuser kleiner werden und Gänse durch die Wasserlachen in den Schlaglöchern watscheln, liegt die Synagoge. Sie war nicht leicht zu finden. Ich hatte die russische Verwalterin im Hotel gefragt, sie hatte nie von einer Synagoge gehört. Die Kellnerinnen im Restaurant kannten sie nicht. Ein alter Zeitungshändler hatte mir die ungefähre Richtung angegeben. Trotzdem lief ich fast an ihr vorbei. Die Synagoge ist ein kleines Blockhaus mit vier Fenstern zur Straßenseite. In hellem, frischen Holz entsteht nach hinten ein Anbau mit drei Fenstern. Ich blicke hinein: Drinnen arbeiten zwei alte Männer mit Säge und Hobel, ein kleiner Junge trägt einen Leimtopf. Der kleine Junge winkt mir durchs Fenster zu und macht einen der alten Männer auf mich aufmerksam. Einer von ihnen kommt heraus, um mit mir zu sprechen. Er hat einen alten schwarzen Anzug an, einen grauen Bart und ein Käppchen auf dem Kopf: Es ist der Rabbiner selber. Er bittet mich, die Synagoge anzuschauen. Er ist froh, daß er das Bethaus vergrößern kann. In den vergangenen Jahren waren die Gläubigen in einem Raum von vier mal vier Meter zusammengekommen, jetzt sollten dreißig Menschen mehr in dem kleinen Anbau Platz finden. Der alte Mann erzählt stockend und schwerfällig, während der kleine Junge meine Kamera untersucht. In den letzten Jahren seien wieder mehr Gläubige gekommen, zumal an den Feiertagen. In den Jahren, als es so schwie-rig war, habe es anders ausgesehen. Ein jüngerer Mann ist dazugekommen. Dies sei nur eine kleine Synagoge, sagt er. Aber kürzlich sei er am Versöhnungsfest in der Moskauer Synagoge gewesen, die sei groß und schön, und die Gläubigen hätten sich darin gedrängt. Vorn am Altar habe der israelische Botschafter gesessen, neben ihm ausländische Diplomaten jüdischen Glaubens, und alle hätten die Gemeindeältesten höflich begrüßt. Ich kenne die große Synagoge, die einzige in Moskau, und ich weiß, daß sie am Vorabend des Versöhnungsfestes ebenso überfüllt ist wie es die orthodoxen Kirchen am Osterfest sind. Die Männer, die sich im großen Synagogenraum versammeln, sind wie Arbeiter gekleidet, wie arme Leute. Sie haben Ballon-mützen auf dem Kopf, nur wenige tragen einen Bart und kaum einer den breitrandigen schwarzen Hut. Von der Galerie der Synagoge schauen die Frauen herab, sie sind nicht so zahlreich wie die Männer. Und die schönen Stimmen eines kleinen Chors erfüllen den großen Raum. Während der Mann in Birobidschan von der großen Synagoge in Moskau erzählt, wissen wir nicht, daß gerade eine kleine Synagoge dicht bei Moskau in dem Dörfchen Molochowka mit Sowjetsternen und Parteiparolen beschmiert wird. Keine Zeitung wird es melden, und als die Synagoge ein halbes Jahr später niedergebrannt wird, bringt das nur eine drei-Zeilen-Notiz in der Moskauer Abendzeitung. Ich weiß nicht, wieviele Synagogen es in der Sowjetunion gibt. Von den Tausenden, die vom Sowjetstaat geschlossen oder von den Deutschen zerstört wurden, scheint nicht eine wiedereröffnet oder wiederaufgebaut worden zu sein. In den meisten kleineren Synagogen fehlt der Rabbiner, aber 1957 wurde es der jüdischen Gemeinde in Moskau erlaubt, eine Gruppe junger Männer zu Rabbinern auszubilden. Im gleichen Jahr durfte sogar zum erstenmal seit dem Kriege ein Gebetbuh er-

scheinen. Aber die Auflage des Gebetbuches und die Zahl der Theologie-Studenten ist klein, und der „Rat für die Angelegenheit religiöser Kulte" ließ wissen, daß mit ähnlichen Genehmigungen sobald nicht zu rechnen sei. Das alles paßt zum Bild der staatlichen Bemühungen, die religiösen Kulte in der Sowjetunion aussterben zu lassen. Aber das geringe M. ß von Toleranz, das man der Orthodoxen Kirche oder dem Islam ent-

gegenbrachte, ist der jüdischen Religion nicht gewährt worden. Daran denke ich, während der Mann in der Synagoge vom Versöhnungsfest in Moskau erzählt und der kleine Junge mit großen Augen zuhört.

Wir treten wieder auf die Straße. Der jüngere Mann zeigt mir einen unvollendeten Steinbau, hundert Meter von der Synagoge entfernt. Dies hätte die neue Synagoge werden sollen. Abei es stehen nur die Wände, sie hat kein Dach und keine Tür und auf den Mauern wächst Unkraut.

„Vielleicht wird sie später einmal verwendet", sagt mein Begleiter.

Während wir auf der Straße stehen, kommt ein älterer Arbeiter vorbei. Er bleibt bei uns stehen und fragt kurz, wer ich sei. Ich stelle mich ihm vor. „Da kommen Sie nun nah Biro-bidshan, und das einzige, was Sie sehen wollen, ist eine Synagoge", sagt der Arbeiter. „Hier gibt es Wihtigeres zu sehen, shauen Sie sich an, was wir aufgebaut haben.“ Der jüngere Mann aus der Synagoge verabschiedet sih. Ih gehe mit dem anderen Mann weiter, er ist Vorarbeiter in der Möbelfabrik. „ 1929, als ih herkam, da war hier gar nihts, überhaupt nihts. Als wir aus dem Waggon sprangen, blieben uns die Galoshen im Morast stecken, daran erinnere ih mih noh wie heute. Damals gab es nur ein paar Holzhäuser, direckt am Bahndamm und dahinter Sumpf. Wissen Sie, wir kamen alle aus der Stadt, da dauerte es lange, bis wir uns an Shaftstiefel gewöhnt hatten. Damals bin ih mit einem Boot die Bira hinab gefahren, ih fuhr als Zimmermann mit. An den ersten Kolhosen, die hier gebaut wurden, habe ih mitgearbeitet. Damals konnten Sie niht einmal zu Pferde hinkommen, heute können Sie mit dem Auto dorthin fahren. Und dann sehen Sie sih einmal an, was unter der Sowjetmacht aus einem Bahnwärterhäushen geworden ist: Birobidshan.“

Fussnoten

Weitere Inhalte