Einleitung
Die Diskussion um die politische Erziehung und Bildung ist in der Bundesrepublik in vollem Gange. Sie wird auf so breiter Front und so intensiv geführt, daß man sagen darf, in Deutschland war noch nie so viel von politischer Pädagogik die Rede wie gerade heute. Seit Jahren ist die politische Unterrichtung in den Schulen der meisten Bundesländer ordentliches Lehrfach. Die akademische Ausbildung der zukünftigen Sozial-und Gemeinschaftskundelehrer ist seit der nun an fast allen Universitäten erfolgten Einrichtung von Lehrstühlen für wissenschaftliche Politik im Anlaufen. Für die Lehrer-fortbildung auf diesem Gebiet geschieht sehr viel. Nicht zuletzt aber ist in den letzten Jahren auf dem Gebiet der politischen Unterrichtung und Erziehung eine Fülle von staatlichen und öffentlichen, privaten und freien Einrichtungen tätig geworden
Trotz alledem ist jedoch ein Gefühl des Ungenügens überall dort vorhanden, wo man nüchternen Kopfes das Quantum von Veranstaltungen und „Aktionen“, Kursen und Lehrgängen und die Höhe der ausgegebenen Mittel nicht unbesehen für die Erfolgsseite dieser politischen Bildungsbemühungen bucht. Wenn nach den Ur-Sachen dieses vielerorts mehr oder weniger deutlich gespürten Ungenügens geforscht wird, wird meist eine Anzahl in die Augen springender Gründe angeführt: die wirtschaftliche Saturiertheit der Menschen in der Bundesrepublik, die berufliche Anspannung in der modernen Arbeitswelt, manche schlechten Beispiele der Tagespolitik oder der Politiker, die die guten Sitten der politischen Erziehung verderben müssen, die mangelnde Bereitschaft der Lehrer und vielleicht überhaupt der älteren Generation zur demokratischen Lebens-und Staatsform, nicht zuletzt das Provisorische unserer staatlichen Ordnung in der Bundesrepublik und die geringen Aussichten, unsere staatliche Einheit, die zu einer Funktion der Weltpolitik geworden ist, wiederzugewinnen, was die Gefahr einer ziellosen Resignation im Bestehen mit sich bringt
Tagungsflut ohne Ergebnisse
Es ist darüber hinaus nicht zu verkennen, daß der erste Antrieb zur politischen Bildungsarbeit nicht eigentlich ein spontanes Bedürfnis von „unten“ gewesen ist, sondern daß sie erst allmählich durch die wachsenden finanziellen Möglichkeiten von „oben" gleichsam erzeugt und gesteuert wurde. Nicht wenige sind heute der Meinung, daß die „Gnade des Nullpunkts“ der ersten Nachkriegsjahre mit allen ihren hoffnungsvollen Ansätzen geistiger und politischer Neubesinnung in ihrer Fruchtbarkeit gerade durch diese materiellen Möglichkeiten erstickt worden sei. Die Tagungsflut, die während des zurückliegenden Jahrzehnts über uns hinweggegangen ist, zeitigte jedenfalls nicht die Ergebnisse, die man sich vielleicht einmal im Zeichen des „Zeitalters des Gesprächs“ davon erhofft hatte. Die Gattung der Spesenritter und Tagungshasen, der „Berufs-Staatsbürger“ und „Profi-Europäer“ ist in der Tat das nicht eben erfreuliche Resultat dieser gleichsam staatlich vorfinanzierten staatsbürgerlichen und demokratischen Regsamkeit. Spürt man den Ursachen des Ungenügens unserer politischen Bildungsbemühungen nach, dann muß man freilich auch von dieser Misere des Managertums und der Betriebsamkeit, die sich zumeist in erstaunlicher Urteilslosigkeit mit der Festigung der Demokratie verwechselt, in aller Offenheit reden, ist sie doch geeignet, das tägliche ernsthafte und einsatzbereite Bemühen in der politischen Erziehung und Bildung zu kompromittieren.
Doch die eigentlichen Probleme liegen tiefer. Llnsere Bemühungen um politische Bildung und Erziehung des Volkes, der breiten Massen der Wähler und besonders der jungen Generation sind erwachsen aus der echten Dringlichkeit und Notwendigkeit dieser Aufgabe nach der Kata-Strophe von 1945. Wir müssen aber heute erkennen, daß diese fast ausschließliche Orientierung am „Schrecken von gestern“, diese Fundierung durch das „Anti“ unseren Bemühungen nicht selten den Schwung und die Kraft genommen haben, nicht zuletzt gerade bei der Gewinnung der Jugend für den neuen rechtsstaatlichen und demokratischen Staat. Durch einen oft dok-trinären Antitotalitarismus, der zumeist seine eigenen Voraussetzungen und Möglichkeiten nicht begriff, haben wir oft genug unser Geschichtsbild über die unmittelbaren Folgen des Zusammenbruchs und des Nationalsozialismus hinaus noch weiter demontiert und keinen Zukunftswillen und keinen politischen Zukunftsglauben zu entfalten vermocht.
Staatsbürgerkunde oder Partnerschaftspädagogik?
Auf die Phase engstirniger Umerziehungsversuche, die, bis heute nachwirkend, einem dauerhaften Vertrauenskontakt der politischen Erziehungsbemühungen in den breiten Schichten des Volkes nicht selten noch im Wege stehen, folgte dann die Phase des Partnerschaftsgedankens in der politischen Pädagogik
An der Kritik dieser Partnerschaftspädagogik, ausgehend vor allem von Friedrich Oetingers Buch „Partnerschaft“, entzündeten sich in den folgenden Jahren die bisher fruchtbarsten Diskussionen der Nachkriegszeit im Raum der politischen Pädagogik, was die Bedeutung dieses Neuansatzes zeigt, der endlich aus der Sackgasse der „Staatsbürgerkunde" hinauszuweisen schien. Diese Kritik wies freilich auch schon früh auf die Einseitigkeiten dieser Konzeption hin, die in der Gefahr steht, das eigentliche Wesen des Politischen, nämlich Macht, Machtausübung und Machtverantwortung, Staat und Staatlichkeit zu übersehen oder doch bedenklich zu un-terschätzen
Heute ist die politische Erziehung und Bildungsarbeit in der Bundesrepublik in die Phase ihrer Ernüchterung eingetreten. In dem Maße, in dem der Gedanke von der Notwendigkeit politischer Erziehung und Bildung allgemeine und institutionell verankerte Anerkennung fand, wuchsen aber auch die Gefahren einer pragmatischen Routine bis hin zu den mancherlei Anzeichen einer „Restauration" der alten Staatsbürgerpädagogik in der täglichen Praxis des Unterrichts und der Kurse. Dies ist nicht zuletzt auch in manchen Lehrplänen spürbar, die mit einem Konzentrat von wissenschaftlicher Politik überfrachtet wurden.
