Hans Richert
Einer der engsten Mitarbeiter Beckers, der Leiter der Ministerialabteilung für das höhere Schulwesen in Preußen, Hans Richert, hat diesen Gedanken der nationalen Bildungsund Kultur-einheit vielleicht am konsequentesten verfolgt 112). Die von Bismarck geschaffene Reichs-einheit mußte erst noch geistig und kulturell vollendet werden im Sinne jener umfassenden Synthese der deutschen idealistischen Staats-und Erziehungsphilosophie, der Einheit und gegenseitigen Durchdringung von Macht und Kultur, Volkstum und Staat, Weltbürgertum und Staatsnation, Teilinteresse und Gesamtinteresse, Rationalität und irrationalem Lebensgrund.
Richert kam vom Gymnasium her, ein gebildeter und universaler Kopf mit viel Verständnis für die Zusammenhänge zwischen Kultur, Gesellschaft und Staat. Als Schulmann und Schulpolitiker sah auch er zunächst vor allem die Gefahr der Aufspaltung des Bildungsideals der deutschen Schule, die Tatsache, daß der Pluralismus der Werte und Ideale die Schule in Ge-fahr brachte, zum geistigen, kulturellen, religiösen und kulturpolitischen Kampfplatz zu werden. Die Überwindung diesei tentrifugalen Tendenzen konnte freilich nicht allein von der Schule her möglich werden. Nur eine umfassende geistige Bewegung in allen Gruppen und Schichten des Volkes, eine tiefgreifende Umgestaltung des ganzen Lebens, die Arbeit schließlich an gemeinsamen nationalen Aufgaben und Zielen konnte die bis jetzt unvollendet gebliebene nationale Bildungseinheit schaffen. So galt es mit Schiller, den bisherigen „Notstaat“ des monarchischen Obrigkeitsstaates und der nur äußerlichen Reichseinheit fortzuentwickeln zu einem wirklichen Kulturstaat, zu einem wahren „Staat der Freiheit“
Auch nach 1914 keine „Kultureinheit” in Deutschland
Dieses zentrale geistige und politische Problem der Nation war jedenfalls durch die Niederlage und den Zusammenbruch der Monarchie nur noch dringlicher geworden. Die Hoffnungen des Aufbruchs von 1914, dieses deutschen „Volksfrühlings“, waren ja nicht in Erfüllung gegangen. Aus dem Augusterleben war nicht die innere Einheit des Volkes, nicht der endgültige Sieg der deutschen „Kultureinheit" hervorgegangen
Die Nation kein „Reich Gottes"
„Nur gcuteinsawe Ideale, nur gemeinsame Ideenwelt schaffen die deutsche Nationalbildung“
In welchem Verhältnis stand aber nun der Staat zu Volk, Nation und Vaterland? Er konnte immer nur Hülle, Schutz und Gefäß jenes idealen, sich „unmittelbar zu Gott" befindlichen nationalen Gehalts sein. Und er war vor allem auch in seinen äußeren Formen wandelbar. Wichtiger als die — reaktionäre — Konservierung bestehender politischer Formen schien Richert die Kontinuität und Identität des lebendigen Volks-und Nationalbewußtseins zu sein; jedenfalls war ihm dieses immer die Voraussetzung für die gesunde Entwicklung der staatlichen Formen und Institutionen
Der Staat immer nur Mittel zum Zweck
Aber auch Staat und Kultur kommen in dieser Synthese des nationalen Kuhurstaates erst eigentlich zum Ausgleich
Die kulturpolitischen Konzeptionen Heinrich Richters wie auch des Ministers Carl-Heinrich Becker vermögen wir heute als eine letzte, schon sehr späte Ausprägung der Staatsidee der deutschen idealistischen Philosophie zu begreifen. Noch einmal versuchte sich hier die ordnende und gestaltende Kraft des deutschen Idealismus, bereits im Schatten unseres nationalen Schick-sals der „verspäteten Nation“ und angesichts der heraufkommenden demokratischen Massengesellschaft. Dieses Bildungsideal des auf Bewußtsein, Geist, Gesinnung, Kulturwerte und Persönlichkeit gestellten Kulturstaats war zwar auf einer der kühnsten und konsequentesten denkerischen Leistungen in bezug auf die politische und sittliche Natur des Menschen und in bezug auf das Wesen des Politischen begründet. Es war jedoch unter den Bedingungen des neuen Jahrhunderts wenig geeignet, auch politisch derart zum Integrationszentrum zu werden, zur formenden Mitte einer Nationwerdung und einer nationalen Wiedergeburt, wie seine Verkünder sich dies erhofften. Die geistigen Führer der Nation im Jahrzehnt nach dem ersten Weltkrieg wie Becker, Richert, Kerschensteiner und manche anderen sahen sich nicht nur bald getäuscht in ihrer Hoffnung auf die „Flutwelle demokratischen Empfindens"
Die politische Pädagogik Eduard Sprangers
Neben die neuidealistischen, demokratisch-republikanischen und sozialpädagogisch-humanitären Konzeptionen in der politischen Pädagogik der Weimarer Republik muß dann auch die bei weitem „politischere" Staats-und Erziehungsphilosophie Eduard Sprangers gestellt werden, wenn man ein einigermaßen zutreffendes Bild gewinnen will von der breiten Spannweite des nationalpädagogischen Bildungsgedankens in der Zeit der ersten deutschen Republik.
Auch Spranger kam von der neuhumanistischen Bildungsidee her, die um die Persönlichkeit kreist, und der er 1909 in einer Darstellung von Wilhelm von Humboldts Humanitätsidee seine erste grundlegende Arbeit gewidmet hatte
Demgegenüber betonte Spranger nun: „Heute gewinnen wir das Verständnis für die Kollektivmadtt des Staates zurück, nackdem lange Zeit nur sein Redttsdiarakter oder seine Wohlfaltrts- bedeutung hervorgehoben war.“
Vom Ethos der Kollektivverantwortung
Damit ist aber auch der Staat kein bloßer „Notstaat" mehr, kein bloßer administrativer Mechanismus und schon gar kein verabscheuungswürdiger Moloch. „Machtballung“ und „friedliche Dauerordnung“
Dieses „politisch organisierte Kulturganze''konnte aber nach Sprangers Überzeugung und entsprechend der gegebenen historisch-politischen Bedingungen der Zeit nur der nationale Staat sein. Eine „national bestimmte Allgemeinbildung" sollte deshalb den jungen Menschen „in den nationalen Staat hineinführen", der auch für Spranger „das Gemeinsame über allen sozialen Kampf hinweg“ darstellt
So sah Spranger auf die „athenische" Zeit einer allgemeinen und allseitigen Menschenbildung eine neue, „spartanische“ Zeit folgen
Erziehung zum Volksbewußtsein
Spranger stellte dann die Frage, in welchem Verhältnis Staat und Volkstum zueinander stehen. Im Sinne Hegels war für ihn der Staat in seiner geschichtlichen Tatsächlichkeit das Gefäß der Sittlichkeit. Er wird nicht legitimiert durch „Werte“ außerhalb seiner selbst, durch Wertgebiete und „Ideen" wie „Kultur“ oder „Volk“; von ihnen braucht er seine sittliche Legitimation nicht zu borgen. Andererseits aber war er doch auch nicht denkbar — wenigstens nicht als dauerhaft gegründet und geschichtlich wirksam vorstellbar — ohne ein mit ihm verbundenes Volkstum und dessen geschichtlich-kulturelle Gehalte
Spranger warnte auch vor der Überschätzung des Volkgedankens für die staatsbildenden Kräfte
Hier eben gewinnt der Staat, auch wo er reichen Nutzen ziehen kann aus der volklichen Erneuerungsbewegung seit der Jahrhundertwende, seine besondere Erziehungsaufgabe als „pflichtgebietende Macht“, als „gemeinsame Idee"
Unter den Bedingungen unserer Zeit mußte sich diese staatsbildende Kraft nicht zuletzt in der Welt der modernen Arbeit beweisen und bewähren, wobei unter „Arbeit" nicht nur wirtschaftliche Tätigkeit, sondern „Kulturarbeit“ im weitesten Sinne zu verstehen ist. So fügt sich dem modernen Macht-und Rechtsstaat in seiner geschichtlich gewachsenen preußisch-deutschen Wirklichkeit ein ganz konkret verstandener moderner „Kulturstaat" neuen Typus ein
Damit hat Spranger aber die ganze Spannweite moderner Staatlichkeit in seine Konzeption der politischen Pädagogik ausgenommen. „Politische Volkserziehung“ hat die Bildung des Rechts-und Machtwillens genau so zum Gegenstand wie die Erziehung zu Volks-und Boden-treue und den Willen zu gemeinsamer, in die Zukunft wirkender Kulturarbeit. Steht am An-fang die Erziehung des jungen Menschen zur Ehrfurcht gegenüber dem Staat, so muß aus diesem Beginn die Hingabe an den Staat heraus-wachsen, die — so wenig wie die Ehrfurcht — durch sein Wissen um die Staatsinstitutionen erzeugt und garantiert wird, als vielmehr aus der lebendigen Erkenntnis der sittlichen Bedeutung und Berechtigung des Staates und seines sittlichen Gehalts
Die Erkenntnis und Anerkennung der vollen Realität des Staates setzt freilich eine Reife des Verständnisses und des Charakters voraus, die erst mit zunehmendem Alter zu erwarten ist. Die Schule kann hier nur eine „politische Propädeutik" leisten
Die Vollendung der politischen Erziehung kann freilich erst in der politischen Wirklichkeit selbst geschehen
Und schließlich kann die politische Erziehung nicht verzichten auf ein bestimmtes Maß von historischem Bewußtsein in der Breite des Volkes
Wohlfahrtsethik oder Opferethik?
