Der nachfolgende Aufsatz ist die Wiedergabe der Festrede des neuen Rektors der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn anläßlich der feierlichen Rektoratsübergabe, die im Beisein des Herrn Bundespräsidenten am 12. November 1960 in der neuen Aula der Universität Bonn stattfand.
Eine durch Literaturangaben und Anmerkungen erweiterte Fassung dieser Rede wird demnächst in den Bonner Akademischen Reden (Hanstein Verlag, Bonn) erscheinen.
Einleitung
Das Thema „Entwicklungsländer" ist von so umfassendem Inhalt, daß es schon auf den ersten Blick in die Gebiete sämtlicher Fakultäten einer Universität eingreift, mit der Geomedizin und Epidemologie der Tropen auch in die Medizinische Fakultät und mit den Fragen der Mission auch in die theologischen Fakultäten. Es ist weiter ein Thema von einer für die-gegenwärtige Weltlage so schicksalhaften Aktualität, daß man ihm Tag für Tag in der Presse begegnet und jede Woche neue Veranstaltungen angezeigt findet, die es zum Gegenstand von Aussprachen machen.
Deshalb sei hier mit dem Untertitel „in ihrer kultur-und sozialgeographischen Differenzierung" eine inhaltliche Einengung vorgenommen, die die Möglichkeit gibt, das Besondere aufzuzeigen, -das die heutige Geographie zu dem Problemkreis beizutragen vermag, nämlich die vergleichende Beurteilung und Zusammenschau der naturräumlichen, kultürlichen, wirtschaftlichen und sozialen Differenzierung der betreffenden Gebiete, also das, was man neuerdings im Hinblick auf die Planung der Entwicklungshilfe als die „Infrastruktur“ zu bezeichnen pflegt.
Mit den wirtschaftlichen und sozialpolitischen Hintergründen und Aufgaben der Entwicklungshilfe beschäftigt sich heute eine recht umfangreiche Literatur. Nur selten stützt sie sich allerdings auf eigene Studien in diesen Ländern und zielt daher stark auf allgemeine und theoretische Beurteilungen ab, wenn man auch häufig die Feststellung trifft, daß es keinen Typ „Entwicklungsland“ schlechtweg gibt, sondern jedes Land seine eigenen Voraussetzungen bietet. Das Wort „Länder“ wird in dieser Verbindung fast immer im Sinne von Staaten gebraucht, da sich für die politischen, finanziellen und wirtschaftlichen Aufgaben der Entwicklungshilfe zunächst die Staaten mit ihren rechtlich festgelegten Hoheitsaufgaben anbieten, gleichgültig ob es sich um kleine Staats-gebilde handelt oder um Riesenländer von den Ausmaßen eines Subkontinents. Das Thema gehört also im wissenschaftlichen Sinne zur Staatenkunde oder politischen Geographie, wobei man den sich dafür anbietenden Begriff „Geopolitik“ besser vermeidet, nicht etwa nur wegen der ihm anhaftenden historischen Belastung, sondern auch weil die in der geopolitischen Literatur bis in die allerjüngste Zeit (A. Grabowsky) angewandte Betrachtungsweise mit der einseitigen Vorkehrung der räumlichen Lage, der sogenannten „Raumdynamik“, und der als allgemeinwirksam angenommenen sogenannten „Raumkräfte“ nichtgeeignet erscheint, in das komplizierte funktionale Wechselspiel Einblick zu verschaffen, das zwischen Lage und Naturausstattung und den geschichtlich gewordenen rassischen, ethnischen, geistigen, wirtschaftlichen, sozialen, religiösen und politischen Gruppierungen der Menschheit besteht.
Zu einer staatenkundlichen Analyse gehören historische Studien, die auf geschriebene Quellen basiert sind, gehören demographische und volkswirtschaftliche Analysen, die sich der statistischen Erhebung bedienen, es gehören aber vor allem auch Feldforschungen dazu, die allein das gesamte natur-und kulturbedingte Wirkungsgefüge eines Landes und seiner Teile aufzuklären in der Lage sind, wofür die VöL kerkunde und die Kulturgeographie in einem umfassenden Forschungswerk in vielen Teilen der Welt seit langem Methoden entwickelt haben. Bei beiden Wissenschaften handelt es sich ja um die Aufhellung der raumzeitlichen Continua der vom Menschen bewohnten Erde. Die historische Kulturlandschaftsforschung der Geographen berührt sich auf das engste mit den kulturhistorischen Richtungen in der Völkerkunde, besonders dem Studium der „culture areas“ der amerikanischen Anthropologen. Dem Begriff des Verbreitungsgefüges der Landschaft („land-scape pattern“) haben die Ethnologen das „pattem of culture“ gegenübergestellt. Eine Trennung zwischen den beiden Wissenszweigen ist nur nach Schwerpunkten der Fragestellung sinnvoll, den menschlichen Lebensformen in der Völkerkunde, der vom Menschen wirtschaftlich genutzten und geistig geprägten Landschaft in der Kulturgeographie.
1. Die gegenwärtige Weltlage und die Entwicklungsländer
Das Phänomen der Entwicklungsländer schlechtweg ist eine Auswirkung der Technisierung des Lebens, die sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abspielt und die sich in unserem Jahrhundert durch eine neue Revolutionierung der Kommunikationsmittel (Automobil, Flugzeug, Radio und Fernsehen) in einem schlagartigen Zusammenrücken der Menschen und Völker auf weltweite Entfernung, in einem Kulturkontakt zweiter Potenz ausgewirkt hat. Auch manche ernsten Probleme unseres Wissenschaftsbetriebs und unserer Hochsdiulen gehen auf einen fast überhitzt zu nennenden Kontakt in einer distanzlos gewordenen Welt zurück. Den Gegensatz von entwikkelten und weniger entwickelten Ländern hat es zu allen Zeiten der Weltgeschichte gegeben, ebenso Rückbildungen von hochentwickelten Kulturen zu relativ, d. h. im Rahmen der sich wandelnden Zivilisation weniger entwickelten. Die 21 civilizations, die A. Toynbee seiner Weltgeschichte unterlegt, sind fast alle solche vergangenen Kulturen. Auch die heute führenden Industrieländer Europas haben einmal das Stadium der Entwicklungsländer, wenn auch in viel stärkerer räumlicher Isolierung, durchlaufen.
Das Bedrohliche in der gegenwärtigen Dynamik liegt eben darin, daß die weniger entwickelten Länder den Unterschied ihres Lebensstandards gegen den der Industrieländer durch die Kommunikationstechnik auch in der Masse ihrer Menschen schlagartig gewahr werden, ihn aber auch sofort unter Überspringung aller Stadien einer organischen Sozial-und Wirtschaftsentwicklung ausgleichen möchten. So sehr es einen Südamerikaner begeistern mag, in dem Nebeneinander eines Ochsenkarrens mit Scheibenrädern und eines Flugzeugs im entlegenen Innern des Erdteils einen „Salto de tres siglos", einen Sprung von drei Jahrhunderten, zu bestaunen, so gefährlich ist die Vorstellung, daß man den Sprung von einer paradiesischen Selbstversorgungswirtschaft zur Automatisation auf einmal vollziehen könne. Eine gesunde Entwicklungsplanung wird immer von der Förderung des Vorhandenen ausgehen müssen, normalerweise von der Verbesserung der agrarsoziologischen und agrartechnischen Grundlagen, um dann fortschreitend zu komplizierteren arbeitsteiligen Sozialgebilden nach Maßgabe der verfügbaren und durch Schulung heranzubildenden Arbeitskräfte zu gelangen, was man auch als „p 1 a n n i n g f r o m b e 1 o w“ bezeichnet hat.
Noch aus einem anderen Grund ist der ungestüme Drang zur Voll-technisierung besorgniserregend. Das Streben der jungen Nationen in Afrika ist mit einem Nachholkomplex von Nationalismus und Parti-kularismus verknüpft — ein Partikularismus, der schon rein raumfunktionell den Erfordernissen der Verkehrstechnik ganz und gar zuwider-läuft, also in das Gebiet der entwicklungsgefährlichen Ideologien gehört.
Glücklicherweise stehen heute durch die moderne Landbautechnik und durch die wissenschaftliche Kenntnis der Welt auch größere Möglichkeiten der Meliorierung gegenüber früheren Jahrhunderten zur Verfügung. Auch gibt es bereits zahlreiche Organisationen für die übernationalen Aufgaben. Und Regierungen und Parlamente sind sich der entscheidenden Bedeutung der Aufgabe bewußt, leider bei weitem noch nicht die Masse der Einzelmenschen in ihrem staatsbürgerlichen und weltbürgerlichen Verantwortungsgefühl.
2. Die Europäisierung der Erde
Es ist hier nicht möglich, die Europäisierung der Erde als den historischen Hintergrund unseres Problems auch nur in großen Umrissen nachzuzeichnen. Schon die wenigen Jahrzehnte des EntdeckungszeitaT ters haben vier Erdteile erfaßt, Süd-und Nordamerika, Afrika und Südasien, und zwar Lateinamerika flächenhaft, besonders durch die festländische Conquista der Spanier, Afrika und Südasien nur peripher durch isolierte Küstenstützpunkte der Portugiesen für die Beherrschung der Meere und des Handels in der Nachfolge der maritimen arabischen Handelskolonisation. Noch heute imponiert der Anblick der spanischen Städte Amerikas aus den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts. Die Aufvolkung war so energisch, daß das vorwiegend tropische Kolonialreich Spanisch-Amerikas Ende des 18. Jahrhunderts schon 15 Millionen Menschen zählte, das dreifache Nordamerikas. Auch die portugiesische Volksausweitung in Brasilien, Afrika und Indien war fast rein tropisch, eine luso-tropiscäo (Gilberto Freire), mit Rassenverschmelzung und Christianisierung. Descubrimiento und Conquista der iberischen Brudernationen haben riesige Tropenräume rein christlicher Kultur begründet und bis auf den heutigen Tag überliefert, ganz Lateinamerika, dazu die Philippinen und kleinere Gebiete in Indien und Ceylon.
