Eine deutsche Lehrerin aus Siebenbürgen wird im Mai 1945 in Rumänien von der Geheimpolizei verhaftet — erst im September 1959 ist sie wieder ein freier Mensch. Dazwischen liegen Jahren der Entbehrungen und der Hoffnungslosigkeit, Jahre der Zwangsarbeit in den Lagern Workutas, in denen unzählige ihrer Leidensgenossen ihr Leben verloren.
über Workuta sind in der Beilage schon mehrere Berichte erschienen, so u. a. „Die Toten kehren zurück* (13., 20. und 27. April 1955) und „Entstehung der subarktischen Großstadt Workuta" (19. Febr. 1958). In den Beilagen vom 8. 2. und 15. 2. 1961 wurde nun zum erstenmal über die Zeit nach der „Auflösung" der Lager und die seit 1956 allmählich eingetretene Verbesserung der äußeren Lebensbedingungen berichtet. Diese Veröffentlichung der Aufzeichnungen von Albertine Hönig wird in der heutigen Ausgabe der Beilage abgeschlossen.
9. Erster Fernsehturm in der Sowjetarktis
Auf dem Platze der Komsomolzen im alten Zentrum Workutas befindet sich heute ein Bus-Bahnhof, von dem man in großen, verhältnismäßig gut instandgehaltenen Bussen in kurzer Zeit die verschiedensten Bergwerke der Kohlen-mulde erreichen kann. Eine dieser Buslinien führt über die Haltestellen „Gastronom", „Leninplatz", „Depo" (mit Bergakademie), „Predschachtnaja" (mit Fernsehturm), „Trest“ (mit Hauptverwaltung der Straßenbauabteilung) in die Gornjazkijer Siedlung, das ehemalige zweite Rayon.
Wer noch vor vier Jahren bei der Haltestelle »Predschachtnaja" (Vorschacht) ausstieg, sah inmitten freier Tundra vor sich eine kleine Siedlung liegen. Sie bestand aus niedrigen, schiefen Baracken, von doppeltem Stacheldraht umzäunt. Es war eines der drei Frauenregimelager Workutas, die insgesamt etwa 5000— 6000 Strafgefangene Frauen beherbergten, darunter bis zum Jahre 1954/55 auch rund 500 deutsche Frauen. Seit 1957 ist das ehemalige Frauenlagef Predschachtnaja eine freie Siedlung.
Die früheren hölzernen Gehsteige sind heute durch asphaltierte ersetzt. Schmale Grünflächen breiten sich zwischen ihnen und den Häuserfronten aus. Einige der alten Baracken sind überholt und als Gemeinschaftshäuser für unverheiratete Arbeiter eingerichtet. In neuen zweistöckigen Block-oder Ziegelhäusern wohnen Facharbeiter mit ihren Familien sowie Ingenieure, Techniker und Monteure des Leningrader Kollektivs für den Bau von Fernsehtürmen. Um diese Arbeit des Kollektivs rascher vorwärts zu treiben, wurden auch Facharbeiter aus verschiedenen Betrieben anderer Städte für zwei Jahre nach Workuta abgestellt. Aufgabe des Leningrader Kollektivs war es, auf dem Gelände des ehemaligen Straflagers innerhalb von zwei Jahren den ersten Fersehturm der sowjetischen Arktis zu errichten, um Sendungen von Workuta aus in einem Umkreise von 150 Kilometern auszustrahlen.
Das Stahlgerüst wächst immer höher, nur die schlimmsten Schneestürme und die Minus 50-Grad-Tage unterbrechen für kurze Stunden die rasch vorwärtsschreitende Arbeit. Unter Mithilfe der Sondermontageabteilung des Kombinates Petschor-schachto-stroi (Petschoraer Bergwerks-und Baugesellschaft) ist der Fernsehturm bis zum Frühjahr 1959 fertiggestellt. Mit den Sendungen möchte man eigentlich erst im Herbst des Jahres beginnen, damit die technische Anlage gründlich überprüft und ein bestimmtes Niveau der Übertragungen gewährleistet werde. Doch die Ungeduld des Fernsehpublikums for-dert eine schnellere Inbetriebnahme. Die erste Moskauer Überprüfungskommission lehnt diese ab, weil verschiedene technische Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Das Leningrader Kollektiv verbessert einiges und dann wird beim verantwortlichen Ministerium in Moskau die Anerkennnung durchgedrückt. Schnell ist auch das Kollektiv des Workutaer Fernsehens zusammengestellt. In Parteikreisen gibt es einige Enttäuschungen; nicht alle Versprechungen, an Parteimitglieder gemacht, sind eingehalten worden. Natürlich gehören der Direktor und diejenigen seiner Mitglieder, die mit der Gestaltung des Programms beschäftigt sind, der Partei an. Für alte Workutjaner, die sich noch an die zerlumpten Menschenhaufen der ehemaligen Straflager erinnern, ist es immerhin ein merkwürdiger Anblick, als bei der feierlichen Freigabe des Fernsehens die eleganten Moskauer in kostbaren Pelzen erscheinen, die Damen der Workutaer Gesellschaft in hohen Hackenschuhen einher-stelzen und die „Diktorinnen“ (Ansagerinnen) ihr starkes Make-up zur Schau tragen.
Probesendungen
Die erste Sendung sehen noch sehr wenige mit. Es gibt zu wenig Apparate. Außer bei den Wirtschafts-, Partei-und Staatsbeamten finden sie sich anfangs nur in Klubräumen und einigen „Schönen Ecken" der Gemeinschaftshäuser. Es sind Znamja-, Oktjabr-und Rektortypen; der Bildschirm etliche 20 mal etliche 30 Zentimeter groß. In Moskau und Leningrad soll es viel neuere und besser funktionierende Typen geben, darum sei es klüger, sich mit dem Kauf nicht so zu beeilen, sagt man. Und doch fiebert jeder nach einem Apparat! Sein Preis bewegt sich zwischen 1 500— 3 000 Rubel. Ein Jahresabonnement kostet rund 70 Rubel. Wenn man von dem Eintreffen einer neuen Sendung erfährt, bildet sich vor dem Staatsgeschäft schon zwei Tage vorher eine Schlange, bis dann endlich ganze 8— 10 Apparate ankommen und verkauft werden!
Die erste Sendung verläuft aufregend genug. Kaum begonnen, schon zerronnen. Ein unvorhergesehener Brand im Studio macht allem schnell ein Ende. Bei der zweiten Probesendung sieht man doch einiges. Das Schachbrett erscheint auf dem Bildschirm, der Hausherr reguliert, er schraubt und dreht, vorne, hinten, rechts und links am Apparat, das Schachbrett flimmert, wird von Strichen durchzogen, von Nebel umwölkt, rollt rasend von oben nach unten ab, schließlich ertönt die Stimme des Diktors . .. aber man sieht ihn nicht! Anruf durch das Telefon an einen Nachbarn: Wie steht es bei euch? — Wir sehen! — Es wird weiter geschraubt. Endlich erscheint der rothaarige Diktor auf dem Bildschirm. Draußen ertönt die Klingel, aus dem Nachbarhaus kommt einer durch den meterhohen Schnee gelaufen, er funktioniert noch immer nicht.
Dann sieht und hört man endlich. Einige Chansons, auf französisch und russisch gesungen; es folgt ein Filmstreifen aus dem Leben der Neger in Afrika. Eine weiße Frau liebt einen Neger, geht mit ihm ein Verhältnis ein und ist so mit schuld an der darauf durch Weiße durchgeführten Vernichtung des Negerkrals. Die ganze Sache ist naiv und primitiv dargestellt. Die Weißen sind selbstverständlich Engländer, da heißt es: Seht die Rassendiskriminierung! Tod den Kolonialherren! — Aber auch ein Stück so-wjetischer Erziehung ist mit dabei, das lautet also: Neger sollen unter sich bleiben, Sowjet-bürger unter Sowjetbürgern! — Dabei erinnere ich mich an ein Vorkommnis, das sich bei dem großen Jugendfestival im Jahre 1957 in Moskau ereignet hatte. Dort wurden tagsüber große Reden geschwungen von „Freundschaft über alles" und Lieder gesungen, wie: Kommt, laßt uns für ewig Freundschaft schließen, wunderbare Jugend aus allen Ländern und Völkern! Wenn aber abends einige Jugendliche verschiedener Hautfarbe diese Aufforderung nun zu realistisch nahmen, wurden sie von der Polizeistreife getrennt und den sowjetischen Mädchen für ihr ungebührliches Betragen das Haar abgeschnitten.
Es folgten weitere Probesendungen, immer die gleichen Streifen, bis allmählich alles in ein wenn auch holpriges Gleise kam. Aus den anfänglichen zwei wöchentlichen Vorführungen wurden vier Abende und ein Kindernachmittag am Sonntag. Meine sowjetischen Bekannten wußten, daß ich vor 1945, vor meiner Gefangennahme, noch nie vor einem Fernsehapparat gesessen hatte. Sie waren stolz darauf, mir etwas zu zeigen, was ich noch nicht kannte. Leider verhielt ich mich ihrem liebenswürdigen Entge-genkommen gegenüber etwas undankbar und versäumte viele Sendungen, einmal, weil mir das ständige Flimmern Kopfschmerzen bereitete und dann, weil ich das gelenkte Programm nicht immer schlucken mochte.
Wenn auch oft das angekündigte Programm durch andere Nummern ersetzt wird, wenn die technische Wiedergabe sehr unterschiedlich ist, wenn manchmal die Bilder so verzerrt erscheinen, daß die Menschen den Bewohnern unbekannter Sterne ähnlicher sehen, die Zahl des Fernsehpublikums wächst zusehends. Schon gibt es einige Tausend Apparate in Workuta. Oben in Chalmerju, dem nördlichsten Kohlenbergwerk, 100 Kilometer vom Eismeer entfernt, sitzt man vor dem Bildschirm, ebenso im Westen der Kohlenmulde in Worga-Schor, auf den Farmen der Staatsgüter sitzen sie in den Klubräumen beisammen, die russischen Beamten und Brigadiere, die Arbeiter aus dem Volke der Komi und die Hirten aus dem Nomadenvolke der Nenzen. Soweit letztere die russische Sprache noch nicht beherrschen, sehen sie doch Bilder aus einer großen Welt. Es ist die großartigste Möglichkeit für sowjetische Propaganda und Erziehung. Wer wollte diese besser nützen als die Sowjetführung?
Ein Abendprogramm
Ein Abendprogramm hat etwa folgende Zusammenstellung: 1. Der Workutaer Prolog. Begleitet von aufreizender Marschmusik ziehen Ausschnitte aus dem Leben Workutas vorbei, Kumpel marschieren in neuer Ausrüstung zum Schichtwechsel in die Kohlengruben, elektrische Bohrer dröhnen, lange Lorenzüge befördern die Kohle, neue Lokomotiven rollen aus der Maschinenfabrik, am Kulturpalast wird gebaut, die elektrische Brot-fabrik arbeitet auf Hochtouren, große Transporte Konfektionswaren sind eingetroffen, Vergnügungsdampfer, Motorboote und Segelschiffe fahren auf der Workuta, Eishockey wird gespielt, Ski-und Fußballwettkämpfe durchgeführt, Turnwettkämpfe gezeigt und anderes mehr. Es ist natürlich alles ausgesucht, besonders vorteilhaft gestellt, aber es ist ein Ausschnitt aus dem heutigen Leben und der Arbeit in dieser Polarstadt und man ist sehr stolz auf das Geleistete. 2. Die politischen Nachrichten, gesprochen von einem Parteimitglied. 3. Workutaer Nachrichten oder der Vortrag eines Parteimannes. Hier wird aus der Arbeit berichtet, von Erfolgen und Mißerfolgen, Namen werden genannt, gelobt und getadelt. Manch ein Wirtschaftsfunktionär wartet mit geheimer Nervosität, ob und wie er kritisiert wird. Mehr noch als von der allgemeinen Arbeit wird von der Parteiarbeit gesprochen. 4. Die Kulturnachrichten bringen einiges aus dem sportlichen, künstlerischen und politischen Lebm des In-und Auslandes. Bevorzugt werden gezeigt: Reisen prominenter Sowjetbürger sowie Geschehnisse aus den Satellitenländern und aus Ländern, die man augenblicklich aus machtpolitischen Erwägungen hochspielt. 5. Die Hauptnummer bringt entweder Film-streifen, die man aus Moskau oder Leningrad zugeschickt erhält oder eine im Workutaer Studio vorbereitete Aufführung.
Die Filmstreifen zeigen Wiedergaben von Kinostücken, die man mit ganz wenigen Ausnahmen schon früher in den Lichtspielhäusern sehen konnte, dann Konzerte und musikalische Darbietungen von wirklich guten Künstlern. Doch hat der Durchschnittsworkutjaner wenig Verständnis für Kammer-und Symphoniemusik. Er liebt Auszüge aus Opern und Operetten, sowie Volkslieder von guten Sängern im Rahmen eines sogenannten „Konzertes" (buntes Programm) vorgetragen und sieht gerne die Vorführungen eines Opernballetts. Bei einem Besuch in Moskau sind die Karten für das „Große Theater" ohnehin immer ausverkauft so freut man sich wenigstens im Fernsehen an Tschaikowskijs „Schwanensee"!
Die im Studio vorbereiteten Aufführungen bringen Gastspiele aus Moskau oder Leningrad. Dies sind sogenannte „Estradne-Konzerte" (Kabarettvorführungen), leichteres Unterhaltungsprogramm mit Tanz, Musik, Gesang, sportlichen und artistischen Darbietungen. Der Conferencier wirbelt natürlich Politisches und Aktuelles durcheinander.
Gastspiele aus Syktywkar, der Provinzhauptstadt, werden von der dortigen Schauspieler-truppe bestritten. Unter anderem zeigten sie auf ganz beachtlicher Höhe „Toska" und „Gräfin Maritza". Für Strauß und Kalman schwärmt man sehr! Ein chinesisches Schauspiel „Taifun“ erschütterte durch die Dramatik seines Aufbaues und die unerbittliche Grausamkeit, die zur Vernichtung aller Schuldigen führte. Die sowjetischen neueren Stücke sind konstruiert. Unter der durchsichtigen Wortfassade schimmert allzu deutlich das Tendenzgerüst hervor. Ein Unterschied ist jedoch bemerkbar: Früher wurde in tönender Phrase ein Idealbild des Lebens vor Augen gestellt, von dem alle wußten, daß es nicht vorhanden war. Parteigenossen sagten entschuldigend, es sei ein Bild der nächsten Zukunft. Heute werden bewußt einige Mängel herausgestellt, etwa aus dem Kolchosen-, dem Wirtschafts-oder dem Komsomolzenleben, um dann im Verlaufe der Handlung zu zeigen, wie diese durch Eingreifen von Parteigenossen oder -funktionären behoben werden. Doch wirkt es selten überzeugend, man sieht und schweigt. Manchmal nur findet jemand den Mut im vertraulichen Gespräch zu flüstern: Solche Parteisekretäre gibt es nicht.
Am beliebtesten sind die Gastspiele der Workutjaner, die Liebhaberaufführungen, wenn sie auch künstlerisch hinter oben angeführten weit zurückstehen. Die besondere Begabung der Sowjetmenschen für Musik und Schauspiele und Tanz bringen aber auch hier, trotz oft nicht ausreichender Schulung, viel Beachtliches zustande.
Allzu häufig tritt im Laufe der Fernsehsendung der „Diktor“ in Erscheinung, was störend oder langweilig wirkt.
Die Fernsehsendungen am Sonntagnachmittag sind den Kindern gewidmet. Die dramatisierten Märchenstücke nehmen ihre Themen aus russischen Märchen, sie könnten aber auch Grimmsche Märchen sein, so sehr sind sie sich ähnlich. Auch hier ließe sich eine frühere germanische, ja indogermanische Grundlage feststellen. Der König des Märchens wird natürlich als der verbrecherische Kapitalist gezeigt. Er wird von dem Jungen Iwan besiegt, der sich nur anscheinend dumm und tölpelhaft gibt, in Wirklichkeit aber der Sprecher des arbeitenden Volkes, des Proletariats ist. In den Puppenspielen werden an Geschehnissen aus der Welt der Kinder und aus ihrer nächsten Umgebung die Erziehungsziele der Pioniere veranschaulicht. Für schon größere Kinder laufen Spionagefilme. Gewöhnlich ist der Spion ein Amerikaner oder Deutscher, er wird immer von der unfehlbaren Sowjetmiliz entlarvt. Bei manchen dieser Vorstellungen macht sich ein übertriebenes Pathos bemerkbar.
In dem Hause, in dem ich damals wohnte, gab es 12 Quartiere, die von etwa 25 Familien bevölkert waren. Anfangs war nur ein Fernsehapparat vorhanden. Am Sonntagnachmittag versammelten sich alle Kinder um diesen. Auf dem Fernsehschirm steigt eine Rakete hoch, ein „Sputnik" fliegt zum Mond und beginnt in schwülstiger gehobener Rede die Geschichte unserer Erde zu erzählen, vom Altertum bis in die Gegenwart. Natürlich gab es überall nur Ausbeutung, Kolonialherrschaft und Vernichtung, bis dann die vom Proletariat regierte Sowjetunion erstand, die nun der ganzen Welt Wohlstand und Freiheit und Frieden bringen wird. Zwischen den einzelnen Geschichtsbildern erklingt immer wieder der Refrain des „Sputniks“: Aus einer Höhe, die keiner je vor mir erklomm, sah ich dies alles, weiß ich dies alles und sage es euch, ich, der „Sputnik“. — Die Hausfrau rutscht lange schon unruhig auf ihrem Sitze, die kleineren Kinder sind eingeschlafen, die größeren haben sich stillschweigend zur Tür hinausgedrückt und spielen im Schnee. Die Landung auf dem Monde sehen nur wir Erwachsene. Eine der Frauen murmelt: Mit ihren Phrasen erschlagen sie alles. —
In letzter Zeit ist es auch in Workuta erlaubt, in gelenkten Leserbriefen Kritik an manchen Dingen zu üben. In der Zeitung „Zapolarje“ wird in Leserbriefen über das Workutaer Fernsehen gesagt: es seien zu kurze und zu wenig Vorführungen, die technische Übertragung lasse manches zu wünschen übrig, es kämen zu häufig Wiederholungen vor, gewünscht werden mehr Dilettantenaufführungen.
Workuta konnte seinen Fernsehturm als ersten in der Komi-Republik aufstellen, weil es über das nötige Geld verfügt. In Uchta und Inta, den beiden anderen Industrieorten, fließt dieses noch nicht so reichlich; schon gar nicht in dem Provinzvorort, der ruhigen Beamten-und Pensionärsstadt Syktywkar. Das vom Volke der Komi geprägte Syktywkar sieht mit geheimem Neid auf den raschen Aufstieg des russisch bestimmten Industriegebietes unter dem Polarural.