Für Eduard Spranger spitzt sich die „Welt-entscheidung der Gegenwart“ auf die Alternative „Wohlfahrtsethik“ oder „Opferethik“ zu
Aus der Praxis der politischen Pädagogik in der Weimarer Zeit
Kehren wir aber zunächst einmal von den grundlegenden bildungs-und kulturpolitischen sowie didaktischen Überlegungen der Weimarer Zeit zurück zur Praxis der politischen Erwachsenenbildung in diesem Zeitraum, denn eben hier — in der Erwachsenenpädagogik — bestand ja eines der charakteristischsten Betätigungsfelder dieser nationalen Kulturpädagogik. Es war ihr die Aufgabe gestellt, daran mitzuwirken, daß wir Deutsche „vom politisierten zum politischen Volk“ heranreifen, daß wir durchstoßen aus der „dumpf-triebhaften Schicht“ politischen Denkens und Handelns, Fühlens und Wollens zur „Helle des Bewußtseins“
Adolf Grimme, der Nachfolger C. H. Beckers als preußischer Kultusminister, faßte diesen Leitgedanken zu einer schon sehr späten geschichtlichen Stunde, im Jahre 1932, nochmals folgendermaßen zusammen: „Erst die Verfassung von Weimar hat das deutsdie Volk in allen seinen Gliedern als Träger der politisdien Verantwortung gefordert. Um die Erfüllung dieser Forderung geht der Kampf, den wir durchleben . . . Wir sind Mitkämpfer in dem großen Drama der Auseinandersetzung zweier staatspolitisdier Ideen. Es streiten miteinander der Wille zur Mitverantwortung jedes Einzelnen ant Gesdtick des Staates und deut der Nation und die traditionsgewohnte Bereitsdtaft zunt Verzicht auf diese Mitverantwortung zugunsten eines allein verantwortlichen . Führers“ oder einer Führungsschicht“
Die Reichszentrale für Heimatdienst
Dieser politisch-pädagogischen Zielsetzung diente mit an vorderster Stelle die bereits am 1. März 1918 ins Leben gerufene „Reichszentrale für Heimatdienst". Mit ihrer Gründung waren, noch unter der monarchischen Reichs-führung, erste Folgerungen gezogen worden, „aus der Erkenntnis von dem entscheidenden Einfluß der öffentlidten Meinung auf den Gang der Politik und das Schicksal des Staates wie er gerade im Kriege und in der Nachkriegszeit besonders deutlich geworden war."
Staates durch die „Darstellung ganzer politischer Gebietskomplexe“, und dies alles mit dem Ziel, die politische Qualität des Staatsbürgers im neuen Volksstaat im Blick auf seine ihm neu zugefallene Aufgabe als „Souverän" Schritt für Schritt durch „Bildung“ zu verbessern
Organisatorisch gliederte sie sich in 18 „Landesabteilungen", die eng mit den Regierungen und vor allem den Kultusministerien der Länder zusammenarbeiteten
Strengste Objektivität und parteipolitische Neutralität
Die Tätigkeit der Reichszentrale für Heimat-dienst ging davon aus, daß dem Staatsbürger angesichts seiner „wesentlich erweiterten und gesteigerten Mitwirkung am öffentlichen Leben die objektive Unterrichtung über die Geschehnisse und Zusammenhänge des politischen Lebens zur Vervollkommnung und Vertiefung des politischen Wissens und der politischen Urteils-fähigkeit“ gebühre
Keine Überzeugungskraft der alten Ideale
mit dem „Gedanken der Volksgemeinschaft" dienen
Die didaktischen Besinnungen im Umkreis der Reichszentrale für Heimatdienst wiesen immer wieder darauf hin, daß es vor allem gelte, die „Zerrissenheit und Zersplitterung“ des Volkes zu überwinden, was nur „vom Standpunkt des Staatsganzen aus" möglich sei und niemals als bloße Wissensvermittlung, sondern ebensosehr als Gesinnungsund Charakter-pflege im Sinne von Duldsamkeit, Gemeinsinn, politischem Verständnis sowie „Hingabe des Einzelnen an die Ziele des Großen Ganzen“
Immer wieder stoßen wir dabei auf die Über-zeugung, daß Tugend letztlich aus Einsicht komme, daß sittliches Handeln stets „sinngemäßes Handeln“ sei
In soldien Äußerungen vermögen wir die Grenzen dieses epigonenhaft gewordenen Idealismus deutlich zu erkennen, der keine Verbindung mehr besaß zu der menschlich-politischen Wirklichkeit schlechthin wie zu den po-
litisch-gesellschaftlichen Realitäten der Zeit. Er erkannte immer weniger die Diskrepanz zwi-
schen seinen hohen Idealproklamationen und dieser politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sich eben tatsächlich in einer „vortotalitären", mit revolutionärem Sprengstoff geladenen Situation befand und in deren parteipolitischen Auseinandersetzungen in der Tat — entgegen allen Beteuerungen — die Parteiräson eklatant vor die Staatsräson gesetzt wurde
In einer reichlich flachen und lebensfremden Vorstellung von politischer „Vernunft“ und „Bildung" wurde die „Entsachlichung der politischen Diskussion", etwa durch die modernen Massenmedien, wurde die „Demagogie politischer Behauptungen", die „Verdrängung kritischer Antriebe“ zwar beklagt
Die Erwachsenenbildung
Eine ganz ähnliche Problematik, ja, man wird vielleicht sagen dürfen Tragik, kennzeichnet im übrigen auch die Tätigkeit der Erwachsenenbildung der Weimarer Zeit. Werner Picht hat in einem sehr lesenswerten Buch ihre Geschichte im einzelnen umfassend und tiefdringend geschildert
Die, wie Picht sie nennt, „vorkritische“ Periode der deutschen Erwachsenenbildung
Schon vor 1914 geriet freilich diese „verbreitende“, extensive Volksbildungsarbeit in die Krise. Ihre bedeutendsten Köpfe wie Robert von Erdberg und Walter Hoffmann, der Gründer des deutschen Volksbüchereiwesens, führten sie langsam auf neue Wege und begannen damit den zweiten Abschnitt der sogenannten „gestaltenden“, intensiven Periode der deutschen Erwachsenenbildung.