Noch im 16. Jahrhundert aber erwachte bei den westeuropäischen Anliegervölkern des Atlantischen Ozeans, Holländern, Briten und Franzosen, der Gedanke des Mare liberum und führte — unter der wissenschaftlichen Begründung des holländischen Rechtsgelehrten Hugo G r o t i u s — die überseeische Kolonisation dieser drei Völker in West-und Ostindien und Nordamerika, zuletzt auch in Südafrika herauf. Gerade aber das einseitig den Interessen der Mutterländer untergeordnete Wirtschaftsgebaren des Merkantilismus wurde schließlich zu einer wichtigen Triebfeder für die Befreiung Anglo-und Lateinamerikas. Aus dem Geiste christlicher Besinnung entstand die Antisklavereibewegung. Und gleichzeitig mit diesem politischen und sozialen Umbruch in Übersee setzt die entscheidende Entwicklung für die heutige Welt-situation ein, das Aufblühen der Maschinenindustrie in West-und Mitteleuropa, ausgehend von England und bald auf den Kontinent übergreifend. Die Rationalisierung und Intensivierung der Landwirtschaft war teils Voraussetzung, teils Folge der Industrialisierung, ging mit ihr Hand in Hand. Die Erfindung von Eisenbahn und Dampfschiff rief eine Verkehrsrevolution hervor und führte zur weltweiten Arbeitsteilung. Allmählich weitete sich das europäische Industriegebiet zu einem Industriegürtel der Nordhalbkugel aus, mit seinen heutigen Zentren in Europa, Nordamerika, der Sowjetunion und Japan, von denen jedes eine bemerkenswerte Eigenheit der Sozialstruktur aufweist. Die Tropenländer wurden dabei zu Lieferanten von Lebensmitteln, besonders Pflanzenfetten, Genußmitteln und Rohstoffen für die Industrieländer der gemäßigten Zone. Die außertropischen Gras-länder der Südhalbkugel aber (La Plata-Staaten, Südafrika, Australien und Neuseeland) füllten sich mit Siedlern der kaukasischen Rasse und wurden gleichfalls zu Ergänzungsräumen der Industrieländer für deren Nahrungsund Rohstoffbelieferung.
Das Verhältnis zwischen den Rohstoffländern der Tropen und der Südhalbkugel und den Industrieländern der nördlichen gemäßigten Zone, wie es noch 1931 Joh. Loohuis gezeichnet hat, wurde seither mehr und mehr gelockert. Auch in der überseeischen Welt begannen sich jüngere „zentrifugale“ Industrien zu entwickeln, die das Gefühl des industriellen Nachholbedarfs in den Entwicklungsländern weckten. Der Industrialisierungsvorgang wurde ganz besonders in der Zeit der beiden Weltkriege durch die Welthandelslage beschleunigt. Wollte man aber den Grad der Industrialisierung dieser Länder etwa nur statisch nach dem Verhältnis der landwirtschaftlich und gewerblich tätigen Bevölkerung abzuschätzen versuchen, so würde man sich der Gefahr größter Fehlurteile aussetzen. Es gibt Tropengebiete mit weltmarkt-orientierter Agrar-oder Bergbauproduktion mit Aufbereitungsindustrie für die Ausfuhr, wie Baumwollspinnereien, Sisalfabriken, Zuckerraffinerien, Gerbstoffabriken, Kupfer-und Zinnaufbereitungswerke und Ölraffinerien; mit dem Wachsen lokaler Märkte haben sich Konsumgüterindustrien für den täglichen Bedarf, wie Seifen-, Beklei-dungs-und Schuhfabriken, Lebensmittel-und Getränkeindustrien entwickelt; zur Verbesserung der Landwirtschaft und für den Straßen-und Städtebau folgten vielfach die Dünger-und Zementindustrie; auf der Grundlage von Kohle und Eisen entstanden Schwerindustrien, wie in der Zwischenweltkriegszeit in Indien und Südafrika und in der Nachkriegszeit in Brasilien und Mexiko; schließlich finden sich heute in größeren Entwicklungsländern auch Montagewerke für komplizierte Geräte, wie für Kraftfahrzeuge, Landmaschinen und (in den Tropen) Eis-schränke. Das vergleichende Studium des Industrialisierungsganges und der Industrialisationstypen in den verschiedenen Entwicklungsländern ist eine wichtige, von dem Hamburger Wirtschaftsgeographen A. Kolb aufgezeigte Grundlagenforschung der Entwicklungshilfe.
3. Die Notwendigkeit geographisch differenzierender Betrachtung
Mit der Frage, nach welchen Kriterien wir ein Land zu einem Entwicklungsland rechnen, haben sich Nationalökonomen, Soziologen, Ethnologen und Geographen beschäftigt. Es handelt sich dabei natürlich nicht um Grenzen sondern um fließende Übergänge. Weiterhin erscheint es sehr gewagt, ganze Länder, namentlich große Länder nach Mittelwerten der Bevölkerungsdichte, der Berufsstruktur, des Bodenbesitzes, nach dem Einkommen pro Kopf der Bevölkerung und nach dem durchschnittlichen Lebensstandard zu klassifizieren. Auch bei uns im industrialisierten Mitteleuropa gibt es noch Gebiete, besonders in den Mittelgebirgen, die gegenüber anderen Teilen des Landes als wenig entwickelt bezeichnet werden müssen — wir sprechen in Zeiten schlechter Konjunktur von Notstandsgebieten. Es gehören dazu ausgesprochen agrarische, aber auch stark auf die gewerbliche Wirtschaft, etwa die Heimindustrie ausgerichtete Landschaften, wie das Erzgebirge. In Mittelwerten für Deutschland würden sie vollständig wegkalkuliert. In anderen Fällen gehen hochentwickelte Landschaften im Mittelwert wenig entwickelter Hinterländer unter. Brasilien, ein Riesenstaat vom Charakter eines Subkontinents, den man nach dem durchschnittlichen Stand seiner Gesellschaft und Wirtschaft sicher zu den Entwicklungsländern rechnen wird, umfaßt aber ganz grundverschiedene Wirtschaftsräume: Amazonien, das eine Periode der Raubwirtschaft in der Zeit der Wildkautschukausbeutung längst überwunden hat und sich in einem gesunden Aufschwung " befindet; Matto Grosso, ein fast unbe-
siedeltes Binnenland, das durch seine Lage noch kaum in die National-wirtschaft, geschweige denn in die Weltwirtschaft eingegliedert ist; dann wieder die dicht besiedelten tropischen Küstengebiete des Beira-mar, der alte Kulturherd mit vielen Merkmalen der Bevölkerung, der Sozial-und Wirtschaftsstruktur, die sich nur aus der kolonialzeitlichen Tradition verstehen lassen; weiter die mächtig aufstrebenden Staaten Säo Paulo, Rio de Janeiro und Minas Geraes mit rapide wachsenden Millionenstädten, modernsten Industrie-und Bergbauanlagen und starker Bevölkerungszuwanderung und Binnenkolonisation, aber auch einem bedenklichen Städteproletariat; schließlich die drei Südstaaten mit ihren von europäischen Neueinwanderern getragenen Rodungskulturen, die, wie L. Waibel gezeigt hat, einen recht verschiedenen Lebensstandard erreicht haben. Auch kleinere Staaten stellen gewöhnlich eine bunte Assoziation verschiedener Natur-, Wirtschafts-und Soziallandschaft dar — eine Differenzierung, in der gerade auch wieder große Möglichkeiten für eine Zukunftsentwicklung schlummern können.
/Daher ist vor G e s a m t u r t e i 1 e n , die aus mittleren Werten der Statistik gewonnen sind, ganz entschieden zu warnen. Was dem physischen Geographen völlig geläufig ist, daß Jahresmittelwerte der Klimatologie für die Ökologie von Pflanze, Tier und Mensch sehr wenig aussagen, muß sinngemäß auch bei soziologisch-wirtschaftlichen Urteilen beherzigt werden. Darauf hat übrigens bereits E. Wage-mannin seinem „Narrenspiegel der Statistik“ mit aller Deutlichkeit hingewiesen. Er hat gezeigt, daß die Errechnung von Mittelwerten dreier Ländergruppen, solcher mit beginnender, mit fortschreitender und vollzogener Industrialisierung, wie sie Karl Lange vorgenommen hatte, um zu beweisen, daß die fortsdireitende Industrialisierung eine immer stärkere Steigerung der Außenhandelskopfquote herbeiführt, zu irrigen Ergebnissen führen kann.
Gerade auch die einseitige Beurteilung der Entwicklungsprobleme der Länder nach dem Grade der Industrialisierung ist nicht un-bedenklich. Es gab und gibt blühende Agrarwirtschaften in Neuländern, deren Industrie sich vorwiegend auf Aufbereitung von agraren Rohstoffen für die Ausfuhr beschränkt, bei denen man besser vom Grade der Technisierung sprechen sollte. Audi Länder alter Kultur, und zwar noch durdiaus lebendiger Hochkultur, können ausgesprochen agrarischen Charakter haben. Das Herzland von Siam, die Mündungsebene des Menam, eine fruchtbare Reisbaulandschaft ohne die Gefahr von Dürre-zeiten, von Taifunen und ohne Erdbeben-oder Vulkankatastrophen, ist ein von der Natur gesegnetes Land mit einer alten, von der buddhistischen Religion und Philosophie getragenen Kultur. Noch heute pflegt ein ansehnlicher Teil der jungen Männer, einschließlich ihres Königs, sich zeitweise in die klösterliche Stille zurückzuziehen und sich im Anblick prunkvoller wohlgepflegter Tempel der religiösen Vertiefung hinzugeben. Trotzdem zählt man das Land nach den materiellen Maßen zu den Entwicklungsländern. Denn der weitere Ausbau der Wirtschaft, die Neulanderschließung, die Wasserbeherrschung für die Steigerung der Reiserträge, die Verbesserung des Verkehrs werden heute mit den Mitteln der Technik durch Staudämme, Kanäle und Wasserkraftwerke vorwärts getrieben. Allerdings ist Zentralsiam ein ganz besonders glücklicher Fall.
Zur allgemeinen Charakteristik von Entwicklungsländern pflegt man eine Serie von statischen Werten zusammenzustellen: Geringes Realeinkommen pro Kopf der Bevölkerung und infolgedessen geringe Kapitalbildung; hoher Anteil der in der Landwirtschaft beschäftigten Bevölkerung und der Familienwirtschaften ohne technische Ausrüstung; starkes Überwiegen des Selbstversorgungssektors der Landwirtschaft (subsistance economy) gegenüber dem marktwirtschaftlichen Sektor (money economy), wobei allerdings eine Fehlerquelle in der schweren Abschätzbarkeit des Selbstversorgungssektors liegt; geringe Verstädterung, gemessen an dem Anteil der Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung; eine starke Vermehrung der Bevölkerung infolge einer noch hohen Geburtsrate und starker Verminderung der Sterberate, die in Afrika und Südasien durch die Sanierung und Befriedung in der Zeit der europäischen Kolonisation erzielt wurde. Dafür ein Beispiel: Die Bevölkerung Indiens und Pakistans ist in der Zeit seit 1900 von 285 Millionen auf 500 Millionen angewachsen, wobei sich die Geburtsrate wenig verändert, die Sterberate aber von 3 8 auf 14 Promille vermindert hat.