10. Kriminalität von heute
Eines der ältesten und unansehnlichsten Gebäude Workutas beherbergt den Amtssitz der Miliz (Polizei). Durch düstere Korridore gelangt man in kleine ungepflegte mit altmodischem Mobilar ausgestattete Räume. Die Luft atmet sich auch heute noch schwer. Das Leid unzähliger, nur durch den Willen einer diktatorischen Führung als schuldig verurteilter Menschen hat sie für immer gezeichnet.
Doch der Milizionär von heute hat sich gegenüber seinem Vorgänger aus der Stalinzeit gewandelt; äußerlich betrachtet, sei vorsichtig hinzugefügt. In dem plumpen Pelzmantel des Winters erinnert er zwar noch an den brutalen Aufsehertyp der Strafarbeitslager, aber die schmucken dunklen Winter-und hellen Sommeruniformen bringen ihn schon dem Ziele näher, welches das Chruschtschow-Regime ihm stellt: gepflegtes Äußere, korrekte Haltung, höflicher LImgangston, schnelle Erledigung der Anliegen, die Staatsbürger schützend vor dem Unwesen der Kriminellen, und dafür die Mithilfe aller Gutgesinnten erbittend.
Kino und Presse propagieren den neuen Typ. Der Film „Das Lied des Pferdehirten" charakterisiert ihn wie folgt: Ein temperamentvoller junger Mongole aus der burjatisch-asiatischen Autonomen Republik kommt nach verschiedenen Irrfahrten freiwillig zur Miliz, lernt diese in ihrem neuen Lichte kennen und wirbt zum Eintritt. In anderen Filmen wird die Arbeit der Jugendabteilung gezeigt, deren Mitarbeiter verstehende Freunde gefährdeter und schon gefallener Jugendlicher sowie verantwortungsbewußte Erzieher sind. Die Presse schildert die Tätigkeit verdienstvoller Milizionäre, die Aufdeckung und Bestrafung von Vergehen. Es werden freiwillige Jugendbrigaden zusammengestellt, die der Miliz bei dieser Tätigkeit hilfreich zur Seite stehen.
Von den zum Betreuungsdienst der Miliz gehörenden drei Menschengruppen, den Kriminellen, den entgleisten Jugendlichen und den Politischen wird im Folgenden von den beiden ersteren die Rede sein.
Sicherheit ein relativer Begriff
In Workuta, dessen Bewohner zum größten Teil entlassene Strafgefangene sind, ist allgemeine Sicherheit ein relativer Begriff. Nur in den Hauptstraßen des Zentrums trauen sich Frauen nach Einbruch der Dunkelheit allein auf die Straße. Geld, das alle versteckt in den Futtertaschen der Mäntel und Jacken tragen, ist noch das Geringste, was entwendet wird. Manch eine Frau verlor mehr und blieb bis auf das Hemd entkleidet im Schnee liegen. Straßen und Häuser trugen noch bis vor kurzem weder BeZeichnung noch Nummern. Ein neuer Briefträger plagte sich redlich, um die Post an die richtigen Empfänger auszuteilen. Den Bewohnern aber war es recht, sie konnten untertauchen und waren für aus der Lagerzeit ihnen feindlich Gesinnte, die vielleicht Rache nehmen wollten, schwerer auffindbar.
Auch freie Menschen, die heute nicht mehr hinter Stacheldraht wohnen, bevorzugen noch eiserne Gitter an den Fenstern. Wer mit der Familie in Urlaub fährt, verkleidet Fenster und Türen zusätzlich von außen mit einer Bretter-
verschalung. Trotzdem kommt es vor, daß der Einbrecher vom Dachboden aus Löcher in die Zimmerdecke schlägt und die Wohnung ausplündert. Die Frau, die von der Nachtschicht nach Hause kommt und die Wohnung ausgeräumt vorfindet, ist noch dankbar für den günstigen Ausgang, denn in der Küche liegt ihr Kind und schläft tief und ruhig. Wenn es aufgewacht und geweint hätte, wäre es sicher nicht am Leben geblieben.
Eine ganze Bande treibt lange ungestraft ihr Unwesen. Lebensmittelvorräte, die in Taschen und Netzen an Eisenhaken hängen und die Außenwände der Häuser verunzieren, weil Kammer und Keller für sie fehlen, sind morgens verschwunden, die Holzschuppen aufgebrochen und die darin befindlichen Kochtöpfe mit den nachts für den nächsten Tag zubereiteten Speisen gestohlen. In ihrem Versteck unter den Rohren der Fernheizung wird die Bande dann aufgestöbert; Verbrecher schlimmster Sorte, auch Frauen gehören dazu.
Es wäre ermüdend aufzuzählen, wie oft ich in den 14 Jahren meines Aufenthaltes in der Sowjetunion bestohlen wurde. Es war auch so belanglos im Vergleich zu anderem Schwerem, daß mir vieles aus dem Gedächtnis entschwunden ist. Zwei Kostproben mögen genügen: Ein kleiner Bandit, — den Großen verbot es ihr „ungeschriebenes Gesetz“ — verschlang an einem Morgen seine und meine Tagesration an Brot auf einen Hieb, und vor mir stand der Hunger 24 Stunden lang. Im Gewühl des Bazars entwendete mir ein ander Mal ein Meister seines Faches aus der inneren Manteltasche den sauer verdienten Lohn dreier Monate, für den ich eben das erste Paar Schuhe erstehen wollte. Ein nettes Erlebnis zeigt wieder Erfreuliches: Beim Erstehen einer Kinokarte bleibt mein Geldtäschchen mit einigen Rubeln auf dem Schalterbrett liegen. Als ich schon auf der Straße weitergehe, läuft mir ein kleiner Pionier nach, vergewissert sich zuerst, ob und was ich verloren habe und reicht mir dann freudestrahlend die Börse. Er ist einer von den freiwilligen Ordnungshütern und Helfern.
Bettelei und Trunksucht
Zum Vagabundentum muß auch die weitverbreitete und sich fast zur Landplage auswirkende Bettelei gezählt werden. Begegnet dir auf einer einsamen Straße ein Individuum, einerlei ob Mann oder Frau, und bittet dich um einige Kopeken (Pfennige), so ziehe beileibe die Geld-börse nicht, sonst hast du diese zum letzten Male gesehen. Zigeunerinnen, ihr Kinderbündel auf dem Rücken oder der Brust tragend, rufen dir ihre Flüche nach, wenn ihre Aufforderung, dir aus der Hand wahrzusagen und dafür Geld zu erhalten, vergeblich war. Neben den Kassen in den Staatsgeschäften treibt sich viel bettelndes Volk herum und streckt dir die Hand entgegen, wenn du deine Barschaft zückst. Die meisten der Invaliden, die auf den Gehsteigen im Schnee liegen oder neben den Eingängen zum Bazar Spalier sitzen, wechseln ihre Kleinmünzen rasch in Wodka um und prügeln sich im beginnenden Alkoholrausch untereinander blutig. Mütter stehen da mit ihren krüppelhaften Kindern, unmenschlichen Mißgeburten, und schlagen Kapital aus deren Elend. Wenn du allein in der Wohnung bist und es wird an die Tür geklopft oder auf den Klingelknopf gedrückt, so vergiß nicht vor dem Öffnen die Sicherheitskette einzuhängen, stellt ein Unbekannter dann plötzlich das Bein in den Spalt, kannst du immerhin noch um Hilfe rufen, bevor er sich den Eintritt erzwingt. Steht aber vor der Tür eines jener unglücklichen alten Mütterchen, die weder Arbeit noch Brot haben, die von den eigenen Kindern verleugnet und auf die Straße gesetzt werden, sollst du selbstverständlich helfen.
Von der Trunksucht im allgemeinen wäre viel zu sagen. Sie soll hier nur insoweit erwähnt werden, als sie zu kriminellen Delikten führt. Die Bestimmungen zur Bestrafung von Trunk-tüchtigen sind streng. Die Partei soll ihre strikte Durchführung überwachen. Was trotzdem übrig bleibt und öffentlich in Erscheinung tritt, ist erschreckend. Die meisten Vergehen und Verbrechen werden im Rausche angestiftet. Da kommt es auf den Straßen zu Prügeleien und Totschlag. In den Gemeinschaftswohnhäusern für Jugendliche geht es oft schlimmer zu als in den dunkelsten Kneipen. Johlenden, taumelnden, sich im Straßenschmutz wälzenden Saufbrüdern begegnet man am hellen Tage. Wenn zufällig ein Milizionär vorbeigeht, müssen sie ihren Rausch im Polizeigewahrsam ausschlafen. Sonst tun sie es in den Markthallen oder den Lokalen der Staatsgeschäfte. Am widerlichsten ist es wenn du an betrunkenen Frauen vorbeikommst. Du bist dir dann nicht sicher, ob du lachen oder weinen müßtest. Gefährlich werden die halb-nomadenhaften Nenzen im Rausche, sie sind dann wie Tiere in der Wildnis die töten wollen.
Unglücksfälle, die kriminell geahndet werden müssen, sind verhältnismäßig selten; sie werden in der Presse kaum erwähnt und bewußt verschwiegen. Die nicht oder ganz unzulänglich geschützten Bahnübergänge sind die häufigsten Ursachen solcher Vorkommnisse. Da fahren einmal zwei Lastautos, beladen mit Frauen aus dem zweiten Ziegeleilager nach vollendeter Arbeit beim Straßenbau Workutas über die ungesicherten Bahngleise. Das erste Auto entwischt noch, das zweite wird vom heranrasenden Moskauer Schnellzug zertrümmert. 10 Tote, 8 Schwerverletzte, die dann als arm-oder beinlose Menschenwracks am Leben bleiben, sind die Folge.
Es ist an einem frühen Sonntag abend, als wir aus dem Lager ein merkwürdig aufgescheuchtes Benehmen der freien Bevölkerung vor dem Stacheldraht wahrnehmen. Der Lagerleiter, ein schon älterer Major, läuft rasch querfeldein, doch dann ertönt für uns, allzu frühzeitig, das Zeichen zur Nachtruhe, die Baracken werden verschlossen. Wer sich noch draußen herumtreibt, kommt in Karzergewahrsam. Es sollen möglichst wenige die traurige Heimkehr unserer am Morgen noch gesund zur Arbeit ausgezogenen Frauen ansehen. Vom Lagerleiter wird nachher erzählt, daß er beim Anblick der Verunglückten geweint und gesagt habe: Sie haben meine Kinder erschlagen! Möglich, daß es so war, Tatsache aber ist, daß eines von den beiden deutschen Mädchen, die wir damals begruben, mit den Worten gestorben ist: Heute, an meinem 20. Geburtstag und warum?
Als im vierten Schacht ein Einsturz stattfand (das Innere des Bergwerkes war überschwemmt worden und hat sich in einen großen See verwandelt), erfährt man nicht, ob und wieviel Tote es gegeben hat. Bei einem Unglück in der Zementfabrik, wo die Tragbalken eines schnell gebauten Arbeitsschuppens nicht genügend Festigkeit besaßen und einstürzten, gab es mehr als fünfzig Tote.
Von Zeit zu Zeit ein Schauprozeß
Vier Abteilungen des Volksgerichtshofes arbeiten in Workuta. Viele Verhandlungen sind öffentlich. Von Zeit zu Zeit wird ein großer Schauprozeß veranstaltet, der mit der Verurteilung eines Kriminellen zum Tode endet. Folgendes Ereignis erregte lange noch die Gemüter, •vor allem die der Frauen. Zwischen dem Stadt-zentrum und dem zweiten Rayon wurde in einer Winternacht ein scheußliches Verbrechen verübt.
In einem alleinstehenden Häuschen fand man am Morgen die Familie tot vor. Mann und Frau waren von unzähligen Stichen durchbohrt.
Sie hatten sich anscheinend bis zu letzten Atemzuge gewehrt. Dem im Bettchen schlafenden Säugling hatte ein Axthieb den Kopf gespalten, ebenso dem neben dem Ofen spielenden größeren Kinde. Die Untersuchung deckte auf, daß an dem Morde eine Gruppe von Banditen beteiligt war, die einer alten Feindschaft wegen Rache an dem Ehepaar geübt hatten Als eigentlicher Täter blieb dann ein junger Bandit hängen und einige Frauen als Helferinnen. Restlos geklärt wurde nicht, ob der Verhaftete auch tatsächlich der Mörder war. Audi in seinem Schlußwort behauptete er, es nicht gewesen zu sein, er könne und wolle aber die eigentlichen Täter nicht angeben, sonst würde er nach seiner Freilassung doch der Stammesrache verfallen. Das Urteil lautete: Tod durch Erschießen.
Die Gleichberechtigung der Frauen in der Sowjetunion geht so weit, daß sie für die furchtbarsten Verbrechen ebenso verantwortlich zeichnen wie die Männer. Die Geschichte „Koldunas“ (der Hexe) gehört hierher. Kolduna, ih eigentlicher Name lautete anders, arbeitete in einem Krankenhause als Wärterin. Nebenbei vermittelte sie „Heiraten". Einer Krankenschwester versprach sie, die Ehe mit einem vermögenden Arzt in der Ukraine zu vermitteln. Die hoffnungsvolle Braut packte all ihre Habseligkeiten in die Koffer und beide machten sich auf die Reise in die Ukraine. Von unterwegs erhielt die Mutter noch einige Kartengrüße. Aus dem letzten Schreiben klang eine merkwürdige Trauer und Ungewißheit. Nach-dem die Tochter viele Monate nichts hatte von sich hören lassen, stellte die einsetzende Untersuchung schließlich fest, daß Kolunda ihr Opfer ermordet und beraubt hatte und unter falschem Namen irgendwo an der Wolga lebte, Sie war schon einige Male vorbestraft und hatte wegen Totschlags in Lagern gesessen. Und endlich hieß das Urteil nun auch für sie: Tod durch Erschießen.
Schicksal einer Jugendlichen
Die entgleisten Jugendlichen sind ein trauriges Kapitel. Pädagogen und Jugendrichter versuchen ihre Besserung. Gewöhnlich kommen deren Bemühungen aber zu spät. Die Geschichte von dem Kolchosenmädchen, das nach seiner Flucht vom Lande auf der Suche nach einem gültigen Paß in Workutas Unterwelt geriet und dort unterging, will ich nun erzählen.
Sie wurde irgendwo in der Russischen Föderation geboren, wo die Taiga mit ihren grünen Moorseen zwischendurch Raum gibt für einige ärmliche Kollektivwirtschaften. Der Vater ist Vorsitzender der Kolchose und Parteimitglied. Er tut seine Pflicht als Antreiber zur Arbeit. Solange ist alles gut. Doch es kommen die Hungerjahre nach dem Kriege und einmal spricht sein Herz lauter als der Verstand. Der Nachbar nimmt für seine hungernden Kinder vier Pfund Kartoffeln mehr als ihm zusteben. Er weiß es und schweigt. Das ist sein Verderben. Er wird aus der Partei ausgeschlossen und zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Seine Frau grämt sich sehr und stirbt in den folgenden Jahren der Not. Die schon erwachsenen Kinder verlassen die Kolchose, sie wollen der Schande entgehen und vor allem in der Stadt schneller vorwärts kommen.
Sie, die Jüngste, noch Schulkind, bleibt, hält das Haus in Ordnung.
Durch die Amnestie nach Stalins Tod kehrt der Vater zurück. Seine krankhafte Aufge-
schwemmtheit wird zunächst als ein Zeichen von guter Gesundheit angesehen, doch bald zeigt sich, daß er schwer krank, Invalide ist, und gezeichnet für sein Leben lang. Er kann es sich nicht verzeihen, daß er seiner Tochter, die er sehr liebt, bei der Geburt den Namen Kima gab, das heißt „Kommunistische Internationale der Jugend“. Damals war es seine tiefe Überzeugung, nun haben sie seine Überzeugung zerschlagen, er haßt die Partei und sein Kind trägt den Namen einer dieser verhaßten Einrichtungen.
Er ist sehr einsam. Auf der Kolchose vergißt man nicht so schnell wie in der Stadt. Die Selbstgerechten zeigen auf ihn, der im Lager und im Gefängnis gesessen hat. Eine Frau, die tief unter ihm steht, kümmert das nicht und sie zieht zu ihm. Die Tochter bäumt sich dagegen auf, sie hat kein Verständnis dafür, daß der alternde Kranke in dieser erotischen Befriedigung sein zerbrochenes Leben glaubt vergessen zu können. Die Tochter wollte schon längst ihren Geschwistern in die lochende und verlokkende Stadt folgen. Wie elend ist doch das Leben auf der Kolchose! Wie armselig die Behausung! Wie primitiv die Kleidung! Der Vater warnt sie: Du hast leichtes Blut. Du wirst tanzen, die ganze Nacht hindurch, dich vergessen. —
Inzwischen war aus dem Stalin-das Chruschtschow-Regime geworden. Die Abwanderung aus den Kolchosen und Sowchosen wurde unterbunden. Hatte Stalin alle Menschen für die Industrie gebraucht, wo ihm damals noch die Maschinen zum großen Teile fehlten, rief Chruschtschow: Hinaus aufs Land, Erschließung des Neulandes ist erforderlich, die Hungersteppe muß urbar gemacht werden! — Es gab jetzt für Abwanderer vom Lande keine Papiere mehr. Auf den Kolchosen und Sowchosen genügte eine listenmäßige Erfassung der Bevölkerung. In den Städten brauchte man einen Personalausweis. Wer einen solchen nicht besaß, erhielt in der Stadt weder Wohnung, noch ärztliche Betreuung und konnte nur als ungelernter Arbeiter Beschäftigung finden.
Kima, die sich nun Rima nennt, wohnt bei ihrer Schwester in der Stadt. Deren Mann ist Fahrer. Die Schwester Aufräumerin in einem Staatsgeschäft. Der zweijährige Sohn bleibt stundenlang vollkommen unbeaufsichtigt in der Wohnung. Kommt die Mutter nach Hause, weint er beinahe vor Hunger. Rima hat keinen Personalausweis und arbeitet als Flaschenwäscherin in einer Fabrik. Der Verdienst ist klein. Aber wenn man täglich nur Brot und Wassersuppe, manchmal noch gekochte Kartoffeln ißt, kann man abends ins Kino und nachher zum Tanzen gehen. Leider sind ja dabei die Mädchen immer in der Überzahl. Wo nur die vielen jungen Burschen sein mögen? Alle beim Militär? Und nun wird auch wieder irgendwo in der Welt geschossen. Es melden sich einige von den guten Tänzern als Freiwillige, um für den „Ägyptischen Suezkanal" zu kämpfen. Nur gut, daß die Aktion in letzter Stunde abgeblasen wird, angeblich, weil schon genügend Soldaten da seien.
In den drei Zimmern der Wohnung hausen drei Familien. Die krebskranke Frau von nebenan liegt schon seit Monaten im Krankenhaus. Deren Untermieterin räumt, als einmal außer dem kleinen Jungen niemand sonst im Hause ist, das Beste aus den Schränken aus und verschwindet. Bei der nun folgenden polizeilichen Untersuchung stellt Rima fest, daß ohne die notwendigen Dokumente ein Verbleiben in der Stadt nicht mehr gut möglich sei, Auch bringt die ungelernte Arbeit zu wenig ein und man muß sich doch besser kleiden, um andere Mädchen bei den Burschen ausstechen zu können.
