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Die Antwort des Westens auf die Herausforderung des Ostens | APuZ 50/1960 | bpb.de

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APuZ 50/1960 Die Antwort des Westens auf die Herausforderung des Ostens

Die Antwort des Westens auf die Herausforderung des Ostens

GEORG SMOLKA

Wer von „der Antwort des Westens“ spricht, setzt voraus, daß „der Westen“ eine Einheit ist; insoweit jedenfalls, als es für eine gemeinsame Antwort an den Osten erforderlich ist. Die Geschichte zeigt, daß auch in Zeiten stärkster Geschlossenheit der Westen stets Einheit in der Mannigfaltigkeit gewesen ist. Mithin wird jede Antwort des Westens anders klingen, wenn der Italiener oder der Franzose, der Spanier, der Brite oder der Deutsche sie gibt. Und doch wird sie stets eine westliche Antwort sein: einem „Osten“ gegeben, vor dem alle diese Nationen und noch viele andere sich einander zugehörig wissen als Glieder eines Ganzen; als Geschwister oder Partner, die — um Ernest Renans Definition der Nation sinngemäß anzuwenden — in einer langen Geschichte vieles miteinander erlebt haben, Gutes und Schlimmes; und die trotz allem Schlimmen, das sie einander angetan, noch eine lange Geschichte miteinander haben möchten.

Es fällt nicht schwer, diesen Westen abzugrenzen gegenüber der Welt des Ostens. Seine Kernzelle ist die einstige westliche Christenheit: der Träger des ersten Jahrtausends europäischer Geschichte, deren Schauplatz sich von den Gestaden des Atlantik und seiner Nebenmeere mit ihrer Inselflur bis in die sarmatische Ebene, etwa bis zur Linie Dwina-Don dehnte; bis dorthin, wo die byzantinischen Kuppeln und die russischen Zwiebeltürme das Landschaftsbild bestimmen. Anders ausgedrückt: der Westen ist das Einzugsgebiet der Römischen Kirche und der von ihr ausgegangenen Konfessionsgemeinschaften; ein geschichtliches Gebilde, das — auch in seinen heute entchristlichten Schichten — diese geistigen Ursprünge einer „theologisch gegründeten Weltlichkeit“ (J. Pieper) deutlich erkennen läßt. Aus dieser Umschreibung ergibt sich weiter, daß der Westen auch manche Völker und Staaten umfaßt, die heute politisch zum Osten gerechnet werden, während sie in Wirklichkeit dem Westen ebenso angehören wie wir. Und weiter wäre zu bedenken, daß die Kernzelle des Westens, die abendländische Christenheit von ehedem, längst über sich hinausgewachsen ist in ferne Erdräume; und daß dort aus ihrem Geiste und Blute geschichtliche Potenzen erwachsen sind, die heute zum Westen zählen und die schon durch ihr politisches und wirtschaftliches Schwergewicht berufen sind, zur Antwort des Westens — vielleicht entscheidend — beizutragen. — Diesem Westen steht der „Osten" als eine gleichfalls deutlich abgrenzbare historisch-politische Größe gegenüber; wobei es zunächst offen bleiben mag, worin die differentia specifica dieses Ostens heute besteht. Von der Geschichte her gesehen, stellt er sich dar als der einst von der Ostkirche geprägte Teil der Menschheit, der die Ostslawen und Teile der Südslawen umfaßt; mithin der Kulturraum, zu dessen Gravitationszentrum nach dem Sturze des Byzantinischen Reiches (145 3) Rußland aufgestiegen ist. Nur diesem Osten gilt die Antwort, die hier gemeint ist. Die Welt des Vorderen oder des Fernen Ostens und ihr Verhältnis zum Westen beruht auf einem ganz anderen geschichtlichen Fundament. Zwischen ihr und dem Westen gibt es nicht jene polare Spannung innerhalb eines gemeinsamen historischen und ideellen Kraftfeldes, wie sie zwischen der östlichen und westlichen Christenheit in ihrer religiösen und säkularisierten Gestalt von jeher bestanden hat. Wir haben mit den großen Kulturen Asiens nie in geschichtlich erheblichem Maße kommuniziert; das gilt auch, obschon in geringerem Grade als vom Westen, von „unserem“ Osten.

Die Antwort des Westens wird ausgehen müssen von der Art der Herausforderung des Ostens. Bei dieser geht es offenbar um mehr als nur um die Dinge, die sonst in der säkularisierten Welt der Neuzeit zwischen Völkern und Staaten umkämpft wurden. Es geht nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, um Ansprüche auf Gebiete oder Naturschätze oder auch um Forderungen der nationalen Ehre oder des individuellen Ehrgeizes. Sondern der Westen als solcher ist herausgefordert: in seinem Sosein und seinem Dasein: als Verkörperung ganz bestimmter Ideen und Normen, eines Ordo; als Verfechter geistiger Inhalte und letzter Haltungen und Lebensformen. Er wird herausgefordert im Namen der Geschichte, des geschichtlichen Prozesses selbst, als dessen berufener Träger und Vollstrecker der heutige Osten auftritt. Nach seiner Behauptung ist der weltpolitische Gegensatz von heute das notwendige Ergebnis eines tiefgreifenden Antagonismus von Kräften und Tendenzen; Ausdruck eines Ganz-Andersseins, einer Wesensfremdheit, die jede wirkliche, tiefere Gemeinsamkeit ebenso ausschließt wie einen Ausgleich; was bedeuten würde, daß die Herausforderung des Ostens auf die radikale Verneinung der Lebensrechte des Westens hinauskäme: auf die Alternative „Vita mea — mors tua“!

Es geht somit um das Ganze. In diesem Punkte sind die Herren des Kreml immer aufrichtig gewesen. Sie haben nie geleugnet, daß ihr unveränderliches Ziel der totale Sieg ihrer Sache ist. Sie haben mit dürren Worten erklärt, daß dort, wo es anders nicht erreichbar sei, die bestehende kapitalistische, nichtkommunistische Ordnung gewaltsam beseitigt werden müsse. Sie haben nicht weniger offen herausgesagt, daß für sie Krieg oder Frieden nur beliebig auswechselbare Methoden zur Eroberung der Welt für die Sache des Kommunismus seien; erst dann, wenn der Kommunismus auf der ganzen Welt gesiegt habe, werde es wirklichen Frieden geben. Lind daß es diesen Frieden für uns, für den Westen von heute nur als Kirchhofsfrieden geben könne, hat Nikita Chruschtschow bündig genug versichert: „Wir werden euch begraben!“