Es kann aber nicht genügend unterstrichen werden, welche gegensätzlichen Natur-, Wirtschaftsund Sozialräume in den Begriff Entwicklungsländer zusammengefaßt werden: Äquatoriale Regenwaldländer, Savannen und Steppen, oasendurchsetzte Wüsten, tropische Hochländer und subtropische Gebirge; verschiedenartigste Völker, Kulturen, Religionen und Sozialordnungen, menschenleere und übervölkerte Räume, Völker alter Hochkultur und Naturvölker, deren animistische Vorstellungswelt heute übergangslos mit dem Flugzeug, dem Goldbagger und dem Fernsehschirm konfrontiert wird.
4 Erfolgreiche Landesentwicklungen in der Vergangenheit
Peter Th. Bauer hat im Angesicht dieser Tatsachen die Frage aufgeworfen, ob bei so tiefwurzelnden Gegensätzen die Wirtschaftstheorien, die in den Ländern der Industrie, der Geld-und Individualwirtschaft entwickelt wurden, überhaupt anwendbar sind. Er bejaht die Frage, macht aber auf manche Besonderheiten aufmerksam, die zu Fehlschlüssen führen können und geführt haben. Hieraus folgt die Lehre, Entwicklungsfragen nicht auf Grund deduktiver Vorstellungsbilder, sondern in der vielfältigen Abwandlung der sozialgeographischen Erfahrung induktiv zu beurteilen.
Ein Beispiel solcher Deduktionen ist die L e h r e vom „Zirkel der Armut und Stagnation", ein anderes die von der Zerstörung der Bodenkräfte durch die Vermehrung der Bevölkerung. Beide Lehren sind ein Ausfluß des pessimistischen Zeitgeistes, den W. Sieburg einmal die „Lust am Untergang“ genannt hat. Beide Lehren sind irrig, jedenfalls nicht allgemein gültig. Der Zirkel von Armut und Stagnation soll heißen: geringes Durchschnittseinkommen und wachsende Bevölkerung ermöglichen keine Ersparnisse und keine Kapitalbildung, verhindern daher die Arbeitsteilung, auch die Nachfrage nach Investitionen. Die Folge sei ein weiteres Absinken der Durchschnittseinkünfte usw. nach dem Prinzip der Selbstverstärkung.
Aber diese Konstruktion einer Art isolierten Staates eines unentwickelten Landes begeht den Fehler, daß sie eine starke Bevölkerungszunahme voraussetzt, die bereits die Folge des Kontaktes mit der technisierten Welt darstellt. Ist das aber der Fall, dann hat dieser Kontakt auch bereits Wirkungen wirtschaftlicher Art. In allen der Weltwirtschaft geöffneten Gebieten sind in den letzten 100 Jahren durch die Aktivierung des Kapitals doch bedeutende landwirtschaftliche und bergbauliche Entwicklungen eingeleitet worden. Schon die Kenntnis höherer Wirtschaftsentwicklung hat den Anreiz zu verstärkter Betätigung gegeben. Meist haben, sich neben den bodenständigen Selbstversorgungswirtschaften durch den Aufbau von Plantagen, europäischen Pflanzungen und Farmen und Bergbaubetrieben mit ausländischem Kapital höhere Betriebsformen entwickelt, die schon durch die Arbeiteranwerbung die bodenständige Bevölkerung mit der Welterzeugung in Verbindung brachten („dual economy“).
Die sozialen Folgen der Großplantagenwirtschaft und des Bergbaues, die beträchtliche Wanderarbeiterströme auslösten, waren allerdings bedenklich. Deshalb hat sich in vielen Plantagengebieten eine Auflockerung oder Umstellung der Großpflanzungen auf Pacht-siedler oder auch selbständige Pflanzersiedlungen angebahnt und nur die fabrikmäßige Aufbereitung (Sisal, Zucker, Kautschuk etc.) ist zentralisiert geblieben. Dazu gehört auch die Ansiedlung der Bergarbeiter mit ihren Familien im Minengebiet von Katanga oder die genossenschaftliche Ansiedlung von Bauern auf neugewonnenem Bewässerungsland durch Syndikate und Regierungen („triple partnership“), etwa im Sudan oder am mittleren Niger.
Als viel wertvoller und zukunftsweisender aber hat es sich erwiesen, die auf Selbstversorgung eingestellten Kleinbauern, etwa des tropischen Afrikas, zur zusätzlichen Erzeugung von Weltmarktprodukten'anzuregen, was durch Kolonialverwaltungen und Missionen zum Teil schon frühzeitig geschehen ist (Volkskultur, Eingeborenen-kultur). So werden heute die großen Mengen von Kakao, Erdnüssen, Baumwolle, Palmöl und Kaffee in Westafrika, Uganda und Tangajika seit langem in Volkskulturen erzeugt. In die asiatischen Plantagen-und Bergbauländer, besonders nach Malaya, Ceylon, Sumatra und Siam sind große Scharen von Kontraktarbeitern aus Südchina, aus Indien und Java geströmt, die z. T.seßhaft wurden und durch Übernahme des Landbaues auf Pacht-oder Eigenland an den Erträgnissen der Weltwirtschaft partizipieren. Malaya, um die Jahrhundertwende noch ein dünnbevölkertes und verseuchtes Urwaldland mit Selbstversorgungswirtschaft, ist durch den Aufbau der Kautschukwirtschaft und gleichzeitig des Zinnbergbaues zu einem erstaunlichen Wohlstand seiner auf fast 7 Millionen angewachsenen Bevölkerung gelangt, von der 50 V» eingesessene Maiayen, 40 °/o zugewanderte Chinesen, der Rest Inder und Pakistaner sind. Das Land liefert ein Drittel der Welterzeugung an Kautschuk, wovon bereits 40 °/0 von Kleinpflanzern gewonnen werden. Kein Wunder, daß Malaya eine Steigerung des Durchschnittseinkommens der Bevölkerung erreicht hat, die es heute kaum mehr rechtfertigt, es zu den Entwicklungsländern zu zählen.
Das Aufblühen einer Wirtschaft in junger Zeit ohne jede Bevölkerungszuwanderung und ohne wesentliche Kapitalhilfe von außen bietet Kolumbien. Im Departamento Antiochia in der kolumbischen Zentralkordillere, dessen Kernlandschaft in der gesunden Höhenlage der Tierra templada gelegen ist, hat seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts eine enorm starke Vermehrung der Bevölkerung stattgefunden. Sie führte zu einer großartigen Binnenkolonisation, nämlich zur Ansiedlung selbständiger Kolonisten in den früher unberührten Bergwäldern im Süden, in den Departamentos von Tolima, Caldas und Valle de Cauca. Die Bevölkerung stieg von 46 500 i. J. 1778 auf 2, 5 Millionen i. J. 1938. Seit 1880 ist diese Kolonisation auf ein Weltmarkterzeugnis, nämlich Kaffee, ausgerichtet, dessen Kultur hier für Kolumbien ihren Schwerpunkt gefunden hat. Und als dieser Siedlungsvorgang abgeschlossen war, folgte im Kern des Gebietes, im Hochtal von Medellin und Caldas, wo eine stärkere Bevölkerungsdichte mit größeren Städten entstanden war, innerhalb eines Jahrzehnts der Aufbau einer blühenden Industrie, vorwiegend Textilindustrie, die den weiteren Bevölkerungszuwachs auffangen konnte und heute das zweite Zentrum der Textilindustrie in Südamerika geworden ist. Hier vollzog sich also in recht kurzer Zeit eine Entwicklung, die der älteren in mitteleuropäischen Gebirgen nicht unähnlich ist (Rodungskolonisation — Industrialisierung). Wer möchte da noch von einem unentrinnbaren Zirkel von Armut und Stagnation sprechen!
5. Ethnisch-sozialer Pluralismus in den Entwicklungsländern
Eine sehr wesentliche Erscheinung vieler Entwicklungsländer, seien es noch im kolonialen Verhältnis stehende oder früher oder später selbständig gewordene, ist der „ethnische Pluralismus“, der sich aus der Arbeitsteilung zwischen Menschen verschiedener Herkunft, Rasse, Sprache, Religion, auch in beruflicher Hinsicht ergeben hat. Neben der bodenständigen, landwirtschaftlichen Bevölkerung und den in der Verwaltung, der technischen Wirtschaft, im Plantagenbau oder in Pflanzungssiedlungen und Farmen tätigen Einwanderern aus den Industrieländern gibt es dort gewöhnlich eine Zwischenschicht von Ein-w anderem aus asiatischen Ländern, die vorwiegend im Kleinhandel und als Angestellte in der Verwaltung und Wirtschaft tätig sind, gelegentlich sind es auch Fischer oder Träger anderer Berufe. Sie nehmen eine soziale Mittelstellung zwischen den Europäern und den Eingeborenen ein. Ich habe sie koloniale Zwischenwanderer genannt, von soziologischer Seite ist der Begriff der „Marigi-nalschichten" geprägt worden. Ein Teil von ihnen ist aus Wanderarbeitern für die Plantagenkulturen oder angeworbenen Arbeitern für Eisen-bahnbauten oder Bergwerke hervorgegangen, die seßhaft wurden und sich besonderen Berufen zuwandtn. Dabei spielt der Kleinhandel, der weder von der bodenständigen Bevölkerung, noch von den Europäern höheren Lebensstandards übernommen werden konnte und für den gerade asiatische Völker eine besondere Eignung mitbringen, eine besondere Rolle. Schon in der vorkolonialen Zeit haben sich solche Berufs-und Völkerschichtungen ergeben, z. B. durch die Haussa-Händler in Westafrika, die Araber im Ostsudan und in Ostafrika, die Chinesen in Südostasien. Beispielsweise aus der kolonialen Periode sind die Inder und die Goanesen in Ostafrika, die Syrer und Libanesen in Westafrika und Lateinamerika, die Chinesen in Indonesien, die Kapmalayen in Kapstadt, die Inder, Javaner und Annamiten im Karibischen Raum und auf Pazifischen Inseln (Neukaledonien, Fidschi). Sie sind also Bevölkerungselemente eigener Rasse, eigener Sprache, eigener Religion, besonderer Berufszugehörigkeit und bewohnen auch in den Städten eigene
Quartiere mit besonderer Bauweise neben Quartieren der bodenständigen Bevölkerung und der Europäer. Ähnlich wie die weiße Oberschicht sind sie ein stark fluktuierendes Element, d. h. als Gruppe stetig, als Individuen Rückwanderer, wofür das Studium ihres Bevölkerungsaufbaues an Hand der Burgdörfer’schen Bevölkerungspyramiden einen guten Maßstab abgibt. Sie zeigen allgemein einen geringen Frauenanteil und fast völliges Fehlen der unverheirateten Frauen, einen Ausfall der jugendlichen Altersklassen beiderlei Geschlechts mit einem Tiefpunkt um 15 Jahren — eine Tatsache, die sich aus dem ganz verschiedenen Altersaufbau der im Lande geborenen und der aus den Mutterländern zuwandernden Jahrgänge ergibt. Viel normaler ist demgegenüber der Geschlechts-und Altersaufbau der Mischrassen, wie der Indos in Indonesien, der Europans in Indien und der bunten Mischrassen der portugiesischen Kolonien in Afrika.