Auf rechtlichem Wege ist das Dokument nicht zu erhalten, nur Beziehungen können helfen. Wenn die fehlen, kann man es vielleicht durch anderweitiges Entgegenkommen versuchen. Der Kantinenwirt und Verpflegungsleiter einer Holzfällersiedlung verspricht ihr, nach Abschluß der Winterarbeiten einen Personalausweis zu beschaffen, und nimmt sie mit in die Taiga. Sie kocht für die Männerbrigaden, ist ihrem Arbeitgeber zu Willen und hat nach einem in Erdhöhlen verbrachten Winter manches von ihrer Gesundheit verloren, das versprochene Dokument aber nicht erhalten.
Nun hört sie, daß es in den Aufbaugebieten des Nordens leichter sein solle, einen Personalausweis zu erhalten. Nach der Auflockerung der dortigen Strafarbeitslager sind viele ehemalige Gefangene, darunter Kranke, Alte und Frauen weggezogen und man braucht junge Kräfte. Also auf in den Norden!
In Workuta lebt schon lange eine entfernte Verwandte, die muß mithelfen. Ohne Winter-kleidung, im ärmlichen Waschkleid, kommt Rima in Workuta an. Ein Glück, daß eben Polarsommer ist. Sie ist nett, fleißig, hilfsbereit zeigt sich von der besten Seite, bis sie ihren Personalausweis in Händen hält. Er hat für fünf Jahre Gültigkeit. Wenn sie abends zum Tanze geht, vertauscht sie ihre ärmlichen Fähnchen mit den vornehmeren Kleidern der Tante. Der Vater schickt ihr kleinere Geschenke und schreibt: Bleibe ordentlich! Sei dankbar! — Sie aber hat inzwischen den dunklen Rumänen kennen gelernt, der im Klub beim Tanze aufspielt, der sie dabei nicht aus den Augen läßt und sie nachher nach Hause bringt.
Rima ist noch sehr jung, erst zwanzig Jahre. Auf der Kolchose hat sie sieben Schulklassen absolviert. Viel lernen will sie nicht mehr, aber auch nicht ihr Brot nur als einfache Arbeiterin verdienen. Die Tante rät ihr, neben der täglichen Arbeit eine Abendschule zu besuchen, das Examen der Mittelschule abzulegen, dann wäre alles viel leichter. Rima denkt nicht an lernen, sie will nur schnell verdienen und leben! Nach einem von der Postbehörde veranstalteten Schnellkurs erhält nur die Hälfte der Teilnehmerinnen Anstellung als Telefonistinnen. Sie ist nicht darunter. Dann nimmt sie eine Stelle als Inkassantin der Sparkasse an, nach ganz weni« gen abendlichen Unterweisungen. Natürlich hat Jonel dabei geholfen. Sie verläßt nun auch die Wohnung der Tante, überläßt den Säugling eines Tages, als sonst niemand zu Hause ist, seinem Schicksal und zieht zu Jonel, ihrem rumänischen Freund.
Jonel ist gar nicht sehr begeistert. Sein Zimmer ist nur ein kleiner Verschlag, in dem kaum für ein Bett, ein Tisch und ein Schemel Platz ist. Er ist in Rumänien verheiratet und will sich nicht scheiden lassen. Aber sie ist ihm nun einmal verfallen, wie viele der sowjetischen, besonders russischen Frauen, die sich zu Ausländern hingezogen fühlen. Sie nimmt auch die Schande auf sich, mit einem Manne zu leben, ohne „registriert", das heißt verheiratet zu sein.
Der Vater schickt ein Paar Filzstiefel, als der Winter immer härter wird, doch die genügen ihren jetzigen Anforderungen nicht mehr. Solch plumpe Dinger sind nur für die Kolchose gut, Workuta ist inzwischen eine Großstadt geworden. Früher trug Rima Mäntel und Hüte der Tante, das geht nun nicht mehr. Ihr Monatslohn beträgt 300, — Rubel. Und sie braucht ein Paar Schuhe (200, — Rubel), eine Pelzmütze (150, —Rubel) und einen Mantel (1200, — Rubel). Bald trägt sie auch dies alles. Woher? Aus Jonels Einkommen stammt es nicht, das genügt nur für ihn. Schon bei der ersten Abrechnung als Inkassantin der Sparkasse fehlt Geld, sie möchte es als Rechenfehler begründen. Doch man sagt: Ihre Einnahmen sind sehr klein, reichen nur für die Verpflegung. Woher haben Sie die Schuhe gekauft? Die Mütze? (Den Mantel hatte sie wohlüberlegt als Geschenk des Vaters ausgegeben.) Nun, zum ersten Male will man noch ein Einsehen haben und verzeihen. Doch sie wird aus dem Stadtzentrum in eine Bergwerks-siedlung versetzt. Dort gibt es viele junge Männer, mehr als in der Kolchose, mehr als in dem früheren Wohnort. Und die heißen nun nicht nur Jonel! Dann fehlt zum zweiten Male Geld, sie wird entlassen. Wenn das Geld nicht zu einem festgesetzten Termin aufgebracht wird, käme sie vor den Richter, sagt man ihr. Der Vater! Er muß helfen! Er wird doch nicht wollen, daß seine Tochter auch ins Gefängnis kommt. Er verkauft alles, was ihm noch geblieben ist, um den fehlenden Betrag bei der Sparkasse zu decken. Sie bedankt sich nicht einmal dafür. Die Nachricht von seinem Tode erhält sie, als sie mit einem Freund im Bett liegt.
Rima ist nun 21 Jahre, hat vier Abtreibungen hinter sich und oft ihre Stelle gewechselt. Die Freunde zählt sie schon nicht mehr. Aber sie lebt in einer Großstadt und ihr Paß läuft erst nach vier Jahren ab. Einmal war sie ein nettes, einfaches, liebenswürdiges Kolchosemädchen. Und jetzt?
11. Begegnung mit Sowjetdeutschen
Die Sowjetdeutschen, von denen hier die Rede ist, lebten und leben noch heute im nördlichen europäischen Teil der Russischen Föderation. Die Begegnungen schildern Ausschnitte aus ihrem Leben der letzten 20— 25 Jahre.
Das Gebiet, in dem diese Menschen wohnen, liegt etwa 100 bis 200 Kilometer nördlich und 200 bis 300 Kilometer südlich des Polarkreises. Im Westen vom Weißen Meer begrenzt, erstredet es sich im Osten über das Taigagebiet an der Petschora und die „VielerdigeTundra" bis an den Polarural, der die Grenze zwischen Europa und Asien bildet. Der westliche Teil sowie die nördlichsten Kohlenbergwerke um Chalmerju gehören verwaltungstechnisch zum Archangelsker Gebiet (Oblast). Die übrigen Teile sind in der Autonomen Komi-Republik zusammengefaßt.
Am Beispiel der deutschen Siedlungen um Archangelsk und dem des Taigastaatsgutes Nowyj-Bor an der Petschora sei der Weg dieser Menschen in den letzten Jahrzehnten gezeigt. Er führte über die erste Stufe der vollkommenen Entrechtung als Zwangsarbeiter in Katorga, Strafarbeitslager und Zwangssiedlung. Die zweite Stufe brachte mit dem Dekret des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Aufhebung der Beschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen und ihrer Familien, die sich in Sondersiedlung befinden" vom 13. 12. 1955 ein allmähliches Geduldetsein als proletarischer Fabrik-und Landarbeiter. Gegenwärtig ist man an einem Übergang zur dritten Stufe angelangt. Nach einem Ausspruch Lenins sind im Sowjetstaat die Russen „die Ersten unter Gleichen". Es scheint, als ob nun die Sowjetdeutschen als „Letzte unter Gleichen" anerkannt werden und wirken dürfen.
Ostern in der Tundra
Meine erste Bekanntschaft mit Frau Anna liegt zehn Jahre zurück. Es war in einem der fast hundert Straflager in der Workutaer Kohlenmulde. Ein Märztag hatte — dem Kalender nach — wieder einmal begonnen. Tatsächlich aber sehen wir draußen nur ein dunkelgraues Wirbeln und Wogen, hören nur ein heulendes, jaulendes Stöhnen und Wüten, als um vier Uhr morgens der „Gong" ertönt und die Baracken-aufseherin uns mit dem verhaßten „Podjom" (Aufstehen) weckt. Der Schneesturm tobt mit wohl dreißig Metern in der Sekunde. Die Brigadierin aber meint: Diese Purga kommt von Südwest und ist warm. Zum „Aktieren“ (arbeitsfreien Tag) wird es nicht genügen. Sie hat recht, die erforderlichen minus 36 Grad werden nicht erreicht. Es soll angeblich minus fünf Grad sein und dazu eine Winstärke von 28 M/S, macht also 28 + 5 = 33 Grad minus. Wir werden uns erst am Abend waschen, überlegen wir, unter die wattierte Ohrenkappe noch unbedingt ein Tuch um die Stirne binden, um Erfrierungen möglichst zu vermeiden. Die Morgensuppe ist das reinste Wasser, der Brei angebrannt und vollkommen ungenießbar. Aus dem Speiseraum an die Baracke zurückgekehrt, finden wir Mascha, unseren „Banditenchef", in lächerlichster Aufmachung. Sie ist angezogen, als ob sie zu einem Tanzvergnügen wolle. Doch hat sie tatsächlich von allen vorgeschrieben Kleidungsstücken etwas an, bloß versteckt unter dünnen Röcken und Schleiern. Jetzt will sie sogar meine so sorgsam gehütete Brille haben. Gib schon das Augen-glas, Professor, sagt sie spöttisch. Bis die mich an der Wache kontrollieren, ob ich auch alle vorschriftsmäßigen Kleider auf mir habe, vergeht viel Zeit, um soviel werdet ihr alle weniger arbeiten müssen.
Beim Auszählen an der Wache dauert es dann wirklich sehr lange. Der Sturm peischt Schnee-undEisstückchen waagerecht vorwärts, mäht unsere Gesichter naß, unsere Augen tränen Plötzlich schweigt er für einige Sekunden. In der fast lautlosen Stilles ist ein fernes eigentümliches Schwingen wahrnehmbar, beinahe klingt es wie Glockenläuten. Es sind die Entlüftungsanlagen in den Kohlenschächten. Doch da sagt eine Stimme hinter mir in mundartlichschwäbisch gefärbtem Deutsch: Die Osterglokken läuten! Heute ist Ostern! Soweit haben uns diese Unmenschen gebracht, daß wir es beinahe vergaßen.
Die Frau in der Reihe hinter mir ist mittelgroß, fast gedrungen, mit rundem Gesicht, in dem ein Paar blaue Augen jetzt zornig blitzen, ganz zahnlos, obwohl sie die Vierzig erst erreicht haben mag. Auf dem Verladebahnhof stehen wir später beim Kohleschippen nebeneinander und sie räumt still und ohne Aufhebens manch dicken Brocken, der auf meiner Seite liegt, fort. Am Abend hocken wir auf den mit Sägemehl gefüllten Strohsäcken — ein etwa 40 Zentimeter breites Stück auf der oberen Etage einer Holzpritsche ist unsere Schlafstelle — und in der knappen halben Stunde, die uns noch bleibt bis zum Hineinfallen in einen wirren, unruhigen Schlaf, liest sie mir den Brief ihres Sohnes vor, den ersten, den sie seit ihrer Verhaftung erhalten hat.
„Liebe Mutter“, schreibt Artur aus der Siedlung bei Archangelsk, „Seit sie Dich von uns geholt haben, sind bald zwei Jahre vergangen. Jedes halbe Jahr schrieb ich einen Brief an Dich, erhalten haben wir von Dir noch keinen. Wir drei Geschwister wohnen zusammen in unserem kleinen Häuschen und sind — Gott sei Dank -gesund. Im Sommer arbeite ich auf den Feldern und im Winter im Walde. Unsern kleinen Acker und den Garten bebauen wir zu dritt. Emma und Lisa gehen beide in die Schule, sie sollen mehr lernen, als es mir möglich war. Die Ziege mußten wir leider verkaufen, es langte nirgend hin. Wenn Emma in diesem Jähre die Klasse beendet, wird sie auch verdienen und es wird besser gehen. Liebe Mutter! Madie Dir keine Sorgen um die Schwestern. Zum Militär muß ich ja als Deutscher nicht. Die Kleine will ich weiter in die Schule schicken, sie möchte so gerne Lehrerin werden, russisch schreibt sie jetzt schon besser als wir ältern.“ — „Das ist nun mein Artur, sagt Frau Anna mit Tränen in den Augen. Schon an seiner Wiege stand ein schweres Los. Er ist ja während unserer ersten Verschickung geboren.“ — Und dann sieht sie sich rechts und links um, ob wohl eine der Schlafnachbarinnen heimlich zuhört und senkt ihre Stimme zum lautlosen Flüstern herab: „Es war am Anfang der dreißiger Jahre. In unserer deutschen Gemeinde im Schwarzmeergebiet wohnten damals wohlhabende Bauern auf stattlichen breiten Bauerngehöften. Mein Mann war Lehrer. Mit Beginn des ersten Fünfjahresplanes (1929— 1933) begann die Vertreibung der vermögenden Bauern von ihrem Besitz. Sie wurden als Kulaken beschimpft, als Feinde gebrandmarkt und in andere Teile der UdSSR umgesiedelt, nur wenig Habseligkeiten durften sie mitnehmen. Mein Mann wurde beschuldigt, als Erzieher gegen die beginnende Kollektivierung aufgetreten zu sein und bekam fünf Jahre Zwangsaufenthalt im Altaier Gau. Dort ist mein Artur geboren und hat seine ersten Lebensjahre in einer noch elenderen Hütte zugebracht als die jetzige bei Archangelsk. Doch damals lebte mein Mann noch und wir schufteten und mühten uns gemeinsam, Nach fünf Jahren machten wir den weiten Weg in die Ukraine zurück, auf unserem mit zwei Pferdchen bespannten Wagen brauchten wir ein ganzes Jahr dazu. Dort lebten wir in einer anderen deutschen Gemeinde unter falschem Namen.“ —
Kostbarster Besitz: ein Foto
In den wenigen Jahren unseres Beisammen-seins erzählte mir Frau Anna noch manches aus ihrem Leben. Einmal erhielt sie ein Foto ihrer Kinder. Es war fortan ihr kostbarster Besitz Der Sohn, etwa 20 Jahre alt, groß, ein gesunder kräftiger Arbeiter, mit guten Augen, über seine Jahre hinaus gereift und ernst, trug die Verantwortung für die Familie. Seine Schwestern liebten und achteten ihn. Emma, die zweite, arbeitete nun auch als Land-und Waldarbeiterin. „Sie ist mein Sorgenkind gewesen, als wir noch im Süden an der Schwarzmeerküste lebten“, sagt die Mutter, „anfällig gegen jede Erkältung, beschattete Lungenspitzen. Die Witterung um Archangelsk ist gesunder für schwache Lungen. Wie gut sie nun aussieht, trotz der schweren Arbeit!“ Lisa, die kleinste, ist etwa 12 Jahre alt, ein fröhliches Mädel mit dicken blonden Zöpfen, sie hat sich mit der eben gekauften Ziege fotographieren lassen, um der Mutter zu zeigen, daß es jetzt besser gehe. „Ich habe die Kinder noch alle drei selbst deutsch lesen und schreiben gelehrt, erzählt die Mutter. Mein Mann konnte es ja nicht mehr. Nach der Verbannung im Altaier Gau hat er sich nie mehr recht erholt und starb noch vor der Geburt unseres dritten Kindes. Ich arbeitete als Wirtschafterin in einem Kinderheim, und später, während des Krieges, als Schulhelferin, bis wir nach Deutschland umgesiedelt wurden.“ Dann bekommt sie feuchte Augen und ist doch irgendwie beglückt, schweigt und sinnt. Sie denkt nun an die wohl glücklichste Zeit, die trotz des vielen Leids und Elends und der Häßlichkeiten der damaligen Jahre immer noch die schönste ihres wechselvollen Lebens war.
Eine Zeitlang arbeiteten wir zusammen in der Lagerküche, schälten Kartoffeln von abends bis morgens. Für die Nachtarbeiterinnen in der Küche gab es eine Sonderzuteilung und dann fiel auch für andere Hungernde etwas ab. Sie erzählte: „Als wir in Sachsen von der Roten Armee überholt wurden, wußte ich, daß es für mich nur noch den Weg nach Osten gab. Bloß mit meinen Kindern wollte ich zusammen sein! Wir kamen mit andern Rückgesiedelten in die Siedlungen bei Archangelsk. Aus der Zeit, da der Weißmeerkanal gebaut wurde, lebten hier schon manche in Sondersiedlung; viele Nationalitäten der UdSSR in bunten Gemisch. Nun sollten die Staatsgüter vergrößert, der Anbau intensiviert werden. Die Witterung ist viel wärmer als in Workuta. Im kurzen heißen Sommer wachsen neben Kartoffeln auch Halmfrüchte, Wieder einmal half ich beim Bau eines Lehm-häuschens für meine Familie mit. Artur leistete dabei die schwerste Arbeit; er war nun 15 Jahre alt. Mein großes Leid ist, daß er die Schule nicht weiter besuchen durfte. Der Schulbesuch hörte damals mit der 4. Klasse auf. In den Wirren der Kriegsjahre hatte er auch viel versäumt. Und wie gerne hätte mein Mann aus seinem einzigen Sohne einen . Studierten'gemacht! Ich arbeitete im Badehause des Staatsgutes als Heizerin, pflanzte Kartoffeln und Gemüse auf unseren kleinen Acker und in den Garten, verputzte und kalkte das Häuschen innen und außen. Abends, wenn Artur aus dem Walde nach Hause kam, schreinerte er Tisch und Bänke. Wir kauften einige Kochtöpfe für die Küche. Die Stube wurde mit den in Truhen und Säcken mitgebrachten Stücken aus der Heimat am Schwarzen Meer verschönt. Und wieder kam dann ein dunkler Tag. Irgendwie mag ich wohl einmal zu laut gesagt haben, daß wir in Deutschland auch während des schrecklichen Krieges besser gelebt hätten als jetzt und hier. Darum wurde ich von den Kindern weggeholt und bekam zehn Jahre Strafarbeitslager wegen „unwahrer Propaganda“. Das war im Jahre 1949.