Die westliche Menschheit hat sich immer wieder dagegen gesträubt, solche Aussprüche ernstzunehmen. Weil wir den Frieden als Normalzustand der zwischenstaatlichen wie aller gesellschaftlichen Beziehungen verstehen, schreiben wir den Friedens-und Koexistenzbeteuerungen des Ostens eine Bedeutung zu, die sie nicht haben. Seit der Oktoberrevolution hat man im Westen wiederholt an eine teilweise oder gänzliche „Bekehrung“ des Kommunismus geglaubt. Man hat nie so recht wahr haben wollen, daß der Friede für den Kreml — in Abwandlung des viel-zitierten Satzes von Clausewitz — eine „Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln" ist. Man hat in den — eingestandenermaßen taktisch gemeinten — Bekenntnissen des Ostens zu Frieden, Freiheit und Demokratie Zeichen bußfertiger Gesinnung erblicken wollen, hat gehofft, Moskau habe auf seine weltrevolutionären Ziele verzichtet. — Schon Lenin hat in dieser Leichtgläubigkeit des Westens den Beweis einer „Willensschwäche erblickt, die verursacht sei durch das mangelhafte Verständnis des Westens für Wirtschaft und Politik. Tatsächlich ist es nicht zuletzt diese Einstellung des Westens gewesen, welche die Ausdehnung des kommunistischen Machtbereiches bis ins Herz Europas und über rund zwei Fünftel der Menschheit ermöglicht hat.

Diese Herausforderung läßt uns in einer Hinsicht keine Wahl. Der Westen kann dem entschiedenen, offenen oder versteckten Weltherrschaftsanspruch des Ostens nur begegnen mit der Entschlossenheit zur Selbstbehauptung: mit den gleichen Mitteln, die seine Existenz bedrohen; also auch, wenn nötig, mit denen der Gewalt. Das bedeutet, daß wir auch das Risiko des Krieges auf uns nehmen müssen, sogar eines Atom-krieges, der mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit den eigenen Untergang heraufbeschwören würde. Denn solange es irgendwo Atomwaffen gibt, ist die Bereitschaft zum Risiko die einzige Möglichkeit, den tatsächlichen Krieg und damit wahrscheinlich den Untergang — vielleicht — zu vermeiden. Einem Gegner wehrlos gegenüberzutreten, der sich die totale Revolution, den gänzlichen Umsturz der bestehenden Verhältnisse zum Ziele gesetzt hat, heißt ihn zur Gewalttat herausfordern. Nur wenn der Westen sichtlich so stark ist, daß jeder Angriff auf ihn Selbstmord sein würde, wird der Osten ihm — vielleicht — die Freiheit lassen, am Leben zu bleiben: um selbst zu überleben. Und nur dann wird der Westen so leben dürfen, wie er es für richtig, für menschenwürdig hält.

Das sind Binsenwahrheiten. Sie müssen dennoch vorausgeschickt werden, weil in einer Frage auf Leben und Tod keine Unklarheit aufkommen darf. Antworten kann nur, wer da ist. Ein wehrloser Westen — und ohne Atomwaffen würde der Westen einem atomar gerüsteten Osten gegenüber wehrlos sein — würde sehr bald nicht mehr existieren. — Aber Stärke allein, militärische, politische oder wirtschaftliche Stärke, ist noch keine Antwort auf die östliche Herausforderung. Sie ist die unerläßliche Voraussetzung jeder Antwort. Und was der Westen antworten soll, das hängt nicht allein — und vielleicht nicht einmal in erster Linie — von seinen materiellen Kräften ab. Die Überschätzung der Macht ist ein mindestens nicht geringerer und fast noch häufigerer Fehler als ihre Unterschätzung. Das will besagen: Der Westen würde sehr wahrscheinlich die richtige Antwort verfehlen, wenn er sich nur gegen äußere Angriffe und inneren Umsturz absichern wollte: weil er in diesem Falle den Anspruch und die Forderungen des Ostens unterschätzen würde. Ihre ganze Tragweite tut sich erst dann auf, wenn wir hinter der Fassade des Zeitgeschehens die Tiefen des geschichtlichen Hinter-grundes ins Auge fassen. Erst in der historischen Perspektive wird deutlich, was die Herausforderung des Ostens letztlich meint. Und damit zeichnen sich wenigstens die wichtigsten Umrisse der Antwort ab, die wir zu geben haben.

Rußland fehlt das abendländische Mittelalter

Der Ost-West-Gegensatz hat eine lange Vorgeschichte. Als Rußland seit dem fünfzehnten Jahrhundert und deutlicher vor einem Vierteljahr-tausend unter Peter dem Großen ins Blickfeld des Westens trat, wurde — bei aller Zuordnung und allmählichen Verflechtung — das Verhältnis von beiden Partnern sehr bald als Gegensatz empfunden. Die europäische Menschheit hat sich zumeist damit begnügt, diesen Gegensatz zur Kenntnis zu nehmen: als Ausdruck eines Andersseins, einer Fremdartigkeit des Ostens, die ihre eigentümlichen ethnischen, kulturellen religiösen und sonstigen Ursachen habe, — die aber jedenfalls rational erklärbar sei, auch wenn sie zuweilen unheimlich und bedrohlich erschien. Auf der russischen Seite hingegen mehrten sich, vornehmlich seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, Stimmen, die den Gegensatz Rußland-Westen auf die Ebene des Prinzipiellen erhoben und als unaufhebbar hinstellten.

Diese Tatsache ist bedeutsam. Es ist viel darüber gestritten worden, ob Rußland zu Europa gehöre oder nicht. Daß das Verhältnis Rußland-Europa mindestens mit einem Fragezeichen zu versehen ist, geht schon daraus hervor, daß es eine ganze Literatur zu diesem Thema gibt; daß ferner die geistigen Hauptströmungen Rußlands im 19. Jahrhundert sich an der Frage „Rußland und der Westen“ scheiden; und das schließlich die Europäisierung Rußlands selbst von den entschiedensten russischen Vorkämpfern der westlichen Orientierung als Aufgabe empfunden worden ist. Es würde wohl niemanden in den Sinn kommen, von einer Europäisierung Finnlands oder Polens oder auch Deutschlands zu sprechen. Es gibt zwar eine Fragestellung „Deutschland und der Westen“ — oder heute, leider, auch eine Frage „Polen und der Westen“ —; aber dabei ist es von vornherein klar, daß damit nicht ihre Zugehörigkeit zur westlichen Kultur gemeint ist. Gerade um diese kulturelle Zugehörigkeit geht es jedoch bei dem Problem „Rußland und der Westen“.

