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Preußisch-deutsche Geschichte 1640-1945 Dauer im Wechsel | APuZ 3/1961 | bpb.de

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APuZ 3/1961 Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat Preußisch-deutsche Geschichte 1640-1945 Dauer im Wechsel

Preußisch-deutsche Geschichte 1640-1945 Dauer im Wechsel

Ludwig Dehio

Nachstehend wird der Text eines auf der Tagung der Katholischen Akademie in Bayern am 28. Mai 1960 in Würzburg gehaltenen Vortrages veröffentlicht. Von der Vortragsreihe dieser Tagung hat die Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte" auch den Beitrag von Prof. Dr. Schieder, „Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat" übernommen. Die Redaktion ist prinzipiell bereit, auch noch andere Arbeiten zu diesem Thema zu veröffentlichen.

Friedrich d. Große, Bismarck, Hitler -eine Kontinuität?

Die Katastrophe von 1945 hat nicht nur unser bisheriges politisches Dasein zerbrochen, sondern auch seine Rückspiegelung in unserem historischen Selbstverständnisse. Hat sie uns doch vor die beängstigende Frage gestellt: inwiefern hängt das Dritte Reich, eben noch unsere Gegenwart, zusammen mit der Geschichte des zweiten und ersten?

Elementares Selbstgefühl fordert Zurückweisung und fühlt sich in ihr nur bestärkt durch die simple These ausländischer Anklage: Hitler, Bismarck, Friedrich der Große seien ja doch nur Glieder einer und derselben Kette und gefertigt aus dem nämlichen Metalle. Aus dem Munde ehrenwerter deutscher Historiker vernehmen wir die Gegenthese: Es handle sich bei den Genannten doch eigentlich nur um individuelle Einzelerscheinungen, die untereinander kaum zusammenhingen, zudem zum Teil in ihrer Bedeutung auch übertrieben würden. So sei Friedrich II-gar nicht der „Einzige“ gewesen, sondern . schließlich doch nur ein Kind seiner Zeit. Auch reiche seine Wirkung gar nicht über das ancien regime hinaus, das er abschlösse. Und der -an geblich von ihm und seinem Vater geschaffene Militarismus entstamme in Wahrheit der französischen Revolution. Es gebe keinen Weg von Friedrich zu Bismarck oder gar von diesem zu Ludendorff und Hitler. Kurz, diese Auflösung bisher geglaubter historischer Zusammenhänge erlaubt auch das Dritte Reich als eine zusammenhanglose Einzelerscheinung zu kennzeichnen — eine sehr erwünschte Erlaubnis!

Wird sich nun aber mit solchen Thesen und Gegenthesen auf die Dauer eine Geschichtsbetrachtung beruhigen können, die die Schockwirkung, die von Hitler ausgeht, zu überwinden strebt? Wird sie nicht sowohl von Anklage wie von Verteidigung zwar zu lernen suchen, aber um etwas drittes zu schaffen: ein ausgeglichenes Bild und deswegen doch kein verschwommenes? Sie wird dabei irgendeine Art von Kontinuität vom alten Preußen über Bismarck zu Hitler als petitio principii voraussetzen müssen, als gegeben durch die Logik jeder Geschichte. Das heißt aber noch nicht, daß solche Kontinuität simplifiziert und verabsolutiert werden dürfe! Es käme vielmehr darauf an, sie herauszupräparieren als eine Komponente neben anderen.

Und ferner: es genügt dabei nicht deutsche Nabelbeschau; es wird obendrein erfordert: fortlaufender Vergleich mit anderen Mächten. Erst dadurch lernten wir zu unterscheiden das allen Gemeinsame und jeweils Zeitgemäße von unserem Besonderen, unserem Einmaligen!

Preußens vehementes Wachstum

Was war dieses Einmalige aber in der preußisch-deutschen Entwicklung 1640— 1945? Es erweist sich für den vergleichenden Blick schon ganz äußerlich als jene Wachstumsdynamik, die in kaum drei Jahrhunderten im nüchternen Tageslichte der späteren Neuzeit, ausgehend von einem armseligen Winkel am Rande, die klein-deutsche Nation geformt hat und dann auch für einen fatalen Augenblick die großdeutsche, eine Dynamik, die den Weg der europäischen Hegemonie eingeschlagen hat, ja der Welthegemonie.

Vergegenwärtigen wir uns dies Wachstum mit einigen Zahlen, wenigstens was die Bevölkerung angeht. 1640 hatte Brandenburg-Preußen noch nicht eine Million Einwohner, 1688 erst anderthalb Millionen und zwar in Streulage, während das kompakte strahlende Frankreich Ludwigs XIV. über 20 Millionen Einwohner umschloß. 1740 verdoppelte die Eroberung Schlesiens bereits auf einen einzigen Schlag die Bevölkerung des zusammenhängenden Kerns des Staates, Mark, Pommern, Magdeburg, und verlieh ihr einen Zuwachs, der sich der Einwohnerschaft ganz Kursachsens näherte, eine Feststellung, die über die Bedeutung des Jahres 1740 mehr aussagt als moralische Erörterungen. Am Ende des ancien regime aber war sie auf über 10 Millionen angestiegen, d. h. sie hatte sich in anderthalb Jahrhunderten verzehnfacht. Dann folgte der neue große Ruck 1866— 1870, durch direkte Expansion wie erst recht durch indirekte, mit dem Ergebnis, daß Frankreich sich an Volkszahl überflügelt sah von dem Zweiten Reiche, das doch nichts anderes als ein großpreußisches Hegemonialreich war.

Bietet die europäische Geschichte in den entsprechenden Abschnitten der Neuzeit auch nur rein äußerlich Vergleichbares? Lassen wir die fremdartig überseeische Expansion beiseite, so könnten allenfalls als Staaten eminenten kriegerischen Wachstums auf dem Kontinent herangezogen werden Rußland, Österreich, Schweden, Savoyen. Aber wieweit bleibt bei näherem Zusehen jeder von ihnen zurück hinter Preußens vehementer Vergrößerung. Ist doch die kompakte eurasische Masse schon des vorpetrinischen Rußlands gewaltiger als alle nachfolgenden Eroberungen in ihrer Summe. Ist doch Österreich auch schon-vor Prinz Eugen ein imponierender und festgefügter Länderkomplex. Ist doch Schweden mit Finnland schon vor seiner kriegerischen Ausbreitung an den gegenüberliegenden Küsten ausgezeichnet durch ein mächtiges Kerngebiet. Ist doch Savoyen, relativ genaueste Parallele zu Preußen, weit langsamer aufgestiegen als dieses, um dann um so plötzlicher im italienischen Nationalstaate aufzugehen.