Nach 1952 durfte in unserem Strafarbeitslager eine Zahnärztin arbeiten. Es wurden Zähne gezogen und mit besonderer Erlaubnis der Lagerleitung durfte auch Zahnersatz angefertigt werden. Die Gründe für diese Bewilligungen waren unterschiedlich, immer aber sehr zweck-bedingt. Entweder war es eine Belohnung für Zuträgerdienste oder eine für erwiesene Liebes-stunden oder man wollte auf diese Art sonst zu früh zur Invalidität kommende Strafgefangene länger arbeitsfähig erhalten. Frau Anna war noch in dem Alter, wo sich eine Zahnprothese lohnte, ich war zehn Jahre älter und vollkommen unrentabel. So erhielt sie ihre Zahnprothese und wurde dann in eine höhere Arbeitskategorie eingewiesen. Von da ab sahen wir uns seltener und als unsere Bekanntschaft vier Jahre alt war, kam sie mit ihrer Brigade in ein Invalidenlager. Beim Abschied zeigte sie mir noch den letzten Brief ihres Sohnes und ein Foto. Er hatte geheiratet, eine Landsmännin aus der Nachbarsiedlung. Die Mutter kannte diese als tüchtiges gesundes Mädchen. Er schickte eine Aufnahme von der Hochzeit. Emma war verlobt, mit einem Russen, den sie bei der Waldarbeit kennen gelernt hatte. Sie wollten auch bald heiraten. Lisa, die nun vierzehn Jahre zählte und sich für das Examen der siebenten Klasse in russischer Unterrichts-sprache vorbereitete, wollte in eine Internatsschule eintreten, damit ihr Lieblingswunsch, Lehrerin zu werden, erfüllt werden könnte. Alle trugen ihre besten Kleider, waren gesund und fröhlich. Was im Hause noch rundumher lag und stand, war ärmlich und unsagbar primitiv. Der Sohn schrieb: „Wenn Du auch bei uns wärst, liebe Mutter, könnten wir ganz glücklich sein.“
Was weiter geschah, ist mir nicht bekannt. Ob Frau Anna durch die Amnestie des Jahres 1955/56 frei wurde oder erst nach Beendigung ihrer zehnjährigen Strafzeit? Ob sie ihre Kinder wiedersah? Auf viele Fragen ist mir dies Land die Antwort schuldig geblieben. Doch eines ist sicher, dieser Frau, die tapfer versuchte ein schweres Schicksal zu meistern, gehört unser aller Hochachtung.
Eine deutsche Siedlung an der Petschora
Das Staatsgut Nowyj-Bor mußte als vordringlichste Aufgabe landwirtschaftliche Produkte für das Industriegebiet Workuta erzeugen. Es wurde in den dreißiger Jahren von Sowjetdeutschen errichtet, die sowohl aus dem europäischen, als auch aus dem asiatischen Teile der Sowjetunion hierher zwangsumgesiedelt worden sind.
Auf meine Frage, woher seine Eltern und Großeltern stammten, antwortete mir einmal Sascha, der Sechzehnjährige: „Meine Geschwister und ich wurden in Sibirien geboren, mein Vater in der Ukraine, von meinen Großeltern weiß ich nichts mehr. Mutter und die Geschwister leben jetzt in Nowyj-Bor, Vater mußte nach Workuta. — Zu Beginn des zweiten Weltkrieges waren beinahe alle Männer vom 16. Lebensjahre aufwärts nach Workuta zwangs-verschickt worden, die Frauen und Kinder blieben auf dem Staatsgut zurück.“
Das Taigagebiet an der Petschora war ein völlig unerschlossenes Urwaldgebiet, als die Deutschen dort eintrafen. Maulwürfen gleich hausten sie in schnell ausgeworfenen Erdhöhlen. Der Rauch des im offenen Herdloche ständig qualmenden Feuers schützte sie etwas vor den Stechmücken und den kleinen „Moschtschkis", die malariaähnliches Sumpffieber übertrugen. Zuerst waren die Familien noch beisammen. Rasch mußte der Urwald soweit gerodet werden, daß Platz für die ersten Hütten und die kleinen Kartoffeläcker da war. Bei einer Kälte bis zu minus fünfzig Grad Celsius konnte man nicht einen beinahe ein halbes Jahr lang dauernden Winter mit Frau und Kindern in den Erdlöchern hausen. Lebensmittel wurden von auswärts kaum herangeführt, und der Hunger tat sehr ßerer Nutzfläche für den sommerlichen Ausbau der Siedlung, die Gewinnung von immer größerer Nutzfläche für den sommerlichen Ausbau, und die Holzfällerarbeiten im Winter schritten bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges gut vorwärts. Dann mußten die Männer von 16 bis 50 Jahren in Workuta für das belagerte Leningrad Kohle fördern und transportieren. Für die zurückgebliebenen Frauen und Mütter begannen nun die schwersten Leidensjahre. Es galt neben der Sorge für die Kinder auch die für die Männer anfallenden Arbeiten zu verrichten. Dia Frauen, in Arbeitsbrigaden zusammengefaßt und den Erfordernissen entsprechend oft wochenlang an verschiedenen Stellen der sich auf viele Kilometer im Umkreis erstreckenden Siedlung eingesetzt, ließen ihre Kinder allein zu Hause, oft ohne ein Stückchen Brot. Den Kleinkindern fehlte oft jegliche Betreuung. Drei bis vier Familien waren in einem Raum untergebracht.
Und dennoch und trotz allem! Als ich im Sommer 1948 mit einer Gruppe von Strafgefangenen aus Workuta in das Taigagebiet an die Petschora geschickt wurde, um bei der Einbringung der Heuernte mitzuhelfen, bestand das Staatsgut Nowyj-Bor schon aus einer Hauptsiedlung und vier Zweigstellen, unter denen Karjago die größte war. Eine Anzahl von tief in die Taiga vorgeschobenen Erdhüttensiedlungen bewohnten im Winter die Holzfäller und im Sommer die mit der Heuernte Beschäftigten.
Die Hauptsiedlung machte mit ihren etwa Hundert ein-bis zweistockhohen Häusern einen sauberen gepflegten Eindruck. Ihr Stolz war das Gemeindehaus mit dem Klub, das Verwaltungsgebäude, das Krankenhaus, das öffentliche Bad und eine Gemeinschaftsküche. Der Kindergarten und die Säuglingskrippe genügten leider den Anforderungen noch nicht. Die Schule der Haupt-siedlung hatte sieben, in den Zweigsiedlungen vier Klassen. Unterrichtet wurde in russischer Sprache. In den Nebenstellen standen neben den sauberen Holzhäusern Wohnbaracken mit Gemeinschaftsräumen für die Unverheirateten. Doch in der Invalidenbaracke, wo die verschiedenen Nationalitäten unter den entsetzlichsten äußeren Umständen wohnten, gab es keine Deutschen. Der größte Teil der Männer fehlte auch damals. Die wenigen Daheimgebliebenen bedienten die landwirtschaftlichen Maschinen und waren Steuermänner auf den Frachtkähnen. Die Frauen leisteten Bewundernswertes. Das Essen war nur im Sommer, während und kurz nach der Kartoffelernte, erträglich. Die Kleidung war sehr ärmlich und im Schnitt des verflossenen Jahrhunderts, aber sauber und ordentlich instand gehalten. Der hohen Nordlage angepaßt, trug man im Winter wattierte Hosen und Jakken, hüllte sich in Pelzkappen und Ohrenklappen und Wolltücher ein.
Der sehnlichste Wunsch aller war, in das Industriegebiet Workuta ziehen zu dürfen, wo man trotz der Unbilden der Polarzone besser vor-wärts kommen konnte, wo die Familien wenigstens beisammen waren. Am liebsten aber wollte man in die mittelasiatischen Republiken auswandern, wo es für einen guten Handwerker ein lohnendes Fortkommen gab.
Im allgemeinen kann festgestellt werden, daß die ersten zehn Jahre nach einer neuen Umsiedlung in dem Bemühen vergehen, die primitivsten Bedürfnisse des Lebens zu sichern. Wenn auch trotz Hunger, körperlicher Überanforderung und grausamer Witterung fast Unmögliches geleistet wird, kann eine kulturelle Betätigung doch nicht über die Schaffung einer einfachen sauberen Wohnsiedlung hinausreichen. Das Mehr, das die deutschen Frauen und Mütter in ihren Häusern und Kinderstuben taten, muß hoch angerechnet werden.
Tüchtigkeit und Hilfsbereitschaft
Unvergeßlich bleiben mir einige Begebenheiten aus der Zeit meines dortigen Aufenthaltes im Sommer 1948.
In der Hauptsiedlung arbeiteten wir am ersten Tag auf den großen Kartoffelfeldern, bis unser Abtransport in die Zweigstellen und von da in die Erdhütten der Taiga durchgeführt wird. Es ist ein feuchter heißer Tag und die kleinen Moschtschki belästigen uns sehr. Von Gesicht und Händen fließt das Blut und auf der Stirn bilden sich dicke Beulen. Zwangsumgesiedelte deutsche Frauen sind unsere Aufseher; noch nie hatten wir es so gut. In der Gemeinschafsküche bereiten deutsche Frauen ein Mittagsmahl für uns; noch nie war es so reichlich. Es gab sogar Milch.
In der Zweigstelle Karjago suchen wir auf leeren Äckern vorjährige Kartoffeln und warten auf den Abtransport. Da kommt eine noch jüngere Frau auf mich zu und sagt in stark mundartlichem Plattdeutsch: „Ich fragte die gefangenen Frauen nach dir. Sie sagten, ich finde dich leicht, denn du trägst von allen die schlechtesten Kleider.“ — Dann drückt sie mir ein Päckchen in die Hand. — „Nimm, viel ist es nicht, aber es ist gewaschen und geflickt." — Sie sieht auf meine Füße und sagt: „Die Schuhe werden dir in der Taiga an den Füßen verfallen, doch Schuhe habe ich selber nicht." Später bringt sie doch noch eine Art aus Schilfrohr geflochtene Galoschen: „Binde sie mit Schnüren bei der Arbeit um deine Füße, du schonst die Schuhe." — Goldenrot färbt ein früher Herbst die Wälder. Die Frachtkähne auf der Petschora werden mit den Erzeugnissen des Staatsgutes beladen. Die deutschen Frauen tragen Tag für Tag zentnerschwere Kartoffelsäcke und wissen, daß viel zu wenig übrigbleibt, um den Hunger das ganze Jahr hindurch zu stillen und singen dabei trotz allem ihre Lieder: „O Susanne, wie ist das Leben doch so schön", und „Margarethe, Mädchen ohnegleichen". Der Zweigstellenleiter, der seinen deutschen Namen behalten hat, im übrigen aber ein schlimmer Aussauger ist, treibt selbst das Jungvieh auf die Schiffe, damit es nach Moskau gebracht werde und alle in der Siedlung werden den ganzen Winter hindurch kein Stückchen Fleisch sehen, geschweige denn essen. Die Frauen aber singen dazu: „Im schönsten Wiesengrunde liegt meiner Heimat Haus." Zwischendurch bricht wohl eine in Tränen aus: Drei Wochen sind wir schon unterwegs auf Arbeit, und daheim haben meine Kinder jetzt kein Schnittlein Brot mehr. —
Dann kommt schließlich der seltene Ruhetag in der Siedlung. Die Jugend geht zum Tanz und auf den Frauen lastet in den wenigen stillen Stunden, die ihnen Kinder und Haushaltsorgen übrig lassen, die große geistige und seelische Not noch stärker. Ein Seelsorger ist nicht da und leicht verfallen sie da den wirren Worten eines Laienpredigers oder den verheißungsvollen einer fremden Wahrsagerin, die ihnen für klingende Münze etwas von dem verspricht, was ihr Herz so ersehnt in seiner Einsamkeit. So geht das Leben dieser Menschen in den Urwäldern an der Petschora weiter, bewundernswert in seinem Fleiß, seiner Tüchtigkeit, Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft und erschütternd in seiner Primitivität, kindlichen Vertrauensseligkeit und rührenden Sentimentalität.
Seit Herbst 1948 weiß ich nichts mehr vom Staatsgute Nowyj-Bor, nichts mehr von den Arbeitsgefährten eines Taigasommers. Es ist anzunehmen, daß sie an den Ergebnissen des Fort-schrittes in den letzten Jahren auch teilhaben dürfen. Wenn ich seit 1955 in den Sowjetzeitungen von Prämiierungen der kinderreichen Mütter in der Komi-Republik las, so waren am zahlreichsten und standen an erster Stelle deutsche Namen. Dann dachte ich an die Sowjetdeutschen im Petschoragebiet.
12. Das Volk der Komi und seine Republik
Als ich io den ersten Wochen meines Aufenthaltes in Workuta in wirren Fieberträumen im Krankenhauses eines Strafarbeitslagers lag, hörte ich oft die Frage von Zimmergenossinnen, die Briefe schrieben: Wie lautet unsere Anschrift? Die Antwort hieß: Komi-ASSR (und einige Zahlen).
Daß wir in Workuta waren, wußte ich. Aber was war dies nur: Komi-ASSR? Meine Bettnachbarin hielt mich für sehr ungebildet, als sie mir erklären mußte, daß wir in einer der 15 Autonomen Republiken der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepubliken (RSFSR) seien und daß unsere eben „Komi“ hieße. Sie glaubte auch, daß ich Analphabetin sei, weil ich nicht lesen konnte, was sie umständlich buchstabierend mit schwerer ungeübter Hand in cyrillischen Lettern auf ein Blatt Papier schrieb, das sie dann sorgsam zu einem Dreieck zusammenfaltete und mir stolz als selbstgefertigten Briefumschlag präsentierte. Sie war die typische Russin! Ihr starkes Selbstbewußtsein, oft in Hochmut und Überheblichkeit ausartend, glaubte alles besser zu wissen und besser zu können als andere. Dann aber war sie auch tatsächlich imstande aus primitivstem Vorhandenen das herzustellen, was gebraucht wurde und sonst nirgends zu kaufen war.
• Wer war nun Analphabetin von uns beiden? Ich, weil ich nicht russisch sprechen und schreiben konnte? Oder sie, weil sie außer dieser Sprache und Schrift keine andere kannte?
In dreizehn folgenden Jahren hatte ich Gelegenheit außer dem Mangel der russischen Sprachkenntnis noch manches andere nachzuholen. Öfters war dann auch an mir die Reihe zur Verwunderung.
Eine russische Dame mit guter Hochschulbildung und in ihrem Fache glänzend bewandert, wollte ihre erste Auslandsreise machen. Die Fahrt sollte durch das Mittelmeer über Athen, Rom, Marseille, Kairo und Istambul wieder zurück nach Odessa gehen. Hilflos saß sie vor dem Atlas und suchte diese Orte irgendwo im Indischen Ozean. Mit der Geographie der UdSSR hörte auch ihre gesamte Erdkunde auf. Dann tat sie das Gleiche wie ich vor Jahren, sie holte das Versäumte nach.
Doch seien wir ehrlich! Auch für viele Menschen der westlichen Welt hören bestimmte Kenntnisse an einer bestimmten Grenze auf. Und doch kann nur aus genauer Kenntnis der Völker, ihrer Sprachen und ihres Lebens die Fähigkeit zum richtigen Handeln im rechten Augenblick erwachsen. Im Osten wird jetzt viel bisher Versäumtes nachgeholt, nicht nur von der dortigen Intelligenz, sondern auch von den breiten Massen. Tun wir ein Gleiches?
Was ich in den ersten Jahren in Workuta sah, war ein buntes Völkergemisch, auf sowjetischen Nenner gebracht, in einem russisch bestimmten Gebiete wohnend, das nur dem Namen nach „Komi-ASSR“ hieß. Darum muß — ehe von der Komi-Republik gesprochen wird — einiges über die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) gesagt werden.
Die Russen als „Erste unter Gleichen"
Die RSFSR ist der größte und wichtigste Teil der Sowjetunion. Ihre Größe beträgt 17 076 900 qkm, — der asiatische Teil umfaßt ein Vielfaches des europäischen. Die RSFSR erstreckt sich von den baltischen Staaten und der Ukraine im Westen über das europäische Rußland, den Nord-kaukasus und Sibirien bis zum Ochotskischen und Beringschen Meer und nähert sich im äußersten Nordosten bis auf etwa 60 km dem USA-Staate Alaska. Ihre Bevölkerungszahl wird bei der letzten Volkszählung von 1959 mit 117 534 000 angegeben. Die Russen stellen zahlenmäßig den größten Anteil und spielen als eigentlich staatstragendes Element die führende Rolle. Ihnen steht eine große Zahl nichtrussi-scher Völker gegenüber. Doch die meisten von ihnen sind kleine Volksstämme und Volkssplitter ohne jede politische Bedeutung. Die sprachüe und räumlich-kulturpolitische Gemeinschaft dieser Völkerschaften war mitbestimmend für die administrative Gliederung der RSFSR. Drei erwaltungsstufen sind in ihr einander gleichgestellt: Gebiet (Oblast), Gau (Krai) und Autonome Republik (ASSR).
Eine besondere Stellung nehmen die Deutschen und die Juden ein. Sie besitzen kein festumgrenztes Siedlungsgebiet, sondern sind über, die ganze RSFSR verstreut. Die Juden — in der Sowjetunion leben 2 228 000 — haben zwar ein jüdisches Autonomes Gebiet im Fernen Osten, wohnen aber zum geringsten Teil dort. Die Zahl der Deutschen beträgt 1 619 000, davon siedelt etwa die Hälfte in der RSFSR, verstreut in dem asiatischen und europäischen Teil.
In der Komi-ASSR leben die Komi-Syrjänen. Sie gehören in die sprachliche und kulturpolitische Gemeinschaft der ostfinnischen Gruppen im Wolga-Ural-Raum. Zu diesen Gruppen zählen noch: Die Komi-Permjaken, Mari, Udmurten und Mordwinen. Ein Großteil der Komi-Syrjänen hat helle Haut, hellblondes Haar und wasserblaue Augen. Es gibt aber auch einen dunkleren Typ mit schon mongolischem Einschlag. Alle sind klein bis mittelgroß, schlank, bis untersetzt, jedoch zäh und ausdauernd.
Die Komi-ASSR ist etwa so groß wie Westund Mitteldeutschland. Durch die Petschora wird sie nach Norden zur Barentsee und durch die Nebenflüsse der Dwina nach Westen zum Weißen Meere entwässert. Den größten Teil dieses Gebietes bedeckt Urwald, Taiga, nur der nord-östliche Teil geht in Tundrawald über und erstredet sich in der „Vielerdigen Tundra" um Workuta über den Polarkreis.
Während in der Bundesrepublik auf kleinerem Raume mehr als 52 Millionen Menschen leben und die Bevölkerungsdichte durchschnittlich etwa 175 Personen auf einen qkm beträgt, erreicht diese in der Komi-Republik bei einer Einwohnerzahl von drei bis vier Millionen nur zehn Personen. Die merkliche Erhöhung ihrer Bevölkerungsdichte sowie die ihres Industrie-und Wirtschaftspotentials verdankt die Komi-ASSR der Nutzung des Erdöl-Kohlenvorkommens im Petschorabecken.
Menschen aus dem Volke der Komi begegneten mir in den ersten Jahren meines Workutaer Aufenthaltes wenig.