Die wichtigste in dieser Hinsicht grundlegende Tatsache steht am Anfang der großrussischen Geschichte. Rußland fehlt das abendländische Mittelalter. Zwar erhielt es über das Altrussische Reich von Kiew mit dem morgenländischen Christentum auch Anteil am antiken Geisteserbe, vornehmlich in seiner platonischen Ausprägung; die wichtigsten Elemente der mittelalterlichen Kultur waren somit wenigstens im Ansatz vorhanden. Aber schon der Mongolensturm des dreizehnten Jahrhunderts isolierte die junge Moskauer Staatsgründung auf ein Vierteljahr-tausend von der christlichen Ökumene; und der Untergang des Byzantinischen Reiches 1453 warf sie vollends auf sich selbst zurück.

Das ist ein Faktum, das den Gang der russischen Geschichte bis heute beeinflußt hat. Weil Rußland kein Mittelalter gehabt hat, kannte es keine Zweiteilung von geistlicher und weltlicher Gewalt, keine Zwischen-gewalten zwischen der herrschaftlichen Spitze und dem Niedervolke, keine politisch formierten Stände, die einen Gegenpol zur absoluten Macht der Krone hätte darstellen können. Es fehlte insbesondere die gesellschaftliche Schicht, die im Westen die Verfassungsentwicklung in der Neuzeit vorantrieb: das Bürgertum, das in dem agrarischen, städte-armen Lande schon numerisch unbedeutend blieb. Aus alledem ergaben sich schwerwiegende Folgen für die soziale und politische Entwicklung. Weil es keine nennenswerten Freiheiten als Privilegien gab, weil es nicht zur Ausbildung freiheitlicher Institutionen kam, weil schließlich der Cäsaropapismus die Gewalt des Selbstherrschers sogar über die Gewissen ausdehnte, war und blieb Rußland das klassische Land der Unfreiheit und der Autokratie. — Nicht weniger weittragende Folgen aber hatte das ausgebliebene Mittelalter für die geistige Entwicklung Rußlands. Es gab im Osten keine Scholastik, keine Rezeption des Aristoteles, keine humanistische Bewegung. Das bedeutet: die strenge, rationale, systematische Schulung des abendländischen Denkens blieb dem russischen Geiste ebenso versagt wie die Ausbildung der kritischen Methode; und darum entfaltete sich in Rußland auch nicht die auf diesen Grundlagen aufbauende westliche Wissenschaft. Aller Reichtum der russischen Geistesgaben vermochte die mangelnde Zucht des Denkens nicht zu ersetzen. Auch für den russischen Geist gilt der Satz, den der Verfasser der Nestorchronik des 12. Jahrhunderts, nach der Schilderung der Schönheiten und Schätze Rußlands, niederschrieb: „Aber es ist keine Ordnung darin!". Und nicht zuletzt darum blieb der Osten im Denken wie im Leben vom Westen durch eine tiefe Kluft geschieden.

Der Versuch Peters des Großen, diese Kluft zu schließen, erwies sich als ein Versuch mit untauglichen Mitteln. Die äußerliche Übernahme materieller und geistiger Errungenschaften der europäischen Hochkultur pfropfte einer widerstrebenden, hochstehenden Volkskultur Elemente auf, die sie nicht assimilieren konnte. Westliche Institutionen und Strukturen konnten zwar vom Despoten aufgezwungen werden; aber ihre Träger, die dazu gehörigen Menschen, ließen sich nicht auf dem Verordnungswege produzieren. Darum waren in Wirklichkeit die sogenannten „Reformen“ Peters eine Flut von hastigen, unorganischen Improvisationen, die die „Unordnung“ Rußlands nur vermehrten und nicht zuletzt die Abneigung weiter Kreise gegen den Westen vertieften. Wie Peter der Große selbst bei aller historischen Größe ein Halbbarbar war und blieb, so hat auch sein Werk mit Kultur nur recht oberflächlich zu tun. Erst das Eindringen des Gedankengutes der Aufklärung, vornehmlich unter Katharina II. und Alexander L, brachte den russischen Geist in wirkliche Berührung mit Europa. Und um die gleiche Zeit lernten viele Russen, die sonst kaum oder kaum so gründlich Gelegenheit dazu erhalten hätten, den Westen in den Feldzügen gegen das revolutionäre und napoleonische Frankreich oder durch Emigranten aus Europa näher kennen. Damit kam die innere Auseinandersetzung mit dem Westen in Gang, die das große Thema der russischen Geistesgeschichte im neunzehnten Jahrhundert bildet. Man verfehlt die Problematik „Rußland und der Westen" von vornherein, wenn man auf Bezeugungen europäischer Kultur in Rußland hinweist. Das erübrigt sich, denn es ist keine Frage, daß es schon im acht-z: i nten und erst recht im neunzehnten Jahrhundert sehr zahlreiche Russen gegeben hat, die durch und durch europäisch gebildet waren. Ohne e. ne solche europäische Bildungsschicht wäre die große russische Dichtung nicht denkbar gewesen; eine Dichtung, die in ihrem menschlichen Gehalt, ihrer Problematik und ihren Ausdrucksformen und oft auch in ihren Gestalten rein europäisch ist. Man kann sogar sagen, daß große Teile der russischen Bildungsschicht, gerade im neunzehnten Jahrhundert, in gewissem Sinne europäischer waren als viele ihrer westlichen Zeitgenossen; nämlich als jene Europäer, die das gemeinsame europäische Kulturgut an einen sturen, engstirnigen Nationalismus verrieten. Aber diese europäisierten Russen waren, wie man sehr treffend gesagt bat, nichts anderes als ein Stück Europa auf dem Boden Rußlands. Ihre persönliche Kultur war von der bodenständigen abgelöst; und dadurch mußten sie entweder sich selbst als Russen oder es mußte ihnen Ruß-land zum Problem werden (A. von Schelting).