Diese „neue Richtung“ der gestaltenden Volksbildung stand bereits im Zeichen der um die Jahrhundertwende begonnenen Kulturkritik und Jugendbewegung
mistisch-individualistischen Bildungs-und Kulturausbreitung sollte „Volksbildung“ werden, daß heißt ein neuer Zusammenhang von Überzeugungen und Sitten sollte langsam emporwachsen durch „Laienbildung“
Das „volksbürgerliche" Erziehungsideal
Welche Antriebe und Überlegungen lagen nun dieser neuen Phase der Volksbildung zugrunde? Ein geschichtlicher Überblick muß in diesem Zusammenhang auch von den volksbürgerlichen Erziehungsidealen in der Zeit der Weimarer Republik sprechen. Beide Erziehungsideale dieser Zeit, sowohl das staatsbürgerlich-republikanische Ideal der Erziehung zum Kultur-, Rechts-und Verfassungsstaat wie dieses aus der Jugendbewegung kommende Ideal der volksbürgerlichen Erziehung sind ohne die vorausgegangene Erschütterung der überlieferten preußisch-deutschen Staatlichkeit nicht zu verstehen. Versuchte das eine an die deutsche Kulturstaatstradition der idealistischen Philosophie und der Goethezeit anzuknüpfen, an Wilhelm von Humboldt und Schiller, so erwuchs der Volksgedanke der Jugendbewegung aus der Neu-romantik der Jahrhundertwende mit ihrer Wendung zum „Volksgeist“. Auch diese Jugendbewegung war ein Protest gegen den alten monarchischen Obrigkeitsstaat, genauso wie etwa der politisch-gesellschaftliche Protest der Arbeiterschaft, ein Protest, der freilich zunächst nicht mit politischen Mitteln ausgetragen wurde, sondern als geistig-kulturelle Sezession aus der Welt der Väter erfolgte. Angesichts der Entartungen und Veräußerlichungen der wilhelminischen Ära wurde der bestehende Staat auch von dieser vorwiegend bürgerlichen Jugend keineswegs mehr als eine fraglos zu bejahende Angelegenheit betrachtet, sondern als eine lebens-feindliche, gemeinschaftszerstörende, entseelte, mechanische Konstruktion
So sucht man in der Betroffenheit des neuen glaubenslosen Zeitalters der Massen, der In-dustrie und der Technik, kurz, inmitten der tief-greifenden geistigen und gesellschaftlichen Um-brüche des beginnenden 20. Jahrhunderts, nach neuen Werttafeln und insbesondere nach neuer Gemeinschaft neben dem bestehenden Staat und neben der vorhandenen, tiefkranken Gesellschaft im „Bund": „Die Insel des Bundes“ sollte zur Erneuerungszelle werden. Sie stand unter dem freien, die herkömmlichen sozialen Schranken sprengenden Gebot der Meißnerformel. Das Fernziel war der „Volksbürger“ in einer neuen „Volksgemeinschaft“, die nicht mehr die Trennungen von „Kaste und Geld“ kennt
Wilhelm Stapel
Auf diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund ist das volksbürgerliche Erziehungsideal zu sehen, denn ohne die Jugendbewegung ist es nicht zu verstehen. Wilhelm Stapel, der selbst aus der Jugendbewegung hervorgegangen ist, hat es in seiner gleichnamigen Schrift zu umreißen versucht
Stapel stellte mit Fichte die Frage „Was ein Volk sei?“ und beantwortete sie durch die Unterscheidung von „Geist“ und „Seele“
Diese Kristallstruktur im sozialen Leben aber besitzt nur das Volk. Es ist ein Stück „irdischer Ewigkeit“, es stellt sich dar in der Kette der Geschlechter
Stapel sieht jedoch durchaus die Gefahren, die einer solchen organologischen Betrachtungsweise der geschichtlich-gesellschaftlichen Gebilde drohen. Der Mensch tritt aber aus dem „Artleben“ heraus durch seinen auswählenden Willen, durch die . Herrscherkraft seiner Person". Seine sittliche Unterscheidungsfähigkeit und Verantwortlichkeit hebt ihn ab von den anderen Lebewesen
Der Staat ist gegenüber der „Lebensgemeinschaft“ des Volkes nur eine „Arbeitsgemein-schaft“
Abgrenzung zwischen „Volkheit” und „Menschheit"
Allein das Volkstum kann also Ausgangspunkt und Grundlage aller Erziehung sein. Erziehungsziel aber ist die „Volkheit“, wie Stapel, ebenfalls mit Fichte, sagt
Entsprechend der Tradition der fichteschen und romantischen Volksgeistlehre versucht Stapel eine Abgrenzung zwischen „Volkheit“ und „Menschheit“
Ist also die Menschheit immer ein ungeschichtliches Abstraktum, so zieht Stapel jedoch die sittliche Bedeutung der Humanität und ihr Verhältnis zum Volkstum nicht in Zweifel
Humanität ist für ihn zwar nicht „Menschheit-lichkeit" im Sinne des westlich-naturrechtlichen Gleichheitsbegriffs, jedoch die unüberhörbare. Forderung der „Menschlichkeit", die sich aber stets zunächst und vor allem im Volkstum konkretisiert. Während der Wille zur Menschheit bestenfalls ein „technischer“, aber kein „moralischer“ Wille ist, sind andererseits Gottesliebe und Volksliebe immer aufeinander bezogen. Denn Volk ist ein von Gott gesetzter und gewollter Wert, ist die Voraussetzung aller Ratio, nur „erlebbar“, aber nicht logisch beweisbar, die Quelle allen geistigen und kulturellen Lebens.
Stapels Volksbegriff ist somit ein Kernstück seiner an der deutschen Romantik und an Fichte orientierten christlich-idealistischen Metaphysik: „Jede Auflösung überindividueller natürlicher Gebilde“ (wie etwa des Volkes) geht auf Gott-entfremdung zurück. Gottfremdheit aber bedeutet „Aufgehen in den Dingen dieser Welt“
Keine Agitation für den Staat
So kommt Stapel zu dem Ergebnis, daß für die politische Erziehung und Bildung keine „Agitation“ für den Staat, weder in seiner nationalstaatlich konservativen, noch in seiner nationaldemokratischen Form in Betracht kommen kann
Eben dazu will Stapel in seinen vier Lehrgängen der volksbürgerlichen Erziehung einen Beitrag geben
Erst der dritte Lehrgang hat es als „Lehrgang der Weltanschauung" mit dem geistig-geschichtlichen Kanon des volksbürgerlichen Lebens zu tun,
Stapel ist der Überzeugung, daß in solcher „ganzheitlicher“ volksbürgerlicher Erziehung alles getan ist, was Erziehung überhaupt tun kann, einschließlich der Erziehung des Willens, der Erziehung zur Sittlichkeit und vor allem auch einschließlich der Volksverantwortung des Einzelnen. Die Gewinnung eines seelisch-geistigen Mittelpunktes ist ihm wichtiger als der Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten. Dieser Mittelpunkt aber kann für Stapel nur der lebendige „Volksgeist“ sein.
An Stapels volksbürgerlichem Erziehungideal wird nicht zuletzt auch deutlich, wie überdehnt und überbeansprucht eine Bildungsidee werden mußte, wenn einmal die gewachsenen Ordnungen zerfallen sind und wenn der Versuch unternommen wird, die Welt der Technik und Indu-striewirtschaft mit einem bildungs-und kulturpolitischen Programm zu ordnen, anstatt etwas vertrauender auf die Ordnungs-und Binde-kräfte zu achten, die auch in dieser neuen, noch so ungewohnten Welt vorhanden sind, so sicher das Menschliche noch nicht untergegangen ist und noch eine Verheißung hat.
Auf ein Letztes schließlich hat schon Friedrich Oetinger hingewiesen: daß es nämlich Stapels volksbürgerlichem Ideal nicht gelungen ist, die Hypertrophie des „Staatsbürgerlichen“ in der Weimarer Zeit einzudämmen, „dem Staat zu nehmen, was ihm nun einmal nicht zukommt.“
Menschenformung und Typenzucht
Geschichtliche Kontinuität und Nationalsozialismus
Wer sich heute Gedanken und Sorgen macht über die Lage der politischen Pädagogik in Deutschland, der muß sich vor allem die Tatsache vergegenwärtigen, daß der von Bismarck geschaffene gesamtdeutsche Staat kaum 75 Jahre Bestand gehabt hat. In dieser kurzen geschichtlichen Zeitspanne erlebten wir zudem drei voneinander völlig verschiedene Leitbilder staatlicher Gestaltung und politischer Willensbildung: den monarchischen Obrigkeitsstaat mit dem „demokratischen Zusatz“ des allgemeinen Wahlrechts
Wenn wir uns nun dieser dritten Etappe in der neueren deutschen Geistes-und Erziehungsgeschichte zuwenden, dann steht auch hier unsere Entwicklungsskizze der politischen Pädagogik unter der Frage nach der Kontinuität des deutschen Volksschicksals im 20. Jahrhundert. Gerade auch die Ära der sogenannten nationalpolitischen Erziehung in der Zeit des Nationalsozialismus können wir bei dem Versuch einer Standortbestimmung der gegenwärtigen Lage und Aufgabe politischer Pädagogik keineswegs ausklammern, nicht nur, weil sie uns Möglichkeiten einer schauerlichen Verirrung in der Auffassung vom Wesen des Menschen, seiner politischen Gemeinschaft und seiner Erziehung in unserer Zeit enthüllt, sondern zugleich auch deshalb, weil sie uns den Umfang der vor sich gegangenen geistig-politischen Zerstörung deutlich werden läßt, die unser heutiges Tun so überaus schwer belastet und die Notwendigkeit einer radikalen Grundlagenbesinnung unumgänglich macht.