6. Kultur und Umwelt als Fragestellung der Geographie
So zeigt schon die Struktur der Bevölkerung, noch mehr die soziale Struktur in all diesen Ländern ein äußerst komplexes Bild, eine Differenzierung der gesamten menschlichen Aktivität, deren Verständnis letztlich nur aus der Zusammenschau der natürlichen, rassischen, ethnischen, demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse und diese nur auf der Grundlage der geschichtlichen Entwicklung gewonnen werden kann. Die deutsche Geographie hat zur Kenntnis dieser Verhältnisse in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen beträchtliches beigetragen. In Frankreich und Deutschland war für solche Forschungen der Begriff der Kolonialgeographie gebräuchlich, der den Zeit-verhältnissen entsprechend heute nur als ein Teilgebiet einer allgemeinen Sozialgeographie gelten kann. Sie ist auch die Grundlage für die staatenkundlich-politische Charakterisierung der betreffenden Länder.
Die außerhalb meines Faches noch immer verbreitete Vorstellung, daß die Geographie nur den natürlichen Schauplatz oder die Bühne zu beschreiben habe, auf der sich das geschichtliche und gesellschaftliche Geschehen abspiele, ist durch die weltweite Tätigkeit einer ganzen Forschergeneration der Kultur-, Sozial-und Wirtschaftsgeographie längst überholt. Der Geographie fällt die regionale Behandlung dieser Fragen schon deshalb zu, weil sie allein auch die Erscheinung der menschlichen Aktivität in ihrer Auseinandersetzung mit der ebenso differenzierten natürlichen Umwelt untersucht. Die Frage Kultur und Umwelt hat schon frühzeitig unter allgemeinen Gesichtspunkten die Geister beschäftigt, seit Herodot und Hippokrates und wieder erneut seit Joh. G. Herder. ArnoldToynb e e hat das Problem auf die kurze Formel von „Challenge and Re-sponse“ gebracht. Er wendet sich mit vollem Recht gegen die Milieu-
theorie Montesquieus und Taines und lehnt mit gleicher Berechtigung jeden Biologismus ab, der sich im Gefolge der Entwicklungslehre Ch. Darwins in die Soziologie und z. T. auch in die Anthro-pogeographie F. Ratzels eingeschlichen hatte. Bei seinen Auffassungen über das Verhältnis der sich wandelnden Natur zu dem Entstehen und Vergehen der Kulturen geht er vielfach geistreich auch an die geographische Fragestellung heran. Leider aber hat er, wie M. Schwindt hervorhebt, kaum Kenntnis von der geographischen Kulturlandschaftsforschung gehabt. Gerade von der sich wandelnden Kulturlandschaft aus führt auch ein wichtiger Erkenntnisweg zum Verständnis der Geschichte. Toynbee’s Darstellung steht vielfach dem von der Geographie längst überwundenen Determinismus oder Environmentalismus noch näher, als man gerade von einem Kulturhistoriker erwarten möchte.
7. Kulturkreise oder Kulturreiche
Es würde ein umfangreiches Werk füllen, wollte man die kultur-geographische Differenzierung der weiten Erdräume, die man heute mit dem Begriff „Entwicklungsländer“ zusammenfaßt, systematisch vornehmen. Bei derart umfassender Fragestellung können wir nicht induktiv vom Einzelbeispiel, sondern nur vergleichend von den großen Raumeinheiten ausgehen, von den großen Kulturreichen und Kulturkreisen. Dabei spielen die Kontinente mit ihren durch Küsten und Landengen bestimmten Grenzen nur eine untergeordnete Rolle.
Wir sprechen von Lateinamerika und Angloamerika und nicht von Nord-und Südamerika, weil die hispano-amerikanische Kultur von Chile und Argentinien bis zur Nordgrenze Mexikos sehr wesentliche gemeinsame Züge aufweist. Afrika ist alles andere als eine kulturelle Einheit. Es ist ein Erdteil, der sich aus drei Kulturkreisen zusammensetzt. Nordafrika, einschließlich der Sahara, gehört zum orientalischen Kulturkreis, der von Marokko bis Westpakistan seine wesentlichen Merkmale beibehält. Dort beginnt der indische Kulturkreis, der von seinem Kernland Indien aus sich auch in Hinterindien und Indonesien entscheidend durchgesetzt hat. Südlich der Sahara liegt Neger-oder Schwarz-afrika, das im Süden vom kleineren südafrikanischen Kulturkreis abgelöst wird. Es gibt keine allgemeinen gültigen afrikanischen Probleme, wohl aber Probleme des Nahen und Mittleren Orients, Probleme Schwarzafrikas und solche Südafrikas.
Es war das Verdienst von H. Schmitthenner, daß er die einzelnen Kulturkreise in ihrer Dynamik, d. h. nach den verschieden weitreichenden realen und virtuellen Ausstrahlungen der Kulturen zu schauen gelehrt hat. Die Kulturkreise gehen natürlich nicht an scharfen Grenzen ineinander über. So bildet der Sudan eine Über-gangs-und Interferenzzone zwischen dem Orient und Negerafrika, durch die nach Süden abklingende Überlagerung orientalischer Hirten-völker über afrikanische Bauernvölker. Es ist erstaunlich, wie ähnlich sich die Abstufung von Klima, Boden, Vegetation, Anbau, Viehzucht und die soziale Gliederung der Bevölkerung in der 6000 km langen Zone von Senegambien bis Äthiopien vollzieht, so ähnlich, daß die Mekkapilger des Sudan auf ihrer transkontinentalen Wanderung zum Roten Meer sich immer in derselben, ihnen vertrauten Kulturlandschaft bewegen können. Das äthiopische Hochland, in der Fortsetzung des Sudan gelegen, zeigt gleichfalls diesen Übergang von der orientalischen zur innerafrikanischen Kultur, allerdings in einer interessanten „Gebirgsfazies".
Der junge Staat Pakistan wiederum ist der kuriose Fall eines disjunkten Staatskörpers, mit seinen beiden Teilen Ost-und Westpakistan in zwei gegensätzlichen Naturräumen und in getrennten Kulturkreisen gelegen, weil bei seiner Gründung nicht Lage, Landesnatur, Wirtschaft, Sozialstruktur oder Sprache, sondern ausschließlich die Religionszugehörigkeit entscheidend war.
Somit gehören die hier zu betrachtenden Entwicklungsländer, wenn wir von den Inseln Ozeaniens absehen, zuvierKulturreichen : Lateinamerika, Negerafrika, Orient und Indischer (südasiatischer) Kulturkreis.
8. Die lateinamerikanische Welt
Lateinamerika, die große Familie der amerikanischen Demokratien spanischer und portugiesischer Zunge, ist bei aller Differenzierung im einzelnen geeint durch die gemeinsame Geschichte, die christliche Kultur und die Staatssprachen. Die Geschichte zerfällt in die drei Epochen der vorkolumbianischen Zeit, der Zeit der iberischen Kolonisation und der unabhängigen Staaten.
Der Antikolonialismus hat in den seit der Independencia verstrichenen 150 Jahren seine Schärfe verloren, er wird heute allerdings durch eine Gegnerschaft gegen das Neue Abendland, das hochtechnisierte und kapitalisierte Angloamerika, von dem man sich wirtschaftlich und politisch umklammert fühlt und dessen rationalistische Grundhaltung dem Lateinamerikaner fremd ist, ersetzt — eine Gegnerschaft, die aber wiederum durch das panamerikanische Bewußtsein gedämpft wird. Auch die Vorkehrung der eigenständigen Züge der lateinamerikanischen Kultur im Criollismus wird bald stärker bald schwächer in Schach gehalten durch den Iberismus, das Gefühl der Verbundenheit mit der Madre-patria in Spanien oder Portugal.
Die Differenzierung Lateinamerikas nach Bevölkerung, Gesellschaft und Wirtschaft, die O. Schmieder zum Vorwurf seiner landeskundlichen Analyse gemacht hat, ist z. T. schon in den großen Unterschieden der vorkulumbischen Indianerkulturen vorgezeichnet, die alle Variationen von der Hochkultur in Peru und Mexiko bis zu Natur-völkern des tropischen Tieflandes der Pampa und Patagoniens umfaßten. In der Kolonialzeit haben die ganz verschiedenen Erschließungssysteme der Spanier, der Portugiesen und der in einem Grenzgürtel dazwischen errichteten spanischen Missionsstaaten die Differenzierung fortgeführt. Die Unabhängigkeit und der Anschluß Lateinamerikas an die liberale Weltwirtschaft im letzten Jahrhundert hat schließlich die Masseneinwanderung von Europäern, besonders Süd-und Mitteleuropäern, gebracht, die sich als Siedler, Pflanzer und Farmer in früher fast unbevölkerte Räume, in die feuchten Wälder Südbrasiliens und Südchiles und die Grasländer der La Plata-Staaten ergossen, aber auch als Arbeiter in randtropische Plantagengebiete (wie Säo Paulo und Kuba) und in Industriestädte. Die weißen Siedlungsländer an La Plata, ferner Chile, Südbrasilien, Säo Paulo und Rio wird man heute nach ihrem wirtschaftlichen Entwicklungsstand und dem durchschnittlichen Lebensstandard ihrer Bewohner kaum mehr zu den Entwicklungsländern im eigentlichen Sinne rechnen können, wenn dort auch vielfach noch scharfe soziale Gegensätze, besonders auf Grund der aus der Kolonialzeit ererbten — feudalen Besitzverhältnisse bestehen.