Gerade diese Vergleiche, je vielseitiger man ihnen nachsinnt, rücken die Potenz der preußischen Staatspersönlichkeit erst recht ins Licht. Die brandenburgische Ausgangsstellung erscheint dann völlig einzigartig durch ihre Armseligkeit — Stiefkind der Natur ohne Küste, Ströme, Gebirge, ohne Schätze auf der Erde oder unter ihr —, demgemäß auch Stiefkind der Geschichte, spätes beschattetes koloniales Zwischenland ohne den Glanz einer alten Krone zwischen begün-stigteren politischen Bildungen — endlich auch Stiefkind in völkischer Beziehung ohne homogenes hochwertiges Menschentum, wie es gemeinhin den Rohstoff bedeutender Geschichte abgibt. Die späte und lose Verbindung mit dem fernen Herzogtum Preußen, das von Polen zu Lehen ging, unterstrich nur die Problematik des schwankenden Staatswesens.

Kalvinistischer Unternehmergeist

Aber wie erklärt sich nun trotzdem der plötzlich einsetzende Aufstieg? Konzentrieren wir die Antwort in einem Satze: Die Erklärung des Rätsels beruht in der planmäßigen Anwendung eines einfachen Erfolgsrezeptes autoritär von eben her, eines Rezeptes, das westliche Zivilisation in die unterentwickelten Gebiete des Ostens übertrug mit dem einzigen Ziele, ein wachsendes Militärpotential heranzubilden und mit seiner Hilfe eine wachsende territoriale Expansion zu betreiben, die rückwirkend wiederum dem militärischen Potential zugute käme.

So steckt der kalvinistische Kapitalist in asketisch-fanatischer Arbeit seine Gewinne sofort wieder in sein Unternehmen hinein, um aus ihm neue Gewinne zu ziehen — nur bedacht auf die dynamische Ausbreitung, nicht auf die statische Repräsentation in standesgemäßer Lebenshaltung. Und eben dieser hochstilisierte Unternehmergeist bemächtigte sich, mit dem Großen Kurfürsten aus Holland einwandernd, der Hohenzollerndynastie und blieb ihr auch dann noch säkularisiert erhalten, als die religiöse Grundlage dahingeschwunden war — nur daß hier das Schwungrad des Erfolges nicht Kapitalismus hieß, sondern Militarismus, nur daß hier der Erfolg selbst nicht an der Expansion eines pri-vaten Geschäftes gemessen wurde, sondern, an der eines Staates. Dieser Staat entwickelte im zivilen Sektor mit Hilfe unvergleichlich genauer und planvoller Verwaltung private Wohlfahrt und Zivilisation in eben dem Maße, wie sie als Basis überdimensionaler Rüstung erfordert wurden, aber nicht als Selbstzweck. Der Lebensstandard konnte bescheiden bleiben. Die geringen Ansprüche einer Bevölkerung unterentwickelter Gebiete unterstützten nur das ganze System: es verstand aus der Not eine Tugend zu machen. Aus dem mehrschichtigen Menschentum, das es in verschiedenartigen Landesteilen vorfand und mit westlichen Kolonisten noch buntscheckiger gestaltete, hat es ein künstliches Staatsvolk in einem künstlichen Gesamtstaate geschaffen und erfüllt mit einheitlicher Staats-ethik über allen Konfessionen — immer von neuem fähig mit ehernem Stempel Menschen nach seinem Bilde zu prägen.

Der bekrönende Staatszweck aber, zu dem alle Linien des Systems konvergierten, war dynamische Außenpolitik, deren sichtbare Erfolge zur letzten Rechtfertigung des überaus künstlichen Machtunternehmens dienten, deren Abschirmung und Verarbeitung aber auch Atempausen verlangen konnten.

Militaristische Staatsräson

Wir sehen also eine militaristische Staatsräson der Expansion, methodisch fixiert in den politischen Testamenten, permanent am Werke, wie sie in dieser wasserklaren Reinheit in Europa sonst unbekannt war. . Preußen muß eine militärisdte Regierung haben und alles auf militärische Zwecke beziehen“, formulierte Friedrich der Große. Man mag sagen: wir sehen eine rationelle Machtfabrik vor uns, die den handwerklichen Methoden traditionsgebundener Machtgewinnung um so mehr überlegen war, als sie ja den Anspruch auf standesgemäße höfische Repräsentation mit schneidendem Hohn negierte. Man mag unter dem Gesichtspunkte der Reichsgeschichte auch sagen: wir sehen einen kleinen protestantischen Reichsrebellen sich ins Europäische erheben und die bereits im 16. Jahrhundert erreichte Konzentration des Militärischen, Finanziellen und Geistigen, wie wir sie bei den westdeutschen protestantischen Territorien vorfinden, auf das Vehementeste im 17. und 18. Jahrhundert vervollkommnen — in der Nachfolge der abgestürzten Hessen und Pfälzer, in der Schule und Verwandtschaft der Oranier, in der Rivalität mit den Schweden.

Demgegenüber bleiben die schwammigen Großmächte zurück in kavaliersmäßiger Lässigkeit. Sie ruhen gesichert in ihrer Masse, und die katholisch-barocke Repräsentation ihrer Macht gilt ihnen geradezu als ein Teil der Macht selbst. So sind es, nicht die „Großen“, die beati possidentes, die den Militarismus auf den Gipfel geführt haben und die ihn tragende präzise Verwaltung. Es sind gerade die „Kleinen“, die zwar von den Großen lernten, aber nur um deren Extensität durch ihre Intensität zu balancieren. Selbst bedroht, entwickeln sie die Fähigkeit, andere und selbst größere ihrerseits zu bedrohen.

Das alles gilt für Preußen im eminenten Sinne Friedrich II. urteilte: „Kleine Staaten seien den größten gewachsen, wenn sie sich nur keine Mühe verdrießen ließen."

Freilich ist dieser künstliche Staat, den die besessene Anstrengung dreier Regenten aus dem Nichts geschaffen hat, auch immer wieder in Gefahr, in das Nichts zurüdezusinken, eine Gefahr, die keine andere Macht dieser Rangklasse in gleichem Maße kannte. Und gerade der größte der drei Regenten ist dem Abgrunde am nächsten gekommen durch sein schlesisches Abenteuer. Denn nur durch irrationale Kühnheit konnte der sonst so rationale Staat in drei Kriegen zu einer Art fragwürdiger Großmacht emporsteigen! Gleichviel, die Tollkühnheit war nun einmal geglückt und die Erinnerung an sie sollte sich immer wieder melden in allen extremen Lagen dieses an sich schon extremen Systems — bis in die letzten Tage und Stunden seines Funktionierens 1945.