Es hieße sich die Dinge zu leicht machen, wollte man die Erscheinung des Nationalsozialismus in unserer Geschichte als einen mehr oder weniger vermeidbaren Zufall deuten, als einen „Betriebsunfall" gleichsam unseres Verfassungslebens, verursacht durch eine Reihe klar angebbarer geschichtlicher, politischer, gesellschaftlicher und geistiger Gründe, durch „personelles Versagen“ leitender Staatsmänner der ersten deutschen Republik etc. Mit einer populären „hegelianischen“ Deutung, wonach die Geschichte verlaufe im Zeichen eines ständigen Fortschritts hin zu immer mehr Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie (zumal im 20. Jahrhundert, das durch den hohen Ausbildungsstand seiner die technische und industrielle Welt tragenden Massen gekennzeichnet wird), kommen wir dem Phänomen des Nationalsozialismus nicht bei. Denn er müßte dann lediglich als eine reichlich unliebsame und unverständliche zeitweiligelinterbrechung dieser Aufstiegs-linie erscheinen, erklärbar aus einer „Verschwörung“ einer kleinen Minderheit von Asozialen und politischen Verbrechern, der die anständigen, friedfertigen, fleißigen, arbeitsamen und freiheitsliebenden Massen unseres Volkes zum Opfer gefallen waren wie eine von Raubtieren überfallene Lämmerherde.
Es wird hier sehr schnell deutlich, daß eine solche Auffassung dem Phänomen des modernen neuheidnischen Totalitarismus inmitten der in-dustriellen Massengesellschaft unseres Jahrhunderts nicht gerecht zu werden vermag. Ein solcher Blick vermöchte nicht bis zu den Tiefen der Erschütterungen unserer Zeit durchzudringen. Seinem vordergründig moralisierenden Urteil müßten weite Bereiche unserer jüngsten Geschichte einfach unerreichbar oder doch wenigstens unerklärlich bleiben. Wer es sich zu leicht macht mit der Deutung des Nationalsozialismus, indem er ihn aus der Kontinuität unserer Geschichte zu verbannen versucht oder ihn allein vordergründig mit selbstgerechtem Moralismus abtut, der wird der politischen Verantwortung nicht gerecht, die doch vor allem darin bestehen muß, das nationalsozialistische Gift in seinen Tiefen aufzusuchen, in seine letzten Entstehungsgründe hinein zu verfolgen und in allen seinen Verkleidungsmöglichkeiten zu erkennen. Man fürchte nicht, daß dadurch unser geistiges und öffentliches Leben wieder zu einer einzigen Hexenjagd entartet und erneut das berüchtigte Suchen und Graben nach den angeblichen „Wurzeln“ des Nationalsozialismus in unserer Geschichte beginnt
Tendenzen in der deutschen Geschichte
Niemand kann leugnen, daß der Nationalsozialismus nicht „voraussetzungslos“ in die deutsche Geschichte eingetreten ist, sondern daß schon lange vor seinem eruptiven und katastrophalen Erscheinen Wege und Tendenzen in unserer Geschichte angelegt waren, die eines Tages auf ihn hinführen konnten. Eben dies machte es ihm ja verhältnismäßig leicht, unter der Tarnkappe der nationalen Kontinuität und Tradition und mit dem Anspruch auf die Verwirklichung legitimer Tendenzen der deutschen geschichtlichen Entwicklung sich in unser geschichtliches Leben einzuschleichen. Wir sind heute leicht geneigt, in der Lage dessen, der als der Klügere „vom Rathaus kommt", darüber zu urteilen, daß man doch viel früher die „wahren Absichten“ der Nationalsozialisten hätte erkennen und bekämpfen müssen. Wir machen uns viel zu wenig klar, daß auch der Nationalsozialismus (und auch die Erscheinung Hitlers) nicht von Anfang an als jener eindeutige, gleichsam „monolithische“ Block in unsere Geschichte eingetreten ist, als welchen ihn eine rückschauende Betrachtung erkennt
Auch er hat — besonders, seitdem er die Macht in Deutschland „ergriffen" hatte — seine Entwicklung gehabt, deren innere Gesetze und Dynamik freilich nicht so ohne weiteres zu durchschauen waren, jedenfalls nicht für ein Volk mit so gering entwickelten politischen Instinkten wie dem deutschen. So konnte es den Nationalsozialisten gelingen, sich dem deutschen —------------
Volk als die Erfüllung seiner alten Sehnsucht nach nationaler und sozialer Einheit und nach neuer innerer Gemeinschaft zu empfehlen
Erwartungen verknüpft war, wird man das befreite und erlöste Aufatmen verstehen können, mit dem nicht wenige deutsche Lehrer und ein Großteil gerade auch der akademischen Schicht die Machtübernahme der Nationalsozialisten begrüßten.
Es ging, gerade für die politische Bildung und Erziehung, immer noch um die Vollendung der „Nationwerdung“ der Deutschen. Das Ziel der nationalen Kultur-und Bildungseinheit war ja, wie wir gesehen haben, das zentrale Thema gerade der Weimarer Kultur-und Schulpolitik gewesen, das innerste Anliegen der Männer wie Becker, Richert, Spranger, Litt und anderen. In der Folge des „Kriegserlebnisses“ war neben den neuhumanistischen und neuidealistischen Bildungsgedanken bereits ein neuer, härterer, nicht mehr liberal-individualistischer, sondern „politischer" Staats-und Bildungsbegriff getreten. Die Hegel-und Fichte-Renaissance seit dem Ende des Krieges hatte bereits weithin das Erbe Schillers und Wilhelm von Humboldts zurüde-gedrängt. Nicht nur in der „volksbürgerlichen" Erziehung war der Angriff gegen den „Etatismus" der staatsbürgerlichen Erziehung der Republik eröffnet worden, indem hier Begriffe wie „Volk" und „Reich“ gegen den nationalliberalen und nationaldemokratischen Staatsgedanken ausgespielt wurden. Daneben traten die zum Teil aus der Jugendbewegung und der sogenannten „konservativen Revolution“ kommenden universalistischen Gedankengänge eines Othmar Spann und anderer, die im Staat wieder Gebilde des „objektiven Geistes“, Organismen höherer Ordnung und eigener sittlicher Rechtfertigung erblickten, denen sich der Einzelne „gliedhaft" einzuordnen hatte. Der Kampf mit dem Geistesgut der Aufklärung und mit dem individualistischen „auflösenden“ Liberalismus in Deutschland schien zum Ausgang der zwanziger Jahre in seine letzte Phase getreten zu sein. Die geistigen Wirkungen der Moeller van den Bruck, Oswald Spengler und vieler anderer waren unübersehbar
Bei einem Mann wie Ernst Krieck, dem wohl bedeutsamsten Theoretiker der nationalsozialistischen Pädagogik, wird die Gegnerschaft sowohl gegenüber dem monarchisch-konservativen Staat von „Thron und Altar“ wie gegenüber dem großbürgerlich-liberalen Bildungsbürgertum besonders deutlich. Nicht zufällig kam Krieck aus der süddeutschen Volksschullehrerschaft, in welcher die Rebellion gegen die überkommenen Gesellschafts-und Erziehungsmächte überhaupt vielleicht am stärksten war. Hier hatte früh die antiwilhelminische Kritik der Nietzsche, Lagarde und Langbehn ihre Wirkung getan. Hier war noch aus dem Jahre 1848 „schwarzrotgoldener“, republikanischer und sozialistischer Geist lebendig geblieben. Hier wurde wohl auch das Unvermögen der Republik zur geistigen und gesellschaftlichen Integration der deutschen Gesellschaft am das Kriegserlebnis und die „Kriegspädagogik“, nicht zuletzt jener Fichte der Nationalerziehung, ihre Wirkung getan. Das politische und gesellschaftliche Interesse war in diesen Kreisen immer stark geblieben. Es drückte sich kulturpolitisch in Unkirchlichkeit, wenn nicht Antikirchlichkeit aus, war kulturell zentralistisch und national gestimmt und berief sich auf das Erbe der Goethezeit mit seiner idealistischen Kultur-und Bildungsreligion. Die Einflüsse der volks-bürgerlichen Erziehung wie überhaupt des hündischen Gemeinschaftsund Erziehungsgedankens kamen ebenso hinzu wie der hochgespannte Universalismus Spanns und die geistig-politische Eschatologie vom „Dritten Reich" eines Moeller van den Bruck.