9. Tropisches Afrika
Viel unvermittelter hat sich der soziale und politische Wandel im tropischen Afrika vollzogen. Das Entdeckungszeitalter hatte das Innere dieses Kontinents nicht erfaßt. Man bedenke, daß der Kilimandscharo erst 1848 entdeckt und die großen Stromprobleme des Innern erst in der Folgezeit aufgehellt wurden. Die Ansätze von fruchtbarer Kolonisierung und Missionierung in küstennahen Gebieten durch die Portugiesen in der kolonialen Frühzeit, z. B. im christlichen Königreich Kongo an der Guineaküste, hatten keinen Bestand. Das tropische Afrika wurde für drei traurige Jahrhunderte zu einem Jagdgebiet für menschliches Wild, für die Negersklaven, die man zum Aufbau der Plantagen-und Bergbauwirtschaft in die Neue Welt verschleppte. An dieser für unsere heutige Denkweise kaum mehr vorstellbaren unmenschlichen Ausbeutung trägt die Schuld aber nicht eine einzelne Gruppe, sie war zeitbedingt. Die Jagden auf das schwarze Elfenbein wurden im östlichen äquatorialen Afrika schon lange vor der Entdek-kung des Seeweges nach Indien von den arabischen Händlern, in Westafrika von den eingeborenen Händlerschichten und lokalen Herrschern betrieben. Aber die europäischen Kolonialvölker, die den transozeanischen Handel in Händen hatten, wurden dann die wichtigsten Abnehmer dieses damals größten Exportartikels Afrikas. Daß schließlich die Europäer die Träger der Antisklavereibewegung wurden und in Ostafrika für die Unterbindung des Sklavenhandels und der Sklaverei schwere Kämpfe zu bestehen hatten, hat diese Kollektivschuld nur teilweise wiedergutgemacht.
Der afrikanische Kolonialismus, der zum Ausgang der heutigen Situation geworden ist, setzt im wesentlichen in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts mit der politischen Besitzergreifung Innerafrikas ein. In einem Land, das von der Wüste bis zum Regenwald und in Ostafrika auch in kühle Hochwälder reicht, waren schon von Natur aus ganz verschiedene Bedingungen gegeben. Dazu kamen sehr unterschiedliche, schon im Laufe der voreuropäischen Geschichte entstandene soziale Strukturen. Der Ackerbau, im tropischen Afrika mit Ausnahme des äthiopischen Hochlandes lediglich als Hackbau ausgebildet, fehlte in den ganz trockenen Gebieten, die Viehzucht in der von der Tsetse-Seuche geplagten feuchten Äquatorialzone. In den trockenen und tsetse-freien Grasländern dazwischen wurde Regenzeithackbau und Großvieh-zucht nebeneinander betrieben, aber in zwei ganz verschiedenen völkisch-sozialen Formen. Im Süden und Südosten, im Bereich der Bantu-völker, sind die Angehörigen eines Stammes und derselben Familie Feldbauern und Rindviehzüchter. Im Sudan und im ostafrikanischen Zwischenseenhochland aber teilten sich zwei ganz verschiedene Volks-gruppen in die beiden Funktionen. Die breite Schicht der bodensteten Neger sind Hackbauern, eine darüber gelagerte, meist herrschende Schicht beweglicher Reitervölker orientalischer Herkunft, besorgt die Viehzucht. Es ist die geschichtete Hackbau-Hirtenkultur R. Thurnwalds.
In diesen Gebieten der geschichteten Hackbauern-
Hirten-Kultur Westafrikas wurden seit der Islamisierung Nordafrikas vielerlei Völker verschiedener Herkunft und verschiedener Wirtschaftszweige'durcheinandergewürfelt, wobei die Hirtenvölker semitischer, hamitischer und niloto-hamitischer Volkszugehörigkeit als die Beweglicheren und Stärkeren die politische Führung an sich rissen und den Islam verbreiteten. Sie bauten aristokratische Lehensstaaten auf mit allen Abstufungen sozialer Gruppen von Sklaven über Hörige, unterworfene Lehensleute und Freie bis zu den herrschenden Sultanen, Emiren und Lamidos. So entstanden die alten Sudanreiche der Mandingo, Sonrhay, Haussa und Fulbe. Zwischen der Guineaküste und dem Sahel blühte ein starker Nord-Süd-Handel (für Gold, Kola, Baumwolle, Leder, Elfenbein etc.), allerdings seit alters auch der Sklavenhandel. Die Verarbeitung von Wolle, Baumwolle, Eisen, Leder, Holz, Elfenbein etc. brachte eine vielseitige Arbeitseinteilung mit sich. Diese stark gestaffelten Herrschaftsformen waren dann die Voraussetzung, daß bei der europäischen Besitzergreifung das System der „indirekten Herrschaft“ (indirect rule) angewandt werden konnte, klassisch entwickelt und beschrieben durch Lord Lugard in Nigerien, aber auch überall sonst eingeführt, wo die sozialen Voraussetzungen dafür bestanden, z. B. in Uganda und in Ruanda-Urundi.
Als im letzten Jahrhundert das in der Wirtschaft der Guinealänder so wichtige Palmöl für die Ernährung der wachsenden Industriebevölkerung Europas ein begehrtes Welthandelsprodukt wurde, trat an die Stelle des alten Sklavenhandels die Palmölausfuhr, am Senegal auch die Ausfuhr von Erdnüssen, beides ganz auf der Grundlage des Anbaues und der Bearbeitung durch die Eingeborenen. Der staatliche Schutz, den die Ölfirmen aus Liverpool, Hamburg, Antwerpen und Marseille für ihren Handel suchten, war dann bekanntlich die unmittelbare Veranlassung für die endgültige koloniale Besitzergreifung an dieser Küste. Auch für die weitere Entwicklung der Exportwirtschaft (Kakao, Erdnüsse, Baumvolle) war hier die von der Verwaltung oder der Mission überwachte Volkskultur der nächstliegende und billigste Weg, zumal die Arbeitsleistung der Frau im Anbau und in der Verarbeitung in der damaligen Zeit von den Bewohnern wirtschaftlich nicht gewertet wurde.
Diese Zusammenhänge sind auch für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation im tropischen Afrika von Wichtigkeit. Die genannten Gebiete der geschichteten, sozial differenzierten Kulturen haben sich als für die Selbstverwaltung reif erwiesen. Im Kongogebiet aber gab es in vorkolonialer Zeit keine höhere soziale und staatliche Organisation und die Wirtschaft war eine reine Hackbauwirtschaft ohne Vorrats-haltung und ohne Großviehzucht. Hier mußte schon die Palmölverarbeitung, z. T. sogar der Anbau, von europäischen kapitalistischen Großunternehmungen organisiert werden. Von direkter Verwaltung konnte keine Rede sein. Die direkte Verwaltung, bei der die Europäer die Organisation ganz in die Hand nahmen oder Stammeshäuptlinge nur als unterste Organe in ihr Verwaltungssystem einbauten, fand nicht nur im Kongo, sondern auch in britischen, portugiesischen, französischen und deutschen Kolonien Anwendung. Belgien hat dabei für die Kongo-kolonie ungewöhnlich viel geleistet, wissenschaftlich, technisch und sozial, was unter dem Eindruck der Tagesereignisse in der Presse viel zu wenig gewürdigt wird.
Zusätzliche Probleme liegen im tropischen Afrika in den Gebieten vor, wo es zur Kolonialzeit zu einer Landnahme größeren Stils durch die Europäer gekommen ist, also in den Gebieten der Plantagenwirtschaft und der europäischen Farm-und Pflanzungssiedlungen. Die Plantagenwirtschaft ist wohl erstmals in ihrem Wesen von dem Bonner Geographen L. Waibel erfaßt und in ihren geschichtlichen, betriebswirtschaftlichen und sozialen Aspekten charakterisiert worden, nämlich als Form „landwirtschafdich-industrieller Großbetriebe, die in der Regel unter der Leitung von Europäern bei großem Aufwand an Arbeit und Kapital hochwertige planzliche Produkte für den Markt erzeugen“. Die Plantagenwirtschaft wurde, wie schon C. Ritter gezeigt hat, von den Arabern im frühen Mittelalter in Chu-sistan erfunden und zwar für die Gewinnung von Rohrzucker auf der Grundlage der Sklaverei. Sie hielt dann ihren Siegeszug erst mit den Arabern in den westlichen Orient, dann durch die Portugiesen über Madeira nach Brasilien, weiter nach Westindien und in den Süden Nordamerikas, später auch nach Ostafrika und Südasien. Sie ist besonders typisch für Produkte, die eine großindustrielle Aufbereitung erfordern, wie Rohrzucker, Sisal und Kautschuk, ist aber in der Zeit der sozialen Aufklärung auch für viele andere Tropenprodukte angewandt worden. Ihre geographische Verbreitung fand sie wegen der Bindung an den Weltmarktabsatz fast ausschließlich in küstennahen Tropengebieten und auf Inseln, natürlich im Rahmen der sozialen und politischen Möglichkeiten, in Afrika ganz vorwiegend entlang der ostafrikanischen Küste von Natal bis Kenia und auf den „afrikanischen Gewürzinseln". Das Wanderarbeitersystem (Kulisystem), das die Sklaverei ablöste, ist aber mit der Plantagenkultur nicht notwendig verknüpft. Durch eine Teilung des Produktionsprozesses in den Anbau durch Kleinsiedler und Pächter und die Verarbeitung in industriellen Anlagen ist vielfach eine Auflockerung eingetreten.