Gegenüber solchen „restaurativen" Tendenzen in der Didaktik und Methodik gilt es sicherlich, die notwendigen, richtigen und berechtigten Erkenntnisse des partnerschaftlichen Neuansatzes nach 1945 festzuhalten und auszubauen. Eine politische Erziehung und Bildung wäre heute zum Scheitern verurteilt, die den Menschen nur oder vorwiegend auf der Ebene der Kenntnisse und des rationalen Arguments ansprechen würde. Der Mißbrauch mit den emotionalen Schichten der menschlichen Natur durch den Totalitarismus darf nicht dazu führen, diese Bereiche einfach dem Gegner zu überlassen. Felix Messerschmid hat dieses Problem schon vor Jahren folgendermaßen zusammengefaßt: „Er (der .demokratische Formalismus unserer politischen Erziehuugsbemühungen') bevorzugt das institutionelle Moment; neigt dazu, sich auf der Ebene der Belehrung, des Arguments, des Meinungsaustausches zu halten: er läßt aber das Untergründige außer acht, ja hat eine deutlidt; Abneigung gegen den gesamten Raum des Irrationalen, des Gefühlshaften, des Utopischen in der Politik — eine verständliche Reaktion nach dem Mißbrauch dieser Bereiche durch die totalitäre Propaganda. Aber man übersieht, daß diese Propaganda ihre Erfolge hatte (und hat), weil sie damit leere seelische (und nicht nur seelische) Räume füllt . . . Versäumen wir es weiterhin, nadt Wegen zu suchen, auf denen dieses — doch keineswegs illegitime — Bedürfnis richtig erfüllt werden kann, so könnte es uns leicht passieren, daß Männer und Mächte es für unwillkommene Zwecke auszunutzen verstehen, mit einer falsdten Mystik nämlich, die aber wirksamer ist als alle unsere guten Argumente. Es ist nidit klug von Erziehern, den deutsdien Hang zum Irrationalen einfadt als romantisdie Sentimentalität, als gefährlichen Irrealismus, als versponnene Innerlichkeit in Verruf zu erklären. Das kann er alles sein. Man sollte aber nidit übersehen, daß er zu großen Unternehmungen, zu außerordentlidten Opfern, zu selbstloser Hingabe befähigen kann; daß er also auch als sdwpferische Kraft begriffen werden muß, die . . . die kräftigsten Impulse abgeben kann, wenn sie für den Dienst an echten Aufgaben entbunden wird.“
Diese Ausführungen Messerschmids weisen in dieselbe Richtung wie die grundlegenden Darlegungen, die Eugen Lemberg vor einiger Zeit in der Zeitschrift „Gesellschaft-Staat-Erziehung vorgelegt hat, als er ebenfalls beklagte, daß die Grundkonzeption der politischen Pädagogik des letzten Jahrzehnts im Grunde rückwärtsgerichtet, d h. an dem schlechten Gegenbild des Vergangenen orientiert war:
„Die zur Erzeugung des politisdien Strome) notwendige Spannung ergab sich zwisdien einer als gut zu rechtfertigenden Gegenwart und jener bösen Vergangenheit. Hier scheint das eigentliche Geheimnis der oft beklagten politischen Interesselosigkeit der Nachkriegsjugend zu lie gen. Eine Spannung zwischen unbefriedigender Gegenwart und besserer Zukunft hat sich schon immer als die bessere politische Pädagogik erwiesen . . . Ohne diese Spannung gibt es sdtlediterdings kein Motiv zu politisdiem Einsatz, ; Selbstaufopferung und Heroismus. Eine politisdn Erziehung, die nichts anderes will, als ihre Zöglinge zur Bejahung des gegenwärtigen Zustandes zu veranlassen, die ihn nur als Überwindung vergangener Irrtümer reditfertigt, ohne ihn 2" gleich als unbefriedigendes Zwisdtenstadiunt vor einem erst unter Opfern zu erkämpfenden End Zustand zu erklären, hat sick von vornherein zur Wirkungslosigkeit verurteilt.“
So kommt Lemberg zu der Forderung, daß die politische Pädagogik stets mit einem „ganzen Bildungs-und Lebensprogramnt für ein Volk, eine Nation, einen Kulturkreis“ aufs engste verbunden sein müsse, daß sie eine „Lehre“ enthalten müsse, „die die politisch zu erziehende Generation zwischen ein Bild der Vergangenheit und eines der zu erkämpfenden Zukunft — zwischen Geschichtsbild und Utopie — einspannt". 7a)
Lebenswichtige Bedeutung eines verbindlichen Geschichtsbildes
Hier wird die geradezu lebenswichtige Bedeutung eines verbindlichen Geschichtsbildes einerseits und des mit ihm in engster Wechselwirkung stehenden politischen Zukunftswillens andererseits für die politische Pädagogik ins Licht gerückt. In der Tat wird die politische Pädagogik in den nächsten Jahren ihre Legitimität und Vertrauenswürdigkeit vor dem ganzen Volk vor allem dadurch zu beweisen haben, daß sie in vorderster Front an der Wiederherstellung eines gleichermaßen objektiven wie tragfähigen deutschen Geschichtsbildes und damit der schwer gefährdeten deutschen geistigen und politischen Kontinuität mitwirkt. Sie hat hier einen besonderen Auftrag, denn sie ist an dem Schnittpunkt gelegen, an dem sich zeitgeschichtliche Forschung und politisch-pädagogische Notwendigkeiten treffen und gegenseitig ergänzen. Freilich känn diese „Bewältigung der Vergangenheit" — das vielleicht in den letzten Jahren am häufigsten strapazierte Wort in der politischen Pädagogik — nicht darin bestehen, daß man ein bestimmtes persönliches, gruppen-oder partei-gebundenes „Geschichtsbild“ durch Popularisierung (man denke hier nur an die Verführungsmöglichkeiten durch den Film) anderen aufoktroyiert. Hier geht es vielmehr darum, daß unserer Demokratie als Staats form endlich wieder ein I n h a 11 zuwächst, der nur in der geschichtlich-politischen Treuhänderaufgabe der heutigen Generation gegenüber der geschichtlich gewordenen deutschen Staatlichkeit bestehen kann. Unsere Demokratie braucht, wenn sie in den kommenden Belastungsproben bestehen will, ein gesundes, von den Übertreibungen wie von den Ressentiments der Vergangenheit gleichermaßen gereinigtes nationales Selbstgefühl, mit anderen Worten, einen gesunden Patriotismus. Es bezeichnet eines der entscheidenden Versagen der politischen Pädagogik des zurückliegenden Jahrzehnts, daß sie gegen die abgründige Gefahr der Geschichtslosigkeit in unserem Volk wie auf unserem Kontinent überhaupt kaum etwas getan hat. Wir haben in der Tat unsere Vergangenheit nicht entschieden und ehrlich genug bewältigt, mit dem Ergebnis, daß sie in den letzten Jahren in wachsendem Maße wieder umzugehen beginnt wie ein ruheloses Gespenst. Die abstrakte, unpolitische und ungeschichtliche Rede von Demokratie, die wir uns leisten zu können glaubten, die die Geschichtslosigkeit voraussetzt und oft selbst förderte, war das eigentliche Verhängnis dieser unserer Bemühungen.
Mit dieser Geschichtslosigkeit hängt schließlich auch eng zusammen unsere ungeschichtliche, die Verantwortung abtötende abstrakte Rede von Freiheit. Wann hat man schon darauf gehört, wenn uns — etwa von Theodor Heuß — gesagt wurde, daß individuelle Freiheit und Staat so wenig Gegensätze sind wie Macht und Recht, sondern in einem polaren Spannungsverhältnis aufeinander bezogen sind, daß der Staat noch zu allen Zeiten Hüter, Gefäß und Garant der Freiheit gewesen ist, daß es mit anderen Worten nur eine politische Freiheit oder keine gibt. Anstatt uns den Weg weisen zu lassen von der Weisheit der abendländischen politischen Philosophie seit Aristoteles, sind wir aus den Gefahren der antitotalitären Ausgangslage der politischen Pädagogik in unserer Epoche nicht herausgekommen und haben vir dem Mißverständnis einer Demokratie der Bequemlichkeit und einer individualistischen Freiheit des Verdienens und Konsumierens nicht selten Vorschub geleistet.
Die politische Pädagogik trägt damit zu ihrem wesentlichen Teil Verantwortung daran, daß „Freiheit“ und „Demokratie“ unter uns zu gedanken-und verantwortungslos gebrauchten Schlagworten entartet sind, und sie hat zugleich der Versuchung selbst Tür und Tor geöffnet, daß sie zur Propaganda für den politischen und gesellschaftlichen Status quo mißbraucht werden können. Sie hat damit zu ihrem Teil beigetra-gen, daß Demokratie heute bei uns nicht, wie es ihrem Wesen entspräche, dynamisch, sondern statisch-autoritär interpretiert und als zementierter Immobilismus mißverstanden werden kann.
Ein letztes kommt hinzu, was die politische Pädagogik selbst betrifft, unabhängig von Staat und Gesellschaft, in die sie hineinverflochten ist und für die sie Verantwortung trägt. Das ist die schädliche und unnötige Kluft zwischen „Theorie" und „Praxis". Was in der Theorie heute gedacht und zusammengetragen wird an grundlegenden, auf Erfahrung beruhenden Erkenntnissen didaktischer und methodischer Art, ist „unten“, in der alltäglichen Praxis, oft keineswegs genügend bekannt. Dabei können wir auf eine wirklich fruchtbare und reiche Literatur auf diesem Gebiet verweisen. Trotzdem beginnt man vielerorts immer wieder ab ovo, preist als neu und originell, was andernorts schon lange und manchmal besser gemacht wird, wendet andererseits auch immer wieder Methoden an, die ebenfalls schon längst als falsch erkannt sind und beschreitet Wege, die sich bereits als nicht gangbar erwiesen. Es scheint, daß hier jeden Tag die Welt neu geschaffen werden soll. Eine gewisse Originalitätshascherei in Theorie und Praxis kann zwar ein reiches und fruchtbares Feld von Ansätzen umgreifen, führt aber doch auch dazu, daß nur sehr schwer eine elementare Übereinstimmung in den gebrauchten Begriffen und ein Konsens in den wichtigsten didaktischen und methodischen Fragen zustande kommt. „Gespräch“ und „Dialog" sind zwar heute sehr gängige Vokabeln, aber man hat trotzdem vielfach verlernt, wirklich aufeinander zu hören und sich gegenseitig überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Das Ergebnis ist eine Fülle von Monologen, die täglich gehalten werden, ist die Trägheit der Routine und das zum Managertum in „Massenmedien“ erstarrende Tun der Spezialisten.