Von der Nationalpädagogik zur nationalpolitischen Erziehung
Mit welchen aus der Enttäuschung an der Republik stammenden Erwartungen der „Umbruch“ des Jahres 1933 im Raum der Erziehung, und gerade auch im Blick auf die politische Bildung und Erziehung, begrüßt wurde, zeigt das eben in diesem Jahr bei der Hanseatischen Verlagsanstalt erschienene Buch von Gerhardt Giese „Staat und Erziehung — Grundzüge einer politischen Pädagogik und Schulpolitik", das für unseren Zusammenhang den Wert einer Quelle von Rang besitzt. Giese kam — wie Krieck — aus der Lehrerbildung, in der sich die National-pädagogik der Weimarer Republik einen, auch institutionell, beachtlichen Ausdruck geschaffen hatte. Er gehörte den jungnationalen Kreisen um Stapels Fichte-Hochschule in Hamburg an und war als Angehöriger der Jugendbewegung und der Frontgeneration schon 1919 auf dem Lauenstein dabei gewesen, als sich die hündische Jugend ihres Weges nach dem Krieg vergewisserte. Die volksbürgerliche Erziehung, die sich als neue „politische“ Nationalerziehung unter den „großen, dem Menschenleben sinngebenden Wirklichkeiten“ von „Heimat, Volk, Staat und Gott“ verstand, hatte ihre tiefen Wirkungen hinterlassen
Die Ursache für die Staatskrise der Weimarer Republik erblickte auch Giese in deren Unvermögen, „die Einheit des Willens und die ständige Integration, die wir als das Wesen des Staates erkannten“, zu gewährleisten, also „die Einheit des geistigen Willens und der Wertgemeinschaft, die den Staat im tiefsten begründet.“
Giese kommt dann auf die Auswirkungen dieses Pluralismus, auf die deutsche Bildungspolitik zu sprechen, wo sich — bis hinein in die Personalpolitik — „die Schwankungen und Unsachlichkeiten" einer solchen Art von politischer Willensbildung ganz besonders schwerwiegend auswirkten
Wie konnte man in dieser Lage, so fragte Giese weiter, zu Staatsgesinnung und staatlicher Bindung erziehen? Wie wollte man vor allem Schule und Jugend für den neuen republikanischen Staat innerlich gewinnen? Man machte die Staatsbürgerkunde, die staatbürgerliche Belehrung zu dem „demokratischen Lehrfach“ schlechthin, „mit dessen Durchsetzung und Erteilung die Demokratie steht und fällt“. So hatte es Paul Rühlmann, der unentwegte Vorkämpfer für staatsbürgerlicren Unterricht, formuliert, um dann fortzufahren: „Was für die autokratisch geleiteten Staaten die Staatskirche und der Religionsunterricht war, das ist für alle echten Demokratien der bürgerkundliche Unterricht: er soll die ethischen Massenanschauungen als Staatsgrundlage entwickeln, ohne die auch der freieste demokratische Staat nicht leben kann.“
Mit Recht wies Giese demgegenüber auf den Mangel an politischer und pädagogischer Psychologie hin, wie sie etwa in der Verfassungsbestimmung zutage trat, wonach jeder Schüler bei Beendigung der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung erhielt als „Abschluß und Symbol der durch die Schule vermittelten Staatsbürgerbildung“. Wie matt und kraftlos waren doch einerseits die Formeln von der „Erziehung zur Staatsgesinnung“ und zur „positiven Arbeit am Staat“ angesichts der realen politischen, geistigen und gesellschaftlichen Gegensätze in diesem Volk. Und wie groß war andererseits die Gefahr, daß die „Erziehung zur Republik" und zu „republikanischer Gesinnung" in einer Atmosphäre des Gesinnungszwanges, „republikanischer Treibhausluft“ geschah, die, wie Willy Hellpach warnend sagte, „bei jungen Menschen meist das Gegenteil und jedenfalls keine Innerlichkeit der Gesinnung“ erreichte
Politische Erziehung im totalen Staat"
In scharfer Antithese zu dieser „republikanischen Erziehung im Geist von Weimar“ arbeitete Giese die neue „politische Erziehung im totalen Staat“ heraus. Es gilt zunächst einmal, so sagt er unter Verwendung von Sprangers Typologie, den politischen Menschentyp zu finden und zu bilden. Gesinnungen und Willens-richtungen lassen sich nicht durch Herbartsche Gedankenkreise erzeugen. Es geht in der politischen Bildung auch nicht um die Einimpfung von Ansichten und Überzeugungen, sondern zentral um die Weckung des «Willens z"" Staat". Sie ist nur einem Erzieher möglich, der selbst ein Organ für das Politische hat, ein politischer Mensch ist. Es geht auch nicht um bloße Begeisterung und vaterländisches Hochgefühl. Politische Erziehung ist überhaupt weniger eine Gefühlssache, sondern zunächst, so sagt Giese mit Spranger, „die Disziplinierung des ganzen Mensdten“, die Bildung seines Staatsethos und Jie Erziehung zum Dienst
Politische Bildung und Erziehung hat es also vor allem mit der Heranführung der Jugend an die objektive Macht und Sittlichkeit des Staates zu tun. Sie ist deshalb ohne Selbstbeschränkung und Opfer nicht möglich und geschieht im Geist des Goetheworts: „Mache ein Organ aus Dir“. Da der Staat hier in der Nachfolge Hegels ein Ausdruck des objektiven Geistes ist, kann er nach Gieses Überzeugung wesensmäßig nicht totalitär werden. Denn seine Begrenzung erfährt er durch die Hierarchie der Schöpfungsordnungen und durch das Reich Gottes, zu dem nur der Einzelne berufen sein kann: Die „Freiheit eines Christenmenschen“ ist es, aus der der Staat nach dieser protestantisch-hegelianischen Über-zeugung eine sicherere Begrenzung erfährt als durch alle aus dem Naturrecht der Aufklärung kommenden liberal-individualistischen Konstruktionen des Verfassungsrechts
Dieser Staat baut sich, so sagt Giese unter Verwendung der Integrationslehre Rudolf Smends, in einem geistigen und sittlichen Integrationsvorgang „aus und in den Einzelnen auf'. Soll er nicht ein toter Mechanismus bleiben, so benötigt er einen „inneren Hintergrund“ in den Seelen seiner Bürger. Eben dieser „innere Staat", diese Hereinnahme des objektiven Geistes staatlichen Wesens in den Willen des Einzelnen, ist nicht nur die Garantie gegen die Entartung des Staates zum „despotischenMachtstaat". Die Bildung dieses „unsichtbaren Staates“ in den Herzen und im Willen der Bürger, die Bildung solcher „Staatsgesinnung“, die Ausdruck der Ordnungen und des Willens des objektiven Geistes selbst ist, ist auch gerade der Auftrag und das Ziel der politischen Pädagogik. Solche Staatsgesinnung ist durch ihre Teilnahme am objektiven Geist in der Gestalt des objektivierten Sinngebildes des Staates aber auch etwas grundsätzlich anderes als eine „Meinung“ über den Staat, als eine unter vielen möglichen »Staatsauffassungen“. Sie steht selbst in den Ordnungen des objektiven Geistes wie der Staatsgedanke, dem sie dient
Es ist deutlich, daß dort, wo Giese in diesem hegelianischen Sinn vom „totalen“ Staat spricht, noch nicht der totalitäre Staat der Nationalsozialisten gemeint sein kann. Der Staat ist für Giese zwar „total“ als die Einheit des allgemeinen und des besonderen individuellen Willens, als „das übergreifende Ganze", als „Scfticksah-, Arbeits-und Kampfgemeinsdiaft des deut^dten Volkes“
Den Begriff der politischen Totalität dieses Staates umreißt Giese dabei folgendermaßen: „Dieser Staat ist wieder das Ganze, ist allumfassend, . total“, weil er seiner Souveränität be- wußt geworden ist und als Gestalt und Macht gewordener Wille des Volkes nichts Irdisches als politisch gleidtgültig und . neutral“ aus seinem Hoheitsbereich entläßt. In dieser Not-und Kampfzeit unseres Volkes gibt es wie im Kriege keinen Lebenskreis und keine menschlidte Tätigkeit, die nicht irgendwie wesentlich für das Gesamtwohl staatsbezogen und damit politisch wäre. Abgesehen von der im Ewigen begründeten . Freiheit eines Christenmenschen'und dem innerpersönlichen Bereich, wo auch der totale Staat nodt seine Grenze findet, gibt es heute keinen Bezirk des Lebens mehr, in dem es uns vergönnt wäre, nur Privatleute zu sein.“
Staatspolitische Volksbildung durch die Schule