Mangel an Behutsamkeit bei Reformen

Diese Problematik des Verhältnisses „Rußland und der Westen“ spitzte sich krisenhaft zu nach dem Krimkriege, in der Regierungszeit Alexanders II. Dadurch, daß der „Zar-Befreier“ sein Land allen europäischen Einflüssen weit öffnete, wurde Rußland nach jahrzehntelanger Absperrung mit den neuesten Errungenschaften des Westens überschüttet. Ohne jede Vorbereitung brach nicht nur die Welt der modernen Wirtschaft und Technik — mit der ersten Welle der industriellen Revolution und der hochkapitalistischen Wirtschaftsweise — herein, auf ein Volk, das noch fast ganz in einer naturalwirtschaftlichen und maschinen-losen Umwelt lebte. Sondern: auch die patriarchalischen Bindungen und Ordnungen des Daseins wurden erschüttert, insbesondere durch die Aufhebung der Leibeigenschaft und durch die Freizügigkeit und die Entstehung einer industriellen Reservearmee aus den bei der Agrarreform depossedierten Bauern. Am schlimmsten aber wirkte sich das Eindringen der neuen westlichen Geistesströmungen aus, die sich nach der Milderung der Zensur, dank der neuen technischen Möglichkeiten, fast ungehemmt verbreiten konnten. In den vierziger und fünfziger Jahren hatte sich in Europa, nach dem Zusammenbruch der spekulativen Philosophie, der Materialismus und Positivismus durchgesetzt. Sie wurden in Rußland gleichzeitig mit dem bürgerlichen Liberalismus und mit den neuesten politischen und sozialen Ideen des Westens bekannt. Große Teile der russischen Intelligenz wurden von dem Ansturm des Neuen völlig aus der Bahn geworfen. Sie wandten sich, insbesondere die Jugend, den neuesten, radikalsten Strömungen zu: dem philosophischen Materialismus und dem revolutionären Sozialismus. Sie lehnten sich auf gegen die überkommenen Autoritäten in Staat, Kirche und Gesellschaft und forderten die gänzliche Umwälzung der bestehenden Staats-und Gesellschaftsordnung. So tat sich zwischen „Vätern und Söhnen“ die Kluft auf, die Turgenjews gleichnamiger Roman schildert. Schließlich griffen die Sozial-revolutionäre zum Terror, dem der „Zar-Befreier“ 1881 zum Opfer fiel.

Damit war der zweite, verheißungsvoll begonnene Versuch einer wirklichen Europäisierung Rußlands gescheitert: wieder daran, daß die Entwicklung überstürzt worden war; und zwar diesmal, obwohl in weiten Kreisen alle Bereitschaft vorhanden war, sich dem Westen auch geistig anzuschließen. Der Mangel an Behutsamkeit bei den Reformen einerseits, das ungestüme Vorwärtsdrängen einer verhältnismäßig kleinen revolutionären Gruppe andererseits, hatte eine Katastrophe heraufbeschworen. Denn eine Katastrophe wurde dieses Fiasko für das Verhältnis Rußlands zum Westen. Zwar schritt die Übernahme der zivilisatorischen Errungenschaften des Westens rasch weiter voran, je mehr sich das europäische Kapital in Rußland engagierte. Nach der Jahrhundertwende kam es sogar zu Anfängen eines konstitutionellen Lebens. Aber mit der zunehmenden Industrialisierung übernahm Rußland auch die sozialen Krankheitskeime des Westens. Und während die westliche Menschheit durch den Skeptizismus mehr und mehr glaubensunfähig wurde, unempfindlich auch für die neuen Spielarten des modernen Immanenzglaubens, wurde Rußland für diese nach der Zersetzung der hergebrachten Bindungen des Glaubens und Lebens höchst anfällig. Die Oberfläche des russischen Lebens glich sich dem Westen an; zugleich aber spielte sich in der Tiefe ein neuer Entfremdungsprozeß ab.

Schon in den dreißiger Jahren hatte sich, in Reaktion auf die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution, die sich im Dekabristenaufstand von 1825 entluden, eine Geistesströmung formiert, die nicht in der Übernahme der geistigen und materiellen Errungenschaften des Westens das Heil erblickte, sondern in der Rückkehr zur altrussischen Tradition. Zu diesen „Slawophilen" gehörten insbesondere Angehörige des ländlichen Kleinadels, Männer wie Alexej Chomjakow und die Brüder Kirejewski und Aksakow. — Aus ganz anderen Gründen kamen ihre Antagonisten, die „Westler“ wie Alexander Herzen oder Michail Bakunin, zur Absage an den Westen. Sie verehrten ihn als Bahnbrecher des materiellen und geistigen Fortschritts; aber sie verzweifelten an seiner Fähigkeit und Bereitschaft zur Führung auf dem Wege zum Sozialismus, in dem sie die höchste Hervorbringung der europäischen Kultur erblickten. — Schließlich wandte sich gegen Europa, das den slawischen Osten angeblich immer verachtet und getreten hatte, auch die dritte große geistige Strömung Rußlands im neunzehnten Jahrhundert, der Panslavismus. Zu seinen Wortführern gehörte neben dem Theoriker der Bewegung Danilewski unter anderen auch Dostojewski.

An seiner Gestalt wird das eigenartige Verhältnis des Russentums zu Europa und der Menschheit besonders sinnfällig. Dostojewski bekannte sich zwar zu Europa als seinem zweiten Vaterlande; aber gleichzeitig setzte er — etwa in seiner Gedenkrede auf Puschkin oder im „Tagebuch eines Schriftstellers“ — Russentum und Menschsein schlechthin gleich und verkündete, daß jeder Mensch erst Russe werden müsse, um im Vollsinne Mensch zu sein. Die Parallele zu ähnlichen Ansprüchen des heutigen Rußland wird noch dadurch ergänzt, daß Dostojewski den Westen in flammenden Worten als imperialistischen Ausbeuter der Welt anprangerte, während er über den russischen Kolonialismus, etwa in Zentralasien, im Kaukasus und im Femen Osten, kein Wort verlor. Den gleichen Geist eines naiv-selbstverständlichen russischen Imperialismus atmen manche Gedichte des wohl größten Lyrikers Rußlands nächst Puschkin, Fjodor Iwanowitsch Tjutschew. Er hat auch den Ost-West-Gegensatz auf die schärfste Formel gebracht: „Zwischen beiden kann es weder Verträge noch Verhandlungen geben. Das Leben des einen bedeutet den Tod des anderen. Die politische und religiöse Zukunft der Menschheit hängt auf Jahrhunderte hinaus von deut Ausgang dieses Kampfes ab, des größten, den die Welt je gesehen hat.“

Die radikale Ablehnung des Westens durch die genannten und viele andere russische Denker ist fast stets gepaart mit dem Anspruch, Ruß-land als der Führungsmacht des Ostens gebühre die Herrschaft überhaupt, in Ost und West: nicht etwa kraft seiner tatsächlichen Macht, die ja im neunzehnten Jahrhundert noch latent war, sondern zufolge einer besonderen Sendung, die dem Osten zugefallen sei durch das Versagen des Westens. Dieser russische Sendungsglaube hat seine Gewandung vielfältig gewechselt: von der christlichen Einkleidung bei den älteren Slawophilen bis zur kommunistischen Zukunftshoffnung des Bolschewismus, der sich vordergründig mit der Feststellung begnügte, daß Rußland als erstes Land der Welt zur sozialistischen Ordnung durchgebrochen sei und damit Anspruch darauf habe, als Führungsmacht der kommenden Weltzeit aufzutreten. In jedem Falle war es ein universeller geistiger, kultureller und politischer Bekehrungs-und Erlösungsauftrag, der Rußland auf Grund eines angeblichen oder wirklichen Versagens des Westens zugefallen war; ihm zu widerstreben mußte darum vergeblich und verwerflich zugleich sein. Anders ausgedrückt: es war — in säkularisierter oder in christlicher Gestalt — die Vision des Gottesreiches auf Erden, die nach russischer Ansicht der Weltgeschichte ihren Sinn und Rußland seine einzigartige Bedeutung im historischen Prozeß verlieh. Und weil der Westen — aus Bosheit oder Unvernunft — diese messianische Sendung nicht begreifen wollte, wurde er leidenschaftlich angeklagt und bekämpft: als der Widersacher, der das Kommen des Reiches aufhalte und so für die Leiden Rußlands und der Welt verantwortlich sei, die sich daraus ergeben.