Die alte Banditin, mit der ich auf dem Staats-gut an dem Flusse die Kohlpflanzen aus den Mistbeeten auf die Felder pflanzte, düngte und goß, schien mir halbtierhaft mit dieser Landschaft der sommerlichen Moore und der ewigen Gefrornis verbunden zu sein. Wenn sie ihre Suppe schlürfte und den Brotkanten hinab-schlang, war es, als ob der Steppenwolf seine Beute anfiele; ihre wenigen halbartikulierten Laute klangen wie ein fernes Heulen. Sie konnte nicht als typisch für ihr Volk von heute dastehen, sie war, wie noch andere ihres Stammes, ein Überbleibsel aus fernen Jahrhunderten.
Die Beamtin, zu der mein Weg mich später führte, als ich eine amtliche Bestätigung brauchte, war ein Kind der Jetztzeit. Sie trug den Titel eines öffentlichen Notars und saß in dem Gebäude eines Volksgerichtshofes. Es war eine halbverfallene Baracke, der „russische Ofen“ rauchte entsetzlich, der Mörtelbewurf löste sich in großen Stücken von der Decke. Er fiel auf meinen Kopf, aber das hatte nicht viel zu sagen, ich trug eine wattierte Ohrenkappe und stand auf der untersten Rangstufe, der eines eben entlassenen, weder amnestierten, noch rehabilitierten Strafgefangenen. Er fiel auf ihren Schreibtisch, da kriegten die Papiere etwas ab. Zuletzt fiel er auf ihren Kopf, da sprang sie wütend auf, lief hinaus und beschwerte sich bei irgend jemanden. Schließlich kam sie zurück und erklärte, daß sie nun solange nicht arbeiten werde, bis hier eine gründliche Reparatur durchgeführt worden sei. Ich solle später wiederkommen; wann, könne sie nicht sagen. Sie sprach das Russische mit deutlichem Komi-Akzent und war wie viele ihrer Volksgenossen furchtsam, pedantisch, unsicher, humorlos.
Das eigentliche Land der Komi lernte ich auf einer Fahrt in den westlichen Teil kennen. Auf Grund eines Vertrages kamen in den Jahren nach dem zweiten Weltkriege alljährlich etwa 500 Frauen aus den Strafarbeitslagern Workutas zu sommerlichen Aushilfsarbeiten auf das Staatsgut Nowyj-Bor an der Petschora. Diese sogenannte „Sommererholung" gewährte man nur Sträflingen mit kleinen Strafzeiten. Ausländer waren fast nie dabei. Zugleich aber schob man die schlimmsten Kriminellen aus den Lagern dahin ab. Sollten sich auch andere eine Zeitlang mit ihnen abplagen! Mit guter Arbeitsware konnte man ruhig auch Abschaum in Kauf nehmen! An einem sonnigen Julimorgen des Jahres 1948 werden im Frauenstraflager » 1. Kilometer" bei Workuta einige der sonst auf dem Workutaer Staatsgut beschäftigten Arbeitsbrigaden bei der Wache zurückgehalten.
Gleich geht eine „Etappe“, heißt es. Wieder einmal muß der Sack mit den geringen Habseligkeiten geschultert werden. Einige Kriminelle wollen nicht fort. Sie haben auf den Arbeitsplätzen ihre Liebsten, ihre gut lohnenden Verhältnisse. Die Kriminellen können sich mehr erlauben als wir Politischen. Sie organisieren chemische Bleistifte, zerstoßen die herausgelöste Mine zu Pulver. Wenn dieses Pulver in die Augengestreut wird, entzünden sie sich schnell und schwellen an. Der Betreffende ist für mehrere Tage vollkommen geblendet und unfähig sich allein fortzubewegen. Doch diesmal mißglückt ihre List, der Transportleiter ist streng. Jede der geblendeten Verbrecherinnen erhält einen Augenverband, zwei Krankenschwestern werden mitgenommen und müssen sich um die Betreuung kümmern.
Arktischer Sommer
In Ruderbooten geht es aus dem Lager über den Fluß Workuta. Der Wasserstand ist sehr hoch. Der Eisgang hatte in diesem Jahre erst Mitte Juni stattgefunden, und noch vor wenigen Tagen, Anfang Juli, dem einzigen Sommermonat Workutas, war ein furchtbarer Schneesturm mit nußgroßen Hagelstücken über die Tundra gebraust. Dodt heute ist ein selten schöner Sonnentag und die Tundra hat ihr hochsommerliches Festkleid angelegt. Wir schleppen uns mit unseren Bündeln die Hügel hinauf, der Gras-rasen an ihren Hängen ist leuchtend grün und wächst förmlich von Stunde zu Stunde. Im niedrigen Weidengebüsch um die Moore und in den Zwergstrauchheiden zwitschern die bunten Finken, hüpfen Bachstelzen, lärmen Scharen von Rebhühnern. Die Farben der Blumen sind so leuchtend wie im Hochgebirge. Ihre Stengel sind ganz kurz, sie haben sich auf das Wesentlichste, zum Leben Notwendigste beschränkt: auf die Wurzel, die Nahrung aufnimmt und auf die Blüte, in der alle Schönheit ihres kurzen Daseins eingeschlossen ist. Ein schwerer betäubender Duft liegt über der sommerlichen Tundra, ein etwas süßlicher Verwesungsgeruch. Es blüht alles in buntem Durcheinander: Neben den Trollblumeen, Vergißmeinnicht und Stiefmütterchen des Frühlings steht die sommerliche Pracht der Margariten und Heckenrosen, der wilden Levkojen und Nelken, steht roter Mohn und Kornblumen. Nur die typische Herbstblume fehlt noch, ein purpurrotes Weidenröslein, das Ende Juli/Anfang August manchmal die Südhänge aufglühen läßt gleich Alpenrosenfeldern im Hochgebirge: ein verschwenderisches Sichverströmen der Tundra vor ihrem Wintertode.
Auf dem Bahnhof warten einige Frauengruppen. Vier Tage lang fahren wir dann auf der einzigen Bahnlinie über Inta-Abes nach Petschora-Koshwa. Etwa hundert Kilometer südlich Workuta verlassen wir die „Vielerdige Tundra", so genannt, weil sie mit Tonen und Sanden von 10 Metern Mächtigkeit bedeckt ist. Jetzt befinden wir uns in der Waldtundra. Latschen wachsen auf den Abhängen und niedrige Bäume entlang der Flußläufe. Noch weitere 200 Kilometer südlich und wir sind im richtigen Urwald, in der Taiga. Außer Tannen, Fichten und Lärchen gibt es hier Birken, Ulmen, Pappeln, Eber-eschen und wilde Obstbäume, viele Bäche und Flüsse und noch mehr Seen. Reich sind die Gewässer an Fischen und Wasservögeln, die Wälder an Wild. In letzteren pflücken wir später Beeren aller Art, darunter schwarze Johannisbeeren, die beinahe so groß wie die Beeren der Weintrauben sind.
In Petschora-Koshwa angelangt, heißt es warten, zwischendurch arbeiten .. . und hungern. Einmal gehen wir zum Holzfällen in die Taiga. Ein andermal reißt man uns aus dem Schlafe hoch, ein betrunkener Aufseher peitscht uns fast durch noch dämmerige Straßen. Ein mit Baumstämmen beladener Frachter muß schnellstens gelöscht werden, die mastenlangen Stämme werfen wir über Bord ins Wasser.
Aus dem Übergangslager auf dem Steilhang an der Petschora sehen wir die Flußdampfer kommen und gehen. Die Petschora ist größer als der Rhein, ihre Binnenschiffahrt für Personen-und Lastverkehr gut ausgebaut, doch nur von Mai bis Oktober möglich. Ausgebaute Land-wege gibt es nicht. Nur der Wasserweg im Sommer und der Schlittenweg im Winter halten die Verbindung aufrecht. Im Frühling und Herbst war das Taigagebiet an der Petschora damals noch unzugänglich.
Schließlich legt auch die „Turgenjew“ an. Es ist unser Flußdampfer. An ihrem Steuer steht ein Sowjetdeutscher. Er führt uns die Petschora abwärts nach Norden bis Ustj-Ussa, zur Mündung der reißend schnellen Ussa, die den nun beginnenden Westlauf der Petschora bestimmt Dann geht es noch drei Tage westwärts.
Wir Gefangene sind im Zwischendeck untergebracht. Auf einer schmalen Bettstelle kauern und schlafen wir zu dritt und viert. Heimlich schleichen einige sich ab und zu auf das Oberdeck. Wunderbare Taiga liegt an beiden Ufern, jahrelang bloß in Träumen ersehnte Wälder. Die Sonne wärmt immer mehr, an den Landeplätzen herrscht ein buntes Leben. Blonde Kinder stehen an den Ufern und Großmütter in dunkelbraunen langen Trachtenkleidern und schwarzen Spitzenhäubchen vergangener Jahrhunderte. Sie bieten Ziegenmilch zum Verkauf an und Kartoffeln von den kleinen Äckern, die an den Hängen hochklettern. Männer und Frauen sind selten zu sehen, sie sind beim Holzfällen oder Heumachen in der Taiga oder beim Fischen. Solche „Nordleute“ fahren dann auch in ihren Fischerbooten an uns vorüber, in Ölzeug und Südwester. Manchem von ihnen fällt das Haar bis zur Schulter und der Bart bis auf die Brust.
An einem Juliabend erreichen wir das Staats-gut Nowyj-Bor und ... hören deutsche Laute, schwäbische und plattdeutsche Mundart.
Das Staatsgut Nowyj-Bor wurde in den dreißiger Jahren von Sowjetdeutschen errichtet, die sowohl aus dem europäischen als auch aus dem asiatischen Teil der UdSSR hierher zwangsumgesiedelt wurden. Zuerst kamen ehemalige wohlhabende Bauernfamilien, die sogenannten Kulaken, die gelegentlich der Zwangskollektivierungen ihre stattlichen Bauernhöfe verlassen mußten. Später als die Siedlung stand, fanden sich auch Zwangsverschickte aus anderen Siedlungen der UdSSR ein. Doch Sowjetdeutsche haben im Niemandsland Wald geschlagen, gerodet und Äcker angelegt, eine Hauptsiedlung mit mehr als hundert ein-bis zweistöckigen Holzhäusern und vier Zweigstellen errichtet, haben Erdhüttenweiler bis weit in die Taiga vorgetrieben und diese erschlossen. Die Komi-Syrjänen bewohnen seit fast tausend Jahren den Raum zwischen dem Weißen Meer und dem Ural. Zahlenmäßig klein, blieben sie auf ihren Stammesplätzen im Süden und an den Verkehrsknotenpunkten an den Flüssen. Die Kolonisation der Polartundra und der Taigagebiete im Petschorabecken aber konnte die Sowjetführung nur mit Strafgefangenen und Zwangsverschickten durchführen.
Entwicklung der Komi-ASSR in den letzten Jahren
In der Mitte der fünfziger Jahre traten dann drei Ereignisse ein, die entscheidenden Einfluß auf die weitere Entwicklung der Komi-ASSR hatten: 1. Die Kolonisation stand in ihren Grundzügen. Der weitere Ausbau und die Vervollkommnung der Technisierung erforderte wohl noch Kraft, Arbeit und Fachwissen, aber nicht mehr so Unmenschliches, so unsagbar Schweres wie bisher. 2. Der XX. Parteitag bestätigte im Februar 1956 die neue Linie auch in der Nationalitätenpolitik. Auf ihm wurde die „führende Rolle des russischen Volkes'nicht mehr erwähnt. Chruschtschow erklärte vielmehr, die Partei lasse sich in der Nationalitätenpoli-tik von der Weisung Lenins leiten, daß nur „eine äußerst sorgsame Beachtung der Interessen der verschiedenen Nationen den Konflikten den Boden entzieht und das gegenseitige Mißtrauen beseitigt". Bald nach dem Parteitag wurden in verschiedenen Veröffentlichungen die Geschichte der nicht russischen Nationalitäten, ihrer Denker, ihrer nationalrevolutionären Bewegungen wieder stärker betont. 3. Im Verlauf einer Reorganisierung der Wirtschaftsleitung kam es im Jahre 1957 zur Aufstellung von Volkswirtschaftsräten, den sogenannten Sownarchosen. Fast jede Autonome Republik und jedes Gebiet der RSFSR erhielt ihren eigenen Sownarchos. Dies brachte von Moskau her eine Dezentralisierung und eine Verlagerung der Wirtschaftsleitungen in die jeweilige Provinzhauptstadt oder den Gebietsvorort.
Provinzhauptstadt der Komi-Republik ist Syktywkar, das von da ab stärker hervortritt.
Allmählich weiß man nun auch in Workuta, daß es zur Komi-ASSR gehört.
In unserer Nachbarschaft tauchen neue Gei siebter auf. Einmal stehe ich mit dem Schlüssel in der Hand hilflos vor der Haustür, der Frost von Minus 45 Grad hat das Seine getan und die Tür läßt sich nicht öffnen. Ein mir Unbekannter kommt vorbei, grüßt und hilft ohne viel Worte. Ein bemerkenswertes Ereignis, denn wirkliche Hilfsbereitschaft ist in diesen Jahren von ganz Fremden selten. Später lerne ich die Familie kennen, sie ist eben erst von Syktywkar zugezogen. Er ist Schlosser und arbeitet im benachbarten Wärmekraftwerk. Die Frau ist nicht berufstätig, wie es die Frauen Workutas eigentlich fast alle sind; sie sieht ihre Hauptaufgabe darin, Hausfrau und Mutter zu sein. Es „blitzt“ auch tatsächlich alles in der kleinen Wohnung, die drei Kinder sind sauber und besser erzogen als ich das bei den Kindern in der Nachbarschaft sonst gewohnt bin. Die Eltern finden sogar Zeit an den Ruhetagen des Mannes mit den Kindern Spaziergänge zu machen und ihnen Spielzeug zu basteln. Sie sprechen mit den Kindern die Komisprache, in der Schule werden sie russisch lernen, weil das zum Vorwärtskommen unerläßlich ist. Einmal sagt die Frau beinahe entschuldigend zu mir: Die Nachbarinnen meinen, es sei unvernünftig von mir nicht zur Arbeit zu gehen. Man müsse mehr verdienen, als der Mann allein es könne. Ich aber möchte meinen Kindern, wenigstens solange sie noch klein sind, ein Zuhause geben. Wenn sie zur Schule gehen, werde ich auch mitverdienen.
Die kleineren Beamtenstellen im Staats-und Wirtschaftsdienst werden immer mehr mit Angehörigen des Komi-Volkes besetzt, die sehr fleißig, pedantisch und ehrgeizig sind. Langsam werden sie aus Parteianwärtern auch Parteimitglieder mit kleinsten ehrenamtlichen Funktionen. Der Agitator unserer Wohngruppe nimmt es mit seiner Aufgabe sehr ernst. Vor den Wahlen für den Obersten Sowjet und für den Nationalitätensowjet erscheint er in jeder Familie mehrere Male. Damit auch alles klappt, sagt er. Einmal nimmt er die Wahlberechtigten auf, dann gibt er verschiedene Mitteilungen durch, und gibt Ort und Tag der Wahlen bekannt. Am Abend des Wahltages geht er seinen Block durch, um die Säumigen zur Urne zu holen. Um 23 Uhr klopft er an unser Fenster. Die Hausfrau sei noch nicht bei der Wahl gewesen. Warum nicht? — Antwort: Er sei im Irrtum, sie habe gewählt. — Er: Er habe doch genau aufgepaßt, ihren grauen Fehmantel habe er den ganzen Tag nicht im Wahllokal gesehen. — Antwort: Das stimme, aber es sei eben heute Purga, darum habe sie den schwarzen Stoffmantel angezogen. — Erst dann zieht er beruhigt ab.
Einmal ist er mit mir unzufrieden, sogar sehr. Es wird wieder irgend eine Friedenskampagne durchgeführt und Unterschriften gesammelt. Er verlangt auch meine Unterschrift. Ich verweigere sie. — Ob ich denn nicht für den Frieden sei? — Sehr sogar, sage ich. Nur Verbrecher könnten gegen den Frieden sein. Doch ich werde in diesem Lande, in das man mich zwangsweise gebracht hat und in dem man mich wider meinen Willen festhält, keine freiwillige Unterschrift leisten. — Ich war im Schwünge und wütend, mein Russisch war holprig, seines etwas besser, doch auch nicht ganz gut. Ob er alles verstanden hat, bleibt dahingestellt. Ein Nach-spiel hatte dieser Auftritt jedoch nicht.
Im „Sojus Petschat" (Presseverband) sind nur Komi-Angestellte tätig. Der Sojus Petschat führt die Bestellung und Verteilung von Zeitungen und Zeitschriften durch. Die Jahresabonnements müssen schon im September für das nächstfolgende Jahr angemeldet werden. Das Papier ist genormt und die Jahresquote begrenzt. Wer nicht rechtzeitig bestellt, läuft Gefahr, ein Jahr lang nicht bedacht zu werden. Lesezirkel gibt es nicht. Meine Hausleute beziehen vier Zeitungen und sechs Zeitschriften, natürlich sowjetische in russischer Sprache. Die Bestellungen werden von einer Dienststelle aus erledigt. Ich möchte auch deutsche Zeitschriften lesen und suche darum Sojus Petschat auf.
Presseerzeugnisse aus Ost-Berlin
Die Dienststelle soll in der Puschkinstraße sein. Ich gehe die Straße ab und auf, kein Namensschild, keine Aufschrift, niemand weiß Bescheid. Endlich zeigt ein Vorübergehender auf eine windschiefe, halbverschneite Baracke. Knie-hoch wate ich durch den Schnee, bis ich den Eingang erreiche. Der Raum ist kalt und ungepflegt und mit zu vielen Tischen möbliert. Eine Dienststelle, in der die Angestellten untereinander nur Komi sprechen, besser gesagt, schnattern. Ununterbrochen werden Privatgespräche geführt und zwischendurch gefrühstückt. Wie in dem Lärm gearbeitet werden kann, ist mir ein Rätsel. Ausländische Zeitungen und Zeitschriften werden nur aus den Volksdemokratien vermittelt. Mit einem Verzeichnis für das Jahr 1959 setze ich mich in eine Ecke. Es ist nun die Möglichkeit vorhanden, wieder deutsch zu lesen. Natürlich weiß ich, daß die Aufgabe vor mir steht, zwischen den Zeilen zu lesen, aus dem Negativ das Positiv herauszufinden. Für all die vielen, sich nicht an Kritik wagenden Sowjetbürger, die Presseerzeugnisse aus Berlin-Ost lesen, gelten diese als Stimme Deutschlands schlechtweg. Man will deutsch lernen und liest Sowjetterminologie aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt.