Politische Jugenderziehung ist eine Voraussetzung guter Politik
Schon das inhaltsreiche und durchdachte Gut-achten des Deutschen Ausschusses für das Er-ziehungs-und Bildungswesen zur politischen Bildung und Erziehung hat darauf mit Nachdruck hingewiesen, daß „politische Bildung und Erziehung bestimmt werden durch die politisdte Wirklichkeit, von der sie getragen wird, und durch die Ideen, denen sie dient“.
Damit sind mit großem Ernst die Grenzen abgesteckt, die der politischen Pädagogik im Ganzen des Wirklichkeitszusammenhangs von Staat und Gesellschaft gezogen sind. Damit sind auch alle bildungsideologischen Utopien, alle Vorstellungen von einer abgesonderten „pädagogischen Provinz“ abgewiesen. Das heißt gewiß nicht, daß man unter den gegebenen Verhältnissen von den Möglichkeiten der politischen Bildung und Erziehung gering denken solle. Im Gegenteil. Nichts ist dringender als das tägliche erzieherische Wirken, welches den elementaren sozialen und politischen Tugenden fernab aller großen Worte und Ideologien zur Wirksamkeit verhilft. Wir sollten viel weniger die feierlichen Formeln gebrauchen, die unsere jungen Menschen bestenfalls wie Gebetsmühlen verwenden, wenn man mit ihnen etwas erreichen kann. Aber wir sollten unablässig die einfachen demokratischen Tugenden der Zivilcourage, Selbsttätigkeit und Selbstverantwortung pflegen, die ihrerseits in einem natürlichen Ergänzungsverhältnis stehen zu Autorität und Ehrfurcht. Haben wir diese Dinge, dann haben wir die Demokratie wirklich. Haben wir sie nicht, dann entartet die Rede von Demokratie und Menschenwürde zur Lüge. Hier kann man nicht nüchtern und zugleich nicht „moralisch" genug sein. Denn nur auf solchem Unterbau „politischer Volkserziehung"
Und hier hat die politische Pädagogik in der Tat eine Aufgabe und Verantwortung, die ihr niemand abnimmt. Sie ist nicht nur in einem besonderen Maß ein Seismograph der Strömungen im Volk, der Tendenzen in der Gesellschaft. Sie ist darüber hinaus heute dazu da, das Gewissen der politischen Gemeinschaft zu sein und zur Sprache zu bringen. Das setzt freilich einen klaren Blick für die Rangordnung des Wichtigen in unserer Zeit, in unserem politischen und gesellschaftlichen Leben voraus. Was vom Politiker nicht immer verlangt werden kann, für den politischen Pädagogen ist es die Grundvoraussetzung: die Fähigkeit langfristig und jenseits aller Gruppen-und Interessenhorizonte gesamtstaatlich zu denken. So ist es der Auftrag der politischen Pädagogik, stets erneut die im Staat zentrierte gesamtpolitische Verantwortlichkeit in den Herzen und Köpfen möglichst vieler Bürger zur Wirklichkeit werden zu lassen.
Politische Bildung und Erziehung im monarchischen Staat
Die Aufgabe und das Problem der politischen Bildung und Erziehung in jenem „modernen" Sinne, in dem wir sie heute noch verstehen, erheben sich in dem Augenblick, in dem die demokratische Bewegung durch die verfassungsmäßige Einführung des allgemeinen Wahlrechts zu einem entscheidenden Durchbruch gelangt. Unsere moderne politische Pädagogik muß deshalb verstanden werden als Funktion und Folgeerscheinung jenes umfassenden Prozesses der Demokratisierung, wie er sich in den letzten rund eineinhalb Jahrhunderten über die Erde hin ausgebreitet hat. Politische Bildung und Erziehung hat es zwar in den mannigfachsten Formen in der Geschichte immer und überall gegeben, keine Gesellschaft und kein Staat konnten je auf sie verzichten. Insbesondere ist politische Pädagogik auch mit der deutschen Bildungsund Erziehungs-, Geistes-und Sozialgeschichte natürlich stets auf das engste verknüpft gewesen. Da es uns hier jedoch um eine Untersuchung und Darstellung der politischen und gei-stesgeschichtlichen Problematik der politischen Pädagogik der deutschen Gegenwart geht, kann der historische Rückblick nur bis zu dem Punkt reichen, an dem das spezifisch Neue und Moderne, wenn man so will „Zeitgeschichtliche" und damit gesellschafts-und bildungspolitisch Aktuelle, unseres Problemkreises einsetzt. Was geschichtlich vorher vorhanden ist, ist als Geschichte der Formen, Ziele, Werte und Methoden politischer Erziehung und Bildung zwar historisch von Belang, steht jedoch in keinem unmittelbaren Zusammenhang mehr mit den politischen und gesellschaftlichen Problemen mit denen wir es heute zu tun haben
Allein für den Nachwuchs der Führungsschicht
Die Übergangsform des liberal-bürgerlichen, konstitutionellen Verfassungsstaates mit monarchischer Spitze stellt im Europa des 19. Jahrhunderts die erste Phase der durch die französische Revolution von 1789 eingeleiteten Entwicklung dar. In diese, gesamteuropäisch nachweisbare, Entwicklungsstufe ist auch die Verfassung des Bismarckreiches einzuordnen, die heute vor allem in ihrem Kompromißcharakter zu erfassen sein wird zwischen einem damals in Deutschland noch weithin ungebrochenen monarchischen Staat einerseits und den Forderungen, Notwendigkeiten und Sehnsüchten einer neuen Zeit andererseits, die durch Technik, Industrialisierung, Weltwirtschaft und die An-
Sprüche der wachsenden Massen gekennzeichnet wird.
Der Gang dieser gesellschafts-und verfassungsgeschichtlichen Gesamtentwicklung mußte der Schöpfung Bismarcks von Anfang an den Stempel einer tragischen Verspätung aufdrükken
Als monarchischer Staat, der sich vor allem in Dynastien, Adel, Offizierskorps, Heer und Beamtenschaft darstellte, war das deutsche Reich von 1871 Obrigkeitsstaat geblieben. Das Parlament, der Reichstag, hatte keinen unmittelbaren Einfluß auf die politische Willensbildung und auf eine Führungsschicht und Exekutive, die soziologisch noch weithin festgefügt erschienen. Der monarchische Obrigkeitsstaat an sich war aber auch der — „demokratischen“ — Forderung nach politischer Bildung und Erziehung naturgemäß fremd
Die ersten Anstöße zur politischen Bildung und Erziehung
So ist es kein Zufall, daß die ersten Anstöße zu theoretischen Überlegungen und praktischen Bemühungen auf dem Gebiet der politischen Bildung und Erziehung vom Anwachsen der Sozialdemokratie im Bismarck-Reich ausgehen. Hier wurde ja zum erstenmal die Sprengung einer bis dahin einheitlichen, im wesentlichen feudal-bürgerlichen Gesellschaft deutlich. Das politische Programm, überhaupt die gesellschaftliche und politische Formierung des „vierten Standes“, war in die gegebenen politisch-gesellschaftlichen Formen schlechterdings nicht einzufügen. Hier mußte es zu einem Kampf nicht nur der letzten Prinzipien, sondern auch zu einem Kampf um die politische und gesellschaftliche Macht kommen, der auf die Dauer von keiner Sozialpolitik des monarchischen Staates zu schlichten war. So mehren sich auf Seiten der Träger dieses monarchischen Staates und seiner bürgerlichen Gesellschaft seit den 80er Jahren die Stimmen, die die Aufnahme dieses Kampfes nicht nur mit polizeilichen, sondern auch mit geistig-politischen Waffen fordern und die vor allem die Schule als einer „Veranstaltung des Staates“ nunmehr bewußt den Auftrag zu einer politischen Propädeutik erteilen wollen. Etwa durch die Behandlung der Reichsverfassung oder auch der grundlegenden volkswirtschaftlichen Fragen und Gesetze im Unterricht soll den „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ ein am bestehenden Staat orientiertes politisches Bewußtsein der nachwachsenden Generation entgegengestellt werden
Der junge Kaiser, der 18 88 zur Regierung kam, machte sich im Zuge der reformistischen Ansätze seines Regierungsbeginns solche Absichten zu eigen. Die „berechtigten Forderungen" der demokratischen
Gegenüber den oft mehr instinktiv gefühlten als deutlich erkannten modernen „zentrifuga-len“ und „pluralistischen" geistigen, gesellschaftlichen und politischen Kräften mußte — das wurde sehr richtig gespürt — ein Integrationszentrum gefunden werden, das möglichst für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit verbindlich sein konnte. Hier konnten weder die altmonarchische Loyalität und die Anhänglichkeit an die herkömmliche Dynastie mehr ausreichen noch christlich-patriarchalische Ordnungsformen. An ihre Stelle trat eine „Vaterlandsliebe“ — nicht zufällig spielte der Mythos von 1813 in der deutschen Monarchie eine eifrig gepflegte Rolle —, die in Deutschland wenigstens bei den herrschenden großbürgerlichen und feudalen Schichten, aber auch bis weit hinein in das Mittel-und Kleinbürgertum, noch monarchisch bestimmt war, die aber doch auch schon längst das „nationale" Element als einen zentralen Bestandteil in sich ausgenommen hatte.