In diesem staatlichen Rahmen, und nur in ihm, wo der Staat „die Verkörperung des Willens eines Volkes zur geistigen Selbsterhaltung“ darstellt, eine „Willens-und Wertgemeinschaft“ ist, vollzieht sich nun die „staatspolitische Volksbildung". Sie ist natürlich auch für Giese besonders eine Aufgabe der Schule als „staatliche Anstalt“. In der Schule und ihrem täglichen Leben geschieht die immanente Erziehung zu Autorität und Disziplin; hier wird zu allererst der Weg betreten vom Haus zur Welt, von der Familie zum Staat, jener Weg, der für den Hegelianer Giese, in Umformung der Erziehungsgedanken Pestalozzis, das Wesen der Erziehung darstellt. Als Arbeitsgemeinschaft erzieht die Schule immer schon — hier knüpft Giese deutlich an Kerschensteiner an — zum Dienst in und an der Gemeinschaft: „Da wird für den Staat erzogen, wo gemeinsame Arbeit als , Dienst“ getan und erlebt wird “. Der Lehrer ist in dieser Schule nicht nur Anwalt des Kindes, als welchen ihn die autonome und liberale Pädagogik allein gesehen hatte, sondern zugleich auch immer „Diener des Staates". Der Staat macht sein hoheitliches Recht in seiner Schule aber auch dadurch geltend, daß er durch den Lehrplan bestimmt, „was von der gemeinsamen Kultur an das Iterwadtsende GesMedrt vermittelt werden mufl“. Er wirkt somit gerade auch als Staat geistig und kulturell integrierend; das Recht dazu leitet er aber unmittelbar aus der Tatsache ab, daß er eine sittliche Manifestation des objektiven Geistes ist
Auch Giese kennt kein besonderes Unterrichtsfach „politische Bildung" oder „Staatsbürgerkunde". Vielmehr ist für ihn der Geschichtsunterricht das eigentlich politische Fach, weil hier vor allem das historische Bewußtsein der Nation als Volk und Staat gebildet und gepflegt wird. Dabei kommt der geisteswissenschaftliche Standort des Verfassers besonders deutlich zum Ausdruck: Giese spricht von der Pflege des geschichtlichen Sinnes und des historischen Verständnisses als einer eigentümlichen geistigen Haltung, die um die geschichtliche Bedingtheit der Gegenwart weiß und damit zugleich um die Verantwortung vor Ahnen und Enkeln, wodurch jedes geschichtlich-politische Handeln zum Wagnis in der Verantwortung vor der Zukunft des Volkes und Staates wird, damit aber zu einem „politischen" Handeln
Entsprechend seinem „totalen" Staats-und politischen Bildungsbegriff, der den „politisdten Menschen“ zum Ziel hat, „der im Dienst für Volk und Staat, in der unbedingten Hingabe und Verantwortung dem Ganzen gegenüber den hödtsten Sinn seines irdischen Daseins erfaßt und erst aus dieser politisdien, d. h. stets auf das Ganze bezogenen Verpflidttung auch seine sonstige wissenschaftliche oder künstlerische oder wirtschaftliche Arbeit leistet als Dienst an der Nation“
Wir haben deshalb bei Giese etwas ausführlicher verweilt, weil sein Buch besonders kennzeichnend erscheint für einen Standort der politischen Pädagogik, wie er damals weithin in Deutschland am Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft geteilt wurde, wenigstens auf der national-konservativen Rechten, aber auch bis weit hinein in die nationalliberale und nationaldemokratische bürgerliche Bildungsschicht, auf die Jugendbewegung und Kriegserlebnis ihre Einflüsse ausgeübt hatten. Wir sehen hier den Übergangs-und Umschlagspunkt der „Nationalpädagogik“ der Weimarer Zeit zur neuen „nationalpolitischen" Erziehung, deren Begriff hier zwar noch staatlich-konservativ und hegelianisch-freiheitlich interpretiert wird im Sinne eines christlich-preußischen „nationalen Sozialismus“, wo sich aber dem rückschauenden Betrachter zugleich auch schon deutlich genug die Gefahren einer solchen christlich-idealistischen Synthese (besonders im protestantischen Bereich) abzeichnen. Der nationale und liberale Kultur-und Machtstaat hegelianischer Prägung ist zwar nicht ein „Vorläufer“ und „Ahnherr“ des totalitären völkischen Gesamtstaates der Nationalsozialisten, wie es eine vereinfachende Deutung nach 1945 nicht selten behauptete. Tatsache bleibt dennoch, daß dieser liberal-idealistische Kultur-und Machtstaat dem nationalsozialistischen völkisch-rassischen Staatskollektiv die Tore weit aufmachte, so weit, daß er von diesem, unversehens und für seine eigenen Vertreter überraschend, auf kaltem Wege unterwandert und schließlich eingenommen werden konnte. Der „totale“ und doch noch freiheitlich (nämlich aus den Grundvoraussetzungen der Hegeischen Philosophie) konzipierte Staatsbegriff suchte den Weg zwischen Scylla und Cha-rybdis, zwischen dem trostlosen Bild einer pluralistischen Aufspaltung der Nation in der Republik und dem neuheidnischen völkischen Kollektiv der Nationalsozialisten. Er hat diesen Weg nicht erfolgreich behaupten können und wurde von der — nicht zuletzt machttechnisch bedingten — Dynamik der eigentlichen nationalsozialistischen Pädagogik überrollt. Auch in der Zeitgeschichte der deutschen Pädagogik kamen die Versuche des „dritten Weges“, wie auf so manchem anderen Gebiet, nicht zum Erfolg.
Gefährlicher Rückgriff auf das Staatsbild des deutschen Idealismus
Was bei Spranger noch rechtsstaatlicher Kultur-und Machtstaat im Sinne Hegels war, verschob sich bei Giese bereits durch den Einzug deutlicher theologischer Anliegen und bündisch-volkhafter Elemente zu einem Begriff vom „totalen Staat“, durch den der geistige Pluralismus der Nation überwunden und die geistig-gesellschaftliche Unordnung in der Wurzel behoben werden sollte. Mochten die Vorwürfe, die hier gegenüber der republikanischen Nationalpädagogik erhoben wurden, alle zu Recht bestehen, so muß doch andererseits auch der Optimismus überraschen, mit dem hier durch den theoretischen Rüdegriff auf das Staatsbild des deutschen Idealismus die konkrete pluralistische Aufspaltung der deutschen Gesellschaft überwuwden werden sollte. Man erkannte nicht, daß die Beschwörung Hegels der reichlich formalistische Versuch war, diese realen gesellschaftlich-geistigen Antagonismen im deutschen Volk einfach wegzudekretieren. In diesem Dekret mußte denn aber auch schließlich ein Adolf Hitler zum „Beauftragten des Weltgeistes“ werden, womit erst recht eigentlich die Tragik dieses letzten hegelianischen Versuchs beginnt.
Noch konnte in Deutschland niemand wissen, wie sehr der Nationalsozialismus und seine Führer Meister darin waren, alle geistigen Gehalte der deutschen Nationalgeschichte für sich zu instrumentalisieren, nötigenfalls auch das Staats-bild Hegels, mit dessen Begriffen sich so herrlich die eigenen Herrschaftsabsichten beschreiben und rechtfertigen ließen. Noch war auch nicht zu erkennen, daß nicht „der Herren eigener Geist“, sondern allein der Wille des Führers den einmal in die Debatte geworfenen Begriff des „totalen Staates" interpretierte. Was aber für Pädagogen und Christen hätte freilich zu erkennen sein müssen, war die Wahrheit, daß eine desintegrierte Gesellschaft nicht vom Staat her gesunden kann, sondern allein aus den Grundzellen personalen und gemeinschaftlichen Lebens. Hier war die bündische Bewegung grundsätzlich auf dem richtigen Weg gewesen, bis sie selbst — ungeduldig geworden — ihre Volks-und Gemeinschaftsmetaphysik der „staatlichen Erneuerung“ zur Verfügung stellte, um sie schließlich nur in der „Revolution des Nihilismus“ pervertiert zu sehen. Aus tiefen geschichtlichen Voraussetzungen verfiel vor allem der deutsche Protestantismus diesem „Starren auf den Staat", von dem schließlich alles seelische und geistige Heil des Volkes erwartet wurde. Hier wurde bereits die unabdingbare Grenze einer freiheitlichen politischen Pädagogik überschritten, deren Pole durch die Person einerseits und die Polis andererseits bezeichnet werden. Hier war die Polarität zugunsten der letzteren aufgegeben. So konnte es kein Wunder sein, daß auf dem einmal beschrittenen Weg kein Halten mehr war: Ein „totaler" Staat ohne die humanen Quellenkräfte der Person mußte als Zwangs-und Ersatzordnung, als Surrogat echter Gemeinschaft wie einer freiheitlichen Gesellschaft notwendig zum totalitären Kollektiv entarten. Hatte die liberale Kulturstaatspädagogik die Verantwortung der Person vor Gott entleert und säkularisiert zur Freiheit des Individuums, so kam es nun im Rückschlag zur Vergötzung der Polis und zur Mißachtung der Person. Weder der liberal-individualistische Verfassungsstaat der Aufklärung noch der Kultur-und Machtstaat in der Tradition der deute sehen idealistischen Philosophie, in allen ihren einzelnen Ausformungen, hatten den Sturz in die neue heidnische Kollektivanbetung aufhalten können. Wenn schon von geschichtlicher Verantwortung gesprochen wird, dann muß von beiden gesprochen werden. Dann ist aber auch gesagt, daß keine dieser vor-nationalsozialistischen Grundlagen politischer Existenzdeutung und Pädagogik heute mehr tragen kann.