Die Zeitungen und Zeitschriften aus Berlin-Ost sind — bedingt durch den Rubel-Mark-Kurs — spottbillig. Ein Jahresabonnement für eine wöchentlich erscheinende illustrierte Zeitschrift, natürlich in primitivster äußerer Aufmachung, kostet 20— 30 Rubel. Es gibt sogar eine Wochenzeitung für 12 Rubel jährlich. Die bekanntesten sowjetischen Zeitschriften haben ihr Spiegelbild in Berlin-Ost. Die Moskauer Illustrierte „Ogonjok“ in ihrer Ostberliner Ausgabe heißt „Neue Berliner Illustrierte“, die satirische Zeitschrift „Krokodil“ heißt „Eulenspiegel“, „Wokrug sweta" wird zur „Revue rund um die Welt“, die Frauenzeitschrift „Sowjetskaja Shentschina" zur „Frau von heute“ usw, usw. Das sowjetische Vorbild ist besser in der äußeren Aufmachung, das deutsche Abbild ist größer in den Haßgesängen auf die Bundesrepublik.
Beim Hinausgehen wird mir ein Prospekt in die Hand gedrückt. Es ist eine Werbung zum Bezug der einzigen in der Komisprache erscheinenden Zeitschrift. Ich verstehe kein Wort auf Komi und will meine russische Hausfrau zum Bezug werben. Doch die lacht nur verächtlich:
„Von uns haben sie die cyrillischen Lettern übernommen. Wir haben sie gelehrt, ihre Sprache zu schreiben! Viel zu viel wird auch in unserem Workutaer Rundfunk täglich auf Komi durchgegeben. Schließlich sind wir in der RSFSR.“
Der steigende Einfluß der Provinzhauptstadt Syktywkar tritt auch im Kulturleben stärker in Erscheinung. Die Gastspiele der Syktywkarer Schauspiel-, Opern-und Operettentruppe laufen in allen größeren Komistädten, das Workutaer Fernsehen übernimmt einige Übertragungen. Lange bereitet sich das Syktywkarer Volkskunstensemble für seinen großen Auftritt in Moskau vor und ist dann von dem dortigen Erfolg doch etwas enttäuscht, denn kurz vorher hatten die Künstler aus dem fernen Jakutien Ostsibiriens viel größeren Applaus und mehr Beachtung gefunden. Auf Grund eines Vertrages kamen in den Jahren nach dem zweiten Weltkriege alljährlich etwa 500 Frauen aus den Strafarbeitslagern Workutas zu sommerlichen Aushilfsarbeiten auf das Staatsgut Nowyj-Bor an der Petschora. Diese sogenannte „Sommererholung“ gewährte man nur Sträflingen mit kleinen Strafzeiten. Ausländer waren fast nie dabei. Zugleich aber schob man die schlimmsten Kriminellen aus den Lagern dahin ab. Sollten sich auch andere eine Zeitlang mit ihnen abplagen! Mit guter Arbeitsware konnte man ruhig auch Abschaum in Kauf nehmen! An einem sonnigen Julimorgen des Jahres 1948 werden im Frauenstraflager . 1. Kilometer" bei Workuta einige der sonst auf dem Workutaer Staatsgut beschäftigten Arbeitsbrigaden bei der Wache zurückgehalten.
Gleih geht eine „Etappe“, heißt es. Wieder einmal muß der Sack mit den geringen Habseligkeiten geshultert werden. Einige Kriminelle wollen niht fort. Sie haben auf den Arbeitsplätzen ihre Liebsten, ihre gut lohnenden Verhältnisse. Die Kriminellen können sih mehr erlauben als wir Politishen. Sie organisieren hemishe Bleistifte, zerstoßen die herausgelöste Mine zu Pulver. Wenn dieses Pulver in die Augen gestreut wird, entzünden sie sih shnell und schwellen an. Der Betreffende ist für mehrere Tage vollkommengeblendetund unfähig sih allein fortzubewegen. Doh diesmal mißglückt ihre List, der Transportleiter ist streng. Jede der geblendeten Verbreherinnen erhält einen Augenverband, zwei Krankenshwestern werden mitgenommen und müssen sih um die Betreuung kümmern.
Arktischer Sommer
In Ruderbooten geht es aus dem Lager über den Fluß Workuta. Der Wasserstand ist sehr hoch. Der Eisgang hatte in diesem Jahre erst Mitte Juni stattgefunden, und noch vor wenigen Tagen, Anfang Juli, dem einzigen Sommermonat Workutas, war ein furchtbarer Schneesturm mit nußgroßen Hagelstücken über die Tundra gebraust. Doch heute ist ein selten schöner Sonnentag und die Tundra hat ihr hochsommerliches Festkleid angelegt. Wir schleppen uns mit unseren Bündeln die Hügel hinauf, der Gras-rasen an ihren Hängen ist leuchtend grün und wächst förmlich von Stunde zu Stunde. Im niedrigen Weidengebüsch um die Moore und in den Zwergstrauchheiden zwitschern die bunten Finken, hüpfen Bachstelzen, lärmen Scharen von Rebhühnern. Die Farben der Blumen sind so leuchtend wie im Hochgebirge. Ihre Stengel sind ganz kurz, sie haben sich auf das Wesentlichste, zum Leben Notwendigste beschränkt: auf die Wurzel, die Nahrung aufnimmt und auf die Blüte, in der alle Schönheit ihres kurzen Daseins eingeschlossen ist. Ein schwerer betäubender Duft liegt über der sommerlichen Tundra, ein etwas süßlicher Verwesungsgeruch. Es blüht alles in buntem Durcheinander: Neben den Trollblumeen, Vergißmeinnicht und Stiefmütterchen des Frühlings steht die sommerliche Pracht der Margariten und Heckenrosen, der wilden Levkojen und Nelken, steht roter Mohn und Kornblumen. Nur die typische Herbstblume fehlt noch, ein purpurrotes Weidenröslein, das Ende Juli/Anfang August manchmal die Südhänge aufglühen läßt gleich Alpenrosenfeldern im Hohgebirge; ein verschwenderisches Sichverströmen der Tundra vor ihrem Wintertode.
Auf dem Bahnhof warten einige Frauengruppen. Vier Tage lang fahren wir dann auf der einzigen Bahnlinie über Inta-Abes nah Petshora-Koshwa. Etwa hundert Kilometer südlih Workuta verlassen wir die „Vielerdige Tundra", so genannt, weil sie mit Tonen und Sanden von 10 Metern Mähtigkeit bedeckt ist. Jetzt befinden wir uns in der Waldtundra. Latshen wachsen auf den Abhängen und niedrige Bäume entlang der Flußläufe. Noh weitere 200 Kilometer südlih und wir sind im rihtigen Urwald, in der Taiga. Außer Tannen, Fihten und Lärhen gibt es hier Birken, Ulmen, Pappeln, Eber-eschen und wilde Obstbäume, viele Bähe und Flüsse und noh mehr Seen. Reih sind die Gewässer an Fishen und Wasservögeln, die Wälder an Wild. In letzteren pflücken wir später Beeren aller Art, darunter schwarze Johannisbeeren, die beinahe so groß wie die Beeren der Weintrauben sind.
In Petshora-Koshwa angelangt, heißt es warten, zwishendurh arbeiten .. . und hungern. Einmal gehen wir zum Holzfällen in die Taiga. Ein andermal reißt man uns aus dem Shlafe hoh, ein betrunkener Aufseher peitsht uns fast durh noh dämmerige Straßen. Ein mit Baumstämmen beladener Frahter muß schnellstens gelösht werden, die mastenlangen Stämme werfen wir über Bord ins Wasser.
Aus dem Übergangslager auf dem Steilhang an der Petshora sehen wir die Flußdampfer kommen und gehen. Die Petshora ist größer als der Rhein, ihre Binnenschiffahrt für Personen-und Lastverkehr gut ausgebaut, doh nur von Mai bis Oktober möglih. Ausgebaute Land-wege gibt es niht. Nur der Wasserweg im Sommer und der Shlittenweg im Winter halten die Verbindung aufrecht. Im Frühling und Herbst war das Taigagebiet an der Petshora damals noh unzugänglih.
Shließlih legt auh die „Turgenjew" an. Es ist unser Flußdampfer. An ihrem Steuer steht ein Sowjetdeutsher. Er führt uns die Petshora abwärts nah Norden bis Ustj-Ussa, zur Mündung der reißend schnellen Ussa, die den nun beginnenden Westlauf der Petshora bestimmt. Dann geht es noh drei Tage westwärts.
Wir Gefangene sind im Zwischendeck untergebraht. Auf einer shmalen Bettstelle kauern und shlafen wir zu dritt und viert. Heimlich shleihen einige sih ab und zu auf das Oberdeck. Wunderbare Taiga liegt an beiden Uferri, jahrelang bloß in Träumen ersehnte Wälder. Die Sonne wärmt immer mehr, an den Landeplätzen herrsht ein buntes Leben. Blonde Kinder stehen an den Ufern und Großmütter in dunkelbraunen langen Trahtenkleidern undshwarzen Spitzenhäubhen vergangener Jahrhunderte. Sie bieten Ziegenmilh zum Verkauf an und Kartoffeln von den kleinen Äckern, die an den Hängen hohklettern. Männer und Frauen sind selten zu sehen, sie sind beim Holzfällen oder Heumachen in der Taiga oder beim Fishen. Solhe „Nordleute“ fahren dann auh in ihren Fisherbooten an uns vorüber, in Ölzeug und Südwester. Manhem von ihnen fällt das Haar bis zur Shulter und der Bart bis auf die Brust.
An einem Juliabend erreihen wir das Staats-gut Nowyj-Bor und ... hören deutshe Laute, shwäbishe und plattdeutshe Mundart.
Das Staatsgut Nowyj-Bor wurde in den dreißiger Jahren von Sowjetdeutshen errihtet, die sowohl aus dem europäishen als auh aus dem asiatischen Teil der UdSSR hierher zwangsumgesiedelt wurden. Zuerst kamen ehemalige wohlhabende Bauernfamilien, die sogenannten Kulaken, die gelegentlih der Zwangskollektivierungen ihre stattlihen Bauernhöfe verlassen mußten. Später als die Siedlung stand, fanden sih auh Zwangsverschickte aus anderen Siedlungen der UdSSR ein. Doh Sowjetdeutshe haben im Niemandsland Wald geshlagen, gerodet und Äcker angelegt, eine Hauptsiedlung mit mehr als hundert ein-bis zweistöckigen Holzhäusern und vier Zweigstellen errihtet, haben Erdhüttenweiler bis weit in die Taiga vorgetrieben und diese ershlossen. Die Komi-Syrjänen bewohnen seit fast tausend Jahren den Raum zwishen dem Weißen Meer und dem Ural. Zahlenmäßig klein, blieben sie auf ihren Stammesplätzen im Süden und an den Verkehrsknotenpunkten an den Flüssen. Die Kolonisation der Polartundra und der Taigagebiete im Petschorabecken aber konnte die Sowjetführung nur mit Strafgefangenen und Zwangsverschickten durchführen.
Entwicklung der Komi-ASSR in den letzten Jahren
In der Mitte der fünfziger Jahre traten dann drei Ereignisse ein, die entscheidenden Einfluß auf die weitere Entwicklung der Komi-ASSR hatten: 1. Die Kolonisation stand in ihren Grundzügen. Der weitere Ausbau und die Vervollkommnung der Tehnisierung erforderte wohl noh Kraft, Arbeit und Fahwissen, aber niht mehr so Unmenshlihes, so unsagbar Shweres wie bisher. 2. Der XX. Parteitag bestätigte im Februar 1956 die neue Linie auh in der Nationali'
tätenpolitik. Auf ihm wurde die „führende Rolle des russischen Volkes” niht mehr erwähnt. Chrushtshow erklärte vielmehr, die Partei lasse sih in der Nationalitätenpoli'tik von der Weisung Lenins leiten, daß nur „eine äußerst sorgsame Beachtung der Interessen der verschiedenen Nationen den Konflikten den Boden entzieht und das gegenseitige Mißtrauen beseitigt". Bald nach dem Parteitag wurden in verschiedenen Veröffentlichungen die Geschichte der nicht russischen Nationalitäten, ihrer Denker, ihrer nationalrevolutionären Bewegungen wieder stärker betont.
3. Im Verlauf einer Reorganisierung der Wirt-
schaftsleitung kam es im Jahre 1957 zur Aufstellung von Volkswirtschaftsräten, den sogenannten Sownarchosen. Fast jede Autonome Republik und jedes Gebiet der RSFSR erhielt ihren eigenen Sownarchos. Dies brachte von Moskau her eine Dezentralisierung und eine Verlagerung der Wirtschaftsleitungen in die jeweilige Provinzhauptstadt oder den Gebietsvorort.
Provinzhauptstadt der Komi-Republik ist Syktywkar, das von da ab stärker hervortritt.
Allmählich weiß man nun auch in Workuta, daß es zur Komi-ASSR gehört.
In unserer Nachbarschaft tauchen neue Ge+ Sichter auf. Einmal stehe ich mit dem Schlüssel in der Hand hilflos vor der Haustür, der Frost von Minus 45 Grad hat das Seine getan und die Tür läßt sich nicht öffnen. Ein mir Unbekannter kommt vorbei, grüßt und hilft ohne viel Worte. Ein bemerkenswertes Ereignis, denn wirkliche Hilfsbereitschaft ist in diesen Jahren von ganz Fremden selten. Später lerne ich die Familie kennen, sie ist eben erst von Syktywkar zugezogen. Er ist Schlosser und arbeitet im benachbarten Wärmekraftwerk. Die Frau ist nicht berufstätig, wie es die Frauen Workutas eigentlich fast alle sind; sie sieht ihre Hauptaufgabe darin, Hausfrau und Mutter zu sein. Es „blitzt“ auch tatsächlich alles in der kleinen Wohnung, die drei Kinder sind sauber und besser erzogen als ich das bei den Kindern in der Nachbarschaft sonst gewohnt bin. Die Eltern finden sogar Zeit an den Ruhetagen des Mannes mit den Kindern Spaziergänge zu machen und ihnen Spielzeug zu basteln. Sie sprechen mit den Kindern die Komisprache, in der Schule werden sie russisch lernen, weil das zum Vorwärtskommen unerläßlich ist. Einmal sagt die Frau beinahe entschuldigend zu mir: Die Nachbarinnen meinen, es sei unvernünftig von mir nicht zur Arbeit zu gehen. Man müsse mehr verdienen, als der Mann allein es könne. Ich aber möchte meinen Kindern, wenigstens solange sie noch klein sind, ein Zuhause geben. Wenn sie zur Schule gehen, werde ich auch mitverdienen.
Die kleineren Beamtenstellen im Staats-und Wirtschaftsdienst werden immer mehr mit Angehörigen des Komi-Volkes besetzt, die sehr fleißig, pedantisch und ehrgeizig sind. Langsam werden sie aus Parteianwärtern auch Parteimitglieder mit kleinsten ehrenamtlichen Funktionen. Der Agitator unserer Wohngruppe nimmt es mit seiner Aufgabe sehr ernst. Vor den Wahlen für den Obersten Sowjet und für den Nationalitätensowjet erscheint er in jeder Familie mehrere Male. Damit auch alles klappt, sagt er. Einmal nimmt er die Wahlberechtigten auf, dann gibt er verschiedene Mitteilungen durch, und gibt Ort und Tag der Wahlen bekannt. Am Abend des Wahltages geht er seinen Bloch durch, um die Säumigen zur Urne zu holen. Um 23 Uhr klopft er an unser Fenster. Die Hausfrau sei noch nicht bei der Wahl gewesen. Warum nicht? — Antwort: Er sei im Irrtum, sie habe gewählt. — Er: Er habe doch genau aufgepaßt, ihren grauen Fehmantel habe er den ganzen Tag nicht im Wahllokal gesehen. — Antwort: Das stimme, aber es sei eben heute Purga, darum habe sie den schwarzen Stoffmantel angezogen. — Erst dann zieht er beruhigt ab.
Einmal ist er mit mir unzufrieden, sogar sehr. Es wird wieder irgend eine Friedenskampagne durchgeführt und Unterschriften gesammelt. Er verlangt auch meine Unterschrift. Ich verweigere sie. — Ob ich denn nicht für den Frieden sei? — Sehr sogar, sage ich. Nur Verbrecher könnten gegen den Frieden sein. Doch ich werde in diesem Lande, in das man mich zwangsweise gebracht hat und in dem man mich wider meinen Willen festhält, keine freiwillige Unterschrift leisten. — Ich war im Schwünge und wütend, mein Russisch war holprig, seines etwas besser, doch auch nicht ganz gut. Ob er alles verstanden hat, bleibt dahingestellt. Ein Nach-spiel hatte dieser Auftritt jedoch nicht.
Im „Sojus Petschat" (Presseverband) sind nur Komi-Angestellte tätig. Der Sojus Petschat führt die Bestellung und Verteilung von Zeitungen und Zeitschriften durch. Die Jahresabonnements müssen schon im September für das nächstfolgende Jahr angemeldet werden. Das Papier ist genormt und die Jahresquote begrenzt. Wer nicht rechtzeitig bestellt, läuft Gefahr, ein Jahr lang nicht bedacht zu werden. Lesezirkel gibt es nicht. Meine Hausleute beziehen vier Zeitungen und sechs Zeitschriften, natürlich sowjetische in russischer Sprache. Die Bestellungen werden von einer Dienststelle aus erledigt. Ich möchte auch deutsche Zeitschriften lesen und suche darum Sojus Petschat auf.
Presseerzeugnisse aus Ost-Berlin
Die Dienststelle soll in der Puschkinstraße sein. Ich gehe die Straße ab und auf, kein Namensschild, keine Aufschrift, niemand weiß Bescheid. Endlich zeigt ein Vorübergehender auf eine windschiefe, halbverschneite Baracke. Knie-hoch wate ich durch den Schnee, bis ich den Eingang erreiche. Der Raum ist kalt und ungepflegt und mit zu vielen Tischen möbliert. Eine Dienststelle, in der die Angestellten untereinander nur Komi sprechen, besser gesagt, schnattern. Ununterbrochen werden Privatgespräche geführt und zwischendurch gefrühstückt. Wie in dem Lärm gearbeitet werden kann, ist mir ein Rätsel. Ausländische Zeitungen und Zeitschriften werden nur aus den Volksdemokratien vermittelt. Mit einem Verzeichnis für das Jahr 1959 setze ich mich in eine Ecke. Es ist nun die Möglichkeit vorhanden, wieder deutsch zu lesen. Natürlich weiß ich, daß die Aufgabe vor mir steht, zwischen den Zeilen zu lesen, aus dem Negativ das Positiv herauszufinden. Für all die vielen, sich nicht an Kritik wagenden Sowjetbürger, die Presseerzeugnisse aus Berlin-Ost lesen, gelten diese als Stimme Deutschlands schlechtweg. Man will deutsch lernen und liest Sowjetterminologie aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt.