„Zentrifugale Tendenzen" und nationales Integrationszentrum
Als Wilhelm II. auf der Reichs-Schulkonferenz im Dezember 1890 seine bekannte Rede hält, fordert er von der Schule vor allem die Besinnung auf die „nationale Basis“ 17). Damit ist ein Motiv angeschlagen, das nun für Jahrzehnte nicht mehr aus der Diskussion um die politische Erziehung und Bildung in Deutschland verschwinden wird. Ihr Fundament soll die Besinnung auf die nationale Kultur-und Geisteswelt bilden. Insbesondere dem Geschichts-und Deutschunterricht wird ausdrücklich die Aufgabe gestellt, entscheidend an der „Belebung des vaterländischen Sinns" und an der Festigung des nationalen Selbstbewußtseins mitzuwirken. Mit dem jungen Kaiser waren sich führende Vertreter der herrschenden Führungsund Bildungsschicht der Gefahren der Saturiertheit seit der Reichsgründung durchaus bewußt. Nachdem das große Ziel der nationalen Einigung erreicht war, hatte sich deutlich ein Erschlaffen der schöpferischen geistigen und politischen Kräfte bemerkbar gemacht 18). Zeit-kritiker wie Friedrich Nietzsche und Paul de Lagarde gaben diesem Unbehagen nachhaltig Ausdruck. Das Ergebnis der Auseinandersetzungen mit der katholischen Kirche im Kulturkampf und mit der Sozialdemokratie war jene unklare Furcht vor den „zentrifugalen Tendenzen“, die besonders der Kaiser immer wieder beschwor, eine Furcht, die sich verband mit dem Gefühl des Neides gegenüber anderen Nationen mit einem kraftvollen und unproblematischen Nationalgefühl. Deutschland, dieser Nachzögling im europäischen Konzert, war mit seiner nationalen Einigung nicht nur außenpolitisch zu spät gekommen, es hinkte auch in seinem nationalen Selbstbewußtsein bedenklich hinter den anderen her. Der Wille war weit verbreitet, hier nach-zuholen und aufzuholen. Und wir erkennen heute, daß der beginnende chauvinistische und imperialistische Nationalismus auch als psychologische Reaktion auf diese Verspätungs-und Minderwertigkeitsgefühle verstanden werden muß und zudem eng verknüpft ist mit der gesamteuropäischen Wandlung vom Nationalismus des
Die bildungspolitische Forderung der „Nationalität" und die national-vaterländischen Zielsetzungen in der politischen Pädagogik der beginnenden wilhelminischen Zeit sollten andererseits auch eng verknüpft werden mit den neuen erzieherischen Forderungen, die — noch vor dem Einsetzen der eigentlichen reformpädagogischen Bewegung — „die Bedürfnisse des Lebens“ und die „Bildung des Charakters" in den Mittelpunkt der Erziehung zu stellen begannen. Der Kampf um die neuhumanistische Gymnasialbildung und um die Berücksichtigung der Gegenwart, des „modernen Lebens", der „Realien“, der nun nicht mehr abreißen sollte, wurde zum Ausdruck des Ringens neuer gesellschaftlicher und geistiger Mächte um ihre Durchsetzung 19). Auch hier wird deutlich, wie sich die moderne politische Pädagogik an dem Kampf zwischen Altem und Neuem recht eigentlich entzündet. Seit dem Ende der 80er Jahre hörten die Vor-würfe nicht mehr auf, daß das humanistische Gymnasium nicht nur die junge Generation und den Führungsnadiwuchs nicht tüchtig mache zu einem Leben in einer sich unglaublich rasch wandelnden Gesellschaft, daß es überhaupt Angst vor der Gegenwart habe, sondern daß es auch das deutsche Nationalbewußtsein zu wenig pflege. Insbesondere der Geschichtsunterricht an den Gymnasien wurde zur Zielscheibe der Kritik. Die neuen Lehrpläne von 1891, die den Niederschlag der Schulkonferenz von 1890 darstellten, forderten deshalb, gegen den Widerstand der gymnasialen Partei, erstmalig, den Geschichtsunterricht bis in die Gegenwart fortzuführen und damit ganz besonders für die politische Orientierung und Bewußtseinsbildung auszunützen. Schließlich sollten auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen in den Unterricht der Oberklassen der höheren Schule ausgenommen werden. Freilich: die apologetische Tendenz war unverkennbar. Stand im Geschichtsunterricht immer noch die Geschichte und die Verehrung der Hohenzollerndynastie im Vordergrund und blieb der geschichtliche Horizont auf das vor allem von Heinrich von Treitschke in Geltung gesetzte klein-deutsch-preußischeund nationalstaatliche Geschichtsbild begrenzt, so beschränkten sich die Lehrpläne bei der Behandlung der gegenwartsund gesellschaftskundlichen Fragen fast völlig auf den Nachweis der wirtschaftlichen „Unvernunft“ und „sittlichen Verderblichkeit“ der „utopischen und umstürzlerischen sozialdemokratischen Lehren“. Die politische Pädagogik wurde damit einseitig, zu ihrem eigenen Schaden wie als Ausdruck der politischen Unzulänglichkeit der Zeit überhaupt, darauf festgelegt, die bestehenden Verhältnisse zu zementieren und zu rechtfertigen.
Das Problem des gesinnungsbildenden Unterrichts
In dieser Zeit wurde nun auch in der schulpolitischen und pädagogischen Diskussion zum erstenmal die Frage erörtert, ob für die politische und gesellschaftliche Bildung ein besonderes Unterrichtsfach geschaffen werden solle oder ob die neu geforderte Behandlung politischer, gegenwartskundlicher und volkswirtschaftlicher Stoffe ebenso wie die „Pflege des monarchischen und vaterländischen Gefühls“ in der erwähnten Fächerdreiheit des neuen nationalen Gymnasiums von Religions-, Geschichts-und Deutschunterricht möglich sei und genüge
Der Auftrag der Schule
Die Forderung der politischen Bildung und Erziehung richtete sich im monarchischen Staat vor allem an die Schule. Sie sollte als staatliche Einrichtung jene Integration auf der „nationalen Basis“ dadurch erzielen, daß sie zu Nationalgefühl und Vaterlandsbewußtsein jenseits aller Parteistandpunkte hinführte. Es wurde jedoch immer deutlicher, daß die Schule damit weitgehend überfordert wurde. Dies lag nicht nur daran, daß die überkommenen Bindungen der deutschen Schultradition der neuen Aufgabe entgegenstanden. Je mehr der Schule mit dem Auftrag politischer Bildung und Erziehung eine geistig politische Defensivaufgabe im Dienste der bestehenden politischen und gesellschaftli-chen Ordnung zugemutet wurde, desto weniger konnte sie ihrem tatsächlich bestehenden politischen Bildungs-und Erziehungsauftrag gerecht werden. Die offizielle politische Pädagogik im monarchischen Staat wurde damit immer mehr auf den innen-und gesellschaftspolitischen Status quo hin fixiert, und das zu einer Zeit, in der die Tendenzen zur Demokratisierung und Parlamentarisierung des politischen Lebens in Deutschland immer stärker wurden, in welcher die sozialdemokratischen Wählerstimmen eindrucksvoll anschwollen und in der selbst die Söhne der bürgerlichen Welt in Wandervogelund Jugendbewegung gegen das immer hohler werdende nationale und monarchische Pathos dieser Welt ihrer Väter protestierten.