Doch belegen wir dieses Funktionieren für die Zeit des ancien regime noch durch einige weitere Zahlen, die den inneren Kern des Ganzen bloßlegen, nämlich die Rüstung.

Beim Tode des Soldatenkönigs 1740 war Preußen seinen Einwohnern nach erst der 13. Staat Europas, seiner Rüstung nach jedoch bereits der vierte, wenn nicht gar der dritte. Friedrich Wilhelm I. hatte eine Armee von 38 000 Mann geerbt, die sein Vater nur mit Hilfe fremder Subsidien zu unterhalten vermochte. Aber er hinterließ 84 000 Mann, die das arme Land finanziell ganz aus eigenem trug, deren Rekrutierung seine Möglichkeiten aber fast um das doppelte überstieg. Hätte Österreich im ähnlichen Maßstabe gerüstet, es hätte 1740 eine Armee von 600 000 Mann unter Waffen gehabt, Frankreich eine solche von 750 000 Mann, wobei aber nur die Bevölkerungsziffer beider Großmächte zugrunde gelegt ist, nicht der weit überlegene Wohlstand der österreichischen Untertanen und gar der französischen. Und doch verfügten diese Mächte in Wirklichkeit nur über Armeen, die zahlenmäßig der des kleinen Preußen nicht allzuweit überlegen waren, qualitätsmäßig aber entschieden unterlegen. Friedrich der Große hinterließ sodann seinem Nachfolger bereits 200 000 Soldaten, vielleicht mehr als das viermal so stark bevölkerte reiche Frankreich. Lind diese 200 000 reichten selbst in der Hand eines so fragwürdigen Regenten, wie es Friedrich Wilhelm II. war, hin, um dem Staate die Riesenbeute der beiden letzten polnischen Teilungen zu sichern, die, gemessen an dem Umfang des preußischen Stammlandes, weitaus bedeutender war als der österreichische Anteil und selbst der russische. Erweiterte sie doch das Königreich um volle 50 Prozent seines Areals. Und jeder Zuwachs wollte ja hier dank intensivem Zentralismus überhaupt mehr bedeuten als etwa bei der lockeren Organisation Österreichs.

Überwindung der Krisis durch das altpreußische Erfolgsrezept

Aber was wurde aus dem bewährten altpreußischen Erfolgsrezepte in der napoleonischen Ära, als die wendige Kabinettspolitik der „Freien Hand“ im Rahmen des labilen europäischen Gleichgewichtes ad absurdum geführt wurde durch den Zerfall des Erdteils in zwei Heerlager, infolge des erneuerten französischen Hegemonialstrebens? Was wurde aus dem Rezepte, als gerade die künstliche überdimensionale Rüstung zusammenbrach im Kampfe mit den begeisterten Rekrutenheeren Frankreichs, als auch die künstliche innere Ordnung des Staates aus den Fugen ging, als endlich seine autoritäre Führung in Frage gestellt wurde ebenso durch den Zeitgeist wie die persönliche Unfähigkeit des Herrschers? Brachen doch ungeahnte Massenströmungen in den halbzertrümmerten Mechanismus ein, so daß rückwirkend selbst der gefeierte königliche Konstrukteur sein Prestige verlor!

Unmöglich, aber auch unnötig, von dem turbulenten Auf und Ab dieser Jahre hier Rechenschaft zu geben. Nur so viel: das auf dem Wiener Kongreß wiederhergestellte Preußen besaß nicht mehr ein kristallinisch klares Wesen wie das alte, nicht mehr ein anerkanntes Erfolgsrezept wie jenes. Es wußte ja keine Antwort auf die beiden in sich zusammenhängenden drängenden Fragen der Zeit: die ständische und die nationale. Seine Rüstung blieb zurück. Seine Führung blieb gelähmt. Seine Großmachtqualität blieb im Ungewissen. Von wagemutiger Außenpolitik konnte trotz der Begründung des Zoll-vereins wohl die Rede nicht sein. Es flüchtete vielmehr in den gemeinsamen Hafen der Restauration. Aber auch hier fand es keinen Schutz vor der Revolution von 1848. Würde sie sich nicht erneuern? Und welche Bedeutung konnte dann Preußen noch beanspruchen als eben die, sich der nationalen Bewegung endgültig zur Verfügung zu stellen, um dann in dem kommenden Nationalstaate aufzugehen, wie es Savoyen aus vergleichbarer Situation heraus alsbald tun sollte? Wieviel aber wäre dann von den altpreußischen Prinzipien noch wirksam geblieben, um das neudeutsche Schicksal zu bestimmen?

In dieser von innen her anschleichenden Krise war es nun die Erinnerung an das altpreußische Erfolgsrezept, die von der gefährdeten junkerlichen Gesellschaft und von dem junkerlichen Offizierskorps wieder hervorgeholt wurde als ein Rezept für das eigene Überleben wie das des Staates. Mochte Ranke gerade aus der preußischen Politik des ancien regime seine Vorstellung von dem Primat der Außenpolitik gewonnen haben, so war es seit 1848 mit diesem Primat vorbei, ja fast hatte sich ein Primat der Innenpolitik herausgebildet. Und im Dienste solcher Innenpolitik wurde nun die altpreußische Parole erneuert: autoritäre Führung, überdimensionale Rüstung, expansive Außenpolitik! Es war die Parole der Manteuffel und Roon, die Parole Bismarcks. Folgte man ihr, so mochte es gelingen die populäre Bewegung zu überspielen und statt in ihren Dienst zu treten, sie umgekehrt in Dienst zu nehmen. Dabei war es mit erneuertem Friderizianismus allein nicht getan. Es hieß ihn ergänzen durch eine Beimengung von Bonapartismus unter Verwertung des Vor-bildes Napoleons III., der ja die inneren Spannungen einer modernen Gesellschaft autoritär zu dominieren und nach außen abzulenken wohl zu lehren vermochte.