Die europäische Pflanzungsund Farmwirtschaft dagegen, worunter wir Mittelbetriebe von Europäern, meist in Familienbesitz mit einem kleinen Stamm von Wanderarbeitern oder angesiedelten „Squattern“ verstehen, ist im tropischen Afrika vor allem auf den Hochländern des Ostens, auf dem „backbone of Africa“, mit ihrem für die Europäer geeigneten temperierten Klima eingeführt worden, also in Südrhodesien, Njassaland, Tanganjika und Kenia. Die Grundlage für diese „dual policy“ war die Vorstellung, daß die Durchsetzung des dünnbesiedelten Landes mit fortschrittlichen Europäerbetrieben ein Anstoß für die agrarische Entwicklung des Landes, auch der bodenständigen Bevölkerung, und damit ein Segen für beide Teile sei. Die britische Ormsby-Gore-Commission von 1924 sagte: „in Order to be pro-native it is not necessary to be anti-white. To be in favour of white Settlement in such portions of Africa as are climatically suttable for European homes, it is not necessary to be anti-native. East-Africa can only progress economically and socially on the basis of full and complete co-operation between all races“. Dies war zweifellos für die damalige Zeit eine gesunde Konzeption. Aber es besteht auch kein Zweifel, daß die allzu großzügige Landvergebung an Europäer im Hoch-land der britischen Kronkolonie Kenia, wo das Bauernvolk der Kikuju schon in vorkolonialer Zeit durch die kriegerischen Masai-Nomaden der Steppen in den Höhenwäldern relativ stark zusammengedrängt 'lebte, später ein Landproblem erzeugte, daß sich in der Maumau-Bewegung entlud.
In Tanganjika verfolgt die deutsche und später die Mandats-regierung eine vielseitigere und man darf wohl sagen gesündere Land-politik, derart, daß man für die Exporterzeugung auf dem landwirtschaftlichen Sektor Plantagenland in der Küstenregion, europäisches Pflanzungsund Farmland in verschiedenen Hochlandsgebieten vergab und daneben im Innern die Export-Landwirtschaft der bodenständigen Bevölkerung förderte und anregte, im ganzen also eine pluralistische Struktur erzielte. Wegen dieser differenzierten Struktur ist das Land Tanganjika gerade für die praktische Frage der heutigen Entwicklungsaufgaben im tropischen Afrika besonders lehrreich.
Hierzu eine ganz knappe, beispielhafte Analyse! Schon das Studium der sehr unterschiedlichen Bevölkerungsverteilung, wie es C 1. Gillm a n in mühevoller Arbeit durchgeführt hat, leitet auf eine Reihe wichtiger Zusammenhänge zwischen Landesnatur, Sozialstruktur und Bodenwirtschaft. Die weiten Baumsteppen des Nordens, die Masaiund Serengeti-Steppe sind nur von schweifenden Hirten bewohnt und acker-baulich wertlos. Ihnen stehen hackbau-und viehzuchttreibende Bergvölker gegenüber, die in den feuchten Wäldern der Gebirge in größter Raumnot zusammengedrängt leben und zum Teil mit intensiven Methoden der Bewässerung und Düngung auf kleinsten Parzellen Nahrung, Futter für das Vieh und dazu noch Kaffee als cash crop erzeugen. In den weiten Hochflächen des übrigen Landes aber wechseln riesige, von Laubwald überzogene, fast unbesiedelte Räume mit recht dicht bewohnten, übervölkerten Siedlungsinseln ab. Hier wäre ein großer Ansatz für die Entwicklung des Landes gegeben, worauf ich schon vor zwei Jahrzehnten hingewiesen habe. Dort betreiben die Bantuneger Hackbau und Viehzucht nebeneinander, aber derart, daß das Rindvieh in keiner Weise in der uns von der Pflugkultur bekannten Form mit dem Anbau funktionell verbunden ist. Die Rinder sind weder Arbeitstiere noch Düngerlieferanten, sie werden lediglich als Kapitalrücklage für den Tauschhandel gehalten, aber nicht als zinstragendes Kapital. Die Rind-viehzucht ist aber bekanntlich im tropischen Afrika einer sehr starken Einschränkung unterworfen, nämlich durch die Tsetse-Fliegen übertragene Seuche. Die Tsetse-Fliegen ihrerseits sind ökologisch an den schattigen Buschwald gebunden und meiden das offene Land. Die übervölkerten Siedlungsinseln des Hochlandes sind solche tsetsefreien, dem Busch abgerungene, offene, aber heute meist stark überweidete Kultur-steppen. Warum aber sind die weiten Waldgebiete dazwischen erhalten, tsetse-verseucht und unbesiedelt geblieben? Es handelt sich um Gebiete, in denen Nutzwasser in der Trockenzeit nicht zur Verfügung steht, jedenfalls nicht bei der gegenwärtigen Technik der Bantu. Schon die systematische Anlage von Regentanks würde weite Flächen besiedelbar machen. Aber mit einer technischen Wassererschließung allein wäre nicht genügend gedient. Die Bantubevölkerung müßte auch zur Individual-und Geldwirtschaft erzogen werden, was zur Folge hätte, daß sie ihre großen wirtschaftlich nutzlosen Rinderherden verringern, damit sic die Ländereien von der fortschreitenden Bodenverschlechterung schützen und ihre Ersparnisse in verzinslichen Werten anlegen könnten.
Das Beispiel dieses gut untersuchten Landes zeigt, daß bei der Entwicklungshilfe mit einer umfassenden wissenschaftlichen Kenntnis vorgegangen werden muß, unter Einschluß der ethno-sozialen und ethnopsychologischen Situation, aber auch der ganzen landschaftsökologischen Struktur, wozu die Kenntnis der Böden, des Wasserhaushalts, der Lebe-welt, der Parasitologie und der Bodennutzungsformen gehört. Daß das so oft zitierte Erdnuß-Projekt (“ ground-nuts-scheme“), der Versuch, in Tanganjika eine Exportwirtschaft großen Stils mit technischen Mitteln aus dem Boden zu stampfen, in wenigen Jahren völligen Schiffbruch erlitt, ist dafür ein schlagartiger Beweis. Das ganze Unternehmen war in Großbritannien aus rein politischen Zielsetzungen, aber ohne Rücksicht auf die wirtschaftsund sozialgeographische Situation und gegen besseren wissenschaftlichen Rat in Szene gesetzt worden. Es sollte ein einmaliges warnendes Beispiel bleiben.
10. Der orientalische Kulturkreis in Afrika und Asien
Ganz anders als im transsaharischen Afrika liegen die Verhältnisse in der Welt des Orients. Hier liegen die Geburtsstätten der ältesten Hochkulturen der Menschheit, in Ägypten, in Mesopotamien, am Indus und im Baktrerland, aber isoliert und durch weite Wüsten-und Steppenräume getrennt. Durch die koloniale Ausbreitung der Araber und die davon begleitete Islamierung wurde der Orient zur kulturellen Einheit. Seine weltwirtschaftliche Bedeutung war dann weitgehend durch die Brückenstellung zwischen Europa und den dicht bevölkerten Kulturländern Süd-und Ostasiens und dem tropischen Afrika gegeben, die der Orient für den Welthandel auszunutzen verstand. Die Karawanenrouten durch die Sahara, die arabische Weihrauchstraße, die Wege, die von den venezianischen Handelsniederlassungen ausgingen und die Seidenstraßen Zentralasiens waren die Hauptlinien dieses Verkehrs.
Die Einheit des orientalischen Kulturreiches ist durch den großen nordafrikanisch-asiatischen Trockengürtel unterstrichen. Der Orient ist als Naturraum das Reich der Wüsten und Steppen, der Strom-und Grundwasseroasen und der stärker beregneten Gebirgsinseln, dazwischen (Atlas, Libanon, Nordäthiopien, Jemen etc.), kulturgeographisch das Land der Nomaden-und Karawanenwege, der Städte und Bazare, der Fellachen und Gebirgsbauern. Die Einheit des gesamten Kulturreiches schließt wieder gleichzeitig die zweigeteilte kulturelle Infrastruktur in sich, den Gegensatz der freien Wüsten-und Steppennomaden und der seßhaften Oasenbauern, die meist nicht auf freier Scholle sitzen, sondern durch Pacht-und Schuldabhängigkeit von der städtischen Gesellschaft ausgebeutet werden („Rentenkapitalismus“). Nur in den feuchteren Gebirgen gibt es auch Gemeinschaften demokratisch-organisierter Stämme und freie Bauern („Kabyleien" nach Bobek), darunter auch größere christliche Gemeinschaften, wie im Libanon und in Abessinien. In den Bazaren, im Austausch der Produkte der Bauern und Nomaden wurde der orientalische Handelsgeist geboren. Der Kaufmann verband sich mit den erobernden Reiterscharen und den islamischen Glaubens-boten und in dieser Dreiheit militärischer, kommerzieller und religiöser Zielsetzung wurde der ganze Trockengürtel orientalisiert. Der Islam ist nicht, wie man einmal gesagt hat, eine Religion der Wüste, er hat sich nur, vom Nomadentum getragen, bis an die Grenze der dafür geeigneten Landesnatur ausgebreitet. Die Natur hat nicht die Kultur und die Religion, sondern nur die Grenzen ihrer Ausbreitung determiniert. Nach überseeischen Gebieten haben sowohl der Islam wie das orientalische Händlertum noch viel weiter ausgegriffen.
Im letzten Jahrhundert sind Teile des Orients unter fremde Herrschaft gekommen, in Nordafrika unter französische, italienische und britische, in Zentralasien unter russische, wobei in den Randgebieten auch Siedlungsland in Besitz genommen wurde (Atlasländer, Eybien, Turkestan). Die Kernländer blieben politisch unabhängig. Aber gerade in diesen Ländern herrschen noch schwierige soziale Verhältnisse, die einer Entwicklung im Wege stehen, ein Gegensatz der reichen, meist in den Städten wohnenden Grundbesitzer und der an der Grenze des Existenzminimums lebenden Bauern. Auch die freien Nomaden haben heute einen schweren Stand. Sie waren einst die Träger des Karawanen-handels und haben im Zeitalter des Kraftwagens und des Flugzeugs diese Lebensgrundlage eingebüßt. So ist in den orientalischen Ländern allgemein das durchschnittliche Lebensniveau niedrig und der soziale Status unbefriedigend. Noch nicht einmal in den ölreichen Fürstenstaaten des mittleren Ostens haben die hohen Einnahmen aus der Öl-wirtschaft die soziale Lage der Bewohner grundsätzlich geändert. Ein geradezu kurioses Beispiel ist dafür das Sultanat El Qatar am Persischen Golf. Der winzige Staat hatte bei einer Bevölkerung von nur 30 000 Menschen 1956 vom Ölexport eine Einnahme von 42 Millionen Dollar und damit das höchste pro-Kopf-Sozialprodukt der Welt. Trotzdem lebt die Bevölkerung auf einem durchaus niedrigen Lebensstandard.