Wenig obrigkeitsfromme Elementarlehrer
Während das Gymnasium und die höhere Schule somit weithin zu bildungspolitischen Fluchtburgen der bestehenden Ordnung wurden, verschafften sich die modernen „demokratischen“ Tendenzen zuerst Eingang in die Volksschule und in das seit der Jahrhundertwende mächtig aufstrebende Berufs-und Fortbildungsschulwesen
Neue Konkurrenten für den Staat
Schon der monarchische Staat erkannte, daß mit der Ausnützung des staatlichen Schulmonopols allein das Problem der politischen Erziehung und Bildung in der modernen Industrie-und Massengesellschaft nicht gelöst werden kann. Neue gesellschaftliche Zonen entstanden neben und außerhalb des Staates in Gestalt von Parteien, freien Vereinen und Verbänden aller Art, nicht zuletzt auch in den Gruppen und Bünden der Jugendbewegung
Seit der Jahrhundertwende entstehen dem Staat von den verschiedensten Seiten her Konkurrenten, gerade auf dem Gebiet der politischen Erziehung und Bildung
Aber nicht nur hier blühten die Parteischulen und die parteipolitische Vortragstätigkeit auf. Auch die „staatstragenden" Parteien der Rechten schufen sich Instrumente zur politischen Aufklärung ihrer Anhängerschaft. Jetzt wurden überall, im Bund der Landwirte, im Alldeutschen Verband, im Hansa-Bund, im Flottenverein und in der Kolonialgesellschaft Vorträge, Kurse, Seminare und Schriftenreihen Trumpf
Universität und Studentenschaft
Dabei war gerade im Nachwuchs der herrschenden Schichten, besonders an den Universitäten und unter der Studentenschaft, das Bewußtsein der politischen Verantwortung und der Notwendigkeit politischer und gesellschaftlicher Bildung noch weit zurück
Erwachsenenbildung vor dem Ersten Weltkrieg
Zwei Bereiche der Erziehung und Bildung im Kaiserreich sollen im Blick auf ihre Bedeutung für die politische Bildung und Erziehung hier nur noch kurz gestreift werden: die Erwachsenenbildung und die Armee. Das Erwachsenen-bildungswesen
Die Armee als „Schule der Nation"
Daß die Armee im preußisch-deutschen Reich, schon von dessen Wurzeln her, eine erzieherische Aufgabe wahrzunehmen hatte, darf heute als unbestritten gelten
Bei allen ungünstigen Wirkungen, die dabei von Kasernenhof und Offizierskasino auf die geistig-politische Atmosphäre in Deutschland ausgingen, die das militärische Gehorsamsprinzip auf den zivilen Raum übertrugen und den Primat des Militärischen, vor allem seines Tones und seiner kurzgeschlossenen Denkweise, mit sich brachten und die National-und Staats-gesinnung mehr auf Befehl und Gehorsam als auf bürgerlicher Verantwortung und Zivilcourage begründeten, darf doch auch nicht übersehen werden, daß schon vor dem Weltkrieg in der militärischen Erziehung eine Erneuerungsbewegung einsetzte, die schon deutlich vom Geist der Jugendbewegung und der anderen Reformbewegungen seit der Jahrhundertwende be-stimmt wurde
August Messer als Beispiel
Einer der typischen Vertreter dieses monarchisch-nationalen Abschnitts in der Geschichte der deutschen politischen Pädagogik ist August Messer gewesen, Professor der Philosophie und Pädagogik an der Universität Gießen, der 1910 „Das Problem der staatsbürgerlichen Erziehung“, wie es sich damals darstellte, untersucht hat.
Messer, ein Repräsentant des deutschen Bildungsbürgertums im monarchischen Staat und ein aus einer nichtakademischen Familie von hessischen Kaufleuten und Handwerkern stammender „homo novus“, überblickte die Problematik der politischen Bildung und Erziehung seiner Zeit in ihren geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen und Bedingtheiten. Er war sich darüber im klaren, daß der monarchisch-konstitutionelle Staat der Zeit in seinem Schoße bereits jene ganze Fülle der pluralistischen geistigen, weltanschaulichen, gesellschaftlichen und politischen Kräfte barg, die immer deutlicher ihr Recht beanspruchten
Sittliche Verantwortung gegenüber dem Staatsganzen
So konnte Messer die Aufgabe der staatsbürgerlichen Erziehung klar und bündig folgendermaßen formulieren: „Die staatsbürgerliche Erziehung soll gerade den einzelnen dazu bringen, die Interessen der Staatsgeweinschaft höher zu achten als die seiner Klasse oder seines Berufes.“
Mit dieser Anerkennung und Betonung des „Staatsganzen“ gegenüber allen gesellschaftlidien Teilgruppen wandte sich Messer — in der Tradition des deutschen liberalen Kulturstaates stehend — auch nicht zuletzt gegen die Auffassungen von einer ausschließlich „sozialen“ Erziehung, wie sie damals etwa von Paul Natorp, Fr. Wilhelm Foerster und anderen vertreten wurde, eine Erziehung, die nicht mehr im nationalen Staat die umfassendste und verbindliche Gemeinschaftsform sah, auf die hin politisch und sozial zu erziehen sei, sondern die die Bedeutung der vor-und außerstaatlichen „primären" Gemeinschaftsformen betonte und damit in einem gewissen Sinne zum Vorläufer der „mitbürgerlichen“ und „partnerschaftlichen“ Erziehungsauffassungen von heute wurden.
Für Messer stand jedenfalls der Staat im Zentrum
So wird deutlich, wie hier das aus der deutschen idealistischen Philosophie kommende Staatsethos zu einem schon späten Zeitpunkt noch einmal eine Nachblüte erlebt im monarshisehen Staat des deutschen Kaiserreiches. Der Staat ist ein sittliches Ganzes; der Dienst an und in ihm ist deshalb sittliche Tat und sittliches Handeln. Der einzelne ist, unbeschadet der Autonomie seines Gewissens, zu diesem Dienst verpflichtet im Sinne seiner praktischen Vernunft. Er wird überhaupt nur im Vollsinne zur sittlichen Persönlichkeit durch diese Teilnahme am Staat. Als sittliches Wesen ist er ein „zoon politicon“. Politische und sittliche Existenz sind unauflösbar miteinander verknüpft.
Welches sind nun bei Messer die Gründe, die ihm die staatsbürgerliche Erziehung unumgänglich notwendig erscheinen lassen, und welche Bedeutung kommt ihr unter den gegebenen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen zu? Der moderne Verfassungsstaat zieht seine männlichen Bürger — Messer fügt hinzu, ohne darauf allerdings besonderen Nachdruck zu legen: später vielleicht auch einmal die Frauen — schon durch die Ausübung des Wahlrechts, aber auch durch die Betätigung in der bürgerlichen Selbstverwaltung zur Anteilnahme am Staats-ganzen heran
Deutschland war nach 1871 vom Agrarstaat zum Industrie-und Handelsstaat geworden. Wirtschaftliche Bildung breiter Schichten wurde daher dringend notwendig. Auch Messer teilte deshalb mit vielen anderen führenden Pädagogen der Zeit die Aufmerksamkeit gegenüber dem gerade in der Entfaltung begriffenen Berufs-und Fortbildungsschulwesen. Schließlich brauchten die Deutschen aber gerade als „WeltmachtVolk" eine Erziehung zum Verständnis der auswärtigen Politik der eigenen Regierung, ein Wissen um die geographischen Zusammenhänge und die Machtverhältnisse in der Welt. Diese verbreitete Forderung nach „realistischer" Bildung wurde somit auch zu einem der Antriebe zur politischen Bildung und Erziehung.