Dergleichen Vorstellungen mögen vielen Menschen im Westen reichlich verstiegen vorkommen oder nebulös erscheinen. Es gehört zur Eigentümlichkeit des neuzeitlichen Geistes, daß er dazu neigt, die Bedeutung ideeller und vollends religiöser Faktoren im geschichtlichen Leben zu unterschätzen. Die jahrhundertealte rationalistische und positivistische Tradition unseres Denkens ist zweifellos seiner Klarheit und Präzision förderlich gewesen. Sie hat aber auch unser Blickfeld auf das Berechenbare und auf die materielle Seite der Welt und des Menschen verengt; und sie hat manche geistigen Organe verkümmern lassen, die zur Wahrnehmung subtilerer, spiritueller Phänomene geeignet sind. Eine streng rationale, auf das exakt Erfaßbare beschränkte Betrachtungsweise taugt für die Geschichte wie für jede Wissenschaft vom Menschen und von der Gesellschaft nur innerhalb gewisser Grenzen: und zwar von Grenzen, die zu eng sind, um den Blick auf das Ganze dieses Bereiches der Wirklichkeit freizugeben.

Das gilt in hohem Maße gerade für die Erkenntnis mancher geistes-geschichtlicher Faktoren, die für den heutigen Ost-West-Gegensatz grundlegend sind. Veränderungen der ökonomischen oder sozialen Verhältnisse oder Wandlungen der gesellschaftlichen oder herrschaftlichen Strukturen sind zweifellos historisch sehr erhebliche Tatbestände. Auf das Ganze des Geschichtsverlaufes gesehen, treten sie jedoch an Bedeutung zurück hinter ideellen Faktoren, die zwar langsamer arbeiten, aber auch stetiger. In unserem Falle besagt das: man kann die Dynamik des Sowjetsystems nicht richtig verstehen, wenn man von der messianistischen Komponente nicht nur des Sozialismus, sondern des russischen Geschichtsverständnisses überhaupt absieht. Die sehr reale Bedeutung dieses Faktors, der sich als Grundwelle durch die ganze russische Geschichtsphilosophie und -theologie verfolgen läßt, erhellt schon daraus, daß er es war, der in der Oktoberrevolution gezündet hat. Selbst im „Jahrhundert der Vernunft“ bedurfte es der Visionen eines Rousseau, um die Massen zur geschichtlichen Aktion mitzureißen. Auch 1917 war es nicht die trockene, wissenschaftlich aufgezäumte Lehre eines Marx oder Lenin, die die Sprengkraft lieferte, sondern die eschatologische Diesseitsprophetie des Sozialismus, mit der die Revolutionäre auf die Erlösungssehnsucht der russischen Massen antworteten. Und weder der Diamat noch der Histomat, noch die bis heute doch recht dürftigen sozialen Errungenschaften des Sowjetregimes verleihen schließlich dem Osten heute seine Stoßkraft; sondern die kommt aus seiner Vision des irdischen Paradieses, der klassen-und staatenlosen Gesellschaft des Kommunismus.

Bolschewistischer Atheismus als Perversion einer religiösen Sehnsucht

Damit rühren wir an den innersten Kem der Herausforderung, die der Osten heute an den Westen richtet Jede politische Frage der man bis in die Ursprünge nachgeht, mündet in ein theologisches Problem Diese Wahrheit zu der sich ein utopischer Sozialist wie Saint Simon noch freimi : g beka • •: hat ist von den späteren sogenannten vissenschaftlichen Sozialisten leidensdhaftlidh geleugnet worden. N ichtsdestowren iger bleibt sike wahr audh für den Bolsdhewism us der sidh in seiner atheistischen Glaub gkeit über alle Theologie erhaben dünkt Sein Zielbild das Reich der Menschgortheit auf Erden ist nur die jüngste atheistisdhe Ausgtägeng des rassisdhen Ch hasmus. Und dieser bolsdhewistische Atheismas von beute teilt mit seinen Vorgängem im 19. und 20. Jahrhender wie wir sie cm in Dasso eusk s und Gorkis Werken gesdildert finden die geistesgesdidhtidhe Herkenft Er ist midt wie rast stets der westlidhe Atheismzs dos Ergebnis eines rationalen Zwefels, sondem er ist die Perversion einer religiösen Sehnsudt Mehr noch aks das religiöse Denken audh sonst rot ros Rassische sidh von jeher an dem tiefsten Problem der Ethik wundgereben: an der Theodizee. In de? Auseinandersetzung mit der Frage, wie de Erste"

des Käsen und das Leiden der Kreatur vereinbar sei mit dem Sein eines x—öcnregen und alli ebenden Gottes, hat sidh sitz sehr früh der Unterscied zwischen de? östlidhen und der westlidhen Geisteshaltung ausgeprägt Daß der dhristlidhe Osten — im Denken wie rin Leben — vor diesem Frohem zurüdkwidh, hängt zusammen mit dem manichäisdhen Geisteserbe, das aber die Gnosis in die Ostkirche eingedrungen war. Das bvzanrin; sehe Christentum vermodhte die Kluft, die dadurdh aufgerissen wunde, nicht zu schließen. Nur in der Askese und Mystik der Mönche, vor allem aber in der göttlichen Liturgie, wurde die Welt aufgehoben in die Geborgenheit der Transzendenz. Im Alltag hingegen blieb sie sidh selbst überlassen und damit praktisch dem Bösen ausgeliefert. Die Wunde blieb offen. Auf dieses für die Kirche und die Welt des Ostens fundamentale geistesgeschichtliche Faktum hat bereits der genuin-westlichste aller russischen Denker, die darüber nachgedacht haben, den Finger gelegt: Peter Tschaadajew in seinem 1836 erschienenen „Ersten Philosophischen Briefe', dem Dokumente, das den Auftakt zu der geschichtsphilosophischen Selbstbesinnung des russischen Geistes im 19. Jahrhundert gebildet hat. Er hat erklärt, daß hier die tiefste Ursache des russischen Versagens bei der Schaffung menschenwürdiger Ordnungen in Staat und Gesellschaft liege: weil im Bereiche des orthodoxen Christentums, als des geistigen Nachfahren des byzantinischen, die Kluft zwischen der Welt im Zustande der gefallenen Schöpfung und dem Reiche Gottes von vornherein nur im Mysterium — dem der Liturgie oder dem der mystischen Einung — überbrückbar erschien, habe der Osten nie ernsthaft versucht, die Welt aus dem Geiste der christlichen Lehre zu gestalten. Und ähnlich wie Tschaadajew haben immer wieder russische Denker — als größter unter ihnen Wladimir Solowjew — auf diese Auswirkung des östlichen Ideengutes im russischen Geiste und Leben hingewiesen: weil ohne seinen Einfluß die russische Geschichte und Kultur unverständlich bleiben.