Voraussetzungen der nationalpolitischen Erziehung
Es kann hier nicht der Ort sein, im einzelnen die geistesgeschichtlichen Hintergründe des Nationalsozialismus und sein Geschichtsbild nachzuzeichnen. In diesem Zusammenhang kann nur so viel gesagt werden, daß sich die Nationalsozialisten selbst — entsprechend der von ihnen usurpierten Eschatologie vom „Dritten Reich“ — als die Erfüllet und Vollender der deutschen Geschichte betrachteten. Diese geradezu heilsgeschichtliche Vorstellung ist schon sehr früh vorhanden und hat den Unheilsweg des Nationalsozialismus bis zu dem schaurigen Ende in den Kellern der Reichskanzlei begleitet. „Die deutsdte Gesdiidite ist die Cesdiichte der deutschen Volkwerdung“, konnte so Alfred Baeumier sagen
Das nationalstaatlich-etatistische Denken zerschmolz schließlich in der Feueresse des ersten Weltkrieges. Nun zeigte sich, daß Sinn und Sendung der deutschen Geschichte nicht im nationaldemokratischen und nationalliberalen Nationalstaat bestand, sondern eben in diesem „ewigen Reich“, als einer neuen Synthese von Volk und Staat. Diese Synthese, die nun auch den Volksgedanken der Jugendbewegung für sich usurpierte, die selbstverständlich den Weimarer Staat immer nur als eine „Zwischenlösung“ empfand, als ein „Zwischenreich", die in Wahrheit jedoch auf die Spitze getriebener, überhitzter und imperialistisch entarteter Nationalismus war, diese Synthese war eben die eigentliche „Sendung" des Nationalsozialismus: Baeumler nennt sie das „politische Reich“. Nicht zuletzt im bereits begonnenen zweiten Weltkrieg sieht er die geschichtliche Schmiede und große Bewährungsprobe dieses politischen Reichsgedankens. Der von den Nationalsozialisten heraufbeschworene „totale Krieg“, dieses „Zeitalter der totalen Mobilmachung", gewinnt für den Apologeten einer solchen imperialistischen, sich jenseits aller Berechnungen der Staatsräson und der Realpolitik bewegenden Politik somit jene „geschichtliche Größe“, jenen „tragischen“ und „heldischen" Aspekt, an dem sich die Zerstörer Deutschlands üblicherweise berauschten.
Aus dieser „totalen Mobilmachung“ ließ sich nun freilich sehr viel ableiten: aus der „geschichtlichen Prüfung“ sollte ein neuer menschlicher Typus, eben der „politische Mensch“?, der „Mensch der totalen Wehrbereitschaft“ hervorgehen, der „Schicksalsgenosse“, der als Volks-genosse den liberalen „Staatsbürger“ und den „Patrioten" der monarchischen Zeit ablösen sollte. Die „liberale Trennung" von staatlich-öffentlichem und privatem Bereich wurde jetzt endgültig fallengelassen. Für Baeumler gibt es keine eigenständige gesellschaftliche und geistige Sphären mehr. Nicht zuletzt wurde damit auch die „relative Autonomie" von Erziehung und Schule beseitigt: alle Lebensbereiche des Menschen werden „total" politisch
Hier zeigt sich erst recht eigentlich, was der Nationalsozialismus unter seiner „Weltanschauung“ verstand. Geschichtlich mochte sie zwar . ein eklektizistisches Konglomerat verschiedenartiger, bereits vorgefundener philosophischer, biologischer und politischer Theoreme mit willkürlichen Akzentsetzungen“
Darüber mochte auch nicht hinwegtäuschen, daß die Nationalsozialisten immer wieder betonten, ihre Weltanschauung verharre strikt im „Diesseits", sie habe nur die Ordnung dieses unseres irdischen Lebens zum Ziel. Diese Feststellung, so weit sie nicht bewußt zur Einschläferung gerade auch der christlichen Volkskreise diente, war schon deshalb unerheblich, weil es nach nationalsozialistischer Überzeugung eben keinen „Dualismus" von Diesseits und Jenseits mehr gab. Man lehnte die „christlich-griechische Zweiweltenlehre” ab: aus einer Wurzel, der des „Blutes" und der Rasse, geht alles hervor, einschließlich der Ideen und Werte, des Geistigen, das immer nur „Ausdruck" dieser vergebenen existenziellen biologischen Einheit, des „Lebensgrundes" und „All-Lebens“ ist
Rasse und Staat
Die Entdeckung des Rasseprinzips wird als die „kopernikanische Tat der neuen Zeit“ gefeiert, Rasse ist die „Offenbarung" des „All-Lebens". Sie ist „Entelechie" und „Mythos“ jeder geschichtlichen Gemeinschaft, ihr „Schicksal“ und „Wesen". Sie wird damit auch zum Angelbegriff der Erziehung, die nichts anderes ist als „Rassezucht“. Aufgabe der Erziehung ist, „aus Anlage und Zucht“, „Wirklichkeit, sieghafte Form und Richtung" werden zu lassen
Neben das „Blut" tritt der „Boden". Aus „Blut und Boden“ geht das „Volk“ als leib-seelische Einheit und Ganzheit, geht der „Volksleib" hervor, der von den Nationalsozialisten extrem organizistisch und biologistisch gedeutet wird. Volk wird hier also in einer gewaltsamen Pervertierung des romantischen und hündischen Volksgedankens zur „vollkommensten Ausformung und Inbegriff aller rassischen Wirklidtkeit“, zu einem „Mittler der Erlösung“ und damit tatsächlich in letzter Konsequenz zu einer „göttlichen Hypostase"
Der Staat hat gegenüber dieser religiösen Überhöhung der Volksvorstellung nur den Wert eines Mittels zum Zweck der „Volkswerdung“. Als „Volksstaat“ ist er die äußere Form und der schneidende politische Ausdruck dieses Volkstums nach innen und außen; nach innen vor allem als ein Mittel zur Überwindung des Bösen in der Zucht, als „Zuchtmeister zum Volkstum", wie man in Usurpation Fichtes sagte. Das Menschenbild, welches hinter solcher Volks-und Staatsauffassung steckt, ist zutiefst pessimistisch gestimmt: Die angeblich tragisch-heroische Weltschau des Germanentums soll in ihm wieder Gestalt gewinnen. Geschichtlich gesehen ist es doch nur die leidenschaftlich-krampfhafte Auflehnung gegen die „pluralistische Aufspaltung" unseres Volkes während des „liberalistisehen“ Zeitalters, die nun in einem einzigen ge-waltsamen Anlauf und Zugriff überwunden werden soll
Die reinste Inkarnation der „Volkheit" und des Volkswillens ist der Führer und sein Wille. Unbedingter, „blinder“ Gehorsam ist die einzige Haltung, die dem Volksgenossen ihm gegenüber zukommt, denn „der Führer hat immer recht“. Ausführungsorgan des Führerwillens aber ist die Partei, denn sie ist das „eigentliche" Volk, eine Auslese, in der sich dieses Volk seiner Bestimmung zuerst voll bewußt geworden ist. Sie i s t nicht nur der Staat und befiehlt ihm. Sie hat darüber hinaus auch eine besondere, umfassende und tiefgreifende „nationalpädagogische Funktion". Sie empfängt Ziel und Auftrag ihrer Erziehungsarbeit am deutschen Volk aus dessen „künftiger Selbstvollendung“, denn sie allein weiß um dieses Ziel
Man hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß diese nationalsozialistische Weltanschauung voller derb säkularisierter und pervertierter theologischer Gehalte steckt: Wie das „allheitliche Lebensprinzip“ hier an die Stelle Gottes, des Schöpfers und Erhalters der Welt tritt, so wird das Volk zu einer Parodie des Heiligsten als „Mittler“ zwischen diesem göttlichen Lebensprinzip und dem Einzelmenschen. Dieser „völkische Einheitsstaat" wird in solcher jakobinischen Usurpation zur neuen Kirche; der Führer ist als „Werkzeug der Vorsehung“ ihr Ober-priester. Besonders die Erzieher und Jugendführer sind, wie sie Schirach einmal genannt hat, die „Priester des nazionalsozialistischen Glaubens“. Mit den Feier-und Gedenktagen der Partei ist eine neue, psychologisch raffiniert aufgebaute, „Liturgie“, ein neues, nicht mehr christliches „Kirchenjahr“ im Entstehen begriffen. Dieser Glaube steht schließlich unter der messianischen Sendung der germanischen Rasse als des wahren „Adelsvolkes der Weltgeschichte“
Nationalsozialistische Anthropologie und Erziehungslehre