Die Zeitungen und Zeitschriften aus Berlin-Ost sind — bedingt durch den Rubel-Mark-Kurs — spottbillig. Ein Jahresabonnement für eine wöchentlich erscheinende illustrierte Zeitschrift, natürlich in primitivster äußerer Aufmachung, kostet 20— 30 Rubel. Es gibt sogar eine Wochenzeitung für 12 Rubel jährlich. Die bekanntesten sowjetischen Zeitschriften haben ihr Spiegelbild in Berlin-Ost. Die Moskauer Illustrierte „Ogonjok" in ihrer Ostberliner Ausgabe heißt „Neue Berliner Illustrierte“, die satirische Zeitschrift „Krokodil“ heißt „Eulenspiegel“, „Wokrug sweta“ wird zur „Revue rund um die Welt“, die Frauenzeitschrift „Sowjetskaja Shentschina" zur „Frau von heute“ usw, usw. Das sowjetische Vorbild ist besser in der äußeren Aufmachung, das deutsche Abbild ist größer in den Haßgesängen auf die Bundesrepublik.
Beim Hinausgehen wird mir ein Prospekt in die Hand gedrückt. Es ist eine Werbung zum Bezug der einzigen in der Komisprache erscheinenden Zeitschrift. Ich verstehe kein Wort auf Komi und will meine russische Hausfrau zum Bezug werben. Doch die lacht nur verächtlich:
„Von uns haben sie die cyrillischen Lettern übernommen. Wir haben sie gelehrt, ihre Sprache zu schreiben! Viel zu viel wird auch in unserem Workutaer Rundfunk täglich auf Komi durchgegeben. Schließlich sind wir in der RSFSR.“
Der steigende Einfluß der Provinzhauptstadt Syktywkar tritt auch im Kulturleben stärker in Erscheinung. Die Gastspiele der Syktywkarer Schauspiel-, Opern-und Operettentruppe laufen in allen größeren Komistädten, das Workutaer Fernsehen übernimmt einige Übertragungen. Lange bereitet sich das Syktywkarer Volkskunstensemble für seinen großen Auftritt in Moskau vor und ist dann von dem dortigen Erfolg doch etwas enttäuscht, denn kurz vorher hatten die Künstler aus dem fernen Jakutien Ostsibiriens viel größeren Applaus und mehr Beachtung gefunden.
In der Provinzhauptstadt
Ende August 1959 gehe ich zum ersten Male durch die Straßen von Syktywkar. Es ist viel kleiner als Workuta, hat schätzungsweise etwas mehr als hunderttausend Einwohner. Durch die Dezentralisierung der Wirtschaftsleitung erhält es möglicherweise noch Zuwachs. Die größten drei-und vierstöckigen Gebäude sind von den Ministerien und sonstigen Verwaltungsstellen besetzt. Doch Syktywkar ist nicht nur die Stadt der Beamten, sondern auch die der Schüler und Studenten. Das Pädagogische Institut nimmt einen großen, aber ziemlich verwahrlosten Gebäudekomplex ein. Die Fachschulen (Techniken) für Sport-und Schwesternausbildung, die für Agronomen, Zootechniker, Geologen und Eisenbahner sind voll belegt. In ein-bis zweijährigen Lehrgängen werden Mitarbeiterinnen für die Kulturarbeit in den ländlichen Siedlungen herangeschult. Laufend finden Kurse für Elektriker, Monteure und Fahrer statt. An letzteren können Angehörige aller Nationalitäten sich beteiligen. Ausdrücklich werden genannt: Nenzen, Selkupen, Chanten, Manzen, Jamalo-Nenzen, Ewenken; das ist die eingeborene, früher ganz, heute nur noch teilweise nomadenhafte Urbevölkerung mit mongolischem Einschlag, vor allem im anschließenden Sibirien beheimatet.
Syktywkar ist eine Taigastadt. Sie hat den Wald mit hinein bezogen in das Stadtbild und ist mit ihren Anlagen eine grüne Stadt geblieben. Auf der Sysola führen große Ketten-und Brükkenflöße den Reichtum der Wälder zur Dwina und über Kotlas zum Weißen Meer. In vielen Sägewerken wird das Holz verarbeitet. Die Möbelfabriken stellen freilich neben einigen guten Modellen noch viel Geschmackloses her und können der Nachfrage lange nicht nachkommen.
Die große Veränderung, die in der Komi-Republik im letzten Jahrzehnt vor sich gegangen ist zeigt mir der Flugplatz mit seinem Verkehr am deutlichsten. Syktywkar ist sehr stolz auf seinen „Aeroport“, er ist eine kleine Siedlung, etwa 8 km vom Zentrum entfernt. Der Bahnhof der Eisenbahnstrecke aber, die Syktywkar über Kotlas mit Moskau und über Petschora mit Workuta verbindet, liegt 100 km weit. Die Busse benötigen dorthin auf der schlechten Fahrstraße fast drei Stunden. Gute Fahrstraßen fehlen auch heute noch in der ganzen Komi-Republik. Der Flugverkehr soll den Straßenverkehr ersetzen, er soll die Brücke zu einer sprunghaften Entwicklung schlagen.
Auf dem Flugplatz
Die Kartenausgabe findet bei der Kasse auf dem Flugplatz statt. Der Andrang ist sehr groß. In der Auskunft hole ich mir Rat. Ich habe eine Rückfahrkarte nach Workuta, auf meinen Namen lautend, die 500, — Rubel kostet. Die Eintragung für den Rückflug mit der Nummer des Flugplatzes und Flugzeuges wird erst nach dessen Abflug aus Gorkij vollzogen. Das erste Flugzeug ist bereits besetzt, das nächste muß abgewartet werden. Inzwischen sehe ich mir das Leben auf dem Flugplatz an. Die Betonpiste ist hier viel größer als die in Workuta, vier bis sechs Flugzeuge stehen darauf, zweimotorige, vom Typ Iljuschin.
Alle zehn bis fünfzehn Minuten wird ein Flugzeug abgefertigt. Aus dem Verwaltungsgebäude eilen dann die Stewardessen mit ihrer Liste, sie tragen ein uniformähnliches dunkles Kostüm, je nach Eigenart der Trägerin adrett oder nachlässig und ungepflegt. Sie sammeln ihre Flugpassagiere um sich und vergleichen die Flugkarten mit den Listen. Der Ansager am Lautsprecher ist kaum verständlich. An den Fluggästen aber erkenne ich, ob sie die Haupt-oder Nebenstrecken fliegen werden. Elegante Damen in sommerlicher Kleidung, mit oder ohne Kinder und verhältnismäßig ordentlichem Gepäck, fliegen auf die Krim oder nach Sotschi.
Gut angezogene Männer mit Regenmänteln, Hüten und Ledertaschen sind auf „Kommandirowka“ (Dienstreise). Bemützte, einfacher Gekleidete sind Arbeiter, die mit einer „Putjowka“ einen unentgeltlichen oder sehr billigen Urlaub im Süden verbringen können. Sie alle benützen die Hauptstrecken in Richtung Moskau, Leningrad oder Kirow. Die Passagiere aber in den dicken Wintermänteln, die Offiziere mit den neuen weiten Regencapes, die Matrosen in schmucken dunklen Uniformen werden von den Flugzeugen in die Arktis gebracht, nach Workuta oder nach Adler (Amderma am Karischen Meer) oder nach Obdorsk (Salechard in Sibirien). Dann sind da viele Gruppen von bäuerlichen Menschen, in hohen Gummistiefeln mit geschulterten Säcken und Körben voll Obst und Gemüse, mit quiekenden Ferkeln und schnatterndem Federvieh. Sie kommen aus der Provinz oder fliegen zurück in ihren Bezirksvorort, um von da auf ihr Kollektiv-oder Staatsgut zu wandern. Mindestens zwanzig Flugzeuge machen diese Route täglich.
Eine einfache Frau aus dem Volke der Komi spricht mich an, sie fliegt zum ersten Male nach Moskau und möchte sich gerne an jemanden anschließen. Ich sehe ihr anscheinend vertrauenerweckend aus und so, als ob ich zu ihrem Volke gehörte. Merkwürdig auch andere hielten mich schon für eine Angehörige des Komi-Volkes. Sind es die durch Witterung und Landschaft bedingten Einwirkungen vieler Jahre, die eine Ähnlichkeit prägten, oder wurde diese durch den gleichen Druck und Zwang bewirkt, unter dem wir alle zu leiden hatten?
Die große Iljuschin ist dann nur halb belegt. Neben mir sitzt ein Ehepaar aus Gorkij, er geht als Ingenieur nach Adler ans Karische Meer, das Söhnchen Andruscha macht mit zehn Monaten den ersten Polarflug. Die Eheleute verstehen beide deutsch, beim sprechen sind sie gehemmt, aber sie lesen mit Interesse die von mir erbetene Ostberliner Zeitschrift „Revue rund um die Welt“. Eben hatte ich dort die Reise-beschreibung eines Mitteldeutschen durch die Grusinische Republik gelesen. Bei Tiflis besuchte er ein Stahlwerk und anschließend die Familie eines Stahlgießers. Letzterem werden natürlich nur Worte des Lobes und der Anerkennung für das Regime in den Mund gelegt. Und was hatte ich in den letzten Jahren in Workuta gesehen? Gruppen von Menschen, eben aus dieser Grusinischen Republik, die zu langjähriger Zwangsarbeit verurteilt waren, weil sie sich nicht mit dem gegenwärtigen Regime einverstanden erklärten, vor allem nicht mit der Verurteilung ihres geliebten Sosso!
Während unten die Taiga allmählich wieder in Tundrawald übergeht und wir uns Workuta nähern, kehren meine Gedanken nach Syktywkar zurück. Warum habe ich mich dort besser gefühlt als in Workuta, etwas freier, etwas mehr Mensch? Vielleicht kam es aus der dort noch irgendwie spürbaren Volkstumsgebundenheit? Was bedrückt in Workuta? Es ist nicht nur die Erinnerung an Kettenklirren, an den Tod von unzähligen entrechteten Menschen. Es ist das konstruierte, nur organisierte, nach kalt-rechnendem Plan gelenkte Leben, das doch eines tieferen Inhaltes entbehrt. Es ist die trotz aller Fortschritte bedauernswerte internationalisierte Masse.
13. Eine Iljuschin fliegt von Workuta nach Südwest
Ein selten schöner Polarsommer geht im Jahre 1959 seinem Ende entgegen. An einem strahlend schönen Augustnachmittag fährt eine GAS 52, ein grüner Jeep aus den Gorkijer Auto-werken, zu dem südwestlich der Stadt Workuta gelegenen Zivilflughafen. Eine fast fünf Kilometer lange Asphaltstraße verbindet den neuen mit dem alten Stadtteil. Sie führt vom Lenin-platz im neuen bis zum Platze der Komsomolzen im alten Zentrum Workutas. Aus der Moskowskaja geht es auf einer holprigen staubigen Straße durch Baugelände. Die GAS 52 ähnelt einem Geländewagen und kommt auch auf Straßen, die eigentlich keine sind, gut vorwärts. Rechts und links stehen noch viele der alten Elendsbaracken, teils schon halb verfallen und doch bewohnt. Dicht daneben wachsen neue rote Ziegelhäuser zwei bis drei Stockwerke hoch empor. Dem Siebenjahresplan nach soll diese Siedlung in fünf Jahren, also bis 1963, den neuzeitlichsten Anforderungen gemäß aufgebaut werden. Man bedenke, daß es dann in Workuta nicht bloß für jede Familie je ein Zimmer mit Anteil an der von vielen benützten Gemeinschaftsküche geben wird, sondern auch vollständige Ein-und Zwei-und Dreizimmerwohnungen mit Küche und Bad. Sogar an Gemeinschaftswaschküchen ist gedacht. Wer wohl die Glücklichen sind, die dann „Reihe“ oder „Poblatu" (Beziehung) haben, um hier zu wohnen?
Inzwischen toben und lärmen, wüten und schuften auf der Hauptstraße einige Arbeitsbrigaden. Ende August dieses Jahres, am „Tage der Kumpel“, feiert Workuta sein 25-jähriges Bestehen. Bis dahin muß auch der letzte Rest des alten holprigen Holzpflasters verschwinden und durch Asphalt ersetzt werden. Bis zum Jahre 1965 soll sie um weitere sechs Kilometer verlängert die Growjozkijer Siedlung erreichen und für Straßenbahnverkehr ausgebaut werden. Ein Greifbagger ist eingesetzt, einige elektrische Motorbohrer schrillen. Lauter noch tönen die Stimmen der Aufseher: Schneller, schneller, immer schneller. Immer noch müssen Menschen-hände fehlende Maschinen ersetzen. Mehr als die Hälfte der Arbeitenden sind Frauen. Alle Arbeitenden gehören noch in die Zuständigkeit des Lagers, sind nur Halbfreie. Sie siedeln wohl außerhalb des Lagers und dürfen Familien gründen, aber noch unterstehen sie der Meldepflicht, haben keine Freizügigkeit und sind an einen bestimmten Umkreis des Lagers gebunden. Der Fahrer sagt, daß die auf der Strecke Workuta -Petschora — Uchta — Syktywkar fahrplanmäßig verkehrende zweimotorige Iljuschin der Aeroflot (sowjetische Luftflotte) 50 Minuten Verspätung habe. Ich denke: vierzehn Jahre habe ich gewartet, was sind dann schon fünfzig Minuten. Der Fahrer ist erst zwei Jahre hier und kennt den blutigen Anfang Workutas nur vom Hörensagen. Er ist jung und abenteuer-lustigund will vor allem Geld verdienen. Und Geld gibt es in den arktischen Aufbaugebieten mehr als in anderen Teilen der russischen Föderation.
Meine Haut ist zerfurcht vom Schneesturm und den Polarjahren. Das Haar blieb merkwürdigerweise dunkel, es ergraut hier nicht so rasch wie in meiner Heimat. Die Augen aber haben einen richtig mongolischen Ausdruck bekommen und der Gesichtsausdruck wirkt irgendwie asiatisch.
Wir sprechen über die Vergrößerung des Flugplatzes, die Ausweitung des Verkehrs. Die Aeroflot stellt täglich mit mehreren zweimotorigen Iljuschins eine Luftverbindung der Großstadt Workuta mit Moskau, Leningrad, Gorkij, Kirow, der Provinzhauptstadt Syktywkar und den neu errichteten und ebenfalls beträchtlich ausgebauten Hafenstädten am Eismeer und den Industriegebieten in Westsibirien her. Im letzten Jahr ist auf dem Flugplatz in Workuta ein Verwaltungsgebäude fertiggestellt worden, ein Gästehaus und eine Übernachtungsherberge, alles nur ebenerdig, aber sauber und or-dentlich. Stolz meint der Fahrer: Jetzt bauen wir die Betonpiste um und vergrößern sie. Nach einem Jahr schon wird die TU 104 (ein Düsenflugzeug), die von Moskau nach Adler (Amderma) am Karischen Meer und nach Dudinka am Jenissei fliegt, in Workuta zwischenlanden.
Einige Hubschrauber surren und brummen über den Flugplatz. Die Flugschule für Hubschrauber hat ihre Übungsstunde. Die Piloten werden dringend gebraucht. 70 Kilometer von Workuta entfernt liegt das nördlichste Kohlen-bergwerk des Petschorabeckens, Chalmerju, die Todesstätte, auf dessen Hügel einst die eingeborenen Nomaden zusammen mit ihren Rentierherden im Schneesturm den Tod fanden. In diesem Jahr wurde dort das Bergwerk Nr. 2 auf modernen technischen Grundlagen aufgebaut. Die Kohle ist hochwertig, zum Verkoken gut geeignet. Die Verbindung mit Workuta hält eine Schmalspurbahn aufrecht. Eine Autostraße gibt es nicht. Durch Hubschrauber soll nun der regelmäßige Verkehr ausgenommen werden.
Ein internationalisierter Menschenhaufen
Man ist sehr stolz auf die Entwicklung der letzten Jahre! Vom Sowjetstaat und der kommunistischen Partei wurde die Kohlenförderung mit allen Mitteln vorwärtsgetrieben, immer so, wie es für den jeweiligen Zeitabschnitt und die jeweilige Entwicklungsperiode am zweckmäßigsten und günstigsten war. Menschen spielten dabei, besonders im Anfangsstadium, keine Rolle. Sie liegen zu vielen Zehntausenden im ewigen Eise der „Vielerdigen Tundra“ begraben. Heute ist Workuta ein Sowjetaufbaugebiet und zeigt dessen typische Merkmale: Getrieben vom Götzen „Plan“, hetzt alles vorwärts. Er zwingt dazu, ein immer höheres Arbeitsziel zu erreichen, das Soll immer höher zu normen. Doch es gibt wenig innere Beziehung zu dieser Arbeit, kaum eine aus persönlicher freier Initiative entspringende Verantwortung für dieselbe. Es wächst aber auch kaum eine innere Bindung des einzelnen zu dieser neugegründeten Polarstadt. Es lebt hier ein internationalisierter Menschenhaufen, hauptsächlich gelenkt von russischen Parteifunktionären und Wirtschaftsbeamten, der, weil der Rubel rollt und solange er rollt, den Plan erfüllt, auch unter den sehr erschwerten Bedingungen des Nordens. Man will verdienen und reich werden, um dann vielleicht einmal irgendwann — wenn kein Krieg allem vorzeitig ein Ende macht — oder irgendwo, in einem noch heimatgebundeneren und heimatempfindenden Teile der Sowjetunion letzte, schönere und ruhigere Jahre zu verleben.
Die IL hat inzwischen Treibstoff getankt, zwanzig von den dreißig Sitzplätzen sind belegt, eine Stewardeß gibt es für diese Linie nicht.
Die beiden Piloten, jung, sportlich, fröhlich, besteigen die Flugkabine und bald verschwindet das dröhnend-stöhnend arbeitende Workuta in einer gelb-grauen Wüstenstaubwolke, verschwinden die spitzen „Fujijama-Silhouetten der Kohlenschachte. Ich starre auf die Flugkarte in meinen Händen und kann es immer noch nicht fassen. Nach fast dreizehnjährigem Aufenthalte darf ich zum ersten Male die Polarzone verlassen. Nach der großen „Etappe“ im Jahre 1947 hatte ich zusammen mit vielen anderen Schicksalsgenossinnen beinahe acht Jahre lang in Strafarbeitslagern des Kreises Workuta zugebracht. Ich hatte eine verhältnismäßig kurze Strafzeit, und das war mein Unglück. Sie war schon beendet als die Sammeltransporte der ausländischen politischen Gefangenen zur Rückführung in die Heimat abgingen. Es war im August 1954 gewesen, als der letzte Transport deutscher Frauen das zweite Ziegeleilager Workutas verließ. Da fingen die zurückbleibenden Sowjetfrauen, die den Zug, aus Neugierde oder aus Achtung vor der Arbeitsleistung einiger Deutschen, bis zum Lagertor begleitet hatten, zu murren an. Doch der politische Beauftragte hatte schnell die beschwichtigende Lüge gefunden: Das mußte sein, damit es euch nun immer besser und besser geht! Ich wurde zurückgehalten und kam am nächsten Tag in die „Sowjetfreiheit“, d. h. ich bekam Zwangsaufenthalt im Kreise Workuta mit monatlicher Meldepflicht bei der Kommandantur. Und weitere fünf Jahre sollten noch dahinfließen in physischer und psychischer Qual, vielleicht die schwersten von allen, bis endlich die entsprechenden Dokumen-te zur Ausreise in meinem Besitz waren. Jetzt fahre ich nach Syktywkar in die Provinzhauptstadt, wo im Innenministerium das Ausreisevisum aus der Sowjetunion erteilt wird.