Noch müssen die orientalischen Länder von Marokko bis Pakistan, auch die Länder uralter Hochkultur, wie Ägypten, Irak und Iran, nach dem Kriterium ihres technischen und sozialen Zustandes als Entwicklungsländer gelten. Nur der kleine Staat Israel an der zentralsten Stelle des ganzen Raumes und wie Ägypten in Rückenlage zwischen den beiden Meeren gelegen, macht davon eine bemerkenswerte Ausnahme. Aber hier handelt es sich um eine ganz junge künstliche Staatenbildung, unter Zuwanderung jüdischer Menschen aus vielen Teilen der Welt, besonders auch jüdischer Fachleute und jüdischen Kapitals aus den abendländischen Industrieländern. Mit neuen Methoden der genossenschaftlichen Siedlung, moderner Agrartechnik und Industrialisierung ist hier ein kleines Land hoher Wirtschaftsleistung und gesunder Sozialstruktur entstanden. Das Land scheint aber nicht berufen zu sein, Keimzelle für eine auf die Nachbarländer ausgreifende Entwicklung zu werden. Es muß vorläufig in völliger wirtschaftlicher Trennung von diesen Ländern und in gefährlicher politischer Spannung wie eine Insel im orientalischen Kulturgebiet seine Stellung behaupten — auf Grund einer Ideologie, die einer vernunftmäßigen Lösung zum Wohle beider Teile leider entgegensteht.
11. Indischer Kulturkreis
Zum Abschluß wollen wir noch einen Blick in den indischen Kulturkreis werfen, jenen in Inseln und Halbinseln aufgelösten tropischen Großraum am Südrande Asiens, der von einer üppigen Natur begünstigt und mit großem Volksreichtum gesegnet ist. Allein im Mutterlande der Hochkultur im indischen Subkontinent wohnen fast 400 Millionen Menschen, mehr als in den übrigen Tropen zusammengenommen. Es wäre vermessen, mit wenigen Sätzen eine kulturelle Charakterisierung Indiens versuchen zu wollen. I n d i e n ist neben dem Vorderen Orient die zweite Wiege der Weltreligionen, des Brahmanismus, des Buddhismus und Hinduismus. Seine Bevölkerung ist im Gefolge jahrtausendelanger Wanderungen und Überschichtungen, besonders vom orientalischen Raum her, zu einem blutsmäßig, völkisch, sprachlich und religiös höchst bunten Konglomerat geworden, in dem sich aber zwischen den Brennpunkten höchster Kulturentfaltung und jahrtausende-alter handwerklicher und kunstgewerblicher Kultur selbst heute noch Reste sehr zurückgebliebener Naturvölker erhalten haben. Wer sich einen ersten Überblick über die kulturhistorische Entwicklung und die soziale und wirtschaftliche Gliederung dieses Subkontinents verschaffen will, kann heute zu dem von E. Lehmann in Leipzig herausgegebenen historisch-geographischen Kartenwerk „Indien" greifen, in dem auch der moderne Stand der Sozialstruktur für die Stichjahre 1901, 1931 und 1951 zur Darstellung gebracht ist: Verteilung der Bevölkerung, der Religion und Sprache, des Kastenwesens, der Land-und Stadtbewohner, der Berufsstände, Analphabeten, der Kindersterblichkeit usw., alles Tatsachen, die für die Beurteilung der Entwicklungsprobleme im Ganzen und in Teilen unentbehrlich sind. Aber mit dem Überblick vom „Grünen Tisch“ und mit der isolierten statistischen Erfassung der Erscheinungen ist es nicht getan. Für die sozial-und wirtschaftsgeographische Beurteilung gilt es wieder, das ganze Geflecht funktionaler Zusammenhänge zu entwirren, das zwischen der Volkszugehörigkeit und dem Bevölkerungsaufbau, der Sprache und der Religion, dem Besitzstand, der Berufszugehörigkeit und der Kastengliederung, den Konsumgewohnheiten und dem geistigen Bildungsstand besteht und das in Indien gegenüber dem islamischen Orient durch das Kastenwesen besonders kompliziert ist.
Ein letztes Teilgebiet, das wir auf Grund neuer sozialgeographischer Arbeiten (F. Bartz, A. Sievers) beispielhaft in Augenschein nehmen wollen, ist der äußerste Süden, die Insel Ceylon, heute ein selbständiger Staat im Rahmen des Commonwealth, und die dicht bevölkerte Malabar-Küste im Staate Kerala, der in jüngster Zeit durch die vorübergehende Herrschaft des Kommunismus gerade in einem stark christlich geprägten Lande eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Ceylon, eine Insel von der Größe Irlands, mit einer Bevölkerung von nahezu 9 Millionen Menschen stellt ein äußerst kompliziertes völkischreligiöses Mosaik dar.
Der Grundstock der Bevölkerung und das herrschende Volk mit etwa 5 1/2 Millionen Menschen sind Singhalesen, die in zwei Gruppen zerfallen. Die Singhalesen des inneren Berglandes haben sich jahrhundertelang gegen die Kolonialeinflüsse behaupten können. Die Tieflands-Singhalesen wohnen im stark beregneten Flachland im Südwesten der Insel, dem Garten Ceylons. Im allgemeinen sind die Singhalesen Buddhisten und pflegen daher starke Beziehungen nach Hinterindien.
In den Küstengebieten Ceylons entstand im Laufe der kolonialen Geschichte ein buntes Gemisch von Rassen, Völkern, Sprachen und Religionen. Auf alte Einwanderungen von Südindien über die Adams-brücke geht die Bevölkerung der trockenen Nordhalbinsel Jaffna zurück. Die Jaffna-Familien sind meist Bauern und Gärtner von hinduistischer Religion. Nachkommen der arabischen Mischlinge und Mohammedaner sind die sogenannten Ceylon Moors oder Mauren, eine halbe Million an Zahl, meist Händler oder Fischer, in den Küstenstrichen. Als Burghers gelten die Nachkommen der Mischlinge von Portugiesen und Holländern mit der ceylonesischen Bevölkerung, die in den Städten wohnen, wobei die portugiesischen Burghers meist Handwerker, die holländischen Burghers, die englisch sprechen und evangelische Christen sind, in der britischen Zeit leitende Stellungen einnahmen. Aus der holländischen Zeit stammen auch noch die 30 000 M a 1 a y e n , die wie die Kap-Malayen von Südafrika Mohammedaner sind.
Die portugiesisch-christ-katholische Mission des 16. und 17. Jahrhunderts hatte unter den Singhalesen der Westküste und den Tamilen der Jaffna-Halbinsel beträchtliche Erfolge, allerdings nur unter den niederen Kasten der Karava und Karaiya, die arme Fischer sind. Ein ausgedehnter Küstenstrich, in dem die Mehrzahl der 700 000 katholischen Christen Ceylons lebt, bietet das Bild einer durchaus christlichen Kulturlandschaft. Das Kastenwesen, das Ceylon mit dem indischen Festland gemein hat, spielt nicht nur bei den Tamilen, sondern auch bei den Buddhisten eine große Rolle. Das Töten von Tieren, auch die Fischerei ist dabei den niedrigsten Kasten überlassen, die daher empfänglich für das Christentum waren, viel stärker als die höhere Kaste der Reisbauern, die Buddhisten blieben, während die aus der Fischerkaste hervorgegangenen Kleingärtner des Küstenhinterlandes wieder weitgehend Christen wurden und daher auch als einzige im Lande Schweine halten und Schweinefleisch genießen.
Ganz anders das innere Bergland. Dieses Gebiet ist erst in der Zeit der britischen Kolonisation im letzten Jahrhundert für die Exportwirtschaft erschlossen worden, und zwar als blühendes Plantagenland heute besonders für den berühmten Ceylon-Tee im Gebirge und für Kautschuk in den tieferen Lagen. Da sich die bodenständigen Singhalesen nicht als Plantagenarbeiter anboten, hat man tamilische Kulis aus Südindien angeworben, die großenteils seßhaft wurden. Diese Plantagenarbeiter sind nur ein kleiner Zweig der gewaltigen Wanderarbeiterströme, die sich mit dem Aufbau des kolonialen Plantagen-systems in Südostasien von den dichtbevölkerten Ländern Südchina, Indien und Java in die dünnbevölkerten Länder Sumatra, Malaya und Ceylon ergossen haben. Auf diese Arbeitskräfte gründet sich zu aller-erst der große Reichtum dieser Plantagenländer gegenüber den afrikanischen und amerikanischen Tropen. Aber diesen hinduistischen „Indian Tamils“, die heute einen großen Prozentsatz der Bevölkerung des zentralen Berglandes ausmachen, wird im Gegensatz zu den alteingewanderten Jaffna-Tamilen von dem herrschenden Volk der Singhalesen aus einer völkisch-sozialen Ideologie heraus das Bürgerrecht verwehrt. Auch ihre Nachwanderung wurde mit der Verselbständigung Ceylons unterbunden. Im Freien Staate Ceylon sind sie eine Quelle starker innerer Spannungen, die Gefahren in sich bergen.
Das Zentrum des festländisch-i ndischenChristentums mit 3, 2 Millionen Gläubigen ist das alte Reich Kerala, aus der britischen Zeit als Doppelprovinz Cochin-Travancore bekannt, an der südlichen Malabarküste in einem fruchtbaren, für den Seeverkehr aufgeschlossenen Tiefland gelegen, von der Natur reich gesegnet und vom Menschen in ein blühendes Feuchttropenland mit Reisfeldern, Palmhainen und Gewürzgärten mit Pfeffer, Zimt und Ingwer verwandelt. Hier werden Siedlungsdichten von 200— 400 Menschen pro qkm, also wie in deutschen Industriegebieten, aber auf rein agrarischer Grundlage erreicht. Das Land ist aber auch ein Hort altindisch-brahmanischer und hinduistischer Kultur und Religion. Travancore heißt „Land der Frömmigkeit“. Schon seit dem frühen Altertum stand das Land mit dem Vorderen Orient in enger Handelsbeziehung. Gerade an dieser Stelle hat auch das Frühchristentum Fuß gefaßt, hat sich dann zur Zeit des L . n-sturms im Orient ohne jede Verbindung mit dem Abendland gehalten, bis mit der portugiesischen Kolonisation eine neue starke Missionierung des Küstenlandes einsetzte. Dazu kam dann noch im 19. und 20. Jahrhundert, in der Zeit des britisch-indischen Kaiserreiches, die freie Missionstätigkeit verschiedener Konfessionen. Zu ganz verschiedenen Zeiten hat sich das Christentum in die dortige Gesellschaftsordnung eingefügt — begreiflich, daß es schon in sich eine komplizierte Sozialstruktur angenommen hat.