Fritz Stippel hat mit Recht darauf hingewiesen, daß das Thema der nationalsozialistischen Anthropologie und „Erziehungslehre“ nicht der Mensch in seiner Personalität ist, sondern das Volk als die Ganzheit eines überpersönlichen Lebens, als Lebensgrund und Schicksalsraum des Einzelnen. Der „Anruf Gottes" ergeht ja an den Einzelnen nicht als Einzelnen, sondern im „Schicksal", in Geschichte und Blut, d. h. aber, nach nazionalsozialistischer Interpretation, nur im „Volk“: Hier, in der völkischen Gemeinschaft, erfährt der Mensch die Geschichtlichkeit seiner Existenz. Daraus geht der „politische" Grundcharakter seiner Existenz hervor und die Totalität des Politischen, die hier nicht aus dem hegelianischen objektiven Geist des jeweiligen geschichtlichen Staates abgeleitet wird, sondern eben aus dieser völkisch-politischen Existenz-weise des Einzelmenschen, die selbst nur wieder die geschichtliche Ausformung des „ allheitlichen Lebensprinzips" ist
Wenn aber Geist, Person und Gemeinschaft sämtlich nur Ausdruck solchen „All-Lebens“ sind und nicht etwa — wie in der bisherigen abendländisch-christlichen Anthropologie und politischen Philosophie — selbst Wurzeln und Urgrund des Gemeinschaftslebens, dann kann diese neue „politische Anthropologie“, die als umfassende „Wirklichkeitswissenschaft" an die Stelle von Theologie und Metaphysik tritt und damit zum geistigen Instrument der NS-Welt-anschauung wird, mit der Ersetzung der eigentlich „anthropologischen“ Kategorien durch solche aus dem biologisch-organischen Bereich beginnen: Zeugung, Geburt, Wachstum, Entwicklung, Reife, Gestaltung und Tod werden so — etwa bei Ernst Kriech — zu den Schlüsselbegriffen nationalsozialistischer Anthropologie und Erziehungslehre
An die Stelle des „Trugbildes der gebildeten Persönlichkeit" tritt nunmehr, nach den Worten des Kultusministers Rust, die „Formung des nationalsozialistischen Menschen“, der von ihm definiert wird als „der in der völkischen Lebensganzheit gliedhaft gebundene Mensch“
Die nationalsozialistische Kritik an der „libe-ralistischen" Erziehung und Schule der Weimarer Zeit hatte sich vor allem gegen deren Intellektualismus, gegen ihre Überbewertung des Wissens und einer theoretisch-kontemplativen Haltung gerichtet. Demgegenüber entwarf die nationalpolitische Erziehung der Baeumler, Krieck u. a. ein „ganzheitliches“ Menschenbild und Erziehungsideal, das Bild eines Menschen „gesund an Leib, Seele und Geist“
Ziehung zum Aktivismus und zur freien verantwortlichen Tat endete freilich theoretisch und praktisch bald in jenem „aktiven Gehorsam“
gegenüber Führer und Partei, von dem Baeumler sagen konnte: „Auf den Führer blicken, der hier undjetzt vor uns steht, heißt fort und fort teilhaben an der Spannung seines Willens und an der Größe seines Kampfes"
Diese Deutung der nationalpolitischen Erziehung läßt sich in der Tat auf Grund ihrer eigenen Voraussetzungen und ihres theoretischen Selbstverständnisses unterbauen. Erziehung ist nach Ernst Krieck eine „Grundfunktion der Volksgemeinschaft“ und als solche eine „biologische Funktion höherer Ordnung“, ein „organisches Geschehen“, ein „Assimilationsbzw. typenbestimmter Eingliederungsprozeß“, ein „Wachstumsprozeß“. Diese nationalsozialistische Auffassung von der Erziehung wird deshalb von Stippel mit Recht als „organologische Entwicklungslehre“ charakterisiert
Typenpädagogik
Die letzte Konsequenz dieser Erziehungslehre wird dort gezogen, wo Erziehung in folgerichtiger Anwendung des Rasseprinzips als „Typenprägung“ und „Typenzucht" definiert und be-
schrieben wird. Es ist das Verdienst Fritz Stippels, in seiner hier mehrfach mit Gewinn herangezogenen Untersuchung, über die nationalsozialistische Pädagogik auf die besondere Bedeutung dieser „Typenpädagogik“ (Oswald Kroh) aufmerksam gemacht zu haben
und die äußere „Haltung" bei aller innerer Formlosigkeit
Denn als Typus — hier kann man Stippel nur beipflichten — ist der Mensch im totalitären System zugleich Funktionär, homo fungens des Kollektivs. Kroh hat nicht umsonst die typisie-
rende Anthropologie zur „normgebenden pädogogischen Zentralwissenschaft“ erklärt, und Krieck konnte ganz entsprechend Erziehung auch definieren als „Einpflanzung eines objektiven, in der Gemeinsdiaftsform verwirklichten Typus in die subjektive Bildung der Glieder"
Es ist nur folgerichtig, wenn in einer solchermaßen funktionalistischen und materialistischen Sicht von Erziehung nicht nur der Zögling, sondern auch der Erzieher selbst seine Würde verliert, zum „Erziehungsfunktionär“ im Dienste solcher „Volksgemeinschaft" herabsinkt mit dem Ethos eines „Blumenzüchters"
Diese Pseudoerziehung soll den Leistungsmenschen für die Gemeinschaft als rassisch hochwertigen Typus „formen", indem sie ihn der Gemeinschaft „gliedhaft einformt". Es gibt hier keine Bildung und Erziehung des Einzelnen außerhalb dieser politischen Formung: Alles erzieherische Geschehen und Tun ist von vornherein und wesensmäßig „politisch", und umgekehrt ist nationalpolitische Erziehung d i e Erziehung schlechthin, die die Aufgaben und Ziele aller Erziehung bestimmt, natürlich bis hinein in die Stoffauswahl, Didaktik und Methodik des Einzelfaches
Nationalpolitische Erziehung als technokratisches Instrument
Die nationalpolitische Erziehungsidee erweist sich damit aber im höchsten Grad als eine autoritär-statische Pädagogik, die zu ihrem Teil durch die totale Einformung der heranwachsenden Generation in die bestehende völkische Gemeinschaft dieser Gemeinschaft selbst alle Wachstums-und Entwicklungstriebe von vornherein radikal beschneidet. Was hier als „Erziehung“ deklariert wird, als ein funktionaler Teil und Vorgang innerhalb des Bildungsprozesses der Wirklichkeit „allheitlichen" und völkischen Lebens, enthüllt sich schließlich als der Versuch, gerade die lebendige Prozeßhaftigkeit dieses völkischen Lebens zu beseitigen zugunsten einer Zementierung bestehender Herr-schafts-und Ordnungsverhältnisse. Politische Erziehung wird hier in einem besonderen krassen Maße Instrument einer Herrschaftsordnung:
Nationalpolitische Erziehung ist totalitäre Men-
schenbeherrschung.
Damit aber erweist sich die nationalpolitische Erziehungsiehre in ihrer Definition als „allheitlich-lebensorganischer Bildungs-und Wachstumsprozeß“, für den angeblich die gleichen „Assimilationsgesetze“ gelten wie für den „völkischen Gesamtorganismus“, als pädagogische Ideologie im Dienste der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. So geistesgeschichtlich aufschlußreich die politische Anthropologie und der theoretische Aufwand bei der Begründung dieser „Erziehungslehre“ sein mögen, so hat sich unsere Aufmerksamkeit doch nicht zuletzt auf die Verkleidungsfunktion dieser „Pädagogik" für die nationalsozialistische Herrschaftswirklichkeit zu richten. Es muß klar erkannt werden, daß totalitäre Systeme niemals eine theoretische und pädagogische Bemühung an sich kennen, sondern vor allem an der instrumentalen Ver--wendung derselben interessiert sein müssen
Nicht zuletzt dies zeigt freilich auch ihre innere Brüchigkeit und Schwäche.
Anmerkung:
Klaus Hornung, Dr. phil„ Studienassessor, geb. 1927. Studium der Geschichte, Politik, Philosophie, Germanistik und Anglistik in Tübingen. Z. Zt. für die politische Bildungsarbeit in der Arbeitsgemeinschaft „Der Bürger im Staat“ vom Schuldienst beurlaubt Lehrauftrag für Staats-und Gesellschaftslehre am Berufspädagogischen Institut Stuttgart.
Veröffentlichungen: Soldat und Staat — Gerechte Maßstäbe gegen alte Vorurteile. Stuttgart, Friedrich Vorwerk-Verlag 1956. Der Jungdeutsche Orden. Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Band 14. Dorste-Verlag, Düsseldorf 1958.