Bismarck als Erbe der friderizianischen Außenpolitik

Und so geschah es denn! Zuerst die Armee-reorganisation, die schlagartig von neuem eine überdimensionale Rüstung zuwege brachte, die allein in Europa die jakobinische allgemeine Wehrpflicht voll ausnutzte, aber paradoxerweise dennoch die vergrößerte Armee erst recht den friderizianischen Traditionen des junkerlichen Offizierskorps unterordnete. Und der Erfolg? 1866 verfügte Preußen mit seinen 18 Millionen Einwohnern über eine ebenso starke Feldarmee wie Österreich mit der doppelten Zahl von Einwohnern, obendrein aber auch noch über weit besser ausgebildete Reserven. Aus der Armee-reorganisation aber entwickelte sich sofort der Kampf um die Wiederherstellung der monarchischen Autorität gegen das Andrängen des Parlamentes, das das Heer als Instrument einer nationalen Außenpolitik in eigne Hand zu bekommen strebte. Sieger würde sein, wer von den beiden miteinander ringenden Gewalten eine erfolgreiche Außenpolitik tatsächlich durchzuführen vermöchte. Und das gelang dank Bismarck der Krone. Er wandte das altpreußische Erfolgsrezept in seiner wichtigsten Vorschrift an, als er eine neue friderizianische Außenpolitik inaugurierte, wiederum gegen Österreich, den Genossen im deutschen Bunde und Alliierten von 1813 und 1864. Es war eine Außenpolitik, die von derselben Labilität des damaligen europäischen Gleichgewichts begünstigt wurde, wie die friderizianische durch entsprechende Labilität im 18. Jahrhundert. Aber deswegen war 1866 nicht weniger verwegen als 1740 und 1756. Wiederum stand der Staat vor der echt preußischen Alternative, die anderen fremd war:

" 3chsen oder untergehen. Wiederum ein kunstvolles Spiel aus dem Kabinett mit der Existenz des künstlichen Staates. Es durfte vor keinem Mittel zurückscheuen, auch nicht dem unheimlichen Bunde mit der Revolution in LIngarn, Böhmen, vielleicht in Polen, ja in Deutschland. Die Verschickung Lenins im plombierten Wagen nach Petersburg und anderes dergleichen im ersten Weltkriege durfte sich auf Bismarcksche Tradition berufen. Endlich: Friedrich den Großen begleitete eine Giftphiole in die Schlacht, Bismarck aber der Entschluß, im Falle der Niederlage auf den böhmischen Schlachtfeldern sich der letzten Reiterattacke anzuschließen. Mit Hilfe dieser altpreußischen todesnahen Dynamik, mit Hilfe eines in Preußen selbst verhaßten Bruderkrieges, mit Hilfe eines verwegenen Segelmanövers zur Ausnutzung des „nationalen Schwindels“, begründete er den Norddeutschen Bund und vier Jahre darauf das zweite Kaiserreich im Feuer des Kampfes gegen Napoleon III. Er ließ dessen großer Heeresreform nicht Zeit, den Vorsprung der überdimensionalen preußischen Rüstung einzuholen, und stellte durch die spanische Intrige den Kaiser vor die Wahl zu kämpfen oder kampflos zu fallen. Was half dann noch der Republik Gambettas ihre Volkszahl, ihr Reichtum, ihr improvisierter Heroismus gegen ein militarisiertes Volk, das sich großgehungert hatte, das zwar über keine Luxusindustrie, dafür aber über eine vom Staat entwickelte Schwerindustrie verfügte, zudem über eine autoritäre Führung, unabhängig von Wahlen und Parteien. Widerpart von Revolution und Demokratie?

Die deutsche Nation künstlich ins Leben gerufen

So wurde denn durch Bismarck, operativ von oben her, eine neue deutsche Nation künstlich ins Leben gerufen, die kleindeutsche unter protestantisch-wirtschaftlichem Vorzeichen als Bereich der großpreußischen Hegemonie. Unvermeidlich wurde dabei diese deutsche Einigung erkauft mit einer tatsächlichen deutschen Teilung, wie sie ja als Möglichkeit eigentlich schon seit Jahrhunderten angelegt war. Insofern versagen eben doch die beliebten Parallelen zwischen dem Kriege von 1866 und den Einigungskriegen der Schweizer, Italiener und Amerikaner im 19. Jahrhundert. Hier ging es allemal um Wiederherstellung oder Schaffung eines Ganzen, dort aber um die Interessen eines Partikularstaates, der sich bestimmter populärer Interessen bediente, um aus dem bereits bestehenden lockeren Ganzen, nämlich dem Bunde, ein festgefügtes Teilreich abzusondern, wieder Triumph der Intensität über die Extensität, des ehemaligen Rebellen gegen den Reichsgedanken von ehemals.

Wie aber konnte es anders sein, als daß diese neue Nation sich vollsog mit dem Glauben an das preußische Erfolgsrezept, dem sie ihre Existenz verdankte, daß sie die preußische Geschichte als die ihre, übernahm, da sie selbst geschichtslos war? In der napoleonischen Ära hatten die Reformer eine deutsch-preußische Symbiose eingeleitet — Bismarck brachte eine preußisch-deutsche Symbiose zuwege und mochte in ihrem Fortgange auch die Bedeutung des preußischen Staates verwischt scheinen, so wirkte sich dafür im größeren Rahmen die Bedeutung des preußischen Wesens mit einer populären Gewalt aus, über die es früher nicht verfügt hatte. Die alte preußische Formkraft strahlte, abgewandelt durch die nationale Hochstimmung, erst recht in die Breite aus. Das wirkte sich gerade in den bürgerlichen Schichten aus, die sich soeben noch am leidenschaftlichsten gegen den Primat Preußens gestemmt hatten. Emporgetragen durch ein Wirtschaftswunder, das sich schon im Zollverein angekündigt hatte, lernten gerade sie fleißig ihre preußische Lektion, beugten sich der autoritären Staatsführung, bekehrten sich zum Rüstungsgedanken, wandten sich hoch-fliegenderAußenpolitik zu. Es war aber die des Imperialismus, die dem Interesse der jungen Industriegesellschaft entsprach und die ozeanische Weite ins Auge faßte, die dem agrarisch-kontinentalen Preußentum fremd gewesen. Demgemäß galt es nun den Rüstungsgedanken für einen neuen Schauplatz zu adaptieren, eine Flotte zu bauen, wie sie schon die Demokraten von 1848 gefordert hatten.

Altpreußische Methode und neudeutsche Zielsetzung

In der Person des jungen Kaisers aber bestieg die junge Generation den Thron, und in ihm vermählte sich die altpreußische Methode mit der neudeutschen Zielsetzung. Hatte er doch schon als Schüler auf dem Hofe des Kasseler Gymnasiums seinen Kameraden angekündigt, er werde in moderner Form die Leistung seines großen Ahnherrn Friedrich Wilhelms I. erneuern und ebenso methodisch eine Flotte bauen als Instrument der Weltpolitik, wie jener sein Heer als Instrument der europäischen aufgebaut hatte. Und ganz demselben Rückblick und Vorblick begegnen wir immer wieder beim Durchforschen der damaligen Publizistik: sie hoffte darauf, Deutschland werde mit demselben Erfolgsrezepte in den Kreis der Weltmächte eindringen, mit dem s. Zt. Preußen in den Kreis der Großmächte eingedrungen war.