Wir würden in der Tat die Herausforderung des Westens durch den Osten verfehlen, wenn wir von dem ethischen und letztlich religiösen Impulse absehen wollten, der in seinem Protest gegen den Westen zum Ausdruck kommt. Es ist schließlich alles andere als ein Zufall, daß dieser Protest im Gewände des marxistischen Sozialismus geschichtsmächtig geworden ist. Denn auch Marxens Protest gegen die Entfremdung des Menschen im kapitalistisdhen System kam aus einem Ethos, das im letzten dhristlich fundiert war; nur daß Marx als säkularisierter Denker rd: mehr um die Gottebenbildlidhkeit, um die wahre differentia specifica des Menschen wußte, den er retten wollte; und daß er darum das Mensdhlidhe am falschen Orte heilen zu können vermeinte: in den Prodaktionsvrerhältnissen und damit vom materiellen Substrat her und in seinem materiellen Sein. Aber das Höhere läßt sich nun einmal nicht dardh dos Niedere definieren oder konstituieren. Und weil mit Karl Man dem Exponenten einer aufgeklärten, ihrer „theologischen Gründeng"“ entfremdeten westlichen Weltlichkeit, auch seine östlichen Epigonen das aliud, das das Menschenbild konstituiert, in der falschen Richtig suchten: nicht in der Transzendenz, in einer über den Menschen hinausweisenden Wirklichkeit, sondern unterhalb des humanum, in der zum Schöpfergott erhobenen Materie — darum mündete ihr Weg nicht in das von ihnen verheißene Reich der Gerechtigkeit und des Friedens und der universalen Harmonie, sondern in die vielleicht schlimmste, jedenfalls nachhaltigste Depravierung des Menschen, die die Geschichte bisher kennt.

Ans diesem Hintergrund wird deutlich: in den heutigen Macht-und Positionskämpfen zwischen dem Osten und dem Westen verbirgt sich ein Ideen-und Geistesringen, bei dem es um das Menschenbild von morgen und die auf dieses Bild bezogene Gesellschafts-und Menschheitsordnung der Zukunft geht. Gewiß ist das Menschliche auch in der westlichen Welt tief gefährdet. Aber die gesellschaftlich-politische Wirklichkeit des Westens läßt bei aller ihrer Unzulänglichkeit nicht bloß Raum für menschenwürdige Ordnungen des Daseins, sondern sie muß solche Ordnungen fordern, sofern sie ihrer Idee, ihrem strukturellen Grundgesetze, treu bleiben will. Im Unterschied dazu sind die unmenschlichen Ordnungen des Ostens das folgerichtige Ergebnis eines verkehrten ideellen Ansatzes; und eben darum sind sie im letzten heillos, selbst wenn sie zeitweilig erträglich erscheinen. Je klarer wir diesen Sahverhalt erkennen, desto besser werden wir als Westen dem Osten antworten können.

Niemand wird so töricht und so vermessen sein, Blaupausen für die künftige militärische, politische oder kulturelle Strategie des Westens gegenüber dem Osten entwerfen zu wollen. Aber jeder von uns ist mitverantwortlich dafür, daß die Antwort des Westens nicht ins Blaue hinein gegeben wird. Wo so viel — Leben und Tod, für den Westen und den Osten — von der richtigen Antwort abhängt, sind wir alle mitverantwortlich: vor allem wir in der Freien Welt, unvergleichlich mehr als unsere Gesinnungsfreunde im Osten.

Das Erste, was zu sagen ist, ergibt sich aus der Forderung der totalen Selbstaufgabe, die der Osten an den Westen richtet. Wir sollen zer-stören und niederreißen, was unvollkommen und angeblich hoffnungslos veraltet ist: um Platz zu machen für das Neue, Vollkommene: für den neuen Menschen, den Sowjetmenschen, für die neue ideale Ordnung des Kommunismus „Jedem nach seinem Bedarf!" — Wir können darauf nur antworten mit dem Willen zu bewahren, was wert ist, bewahrt zu werden. Und das ist sehr viel. Kultur ist nichts Geringes. Sie wird nicht geschenkt; sie ist Frucht des labor improbus, des geduldigen Bemühens vieler, sehr vieler Generationen. Es ist genug zerstört worden in unserer Welt, viel zu viel schon: materielle und ideelle Werte, Menschenleben und Menschenwerk: in den europäischen Bruderkriegen der Vergangenheit; in den endlosen Hegemoniekämpfen der europäischen Nationen der Neuzeit; in den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Revolutionen der letzten beiden Jahrhunderte, aus denen diese unsere Welt von heute hervorgegangen ist. Wir, die Menschen dieser Jahrhundertmitte, wollen nicht mehr zerstören; wir wollen aufbauen. Wir halten nichts von einem Perfektionismus, der das mehr oder weniger Gute um des angeblich Besseren oder gar Vollkommenen willen beseitigt. Wir wissen nur zu gut, daß alle irdischen Paradiese verzweifelte Ähnlichkeit mit der Hölle haben, — und daß das heutige Paradies im Osten in dieser Hinsicht bisher das vollkommenste ist. Der Westen mag sehr unvollkommen sein; aber wir haben nicht die Absicht, seine angebliche oder tatsächliche Unordnung durch die gepriesene Ordnung des Ostens zu ersetzen. Wir werden uns also widersetzen, mit allen Kräften, wenn er versuchen sollte, uns zu unserem angeblichen Glücke zu vergewaltigen. Und um ihm die Lust dazu zu nehmen, werden wir uns politisch und wirtschaftlich und militärisch so stark machen, wie es nötig ist.