Die hellen Augustabende Workutas sind in der etwa tausend Kilometer südwestlich liegenden Provinzhauptstadt merklich dunkler. Als das Flugzeug landet, wird meine Sitznachbarin, die Mutter mit den beiden Kindern bevorzugt behandelt. Die Fluglinie stellt einen Betreuer, der sich des Gepäckes annimmt, Schlafstellen anweist, Milch für die Kinder besorgt. Mir wird geraten in der Stadt Nachtherberge zu suchen. Die Bettenzahl im zweistöckigen Hotel des Flughafens sei beschränkt und reiche nicht einmal für die Durchgangsreisenden.
Der Bus bringt mich in zehn Minuten in die Stadt. Im Oktoberkino ist eben die Vorführung des deutschen Filmes „Rose Berndt" beendet. Viele Menschen kommen mir entgegen. Wohin sollte man auch sonst zur abendlichen Zerstreuung? Die Eintrittspreise für das Kino sind niedrig und man sieht sich beinahe jeden neuen Film an. Doch die Masse ist von den Erziehungstendenzen der eigenen Filmliteratur überfüttert, sie möchte im Kino lieber entspannen, darum liebt man bei ausländischen Filmen die leichte Ware, heitere Komödien, Musikfilme. In „Rose Berndt“ interessieren nicht so sehr die sozialistischen Probleme Gerhard Hauptmanns, als vielmehr das Erotische, da dieses in sowjetischen Filmen nicht so bewußt aufreizend gezeigt wird.
Ich gehe durch dunkle, stille Straßen, und ein eigenartiges Rauschen nimmt mich gefangen. Es klingt, als ob lang versiegte Quellen wieder fließen, als ob Jahre hindurch Verschüttetes wieder zum Leben erwacht. Zu lange lebte ich in den Schnee-und Eiswüsten der baumlosen Tundra und habe beinahe vergessen, wie Blätter im Winde rauschen.
Im einzigen Hotel in Syktywkar
In den Korridoren und der Diele des einzigen Hotels in Syktywkar haben sich am späten Abend schon viele Menschen auf Bänken, Tischen und Stühlen zum Schlafen eingerichtet. Die Betten reichen also auch hier nicht aus. Die Frau in der Anmeldung betrachtet prüfend jeden Ausweis, jeden Besitzer. Woher? Wohin? Weshalb? Jeder entschuldigt sich beinahe, daß er nun vor ihr steht und murmelt dann irgend etwas, daß es ja nicht sein persönliches Vergnügen sei, sondern eine „Kommandirowka" (Dienstreise) oder eine „Tagung" oder in „Seminar". Irgendwie finde ich Gnade vor ihren Augen. Sie nimmt mein Dokument an sich und bedeutet mir, in der Diele zu warten, bis eine Nummer frei sei. Um Mitternacht liege ich dann endlich in einem sauberen Hotelzimmer, etwas frierend unter einer sehr dünnen Decke: drei Betten, drei Frauen und ein Lautsprecher.
Am Morgen hat der Lautsprecher das erste Wort. Er spricht auf „Komi". Wir sind ja in der Hauptstadt der Komi-Autonomen-Sowjet-Republik. Die Sprache der Komi erinnert an finnisch, estisch und auch an ungarisch, manchmal klingt sie wie Vogelgezwitscher. Ich spreche Komi nicht und doch erahne ich mehr als die Hälfte wenn Nachrichten durchgegeben werden, denn für die Sowjetterminologie und Propagandathesen müssen russische Ausdrücke übernommen werden, diese Vokabeln sind in der Komisprache nicht vorhanden.
Ich mache mich mit meinen Zimmergenossinnen bekannt. Die eine ist eine ältere Frau, eine Melkerin von einem Staatsgut an der Petschora. Sie ist als eine der besten Melkerinnen der Republik prämiiert worden und hatte sich verpflichtet, jährlich von einer Kuh 4000 kg Milch zu melken und hat diesen Rekord noch Überboten. Nun dorf sie zur Belohnung nach Moskau fahren, zur Volkswirtschaftsausstellung. Es ist eine einfache Frau und sie war noch nie im „goldenen Moskau“. Sie hat verarbeitete müde Hände, aber gute Augen und sie freut sich wie ein Kind.
Die zweite ist ein rotblondes Mädchen, Absolventin eines Institutes in Nowosibirsk. Sie ist für drei Jahre hierher arbeitsverpflichtet. Sie sagt: Ich bin Sibirjakin, ich liebe meine sibirische Heimat über alles und möchte wieder dorthin zurück. Nowosibirsk wird bald eine Millionenstadt und unser Opernballett ist schon schöner als das in Leningrad. In Workuta hatte man mich gewarnt, die Mitbewohner in den Hotelzimmern seien unterschiedlich, so und so, man müsse vorsichtig sein. Meine kleine Barschaft habe ich eingenäht, der Handkoffer ist abgeschlossen. Wer mehr als ein Jahrzehnt mit wüsten Banditen zusammen hauste, ist mißtrauisch. Doch hier ist es ganz anders. Aus der Teeküche nebenan holen wir eine Kanne mit „Kipjatok" (abgekochtem heißen Wasser) und verzehren unsere mitgebrachten Stullen. Dabei bin ich die „Kapitalistin aus dem Norden“, denn zu meinem Frühstück gehören auch einige Scheiben bulgarischer Tomaten.
Die junge Sibirjakin hat Sorgen. Ihre dreijährige Arbeitsverpflichtung lautet für Syktywkar. In den zuständigen Amtsstellen aber wird behauptet, daß am Orte keine entsprechende Stelle frei sei und man sie deshalb nach Workuta schicken wolle, wo sie sofort Arbeit und Brot finden werde. „Das sagen die bloß“, meint sie, „damit die Arbeitsplätze im Provinzvorort für ihre Leute, Beamte aus dem Volke der Komi, frei bleiben. In das Diebesnest Workuta geht nur, wer dort reich werden will. Ich will es nicht. In Nowosibirsk wartet mein Freund auf mich und in drei Jahren werden wir dort heiraten“. Dann erzähle ich einiges aus meinem Leben und erfahre, daß es im Gebiete von Nowosibirsk noch viele ähnliche Fälle geben solle.
Ob später Abend, ob früher Morgen, Syktywkar schläft, Syktywkar hat Zeit. Ich kenne den Rhythmus von Tag und Nacht seit vielen Jahren nicht mehr. In Workuta lebt und arbeitet man in drei Schichten. Dort macht man die Nacht zum Tage und umgekehrt ist es auch recht, dort fällt der Ruhetag gewöhnlich nicht auf einen Sonntag. Hier bin ich in einer gemächlicheren Beamten-und Penionärsstadt, die noch einen Sonntag kennt, die schon etwas „Vergangenheit“ hat. Ältere Häuser aus dem 19. Jahrhundert stehen neben solchen in diesem Jahrhundert erbauten. Baustellen gibt es wenige, dafür grüne Anlagen und Parks und bunt blühende Vorgärten. Das Warenangebot in den Kaufläden ist vielfältiger als in Workuta, besonders die Bekleidungs-und Schuhabteilungen sind besser sortiert. Die Menschen sind sauber aber einfacher gekleidet. Hier rechnet man nicht nur mit dem Rubel, sondern schon mit Kopeken (Pfennige). Workutas hochelegante neureiche „Damen“ fehlen, doch es fehlen auch die vielen Bettler und Krüppel. Fleißige, bescheidene Menschen leben hier noch irgendwie in einer Heimatgebundenheit mit dem Wunsch, ihr Leben stärker von Volkstumsgrundlagen her zu gestalten. Doch ihre Komisprache ist wohl das einzige, was ihnen davon blieb und erlaubt ist.
Erteilung des Ausreisevisums ein Politikum
Im Innenministerium geht alles besser als ich nach den Ereignissen der letzten Jahre erwarten konnte. Ja, die Kenner der Lage hatten recht, es ist ein politisch gutes Jahr für die Sowjetunion. Sie hat einen großen Schritt vorwärts getan auf dem Schauplatz der Weltgeltung, und der bevorstehende Amerikabesuch des Staatsoberhauptes verbessert die Stimmung. Die Erteilung eines Ausreisevisums ist ein Politikum und.sehr abhängig von der augenblicklichen politischen Atmosphäre.
Noch im Frühjahr dieses Jahres hatte folgendes Gespräch zwischen einem Beauftragten der Polizeidienststelle in Workuta und mir stattgefunden: Er: „Zeigen Sie mir Ihre Dokumente!“ — Ich: „Ich habe keine.“ — Er: „Wo sind Ihre Dokumente?“ — Ich: „Ich nehme an, daß Sie dieses besser wissen als ich. Vor zwei Jahren schon habe ich sie zwecks Erteilung eines Ausreisevisums bei Ihrer zuständigen Stelle eingereicht und seither nicht mehr gesehen." — Er: „Nehmen Sie die Sowjetstaatsbürgerschaft an, dann erhalten Sie sofort Dokumente und müssen nicht mehr in Workuta in der Polarzone bleiben. Sie können, mit einigen wenigen Einschränkungen, in alle Teile unseres großen Landes fahren. Warum wollen Sie das nicht tun? — Ich hatte für den hebenswürdigen Vorschlag gedankt, ich wollte lieber in meine Heimat. -Dann wurde ich entlassen und wieder einmal schien alles aussichtslos. Und nun ist es ganz anders. Aus dem Vor-zimmer komme ich schnell in die Paßabteilung, die Genehmigung ist da, man ist sehr freundlich, es handele sich nur noch um die letzten schriftlichen Formulitäten, in spätestens einem Monat könne ich abfahren. Ich bin etwas mißtrauisch. Deshalb bitte ich um eine schriftliche Bestätigung der Aussage und erhalte sie.
Später gehe ich durch den grünen Wald an den Ufern der Sysola, auf der Schlepper riesige Kettenflöße mit dem Holzreichtum der Taiga zum Meere führen. Ich denke an Workuta.
Was war Workuta gestern? Eine Siedlung der Katorgane, Strafgefangenen, Kriegsgefangenen und Sondersiedler. Ein aus dem Nichts in der Vielerdigen Tundra zwischen Petschora und Polarural, in der von wilden Schneestürmen durch-tobten Eiswüste, am Karischen Meere entstandenes Industriezentrum, in dem die Abraumhalden der Schachte oder die Bohrtürme Uchtas als Wahrzeichen der Sklaverei emporragten. Hier vegetierte in Zelten, Erdhütten und Baracken gemartertes, zerquältes Leben. Hier herrschte Berijas Gulag (Hauptverwaltung der Strafarbeitslager) in ihrer ganzen Schrecklichkeit.
Workuta war ein Sinnbild für den vielseitigenKampf der Menschen: ein stündlicher Kampf mit der harten unerbittlichen Natur, die alles für den Menschen kaum tragbare im Übermaße bereit hielt, die Kälte und den Sturm und dazu die Dunkelheit bei Tag und Nacht im langen sonnenlosen Winter, den grauverhangenen Himmel in den Sommermonaten, aus dem scheinbar nie enden wollender Regen strömte und schließlich die sonnigen Tage mit der Mitternachtssonne, die den Menschen den Schlaf raubten, in ihnen bei Tage entsetzliches Durstgefühl weckten und alles in gelbgrauen Wüstenstaub einhüllten. Workuta war der tägliche Kampf zur Erreichung eines unter schwierigsten Umständen doppelt schwer zu erfüllenden Leistungssolls. Workuta war der ewige Kampf des Kulturmenschen von geistigem und charakterlichem Niveau sich einer breiten Masse von Untermenschentum schlimmster Sorte gegenüber zu behaupten.
Workuta war ein Strom voll Leid, dumpfer Trauer, unsagbarer Sehnsucht, voll Haß, Neid und kleiner menschlicher Schwächen, voll Lebens-und Liebeshunger, voll wüstem Verbrechertum. Was ist Workuta heute? Die Presse und die Propaganda sagen, Workuta sei eine Stadt von Komsomolzen gegründet, in der vor allem Komsomolzen am Aufbau und Fortschritt beteiligt waren und sind. Die Jugend der Parteiorganisation habe den größten Anteil am Aufbau der sowjetischen Arktis. — Was ist Workuta heute wirklich? Eine Großstadt am Fuße des Polarurals. Das Zentrum der Stadt zählt 150 000 Einwohner. Die eingemeindeten Siedlungen der Kohlenmulde mindestens ebensoviele. Im südlicheren Inta und Uchta lehen weitere Zweihunderttausend. In rund dreißig Bergwerken wird in Workuta Kohle gefördert. In Inta gibt es rund 15 Kohlenbergwerke. Das Gas aus Uchta fließt schon nach Obdorsk, dem ehemaligen Salechard in Sibirien. Im Schnellzug Workuta-Moskau kann man im Schlafwagen in 48 Stunden in der Sowjethauptstadt sein, mit dem Flugzeug sogar innerhalb eines Tages. Wenn die TU 104, ein Düsenflugzeug, nächstens in Workuta zwischenlandet, trennen Moskau und die Kohlenmulde nur wenige Stunden. Workuta besitzt heute den größten Kulturpalast der Komi-ASSR und den schönsten neuzeitlich eingerichteten Sportsaal. Es ist stolz auf seinen Fernsehturm, bis jetzt noch den einzigen in der ganzen Republik, und auf das große Bergtechnikum. Im eben erst fertiggestellten Breitwandkino werden die neuesten Farbfilme gezeigt. Auf dem während des Sommers gut instand gehaltenen Sportplatz wechseln Fußballwettspiele und Jugend-sportfeste einander ab. Die WorkutaerEishokeymannschaft macht schon außerhalb der Komi-Republik von sich reden.
Workuta ist eine Stadt, erfüllt bei Tag und Nacht von pulsendem Leben, voll hastender Arbeit, die Kaufläden sind von acht Uhr morgens bis 23 Uhr nachts an Werk-und Feiertagen geöffnet. Es ist eine Stadt der Arbeit, die nach dem alten Kolonistenwort die ersten beiden Stufen „Tod und Not“ überwunden hat und in der heute jeder Arbeiter „Brot“ und sein bescheidenes Auskommen hat, in der jeder Höhergestellte viel Geld verdient und sich ein besseres Leben leisten kann als ihm Gleichgestellte in anderen Orten der Sowjetunion. Natürlich besitzt er noch nicht so viel wie die Prominentesten in den am höchsten eingestuften Orten, in Moskau, Leningrad, Kiew, Tiflis, aber er wird mit Neid von allen ihm Gleichgestellten in den anderen Provinzenstädten betrachtet, von den armseligen Kolchosen-und Sowchosenbewohnem gar nicht zu reden.
Ein nordischer Kurort?
Was wird Workuta morgen sein? Ein nordischer Kurort, ein Propagandastück sagt man. Schon wird die Errichtung eines ferngesteuerten unterirdischen Heizungssystems geplant, um in der bisher so trostlos kahlen baumlosen Polar-stadt Grünanlagen und bunte Blumenbeete und schöne Baumalleen anlegen zu können. Schon hat die fortschreitende Zivilisation das Mikroklima verändert. Aber der Sowjetmensch kann alles, was er nur ernstlich will, sagt man, also wird er auch das Mikroklima verändern. Vielleicht wird er in Kürze die Wasserstraßen zwischen Nowaja Seimja und der Waigatsch-Insel das ganze Jahr hindurch offen halten und dadurch den Golfstrom an der sibirischen Eismeer-küste entlang weiter lenken, dann die Beringstraße abriegeln und in der Arktis blühende Gärten und fruchtbare Felder schaffen. Die Atomeisbrecher werden auch im Winter Fahrstraßen durch das Eismeer freihalten. Die Geologen werden auf dem Meeresgrunde nach wichtigen Bodenschätzen suchen und sie finden, der Fluß Petschora wird sein Wasser nicht mehr ungenutzt nur nach Norden verströmen, sondern nach Süden umgeleitet werden, um dort lebensnotwendige Energien zu spenden und den ständig sinkenden Wasserspiegel des Kaspischen Meeres zu erhöhen.
Doch das sind Zukunftsphantasien, sozialistischer Realismus. Bleiben wir beim Heute.
Vierzehn Jahre lebte ich in der Sowjetunion, beinahe dreizehn ohne jegliche Unterbrechung in Workuta, und es war ein Leben „ganz tief unten". Aber auch aus dieser Sicht her ist Workuta ein Symbol für die ganze Sowjetunion.
Menschen sind mir hier viele begegnet. Sehr viele sind tot, manche seit Jahren in ihrer Heimat, die meisten sind noch in Workuta. Es gab unter ihnen viele gute Begabungen, tüchtige Könner, fleißige Arbeiter, ehrgeizig und wißbegierig Lernende. Es gab Menschen mit der sprichwörtlich weiten Seele ihres weiten schönen Landes, liebenswürdig, gastfreundlich, hilfsbereit. Manche von ihnen wären bereit gewesen mich alte und verbrauchte Frau, wenn mir die (Behörden die Ausreise nach Deutschland endgültig verweigert hätten, beim Abbruch ihres Workutaer Aufenthaltes in ihre südlichere Heimat mitzunehmen, damit ich dort im Kreise ihrer Familie meinen Lebensabend verbringen könnte. Sie meinten es herzlich gut, und mit vielen von ihnen könnte mich auch weiterhin Menschlich-Persönliches verbinden. Mit Menschen aus der Sowjetunion gibt es viel Gemeinsames. Doch letzten Endes untersteht jeder Mensch in der Sowjetunion als Sowjetbürger dem Diktat seiner Staats-und Parteileitung, muß diesem seine persönliche Freiheit und menschliche Gemeinsamkeiten, die er mit anderen Bewohnern dieser Erde haben könnte, unterordnen. Für ihn als Sowjetbürger dürfen nur Sowjetbürger gleichwertig sein.
Einst starb man schnell in Workuta, heute lebt und vergißt man schnell. Was vor zehn Jahren geschah, ist schon „Vergangenheit“. Entrechtete zerbrochene Menschen, gestohlenes Leben, vernichtete Menschenwürde, wer fragt schon darnach? Im internationalisierten Workuta werden der Aufbau und die Sowjetisierung nach wie vor vorwärtsgetrieben, nur die Mittel und die Methoden haben sich etwas geändert.
Politik und Zeitgeschichte
AUS DEM INHALT DERNÄCHSTEN BEILAGEN:
Heinrich Bodensieck: „Nationalsozialismus in revisionistischer Sicht"
Klaus Hornung: „Die Etappen der politischen Pädagogik von Bismarck bis heute"
Boris Meißner: „Der ideologische Konflikt zwischen Moskau und Peking"
Pietro Quaroni: „Die Stellung der UNO in der Weltpolitik"
Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"
Walter Wehe: „Die wirtschaftspolitische Entwicklung Europas seit dem Marshallplan"