Bei diesem neuen Ausbruche spielte nun allerdings als zusätzlicher Ansporn auch eine Sorge ihre Rolle: die Sorge vor den sozialen Spannungen, die aus dem hektischen Gedeihen der jungen Industriegeseilshaft hervorwuchsen — Schatten ihres Lichtes. Es war ähnlich wie zu Beginn von Bismarcks großer Aktion, die ja ebenfalls von der Sorge vor inneren Spannungen angespornt wurde. Und wie damals wurde auch jetzt das altpreußische Rezept mit einer bonapartistishen Zugabe verstärkt. Wenn etwa Friedrih Naumann von. Demokratie und Kaisertum sprah, so meinte er ein bonapartistisch gefärbtes Kaisertum in Fortsetzung Bismarck-sher Ansätze.

Aber gleichviel, weihe modernen Zuflüsse in die altpreußishe Strömung einmünden — deren Rihtung setzte sih dennoh durh. So setzt sih die Rihtung der vorerst shmähtigen Donau immer wieder durh trotz der wasser-reihen Zuflüsse aus den Alpen, die weit mähtiger sind als der mütterlihe Fluß. Es ist ein Bild, das bis 1945 seine Geltung behalten mag!

Wohl gab es auh stärkste Widerstände. Aber unter ihnen doh keinen, der die ganze Nation aufgerufen hätte und niht nur einzelne Klassen, Konfessionen, Partikularismen und Interessengruppen, keinen der allen eine so suggestive Zukunftsvision zu bieten hatte wie der Imperialismus.

Auh wirkte er um so verführerisher, als er ja keineswegs notwendig in einen heißen Krieg auszumünden brauhte, vielmehr Englands Über-rundung in einem kalten Kriege versprah, also höhsten Gewinn und begrenzte Opfer; dieses alles angemessen einem wohllebenden Ge-shlehte, das die spartanishe Zeit des Groß-hungers niht mehr kannte. .

Der Absturz in den Hegemonialkrieg

Freilich verbarg sich in dieser leichtfertigen Zuversicht eben jener fatale Rechenfehler, der 1914 diese widerspruchsvolle, hohgerüstete und friedlihe Weltpolitik Zusammenstürzen ließ wie ein Kartenhaus. Über Naht sah sih das eingekreiste Reih hineingezwungen in einen europä-ischen Hegemonialkrieg klassishen Stils, statt hinauszugreifen in die Welt aus eigener Initiative. Verloren war plötzlih der Talisman einer Politik der freien Hand, wie sie Bismarck und Friedrih der Große so meisterhaft geübt hatten, nämlih in Zeiten der Labilität des Staaten-systems nah den Kämpfen der Hegemonialkriege Napoleons I. und Ludwig XIV. Jetzt mußte ja Deutshland selbst wohl oder übel einen Hegemonialkrieg führen, und wiederum zerfiel Europa in zwei starre Heerlager.

Aber in dieser überraschenden Not suhten wir nun erst reht Tröstung bei der preußishen Geshihte. Hatte niht Friedrih der Große trotz aller Einkreisung seinen Siebenjährigen Krieg bestanden und den Ring der Feinde mit seinem unvergleihlihen Heere aufgebrohen? War jetzt niht wiederum die große Stunde der alten stolzen Armee gekommen, dem Fundamente altpreußisher Größe, das man nur allzu sehr vernahlässigt hatte zugunsten jener heiß-geliebten Tirpitz-Flotte, die jetzt untätig im Hafen lag? Hätte es nur auh eine autoritäre Staatsführung altpreußishen Stils gegeben, einen roi connetable! Der Kaiser war es niht, und so wurde sein leer bleibender Platz logi-sherweise von den Feldherren eingenommen, die sih zutrauten, wiederum den Ring der Feinde mit dem unvergleihlihen Heere aufzu-brehen, während die Staatsmänner ihre Kartenhäuser ratlos zusammenfallen sahen. „Preußen muß eine militärische Regierung haben“; hatte Friedrih der Große geshrieben, „und alles auf militärisdie Zwecke beziehen!“ Selbst noh die „Flaumacher", die Verständigungspolitiker hielten auf ihre Art an der altpreußishen Linie fest, indem sie auf einen Hubertusburger Frieden hofften, der die Tür zu großer Zukunft angelehnt ließe. Auh ihnen kam niht zum Bewußtsein, daß jene Parallele mit dem Siebenjährigen Kriege fehl am Platze sei, da damals Berlin von London aus niht bekämpft, sondern beshützt wurde. Aber weiter: Als dann die im tiefsten unverstandene Katastrophe dennoh herannahte, löste sie in der Führungselite wiederum eine eht preußishe Reaktion aus, nämlih die Erinnerung, wenn niht an die Giftphiole Friedrihs des Großen, so an die letzte Reiterattacke Bismarcks: es shien dem preußishen Stile gemäß zu sein, wenn der Kaiser mit seinem Gefolge den Tod suhte auf dem Schlachtfelde. Bedeutete aber das Versagen des Monarhen und der Untergang der Monarhie wirklih auh bereits den Untergang der preußishen Tradition? Paradoxerweise fand das Gegenteil statt. Allerdings, das alte Erfolgsrezept wurde abgelöst von dem sozialen Boden, mit dem seine Anwendung verwahsen shien, von der konservativ-feudalen Gesellschaft und dem Besitz-Bürgertum, das sih ihr im Zweiten Reihe ange-shlossen hatte. Dafür erstrahlte nun der Stern des preußishen Prinzips nur um so heller über all den haotishen Trümmern der gesellschaftlihen Zusammenbrühe, die dem Zusammenbrüh des Staates folgten. Es shauten zu ihm gleihermaßen auf die aus der Mäht Verdrängten wie die zu ihr Hindrängenden. Es wurde zur abstrakten Zauberformel, zum letzten Glaubenssatz glaubensloser Nihilisten, zum Gegenpole gegen das demokratishe Prinzip von Weimar.

Beschwörung der soldatischen Jugend

Es wiederholte sih nunmehr bei uns in den folgenden 15 Jahren des Weimarer Regimes etwas Analoges wie hundert Jahre zuvor in Frankreih, in den 15 Jahren der Restauration. Damals ließ die aufpeitshende Erinnerung an die versunkene Glorie die Junge Generation kein gutes Haar finden an der neuen Staatsführung und Staatsform, weil beide ihre schmähliche Existenz einer Katastrophe verdankten. Genau das Entsprehende bei uns. Die großen Magier des Wortes, Möller van den Bruck, Spengler, Emst Jünger, beschworen die soldatische Jugend, die unter Ludendorff ihrer Kraft bewußt geworden, zurüdezukehren zum preußischen Stile als der Vorbereitung neuer Größe — in einer neuen, der klassenlosen Gesellschaft. Arbeiter und Sol-daten sollten sich die Hand reichen in wahrhaft totaler Mobilmachung aller Kräfte. Jetzt begann als Vorbild die harte altpreußische Gestalt Friedrich Wilhelm I. zu erstrahlen, sein Staatssozialismus, seine wirtschaftlichen Planungen, seine rücksichtslose Beugung ererbter Standesvor-rechte, und letztlich natürlich sein Militarismus. Hatte er nicht schon mit den Mitteln seiner Zeit einen Totalitarismus angestrebt mitten im Frieden, wie ihn Ludendorff im Gedränge des Krieges hatte improvisieren müssen?