Das wird uns nicht leicht werden. Es erfordert Opfer, und die schiebt jeder gern dem anderen zu. Die Staaten der Freien Welt haben in dieser Hinsicht eine große Fertigkeit erreicht, und sie haben die besten Absichten; sie sind nicht umsonst jahrhundertelang durch die politische Schule der Staatsräson, lies des schrankenlosen Staatsegoismus, gegangen. Das hat z. B. bewirkt, daß die junge Geschichte der europäischen Integration und der westlichen Bündnissysteme seit 1945 nicht gerade ein Exempelbuch der übernationalen Solidarität geworden ist. Noch weniger gilt das für die weitere Vergangenheit. Und die Folgen? Noch vor einem halben Jahrhundert hat die europäische Staatengruppe die Herrschaft über die Welt in der Hand gehabt. Heute kämpft Europa um eine bescheidene Möglichkeit, im Weltmächtesystem der Zukunft überhaupt noch mitzuspielen. Es wird ihm nicht gelingen, wenn die Völker Europas nicht begreifen, daß sie ihren Egoismus sehr kräftig beschneiden müssen, um ihr Ego zu retten.

Weltoffenheit des Westens — Abschließung des Ostens

Wir wollen und müssen bewahren, was bewahrenswert ist. Dafür reicht eine bloße Defensivhaltung nicht aus. Die Verteidigung des Westens muß offensiv geführt werden. Dazu bedarf es keiner Waffen, keiner Eroberungen, keiner Kolonien: mit alledem ist es aus und vorbei, und jeder Rückgriff auf solche Methoden der Vergangenheit würde nur schaden. Der Westen hat aber nicht nur erobernd und erraffend in die Welt ausgegriffen; er hat auch in die Welt ausgestrahlt wie keine andere Kultur der Geschichte. Durch die europäische Expansion über die Erde, ist die geschichtliche Einheit der Ökumene überhaupt erst geschaffen worden. Europa war es, das eine die ganze Menschheit umfassende Zivilisation begründet hat. Was von dieser kleinen westlichen Halbinsel Asiens ausgegangen ist, wird denkwürdig bleiben, solange es eine Menschheitsgeschichte geben wird. Auch der heutige Osten ist in seiner materiellen und geistigen Zivilisation zum guten Teil eine Schöpfung aus westlichem Geiste; schließlich und endlich ist der Kommunismus eine im Westen aufgekommene Idee, die sich gegen den Westen gewandt hat. Die europäische Aktivität war immer gerichtet auf Umgestaltung der Welt und insofern „aggressiv“: oft in einer wenig behutsamen, verletzenden Weise; immer aber im Sinne jenes zupackenden Herangehens, ohne das nichts zuwege gebracht wird. Und immer war der Westen dabei offen zur Welt hin, räumlich wie geistig: prüfend, verstehend, und annehmend, was zuträglich erschien. Er wird es bleiben müssen, wenn er sich behaupten will gegenüber der östlichen Aggressivität, die grundsätzlich jedes andere Lebensrecht bestreitet und die sich selbst der übrigen Welt verschließt, geistig wie räumlich.

Freilich wird der Westen seine Expansivität läutern müssen, wenn sie ihm in der heutigen Weltstunde von Nutzen sein soll. Wir Europäer haben den Schöpfungsauftrag, uns die Erde untertan zu machen, in der Vergangenheit nicht selten allzu buchstäblich und einseitig an uns gerichtet verstanden und etwas zu gewaltsam ausgeführt. Allerdings hat der heute so viel geschmähte europäische „Kolonialismus“ neben nicht wenig Schlimmem auch mancherlei Gutes bewirkt. Sein heutiges Zerrbild ist großenteils das Ergebnis einer östlichen Zwecklüge, obwohl — oder gerade weil — die Methoden der russischen Expansion an Brutalität und Niedertracht bis heute unübertroffen sind. — Aber es bleibt trotzdem eine Tatsache, daß der Wohlstand des Westens nicht bloß durch die harte und zähe Arbeit europäischer Pioniere, sondern auch mit dem Blute und dem Schweiße von vielen Millionen Nichteuropäern zustande gekommen ist. Die unheilige Trinität von „Krieg, Handel und Piraterie ist aus der Geschichte der europäischen Ausbreitung über die Erde nicht hinwegzudenken; und „Handel“ ist ein reichlich schönfärbender Ausdruck für nicht wenige Geschäfte, die dabei getätigt wurden. Auch sonst haben die Eingeborenen die Weißen nicht nur in der Conquista, nicht eben von ihrer besten Seite kennengelernt. Was seit dem fünfzehnten Jahrhundert von Europäern und in ihrem Auftrag an Menschen aller Hautfarben gesündigt wurde, ist ebensowenig rühmlich wie das, was die Weißen sich oft genug gegenseitig angetan haben, wo sie es konnten. Und das besagt doch wohl, daß der Westen einiges gutzumachen hat an seinen einstigen Kolonien und Interessensphären. Daß manche von ihnen heute, Jahrhunderte nach dem Erscheinen der Europäer, noch recht zurückgeblieben sind, das liegt nicht nur an ungünstigen Gegebenheiten. Es hat sich oft auch aus einem kalt berechnenden Kalkül der Schutzmächte ergeben, die nur ihr eigenes, sehr grob aufgefaßtes Wohl im Auge hatten und sonst nichts. Oft genug bestand der angebliche Schutz in der Hauptsache darin, daß sie andere daran hinderten, sich an der Ausbeutung zu beteiligen; oder daß sie umgekehrt sich mit solchen anderen, die nicht beiseite gedrängt werden konnten, zur gemeinsamen Ausbeutung zusammenfanden. Dahin gehört z. B. das Bündnis der Kolonialmächte mit eingeborenen Feudalherren in manchen Teilen Afrikas oder Monsunasiens oder die Zusammenarbeit von afrikanischen Sklavenjägern und europäischen Sklavenhändlern. Auch die Beibehaltung von veralteten Produktionsmethoden, die Begünstigung riesiger Latifundien oder die Hochzüchtung von krisenempfindlichen Monokulturen ohne Rücksicht auf eine gesunde Wirtschaftsstruktur sind im Sündenregister des Kolonialismus häufig vertreten.