Auch Messer weist auf die Gefährdung des Reiches hin durch die mannigfachen partikularen Kräfte: politische, weltanschaulich-konfessionelle und gesellschaftliche. Politische Erziehung muß daher Erziehung zu Staatsbewußtsein, zum Willen zur Staatseinheit sein, jenseits aller partikularen Tendenzen und pluralistischen Mächte. Eine solche objektive, parteilose staatsbürgerliche Erziehung ist für Messer schon deshalb nötig, weil ja auch die großen Weltanschauungsparteien wie die SPD und das Zentrum mit politischer Erziehung als „Parteierziehung" bereits begonnen hatten
Messer stand, in Fortführung des kaiserlichen Programms von 1890, durchaus auf dem Boden des monarchischen Staates gegenüber allen „zentrifugalen Tendenzen", auch wenn er die Schäden der bestehenden Ordnung so deutlich wie nur einer erkannte. Dabei war er weit davon entfernt, der „Parteierziehung" ihre Teilberechtigung zu versagen. Sie war als „soziale" Erziehung immer noch tausendmal besser als die „stumpfe Teilnahmslosigkeit des Philisters", wenn sie nur ihre Grenzen, eben ihre Teilhaftigkeit, erkannte. Dann brauchte sie auch eine „ganzheitliche“ patriotische und nationale Erziehung nicht auszuschließen, sondern mußte sie im Gegenteil sogar fordern. Hier nahm Messer auch die Bedenken auf, ob denn katholische, sozialistische oder freisinnige Lehrer zum bestehenden Staat hin erziehen könnten. Er vertraute dem Takt und der Einsicht der Lehrerschaft, daß sie Parteipolitik nicht in die politische Erziehung hineintragen würde: es gab immerhin eine breite Zone des Gemeinsamen und der Objektivität. Und Objektivität war ohnedies nicht mit Standpunktlosigkeit zu verwechseln.
Primat der politischen Geschichte
Der Schwerpunkt der staatsbürgerlichen Erziehung lag auch für Messer in der staatlichen Schule
In der Diskussion „Fach oder Unterrichts-prinzip“
Erziehung zum Rechts-und Kulturstaat
Staatsbürgerliche Erziehung war für Messer eine Erziehung zum Staat als Rechts-und Kulturstaat. Hier stimmte er mit der ganzen deutschen Tradition des Kulturstaatsideals überein. Mit zeitgenössischen Pädagogen wie Georg Kerschensteiner war er aber auch darin einig, daß diese staatsbürgerliche Erziehung keinesfalls identisch sein könne mit bloßer Belehrung und Kunde, auch nicht mit einer nur „wirtschaftsbürgerlichen" Bildung. Der der staatsbürgerlichen Erziehung zugrundeliegende Bildungsund Erziehungsbegriff richtet sich viel mehr ganzheitlich gleichermaßen auf Erkenntnis, Willen und Gefühl. Deshalb stimmte Messer mit Kerschensteiner darin überein, daß die Pflege der Charaktereigenschaften und nicht zuletzt die Gewöhnung einen zentralen Platz in der politischen Erziehung haben. Er war überzeugt, daß von gemeinsam verrichteter Arbeit hohe erzieherische Wirkungen ausgehen, weshalb er Kerschensteiners Arbeitsschul-Pädagogik zustimmte. Dasselbe galt für die Schülerselbstverwaltung innerhalb eines bestimmten konkreten Rahmens. Die von Friedrich Wilhelm Foerster empfohlene, am amerikanischen und englischen Beispiel des „School City Systems“ orientierte Schülerselbstregierung mit ihrer spielerischen Nachahmung parlamentarischer Formen sah Messer freilich in der ständigen Gefahr einer „disziplinlosen Revolutionierung" durch starke, individualistische Naturen, durch die das Modell einer sich aus gemeinsamer Gruppenarbeit herausbildenden wirklichen Führernatur immer wieder gefährdet wurde
Die didaktischen Vorschläge Messers für die staatsbürgerliche Erziehung sind vielfach erstaunlich modern und aufgeschlossen und zeigen, was selbst in der politischen Erziehung des monarchischen Staates möglich war. So gibt Messer beispielsweise die Anregung, mit Abschlußklassen und älteren Schülern die Rathäuser und Stadtverordnetenversammlungen zu besuchen, Industriebetriebe, Museen und Ausstellungen zu besichtigen oder im Unterricht etwa den Gemeindehaushalt zu besprechen und den Schülern Anleitung zum Lesen der Zeitungen oder der Kursnotierungen der Börsen zu vermitteln
Politische Pädagogik zwischen Tradition und Fortschritt
Gerade am politischen und pädagogischen Standort eines Mannes wie Messer wird die Situation der politischen Pädagogik im monarchischen Staat deutlich. Die in Gefühl und Tradition verwurzelten politischen und sozialen „Selbstverständlichkeiten" waren zerbrochen. Bildung und Erziehung, Einsicht und Wille hatten in einer dynamisch gewordenen modernen Gesellschaft an ihre Stelle zu treten. Die Entwicklung ließ sich nicht, wie die Konservativen glaubten, zurückschrauben oder aufhalten. Gerade an diesen Forderungen des Neuen entzündete sich die neue politische Erziehung und Bil 4 düng, die von Pädagogen wie Messer, Kerschensteiner und anderen aber durchaus auf dem Bo-den und im Rahmen einer reformistischen Fort-entwicklung des bestehenden monarchischen Staates für möglich erachtet wurde.
Freilich war die Praxis der politischen Erziehung, wie wir gesehen haben, keineswegs auf der Höhe der einsichtigen Überlegungen dieser führenden Theoretiker, sondern erschöpf'1 te sich weithin in dem Versuch, die bestehende Ordnung zu rechtfertigen und zu sanktionieren.
Dabei war das Bestreben durchaus legitim, für diese notwendig gewordene politische Pädagogik eine verbindliche geistige Basis, ein Integrationszentrum zu gewinnen, denn Erziehung ist nun einmal, wie Wilhelm Flitner es formuliert hat, „nur möglich in Lebenskreisen, die durch einen Konsensus über das Daseinsverständnis in sidt geeinigt sind". Daß dieses Zentrum im „nationalen Gedanken", in der nationalen Kultur-und Geisteswelt der Bismarcksdien Reichsschöpfung gesehen wurde, lag im Zug der Zeit und verbindet die politische Pädagogik im Kaiserreich geistesgeschichtlich unmittelbar mit der staatsbürgerlichen Pädagogik in der Zeit der Weimarer Republik.
Die Frage nach den gemeinsamen Grundlagen, Werten und Zielsetzungen ist darüber hinaus bis heute die Grundfrage der politischen Bildung und Erziehung in Deutschland geblieben. Damit aber ist die politische Pädagogik aufs engste hineinverflochten in die deutsche geistesgeschichtliche und politische Entwicklung als Ganzes, woraus ihre Problematik und die Erkenntnis der Grenzen ihrer Möglichkeiten entspringt. Immer wieder konnte so die politische Pädagogik bei uns in Gefahr geraten, entweder zu einem bloßen Instrument der herrschenden Ordnung herabzusinken oder aber in der utopischen und ideologischen Überschätzung ihrer Möglichkeiten alle Grenzen zu überfliegen. Schon diese erste Phase der modernen politischen Pädagogik in Deutschland macht jedenfalls deutlich, wie die Selbstverständlichkeiten des sozialen und politischen Raumes für die politische Erziehung und Bildung sowohl unentbehrliche Grundlage sein als auch Hemmung und Verknöcherung mit sich bringen können, und wie die Antriebe der politischen Pädagogik in einem ständigen dialektischen Verhältnis stehen zu den Ordnungsformen und -Inhalten des konkreten sozialen und politischen Lebens, sie gleicherweise bestätigend und in Frage stellend.