Autoritäre Führung also, Erneuerung von Staat und Gesellschaft im Zeichen erneuerter überdimensionaler Rüstung, endlich verwegene Außenpolitik wie 1740 und 1866, diesmal aber angefeuert vom Durst nach Revanche — solche altpreußischen Stichworte kehrten in 100 Varianten in der Diskussion immer wieder, jedoch mit moderner totalitärer Zuspitzung. Und bald hieß der Gegenpol gar nicht mehr Demokratie, sondern Kommunismus als der übernationale Totalitarismus. Das heißt also, zum dritten Male wirkte als zusätzlicher Ansporn die Furcht vor der inneren Auflösung des Bestehenden und diesmal selbst der Nation. Lehrmeister wurde der italienische Faschismus, der ja seinerseits die bonapartistische Linie fortsetzte und sich zugleich aus dem Mutterboden des Jakobinismus nährte, der ihm gemeinsam war mit seinem bolschewistischen Todfeinde. Nicht anders verschmolz sich bei uns nunmehr mit der altpreußischen Strömung ein neudeutsch-faschistisches Jakobinertum und vervielfachte die preußische

Dynamik, ohne doch ihre Methode zu ändern. Am Tage von Potsdam wurde diese Verschmelzung theatralisch gefeiert, die an ähnliche Verschmelzungen auf unteren Spiralwindungen erinnerte, erst unter Bismarck, dann unter Wilhelm II. Oder war der Tag von Potsdam nur trügerischer Propagandaeffekt? Gewiß nicht! Zwar bewußter Propaganda bedurfte die moderne autoritäre Führung, um die Massengesellschaft geistig lenken zu können. Das hatte ja schon Ludendorff richtig erkannt, obgleich er Exponent des altertümlichen Offizierskorps war. Aber mußte diese Propaganda täuschen über die wahre Gesinnung der Führung? Vielmehr glaubte diese selbst ebenso an ihre eigene Propaganda wie heute die Bolschewisten an die ihre. Auch ihr leuchtete das Bild des großen Preußenkönigs — als Irrlicht — voran beim Aufbruch in die neue Katastrophe.

Hitler und der preußische Machtgedanke

Aber, so hören wir, Hitler war doch gar kein Preuße von Geburt? Dafür eben ein Wahlpreuße von Gesinnung, nämlich insofern ihn das preußische Machtwesen in seinen Bann geschlagen hatte wie seit 200 Jahren so viele andere Wahl-preußen. Wurde er doch fürs Leben geprägt als Freiwilliger in einem deutschen Infanterie-Regiment, d. h. aber in einem preußisch erzogenen. Und wenn er später zusammenstieß mit jedem unstaatlichen Geiste und zumal dem kirchlichen, so war auch solcher Zusammenstoß der preußischen Geschichte nicht ganz fremd. Erhob doch seit der Reformation der protestantische Staat in besonderem Maße den Anspruch Geist und Moral zu lenken, und war nicht erst im Kultur-kämpfe zusammengestoßen mit der unlenkbaren katholischen Kirche. Schon Mirabeau hatte Friedrich den Großen charakterisiert als den Erzieher des „homme machine“.

In den altpreußischen Provinzen hat denn auch der Wahlpreuße bei Abstimmungen den weitaus durchschlagendsten Erfolg errungen. Vor allem garantierte ihm der altpreußische Geist der Armee die Zuverlässigkeit dieses Machtinstrumentes bis zur letzten Stunde, allen Bedenken einzelner zum Trotz. Aber niemals hätte Hitler die dämonische Macht über die Volksseele erlangt ohne ihr — selbst ein Gedemütigter — Räche für ihre Demütigungen zu verheißen — ein Dämon der Revanche.

Schon Bismarck hatte in der Mitte des Jahrhunderts mit Betonung wiederholt: „Wir sind fast so eitel wie die Franzosen; können wir uns einreden, daß wir auswärts Ansehen haben, lassen wir uns int Hause viel gefallen.“ Wie viel schlagender war die Parallele mit den Franzosen inzwischen geworden. Denn was Bismarck damals ihre Eitelkeit nannte, war ja doch nur ihr brennendes Verlangen gewesen, Revanche zu nehmen für den Zusammenbruch von 1815, für den Absturz von der hegemonialen Höhe. Jetzt waren auch wir von solcher Höhe abgestürzt und auch wir verlangten nach einem Gegen-schlag. Auch wir wollten die Kette der Verträge abwerfen, die zwar weit schwerer wog als die Kette der Verträge von 1815, die aber ebenfalls vor allem als Symbol der Niederlage unerträglich erschien. „Invictis victi victuri“ stand auf dem Gefallenenmal der Berliner Universität. Derjenige, der dieses Gelöbnis der Revanche einlöste, durfte gewiß sein, von der Nation einen hohen Preis verlangen zu dürfen: sie würde sich im Hause von ihm viel gefallen lassen! So hatte Bismarck im bürgerlichen Jahrhundert gesagt. Im proletarischen Zeitalter des Totalitarismus mußte das Wörtchen „viel“ sich verwandeln in das Wörtchen „alles".

Verzweifelter Kampf gegen ein unverstandenes Schicksal

Bedenken wir vor allem doch, um welche Revanche es sich handeln sollte. Die Niederlage im Hegemonialkampfe gegen Europa, ja die Welt, konnte nur wettgemacht werden bei der Bereitschäft, schlimmstenfalls einen neuen Hegemonialkampf zu bestehen. Der alte war verloren worden, so schien es uns, weil er weder materiell noch geistig hinreichend vorbereitet als überraschendes Begegnungsgefecht improvisiert werden mußte. Er war verloren worden, so schien es uns wenigstens, nicht weil das preußische Rezept an sich verfehlt, sondern weil seine Anwendung zu zaghaft gewesen. Das Versäumte ließ sich nur nachholen mit weitschauender Methode und mit Bedenkenlosigkeit. Hatte sich aber erst einmal die dumpfe nationale Sehnsucht zur Wiedergutmachung in einem charismatischen Führer verkörpert, wie ihn ja schon die Imperialisten vor 1914 herbeigewünscht, dann gab es kein Halten mehr. Und um so weniger, als die fatale Überhöhung bei der Zielsetzung den wenigsten überhaupt klar bewußt wurde. Denn trotz allen Strebens, begangene Fehler zu vermeiden, blieb auch jetzt noch der Hauptfehler in unseren Berechnungen vor und während des ersten Weltkrieges unerkannt. Weder wußten wir um die gefährliche Eigenart des typischen Hegemonialkrieges, noch daß wir einen solchen geführt hatten. Und so wiederholten wir denn zumeist blind ein Unternehmen, das wiederum am ersten Tage bereits verloren war. Aber erst durch den verzweifelten Kampf gegen das unerbittliche und unverstandene Schicksal wurden dann alle Höllengeister vollends entfesselt, die in der Seele des Führers selbst wie in der seiner Gefolgschaft. Ja, die Furcht vor den Folgen aber-witzigerVerbrechen härtete erst recht die Treue des preußisch erzogenen „homme machine".