Die älteste und stärkste Gruppe von 2, 2 Millionen Seelen sind die sogenannten Thomaschristen, die man zurückführt auf die Missionstätigkeit des Apostels Thomas um das Jahr 50. Sie werden wegen ihres syrisch-nestorianischen Ritus und ihrer Zugehörigkeit zum Patriarchat von Antiochia auch Syrische Christen genannt. Der größere Teil von ihnen, die Sy r o-M alab ar en, sind in junger Zeit wieder zur katholischen Kirche zurückgekehrt, haben aber die syrische Kirchensprache erhalten. Die Thomaschristen leben im Hinterland von Cochin und Kottayam zusammen mit den Hindus, mit denen sie sich, in Einzelhöfen wohnend, in das Land teilen und zwar in vollem Frieden, da sie beide zu den oberen Kasten der Brahmanen und Nayars gehören. Vielfach ist ein Drittel, gelegentlich sogar die Mehrzahl der Bewohner christlich. Viele von ihnen sind wohlhabende Reis-bauern und Baumgärtner. Sie werden als besonders fromme, auf ihr altes Christentum stolze Christen geschildert.
Eine ganz andere soziale Stellung hat die zweite Gruppe, etwa 1/2 Million an Zahl, die auf die Zeit der portugiesischen Kolonisation und die Missionstätigkeit des Hl. Franziskus Xaverius im 16. Jahrhundert zurückgeht. Wegen des römisch-katholischen Ritus heißen sie auch Lateinische Christen. Sie leben ähnlich wie die Ceylon-Christen als arme Fischer in geschlossenen Dörfern entlang der Küste, der sogenannten „christlichen Fischerküste“. Wie in Ceylon gehören sie niederen Kasten an, der Mukkuwar oder Fischerkaste, und der Karavar oder Fischhändlerkaste, was sie sozial von den syrischen, auch der katholischen Thomaschristen so sehr trennt, daß etwa Heiraten zwischen beiden Gruppen unmöglich sind. So tief ist das Kastenbewußtsein im indisd. cn Gesellschaftsleben verwurzelt, daß es auch die christlich-konfessionelle Gemeinschaft zu übertönen vermag.
Die dritte Gruppe schließlich, das Jungchristentum, entstammt der modernen Missionstätigkeit des 19. und 20. Jahrhunderts, ist in Konfessionen und Denominationen aufgespalten und lebt zerstreut im Lande. Von der halben Million Seelen dieser Gruppe sind 200 000 Katholiken, 300 000 Protestanten, der Anglikanischen Kirche, der Basler Mission, der Missouri-Lutheraner, der Baptisten, erst neuerdings unter der Church of India zusammengefaßt. Sie gehören alle den unterdrückten Kasten, den Nadars und Parias an und sind als Plantagenkulis, Schöpfradtreter, Palmweinzapfer, Gelegenheitsarbeiter etc. tätig.
Die christlichen Missionen haben aber wie überall so auch hier sehr viel für den Bildungsstand getan. Nirgends in Indien ist das Analphabetentum so gering wie bei den Malabarchristen Keralas. Groß ist die Zahl der Lehrer, Ärzte, Rechtsanwälte, Geistlichen und Verwaltungsbeamten, die aus den Missionsschulen hervorgegangen sind. Für den Bildungsstand haben die sogenannten Jakobiten eine besondere Bedeutung, eine Gruppe der Thomaschristen, die sich in der britischen Zeit stark an die anglikanische Kirche anlehnten, sich dadurch besonders guter Schulen und Krankenhäuser erfreuen und durch die gute Erlernung der englischen Sprache wichtige Positionen in Verwaltung und Wirtschaft einnehmen konnten. Hier ist eine christliche Elite vorhanden, die auch für die gegenwärtigen Entwicklungsaufgaben in Indien Bedeutung bekommen könnte.
12. Praktische Folgerungen
Unsere Wanderung durch verschiedene Kulturerdteile, die uns da und dort einen kurzen Blick auf die komplexe Struktur eines Landes tun ließ, sollte auch einige praktische Hinweise für die Aufgaben der Gegenwart zeitigen. Wilhelm Röpke hat wohl sehr richtig gesagt, daß die Entscheidung über den Inhalt und die Richtung eines Entwicklungsprogramms um so richtiger und vernünftiger sei, je weniger sie den natürlichen Verhältnissen und den gegebenen Voraussetzungen Gewalt antue. Das heißt aber nicht anderes, als daß wir diese Verhältnisse genauestens kennen müssen. Ich glaube gezeigt zu haben, daß diese Voraussetzungen von Ort zu Ort, auch innerhalb kleinerer Länder, so stark wechseln, daß die Beurteilung auf wirkliche Forschungen gegründet sein muß, nicht nur auf flüchtige Informationen, die in unserer schnellebigen Zeit allzuleicht zu Grundlagen politischer Zielsetzungen gemacht werden. Schon vor 30 Jahren hat ein universell gebildeter großer Afrikaner, der Philosoph, Naturforscher, Staatsmann und Feldherr in einer Person war, Jan Christiaan Smuts, im Hinblick auf Afrika den Ausspruch getan: „To-day we need the scientific spirit in the Politics“. In unserem technisierten Zeitalter unterliegt der Politiker leicht der Gefahr, sich für die Realsierung einer politischen Konzeption einiger allgemeinen Theorien zu bedienen und sich im übrigen dem technischen Spezialisten anzuvertrauen. Für die Aufgaben der Entwicklungsländer genügt das nicht. Denn vor jeder technischen Unternehmung und jedem größeren Kapitaleinsatz sollte feststehen, ob sie dem Lande, seiner Natur und seiner Sozialstruktur, mit anderen Worten dem Entwicklungsstand seiner Gesellschaft und seiner gesamten „Infrastruktur“ angemessen sind. Dazu gehören vielseitige Forschungen, wie sie beim heutigen Stande der Wissenschaft nur durch Forschungsgruppen, Teamworks, erstellt werden können, zu denen jeweils besonders geeignete Fachkräfte zusammengestellt werden müssen. Das können Agronomen, Bodenforscher, Hydrologen, Ökologen, Ethnologen, Sozialpolitiken Wirtschaftsexperten und Techniker sein. Aber die Aufgaben müßten unter einen einheitlichen, besonders geographischen und ethnosoziologischen Gesichtspunkt gestellt werden.
Glücklicherweise können wir uns in Deutschland bereits auf recht umfangreiche eigene Forschungen in vielen Entwicklungsländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens stützen, jedenfalls von geographischer und ethnologischer Seite, den beiden einschlägigen Grundfächern, in denen von jeher die weltweite Feldforschung gepflegt werden mußte. Dazu sind uns heute auch wieder die Ergebnisse der internationalen Forschung vollauf zugänglich. Einen großen Nachholbedarf allerdings scheint mir die deutsche Forschung auf dem Gebiete der Tropenlandwirtschaft zu haben, die seit dem ersten Weltkrieg bei uns relativ sehr wenig gepflegt wurde.
Die Entwicklungsplanung muß aber noch unter einem anderen Aspekt gesehen werden, der auch unsere Hochschulen, die Pflegestätten der Forschung und Lehre, besonders angeht: Ich meine die Hebung der allgemeinen Bildung und der wissenschaftlichen Ausbildung in den Entwicklungsländern. Das ganze Problem der Entwicklungsländer betrifft ja das Zusammenleben der Menschen der ganzen Erde, in der „One World“ von heute. Wir müssen uns darauf einstellen, den ständig aus den Entwicklungsländern an uns herangetragenen Forderungen nachzukommen, wissenschaftliche Lehrkräfte in diese Länder zu entsenden. Diese Länder wollen ja nicht die Abhängigkeit von Kolonialverwaltungen mit der von Expertengruppen aus den Industrieländern vertauschen. Am besten ließe sich unsere wissenschaftliche Erfahrung durch Forschungsgruppen übertragen, an deren Feldarbeiten auch die junge Forschergeneration dieser Länder beteiligt wird, womit Forschung und Lehre auf eine internationale Ebene gehoben würde. Daneben aber müßte auch die Lehrtätigkeit deutscher Dozenten an den zahlreichen neuen Hochschulen der Entwicklungsländer ganz wesentlich verstärkt werden. Die gegenwärtige Besetzung unserer Institute mit Lehrkräften wird allerdings für solche Aufgaben nicht ausreichen. Es könnten etwa besondere Dozenturen geschaffen und mit jüngeren Lehrkräften besetzt werden, die bereit sind, für einige Jahre im Ausland tätig zu sein, um dann zurückgekehrt wieder von anderen abgelöst zu werden. Alle diese Menschen würden ja mit großen Kenntnissen und neuen Anregungen für sich und die deutsche Wissenschaft aus dem Auslande zurückkehren und den Lebensspielraum, die politische Erfahrung des eigenen Volkes und seine geistige Verbindung mit den Menschen der Entwicklungsländer wesentlich erweitern helfen.
Wenn der gewaltige Einsatz von Geld und Energie, der z. Zt. unter dem Motto Entwicklungshilfe getan wird, volle und bleibende Wirkung haben soll, so müßte nach meiner Erfahrung in Auslandsforschung und Kulturpolitik ein wesentlicher Teil dieser Mittel in diesem Sinne verwandt werden. Die deutschen Hochschulen und die jungen deutschen Gelehrten sollten diesen Anruf aus der weiten Welt nicht überhören und sich in sehr verstärkter Form für die Aufgaben der Epoche zur Verfügung stellen.
Challenge and Response! Die Entwicklungshilfe ist ein großer Anruf an die abendländische Zivilisation. Die Antwort liegt bei unserer Generation.
Politik und Zeitgeschichte
AUS DEM INHALT DERNÄCHSTEN BEILAGEN: *. * „Die Universität der Völkerfreundschaft"
Ludwig Dehio: „Preußisch-Deutsche Geschichte 1640— 1945"
Klaus Hornung: „Die Etappen der politischen Pädagogik von Bismarck bis heute"
Josef Kalvoda: „Kommunistische Strategie in Südamerika"
Georg Kotowski: „Die deutsche Novemberrevolution von 1918"
Ralph L. Powell: „Die rotchinesische Miliz"
Theodor Schieder: „Der preußisch-deutsche Nationalstaat"
Walther E. Schmitt: „Lenin und Clausewitz"
Wilhelm Ritter von Schramm: „Hitlers psychologischer Angriff auf Frankreich"
Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"
Walter Wehe: „Die wirtschaftspolitische Entwicklung Europas seit dem Marshallplan"