Nationalpädagogik im Zeichen des Verfassungsstaates
Im Fluß der geschichtlichen Entwicklung gibt es niemals so eindeutige und klare Einschnitte, wie sie die rückschauende Betrachtung nachträglich zu markieren pflegt. Zumal in der Geistes-und Bildungsgeschichte haben wir es zumeist mit allmählichen und fließenden Übergängen zu tun. Tendenzen und Akzente verstärken und verdeutlichen sich, die oft schon lange angelegt und vorhanden waren, andere treten zurück, werden schwächer und schwächer und lösen sich endlich langsam ganz auf. Im vorausgehenden Kapitel ist bereits deutlich geworden, wie die demokratisch-republikanische Tendenz eigentlich schon vom Beginn des neuen Kaiserreichs an in den geistigen und gesellschaftlichen Entwicklungbedingungen Deutschlands vorhanden gewesen ist. Der Prozeß der Demokratisierung, die Sprengung der herkömlichen „geschlossenen“ gesellschaftlichen Strukturen des alten Obrigkeitsstaates, die Pluralisierung einer bis dahin weitgehend homogenen bürgerlich-feudalen Gesellschaft, das Auftauchen ganz neuer gesellschaftlicher Schichten und ihrer Ansprüche — man denke nur an die machtvoll sich entwickelnde sozialistische Bewegung und an den politischen Katholizismus —, das alles mußte seine Wirkungen auch nicht zu-letzt im Raum der politischen Pädagogik zeitigen. Je äußerlicher und blasser die Werte des monarchisch-vaterländischen Staates im Zeitalter des „Wilheiminismus“ wurden, desto mehr wurde in der Pädagogik gerade das Kulturstaatsideal zu einem letzten, obersten Bezugspunkt. Dieses Ideal des nationalen Kultur-und Rechtsstaates, das in der Philosophie des deutschen Idealismus wurzelte und das Staatsideal des deutschen Liberalismus des 19. Jahrhunderts gewesen war, hatte im Zeichen der nationalliberalen Sammlung seine geistigen Wirkungen auch auf die Schöpfung des Bismarckstaates ausgeübt. Aber diese in sich zwiespältige und nicht sonderlich kräftige Synthese trat nun unter den Anforderungen der neuen Zeit wieder auseinander. Immer deutlicher traten nun auch in der deutschen Bildungs-und Geisteswelt ein konservativ-monarchisches Lager und ein liberal-demokratisches Lager einander gegenüber, wobei sich letzteres als das „fortschrittliche“, den geistigen und soziologischen Veränderungen Rechnung tragende Element verstand. Geist und Macht, Staat und Erziehung marschierten unter den Bedingungen der wilhelminischen Ära nicht mehr länger miteinander.
Friedrich Wilhelm Foerster
Der Abstand zur preußisch-deutschen Staatlichkeit des Bismarck-Reiches kommt in der Gestalt Friedrich Wilhelm Foersters vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck
Es kann sich in dieser kurzen Würdigung seiner Position im Rahmen der deutschen politischen Pädagogik nicht darum handeln, seine Gestalt und seine — auch über die deutschen Grenzen hinaus ausstrahlende — pädagogische Wirksamkeit in ihrer ganzen Breite nachzuzeichnen. Er war gewiß kein „zünftiger" Pädagoge, der „kras. este Antipode einer wissenschaftlichen Pädagogik"
Politische Bildung ist mehr als soziale Erziehung Diese konnte sich nicht mehr länger zufriedengeben mit der „sozialisierenden und konzentrierenden Kraft“ des alten Patriotismus und konnte sich nicht mehr länger gründen „auf bloßen politischen Instinkten und vagen sozialen Gefühlen“
Entsprechend diesem seinem demokratischen Staatsideal forderte Foerster für die Erziehung vor allem die „Verfeinerung unserer Methoden in der Entfesselung und Bindung seelisdter Kräfte“. An die Stelle der bisherigen „polizeilich-repressiven Art der Disziplinierung“ sollte eine „verfeinerte“ Psychologie und Pädagogik des Befehlens und Gehorchens treten
Vieles von dem, was Foerster einst als Vorkämpfer der „Moderne“ in der Pädagogik verfocht, ist heute zum selbstverständlichen Gemeingut sozialer Erziehung geworden, sei es sein Kampf gegen die rein intellektuelle „Belehrung“, seien es seine Hinweise auf die angelsächsischen Formen jugendlicher Selbstregierung und Selbsterziehung im School City System, im Pfadfinderwesen etc. Schließlich darf er auch zu den Vätern der modernen Betriebspsychologie und -pädagogik in Deutschland gezählt werden, vertrat er doch die heute modische Praxis der „human relations“ schon zu einer Zeit, als in der deutschen Industrie der Herr-im-Haus-Standpunkt noch weithin unangefochten galt
Politische Erziehung braucht zwar soziale Erziehung als ihr Fundament, aber sie ist nicht schlechthin mit dieser identisch. Foerster grenzte sich deshalb, ähnlich wie auch Kerschensteiner, deutlich ab gegenüber einer bloßen „Sozialpädagogik“ — etwa Natorps oder Wynekens —, die stets in der Gefahr ist, zu bloßem „Korporationsegoismus“ zu führen, zu einer „Übermacht der Kameraderie“, die alle Gegengewichte der „Charakterkraft“ zugunsten einer reibungslosen Anpassung und Einpassung auszuschalten trachtet
Die eigentliche Stärke Foersters war seine empirisch-induktive Begabung. Durch sie fand er zu Erkenntnissen, die bis heute ihre Gültigkeit bewahrt haben. Er kritisierte die „vagen Zielvorstellungen in der bisherigen staatsbürgerlichen Literatur“
Dies eben, dem Übel an die Wurzel zu gehen, betrachtete Foerster immer als seine eigentliche ethische und im weitesten Sinne daher auch politische Aufgabe. So wurde er zu einem unbestechlichen und tapferen Kritiker der wilhelminischen Ära, mit allen Konsequenzen, die er mutig auf sich nahm. Warnend sah er das „Erschlaffen der staatsbildenden und staatserhaltenden Gefühle“ in unserem Lande, die vielen Untugenden des „neudeutschen Leistungsmenschentums", das seit den Gründerjahren emporgekommen war
Würdigung und Kritik Foersters
Alles das und manches mehr wird man zu würdigen haben, wenn man sagt, daß die deutsche politische Pädagogik diesem Mann und seinem unantastbaren patriotischen Wollen noch eine Ehrenerklärung schuldet. Eine ganz andere Frage freilich erhebt sich, wenn nach den Ursachen für die im ganzen doch geringe Wirkung Foersters gerade im Raum der politischen Pädagogik in Deutschland geforscht wird. Hier wird man nicht ohne weiteres allein auf einen blinden „Zeitgeist“ verweisen dürfen, sondern ebensosehr auf die Tatsache, daß Foerster eigentlich gar nicht mit diesem Zeitgeist in ein wirkliches Gespräch eingetreten ist, sondern dem Gegebenen einfach seine hochgespannten, das Politische in Pädagogik und Kooperations-Psychologie auflösenden ethischen Forderungen entgegenstellte. Wenn Foerster etwa der Bismarck-sehen Reichsgründung den radikalen „Abfall“ von der eigentlichen deutschen Tradition, vom »übernationalen Beruf“ der Deutschen vorwarf, dann stellte er sich damit frontal gegen die überwiegende Mehrheit der Deutschen bis hin zur Sozialdemokratie
Zwar betonte Foerster immer wieder, daß es ihm um eine „Synthese" ging, um die Verbindung des modernen demokratischen Massenwillens mit der „von einer Aristokratie getragenen Kulturtradition
Zwar wies er darauf hin, daß er nicht zu jenen gehöre, „die dem Frieden aus bloßer Schwäche anhängen. Nicht der Friede, sondern die Wahrheit ist das höchste Gut.
Und um ihretwillen sind Trennungen und Konflikte nicht zu umgehen“
konnte sich Foerster offensichtlich nicht in jener politisch-existenziellen Dichte und Tragik vorstellen, die sich niemals durch einfache „verbale Moralisation" und durch Friedensappelle hinwegdekretieren läßt. Wer gegen die These der Macht einfach die Antithese eines angeblich überzeitlichen Rechtes setzte, wer gegen „Cäsar", sehr „religiös“ und „liberal", „Christus“ ins Feld rief
So zeigt sich gerade an der politischen Pädagogik Friedrich Wilhelm Foersters eindringlich, wie eine politische Erziehungs-und Bildungslehre bei allem hohen Ethos, ehrlichem Wollen und reicher pädagogischer Fruchtbarkeit im einzelnen letztlich unwirksam bleiben muß, wenn sie sich nicht mit den realen geschichtlich-politischen Horizonten vertraut macht, innerhalb deren sie wirksam werden will. So wenig eine politische Pädagogik wirklichkeitsgerecht ist, die die gegebene politische Ordnung unbesehen sanktioniert und heilig spricht, sowenig kann sie ihrem Auftrag wirklich gerecht werden, wenn sie den Ernst der Bindung an einen bestimmten politischen „Ort“ aufzugeben bereit ist durch den Rückzug in den rein personalen Bereich oder durch die Rechtfertigung des Staates allein aus seiner sittlichen „Kulturaufgabe" und damit den gegebenen Staat negiert zugunsten eines philosophisch oder pädagogisch oder wie auch immer zurecht gemachten Idealstaates.