Und endlich ordnete sich auch das Finale in der Reichskanzlei der preußischen Linie ein. Der todesnahe Geist Preußens, dem sich der Abenteurer verschrieben, forderte sein Leben. Kaum zu bezweifeln, daß er in seinen letzten Augenblicken der Giftphiole Friedrichs des Großen gedachte.

So ließe sich abschließend sagen: der extrem kühne Rebellen-Heroismus des preußischen aneien rögime half den extrem verzweifelten Rebellen-Heroismus unserer hegemonialen Ära formen und ging selbt mit ihr zu Ende. In einer letzten grausigen Explosion zerstäubte er wie eine Rakete, die ihre vorgeschriebene Bahn durchmessen hat.

Zwischen Anklage und Verteidigung unserer Geschichte

Idi habe punktartige Aphorismen aneinandergereiht, um eine Linie sichtbar zu machen — die preußische Linie, die eingegraben ist in das deutsche Schicksal, erst flüchtig, dann immer tiefer. Ich kehre nun am Schluß mit einigen Bemerkungen zurück zu meiner eingangs formulierten Aufgabe: zwischen Anklage und Verteidigung unserer Geschichte etwas drittes zu finden, das, von beiden lernend, beide überschaue. Kann dergleichen gelingen?

'Offenbar kommt meine Skizze der Anklage näher als der Verteidigung, insofern sie den Zusammenhang der Kette nicht zerschneidet in isolierte Einzelerscheinungen, die bald und zumeist als „gesund" zu billigen wären, bald als „krank“ aus dem Geschichtskörper zu tilgen seien. Die Verurteilung von kranken Teilen zur Rettung des gesunden Ganzen, und zwar unter Leugnung jeder Kontinuität, ist eine Apologetik, die ebensowenig wie die Apologetik in der Kriegsschuldfrage nach 1918 den historischen Sinn auf die Dauer wird befriedigen können; er hat die Teile in der Hand . . . . 1 Aber deswegen brauchen wir uns noch nicht mit der Anklage zu identifizieren, die zwar einen Zusammenhang sieht, ihn aber simplifi-ziert und verabsolutiert. Beide Betrachtungsweisen haben nämlich bei aller Gegensätzlichkeit dieses gemeinsam: sie sind beide interessiert, greifen beide in ein aktuelles Prozeßverfahren ein, plädieren hier für Verurteilung und dort auf Rehabilitierung mit Bewährung, hier geleitet von der Furcht auf Rückfälligkeit des grundbösartigen Volkes, dort von der Hoffnung auf Fortsetzung seiner Geschichte auf verwandter Bahn nach Rückkehr zu bewährtem Maß-halten. Könnten wir nicht ein halbes Menschenalter nach der Katastrophe hinausgelangen über derart affektbeladene Einstellungen?

Die Bedeutung des Epochenjahrs 1945

Es geht die Rede, wir müßten unsere Geschichte bewältigen. Was soll man darunter verstehen, wenn nicht die Gewinnung einer überlegenen Distanz? Ich will nicht dem blutleeren Phantom einer Historie sine ira et Studio das Wort reden; wohl aber behaupten, daß heute ira et Studium sich auf ganz andere Probleme beziehen müssen als vor 19451 Jenes halbe Menschenalter, das seitdem verflossen ist, hat alle Voraussetzungen unserer Existenz so vollständig verwandelt, daß wir selbst als Verwandelte Abstand gewinnen sollten von allen Vorgängen vor dem Epochenjahr 1945, um geläutert und freien entschlossenen Geistes eine ganz neue Situation zu bestehen. Dann allerdings vermöchten wir unsere Macht-Geschichte preußischer Prägung am sichersten zu bewältigen, wenn wir sie verständen als eine völlig abgeschlossene. Gestehen wir uns doch ein, daß heute ein politischer Körper des deutschen Volkes, wenn es ihn gäbe, in keiner Weise etwas ähnliches bedeuten könnte wie einst — so wenig wie Bayern nach 1870 etwas ähnliches bedeuten konnte wie im Ersten Reich. Ist doch mit dem europäischen Staatensystem die ganze Umwelt unseres politischen Daseins verschwunden und für den nüchternen Betrachter kein Weltsystem wahrhaft in Sicht gekommen, das Ersatz böte. Obendrein, das Furioso eines Hegemonialkrieges im alten Sinne, wie es erst das deutsche Fieber des 20. Jahrhunderts begreifbar macht, ist in der neuen Konstellation gar nicht mehr vorstellbar. Vielmehr ist im Rahmen des ringenden Weltdualismus in den Vordergrund gerückt das Problem einer friedlichen einheitlichen Weltordnung als das Problem aller Probleme und mit ihm die Frage, was in ihr vom abendländischen Menschentum überleben werde. Darüber sine ira et Studio nachzudenken, ist gewiß dem Abendländer nicht zuzumuten, um so eher über die aber vorhergehende Epoche ins Reine zu kommen, die diese Frage noch gar nicht kannte! Um so eher mag es auch gelingen, die Anklage gegen unsere neuere Geschichte zu entschärfen, ohne abzuleugnen, daß sie mit Recht versucht, Kontinuität aufzuzeigen.

Als Kontinuum erscheint uns nun das altpreußische Erfolgsrezept. Aber angewandt wird es jeweils in verschiedener Konstellation und verschiedener Dosierung, getragen wird es von verschiedenen Gesellschaftsschichten und verschiedenartigen Menschen. Es findet eine Dauer im Wechsel statt, und über der Hervorhebung der Dauer darf die Kennzeichnung des Wechsels nicht zu kurz kommen.

Die Furcht der Ankläger vor der Wiederkehr der letzten Phase projiziert deren Schrecken einfach zurück auf die früheren Phasen. Es ist, als ob bei der Betrachtung einer Familiengeschichte zuerst ins Auge gefaßt würde die letzte Generation, die etwa im Kretinismus endete, um nachzuweisen (was durchaus tunlich ist), daß bereits bei den gesunden Vorfahren die allge-meinen Familienmerkmale auftreten, die auch noch die Kretins besitzen. Und rasch ist das vernichtende Gesamturteil fertig: post hoc ergo propter hoc.

Wie peripherisch ist doch noch die innere wie äußere Ausdehnung preußischen Wesens im 17. und selbst im 18. Jahrhundert, verglichen nämlich mit dem deutschen Siedlungsgebiet im ganzen; wie scheint es bisweilen eher bestimmt nach Polen hineinzuwachsen als nach Deutschland. Dann kommen allerdings im 19. Jahrhundert die mächtigen Zuflüsse aus der deutschen Bewegung. Aber sie drohen ja gerade das altpreußische Wesen zu überwältigen — bis sie durch Bismarck dann eben doch in das alte Strombett hineingezwungen werden!

Im Anfang Erfolge, am Ende Katastrophen

Bis hierher wird das Extreme und Verwegene letztlich immer wieder balanciert durch rechtzeitiges Atemholen zur dauernden Sicherung des sprunghaft Gewonnenen. Das trifft gleichermaßen bei Friedrich dem Großen wie bei Bismarck zu. Bis hierher wird das Zerschneiden anderer Entwicklungslinien immer noch kompensiert durch Ausbreitung einer kraftvollen, in sich aber noch beschränkten Ordnung. Unermeßlich ist der Segen, den sie vor allem im Osten gestiftet hat; hier wirkte sie durchaus schöpferisch. Aber auch für das Ganze der neubegründeten Bismarck-Nation erschien diese Ordnung überwiegend als Segen, als Erlösung von einem eingefressenen Minderwertigkeitskomplex, was die Machtgeltung anging, als Erziehung zu disziplinierter Aktivität auf allen Gebieten der Zivilisation, aber auch als Damm gegen gefährliche Massenbewegungen nationaler und sozialer Art. Im übrigen, wer kennt die Alternative zur Reichsgründung? Wer wagt überhaupt, Verlust und Gewinn säuberlich auszurechnen?

Jedenfalls wurde noch der Wilhelminische Flottenimperialismus konzipiert, um den Damm zu verstärken. Der Effekt war dann der umgekehrte! Denn mit dem August 1914 veränderte sich unverhofft die ganze Konstellation grundlegend, und um so wirkungsvoller, als wir Maß und Art dieser Veränderung nicht einzusehen vermochten — durch unsere blutvolle Vitalität nur allzu gut geschützt vor des Gedankens Blässe. Von 1914 — 1945 führt die unentwegte weitere Anwendung des alten Rezeptes von einer Katastrophe zur anderen, nachdem sie 200 Jahre lang von einem Erfolg zum anderen geführt hat. Den Damm, den sie hatte sichern sollen, zerstörte sie bereits 1918, und sie gab damit chaotisch-schäumenden Massenströmungen den Weg frei, die sie hatte dominieren wollen.

Aber die mächtigste dieser Strömungen, die nationalsozialistische, nahm nun ihrerseits das alte Erfolgsrezept in ihren Dienst, um im Vertrauen auf seine Zauberkraft eine neue, eine totale Ordnung zu begründen und mit ihrer Hilfe den verlorenen Kampf zu erneuern, dessen Ausweglosigkeit sie nicht begreifen wollte. Sie endete in einer Katastrophe, deren Totalität nur von einem totalitären System erreicht werden konnte und die den Glauben an das alte Rezept für immer ausgebrannt hat, jedenfalls bei uns. Man mag diese so gänzlich verschiedenen Stationen auf dem Wege von 1640 bis 1945 Glieder einer Kette nennen, aber eben Glieder aus ganz verschiedenen Metallen — immer jedoch zusammengehalten durch jenes Kontinuum der altpreußischen Machtrezepte, immer noch Wellen-kreise, die sich konzentrisch um das Beginnen des ancien regime legen.

Dauer und Wechsel gleichzeitig sehen !

Mir scheint, wir müßten heute mit einem Blick beides zu umfassen versuchen, Dauer wie Wechsel; nicht mit den Apologeten allein den Wechsel beleuchten, nicht mit den Anklägern allein die Dauer. Ein solcher umfassender Blick könnte aber wohl nur erfolgen aus der zutiefst verstandenen Distanz heraus, die den heutigen Betrachter trennt von dem Gegenstände seiner Betrachtung. Gerade unsere deutsche Historie rechnet es sich zur Ehre an, Ludwig XIV. und Napoleon L, aber auch Peter d. Gr. und Lenin in eine Reihe zu rücken, ohne darüber ihre Andersartigkeit zu vergessen. Eine distanzierte Betrachtung könnte für unsere eigene Geschichte Analoges erreichen.

Und wenn wir uns schon genötigt sehen, das Ende der preußischen Linie in verwandelter Welt festzustellen, so besagt das noch nicht, daß wir trotz dem grausigen Finale die Trennung von ihr vollziehen sollten unter Verunglimpfungen ihres gesamten Ablaufes! Könnten wir nicht die Erinnerung an Friedrich und Bismarck in den Glasschrank stellen wie kostbares Gerät unserer Voreltern, das wir auf unserem Tisch nicht mehr in Gebrauch haben — so wie Holland und Schweden sich auch heute noch an ihre heroischen Zeiten erinnern, ohne ihnen praktisch nacheifern zu wollen? Zudem können wir nicht die Tugenden der phrasenlosen Pflichttreue und Tapferkeit, die uns der preußische Zuchtmeister eingepflanzt, heute erst recht hochhalten, um sie freilich einer ganz neuen und ganz unpreußischen Aufgabe zur Verfügung zu stellen: der Verteidigung des abendländischen Menschentums im Rahmen der Solidarität der Freien Welt — fern von allem Nihilismus und allem souveränen Staatsegoismus? La Prusse est morte — vive la Prusse!

Politik und Zeitgeschichte

AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN: * * * „Die Universität der Völkerfreundschaft"

Klaus Hornung: „Die Etappen der politischen Pädagogik von Bismarck bis heute"

Josef Kalvoda: „Kommunistische Strategie in Südamerika"

Ralph L. Powell: „Die rotchinesische Miliz"

Walther E. Schmitt: „Lenin und Clausewitz"

Wilhelm Ritter von Schramm: „Hitlers psychologischer Angriff auf Frankreich"

Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"

Walter Wehe: „Die wirtschaftspolitische Entwicklung Europas seit dem Marshallplan"

Fussnoten

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