Die politische Pädagogik hat nun einmal die dadurch angezeigte Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit stets erneut auszuhalten und in Theorie und Praxis fruchtbar zu gestalten. Sie kann dieser Spannung gar nicht entfliehen, weil diese zu ihrem Wesen gehört. Sie kann sie zwar aufzuheben versuchen, aber nicht, ohne dadurch ihrem eigentlichen Auftrag zu entsagen, immer wieder die Blickrichtung allen erzieherischen Tuns auf die politische Gemeinschaft zu lenken. Auch Foerster scheiterte letztlich daran, daß er der konkreten deutschen Staatlichkeit entfliehen wollte auf der Suche nach einem utopischen demokratischen Idealstaat, der doch im Grunde nichts anderes war als seine persönliche pädagogische Provinz. So trägt auch er ein Stüde Verantwortung dafür, daß die deutsche politische Pädagogik Macht und Recht, Patriotismus und Freiheitsgeist, Staatsgefühl und Zivilcourage nicht zu jener fraglosen Einheit verschmolz, wie wir sie bei den anderen großen demokratischen Staatsnationen so selbstverständlich finden.
Georg Kerschensteiner und das Kulturstaatsideal
Im Unterschied zu dem universalistischen Syntheseversuch Foersters hat Georg Kerschensteiner die Probleme der politischen Erziehung und Bildung nach dem Zusammenbruch der Monarchie vor allem durch den Rüdegriff auf die deutsche idealistische Staats-und Erziehungsphilosophie zu bewältigen versucht. Im Gegensatz zu Foerster war er auch nicht nur ein geistreicher pädagogischer Autodidakt und Empiriker, sondern ein Mann der Schule und der Schulverwaltung, welcher allein schon durch diese konkreten Erfahrungsbereiche vor einer Überschätzung des in der Erziehung Möglichen bewahrt wurde und die Aufgaben politischer Erziehung vom Boden des Gegebenen aus angriff
Vor allem durch seine kleine aber gehaltvolle Schrift „Der Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung“, die 1910 erstmalig erschien
Obwohl Kerschensteiner von Hause aus Gymnasiallehrer war, lernte er als Münchener Stadt-schulrat das Schulwesen seiner Zeit und die pädagogischen Probleme, die es bot, in ihrer ganzen Breite kennen. Die Überlegenheit seiner Sicht gegenüber den Auffassungen, die um diese Zeit unter seinen Kollegen herrschten, wird daraus verständlich. Insbesondere war er aufgeschlossen für die Fragen des gerade in dem Jahrzehnt vor dem Krieg im Aufbau befindlichen Berufsschulwesens. Hier wurde ja zuerst das Zurücktreten der monarchischen Staatsform für die politische Pädagogik erkennbar. Hier wurde immer mehr auf der Grundlage eines Staatsbürgerideals erzogen, das sich nicht mehr ohne weiteres am bestehenden monarchischen Staat orientierte, sondern das vor allem die Bedeutung des modernen Staates, seiner Aufgaben und Leistungen für den einzelnen und für die Gesellschaft betonte.
Kerschensteiner sieht seine pädagogische Aufgabe bewußt im Rahmen der „Demokratisierung" des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens, wie sie durch den Sturz der Monarchie zu einem entscheidenden Durchbruch gelangt war. Die staatsbürgerliche Erziehung im neuen republikanisch-demokratischen Staat erhielt ihren Auftrag unmittelbar aus Geist und Buchstaben der Verfassung
Dieser idealistische Kulturstaat der deutschen liberalen Tradition, der bei Kerschensteiner nochmals eine politisch-pädagogische Begründung erfährt, der „Vernunftstaat“ im Sinne Kants und Schillers, ist zugleich auch Rechts-und Verfassungsstaat
Dabei war sich Kerschensteiner als ein durch die geschichtliche Bildung des 19. Jahrhunderts gegangener Liberaler der Bedeutung der historischen Kontinuität voll bewußt, in der auch der neue deutsche republikanische Volksstaat stand. Er verstand unter der Idee eines sittlichen Gemeinwesens nicht einen abstrakt-utopischen Idealstaat im Sinne Platons, Fichtes oder auch Friedrich Wilhelm Foersters. Dies ließ ihn die Bedeutung des nationalen Bewußtseins und des Vaterlandsgefühls für die staatsbürgerliche Erziehung nicht gering achten
Im Zuge seines idealistischen Erziehungszieles stellte Kerschensteiner an den wohlgebildeten Staatsbürger — oder wie er es nannte: an den „staatsbürgerlichen Charakter“
Die Praxis ist entscheidend
Dieser Einfluß des englischen Modells verband sich schließlich mit den fruchtbaren Erkenntnissen, die der „geborene Erzieher“ in der Schule selbst gewonnen hatte. So wurde Kerschensteiner einer der ersten in Deutschland, die mit Überzeugungskraft die Erkenntnis verfochten, daß Erziehung im allgemeinen und staatsbürgerliche Erziehung ganz besonders mehr Übung und Gewöhnung als theoretisch-intellektuelle Belehrung ist
Hier war Kerschensteiner in der Tat bei aller Hochgespanntheit seiner staatsbürgerlichen Erziehungsideale sehr konkret, sehr nüchtern und sehr praktisch. Aber dazu waren der Umbau des Schulbetriebs und die Änderung des Schulklimas nötig. So kam Kerschensteiner dazu, sein Arbeitsschulprinzip, jenes englische „do it by yourself", das Lernen durch Selbstmachen, auch auf die politische Erziehung anzuwenden
Die Kritik an Kerschensteiners staatsbürgerlicher Erziehung ist von Anfang an nicht ausgeblieben. Kritisierten die einen das Arbeitsschulprinzip als „formal“, dann die anderen die Verknüpfung der staatsbürgerlichen Erziehung mit dem Berufsgedanken als utilitaristisch und ökonomistisch. Man ibersah dabei, daß es Kerschensteiner vor allem darum ging, die politische Bildung und Erziehung von einem intellektualistischen Bildungsbegriff und einem illusorisch gewordenen Allgemeinbildungsideal zu lösen und auf die modernen wirtschaftlichen und sozialpsychologischen Notwendigkeiten abzustimmen. Sicherlich: auch und gerade Kerschensteiners politische Pädagogik stand und fiel mit der Idee vom nationalen Kulturstaat als tragendem Grund und letztem Bildungs-und Erziehungsziel. Noch einmal zeigte sich in der Geschichte der deutschen politischen Pädagogik das deutsche Schicksal der „verspäteten Nation". Schon bald nach der Errichtung der ersten deutschen Republik entsprach die Zielsetzung des nationalen und liberalen Kultur-und Verfassungsstaates, der diese politische Pädagogik ver-bunden war, nicht mehr der geistigen und gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem Wollen einer Mehrheit des Volkes. Sie wurde in der vorliegenden Form sehr rasch zur „Bildungsideologie"
Carl-Heinrich Becker und die nationale Einheitskultur
Dieses Schicksal des nationalen Kulturstaatsideals wird auch deutlich an dem geistig-politischen Standort eines Mannes, der mit am stärksten die offizielle Kultur-und Bildungspolitik der Weimarer Republik bestimmte, des langjährigen preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker
Becker verstand seine Aufgabe als „Treuhänderschaft" im Dienst des deutschen Volkes und seiner Kultur. Man hat deshalb sein Programm einer „parteipolitischen Neutralisierung der deutschen Kulturpolitik" mit der Linie der Reichswehr in der Ära Gesslers und Seeckts verglichen, die Verkörperung des Staates an sich, der reinen Staatlichkeit jenseits der Parteien und Gruppen darzustellen
In der Gestalt Beckers begegnen wir somit noch einmal jenem Versuch der Synthese von nationalem Staat und deutscher Kultur, wie sie seit der Goethezeit und dem Zeitalter der deutschen Erhebung das Ziel der besten Patrioten gewesen war. Becker war kein historischer Bilderstürmer, sondern er ordnete sich bewußt und überzeugt in die Kontinuität der deutschen Volks-und Staatsgeschichte ein
Das Ziel aller staatlichen Kulturpolitik war deshalb für Becker nichts anderes als die Schaffung einer „deutschen Einheitskultur", wie sie die anderen beneideten Staatsnationen schon längst besaßen. Alle politische Erziehung stand für ihn im Dienst solcher Nationwerdung durch die Schaffung einer umfassenden und freien nationalen Einheitskultur