In diesem Zusammenhang gewinnt heute das Problem des Hungers in der Welt für die Antwort des Westens entscheidende Bedeutung. Daß die Hälfte der Menschheit an allgemeiner und ein weiteres Drittel an teilweiser Unterernährung leidet, fällt zwar nicht allein oder auch nur in erster Linie den Europäern zur Last. Es gibt auch in Europa noch Gebiete, deren Bevölkerung an Unterernährung leidet; und der Hunger ist in manchen überseeischen Ländern seit Menschengedenken endemisch. Was ihn aber heute zu einer politischen Gefahr für den Westen macht, ist die Tatsache, daß den Hungernden der schreiende Widerspruch zwischen ihrer menschenunwürdigen Lage und der immer noch steigenden Lebenshaltung der westlichen Nationen weithin zum Bewußtsein gekommen ist. Mit noch so großzügigen Spenden ist dieser Lage nicht abzuhelfen. Vielmehr müssen die Produktiv-kräfte der zurückgebliebenen Länder zielbewußt entwickelt werden, was wiederum ohne tiefeingreifende wirtschaftliche und politische Maßnahmen in den Industrieländern des Westens nicht möglich ist. Sollten sie sich diesen längst fälligen, empfindlichen Eingriffen weiterhin entziehen, so werden sie den weitaus größten Teil der Menschheit dem Osten in die Arme treiben. Denn es muß auf die Verzweifelnden einen starken Eindruck machen, daß die Sowjetunion den Hunger, obschon unter Anwendung barbarischer Zwangsmethoden und unter Opferung von Millionen von Menschen, in vierzig Jahren beseitigt hat, während Europa immerhin dreihundert Jahre dazu benötigte.

Eine wirksame „Entwicklungshilfe“ wird freilich ganz andere Anstrengungen erfordern, als der Westen bisher ins Auge gefaßt hat. Sie wird in den Ländern des Westens nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Änderungen notwendig machen, die einer Folge von Revolutionen gleichkommen. Diese Umwälzungen werden kaum weniger bedeutend sein als jene in den Entwicklungsländern. Es wäre naiv zu meinen, man könne auf lange Sicht ohne eine beträchtliche Senkung der Profitrate, ohne Änderungen des Preisgefüges oder Stabilisierung der Rohstoffpreise auf möglichst niedrigem Niveau, ohne eine empfindliche Besteuerung des Nationaleinkommens in allen Ländern des Westens, — kurz ohne eine gewisse Planung im weltwirtschaftlichen Rahmen auskommen. Die freie Marktwirtschaft taugt für einige hoch-entwickelteIndustriestaaten, nicht aber für eine Welt, die infolge der Gegensätze von Satten und Hungernden mit Sprengstoff aufgeladen ist. Eine Ordnung, die die Vorzüge des freien Unternehmens mit einer vorsichtigen Lenkung verbindet, ist unabweisbar. Die politischen Folgerungen liegen auf der Hand. In ihrer Konsequenz liegt eine dem Einzelstaate übergeordnete Staatsgemeinschaft, die ohne eine begrenzte Exekutivgewalt nicht denkbar ist. Sollte sie — aus welchen Gründen immer — nicht zustandekommen, so würde sich der freie Westen damit sein Urteil gesprochen haben.

Die besondere Verantwortung Deutschlands

In diesem Zusammenhang ist ein Wort zur Stellung Deutschlands zu sagen. Wir Deutschen können und dürfen uns von allen Lasten, die die Verteidigung des Westens mit sich bringt, zu allerletzt ausschließen. Wir haben zwar im Punkte Kolonialismus nur läßliche Sünden begangen, — übrigens nicht aus Tugendhaftigkeit, sondern aus Mangel an nächster Gelegenheit. Aber wir sind leider in erster Linie dafür verantwortlich, daß der Osten seine gewaltige Machtstellung von heute erhalten hat. Nicht erst die Politik des Dritten Reiches hat dem russischen Vordringen unfreiwillig Vorschub geleistet und maßgeblich dazu beigetragen, aus dem alten antemurale christianitatis zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meere eine Ausfallstellung des Ostens gegen den Westen zu machen. Wir Deutschen, die wir die Hauptverantwortung dafür tragen, können uns nicht mit einem noch so hohen Anteil an den Rüstungsanstrengungen des Westens loskaufen. Wir dürfen uns auch nicht verhehlen, daß wir den unter das Sowjetjoch geratenen Völkern Ostmitteleuropas gegenüber eine besondere Wiedergutmachungspflicht haben. Sie wird unser Opfer abverlangen, wie sie noch keiner Nation des Westens je zugemutet worden sind. Nur die Setzung neuen Unrechts, wie sie ein Friedensvertrag auf Grund des Status quo darstellen würde, dürfen und müssen wir ablehnen: weil Unrecht nicht durch Unrecht wiedergutgemacht werden kann; weil der Status quo keine Lösung der Ost-West-Spannung bringen würde; und weil ein solcher Friedensschluß keinen Frieden auf Dauer zwischen uns und unseren östlichen Nachbarn zulassen würde. Wohl aber werden wir auf sehr, sehr viel verzichten müssen.

Die Erhaltung und Sicherung des Bestandes der westlichen Welt, zu der wir Deutschen besonders viel beitragen müssen, ist jedoch erst ein Anfang. Am gefährlichsten bedroht ist der Westen nicht durch die materielle Stärke des Ostens, — und freilich noch weniger durch seine materialistische Ideologie. Die eigentliche Bedrohung vom Osten her liegt in seinem messianischen Willen und der ihm entgegenkommenden Erlösungssehnsucht vieler Menschen im Westen; nicht zuletzt in der seelisch unterernährten westlichen Intelligenzschicht. Angesichts dieser Bedrohung wird die Zukunft des Westens entscheidend davon abhängen, ob er sich noch einmal auf seine eigene geschichtliche Idee besinnen wird; ob er imstande sein wird, nicht bloß von ihr zu reden, sondern sie ernst zu nehmen: sich ihr wirklich hinzugeben und sie bei sich selbst durchzusetzen. Wenn das nicht geschieht, wird die westliche Welt sich nicht als mitgestaltende Geschichtsmacht der Zukunft bewähren: ganz einerlei, welchen Vorsprung sie auf dem materiellen, wissenschaftlichen oder technisch-industriellen Gebiete behaupten oder zurückgewinnen sollte. Ohne die Realisierung seines eigenen Ordo wird der Westen nicht als geschichtliche Größe sui generis überleben.

Auch der Wille zur bloßen Erhaltung des neuzeitlichen politischen Ordnungsprinzips des Westens reicht nicht dazu aus: der Wille also zu zwischenstaatlichen Bindungen, die wie jede politische Ordnung auf Macht beruhen, jedoch auf die zwangsweise Einigung der Partner verzichten. Eine Ordnung, die sowohl den ihr eingegliederten Kollektiven wie den in ihr zusammengeschlossenen Bürgern Freiheit und Selbstbestimmung gewährleistet, ist gewiß ein großer Gedanke. Aber ein solches Organisationsprinzip ist schließlich und endlich doch nur formal. Es sagt noch nichts aus über das Wozu und Wofür, der Freiheit wie der Autorität; nichts auch darüber, worin eigentlich das „Menschliche“ besteht, das gesichert werden soll. Seine materielle Erfüllung, seine fundamentalen Inhalte, Werte und Leitbilder wird der Westen heute wie in Zukunft nur finden in den Traditionen des europäischen Geistes, in seinem antiken und vor allem christlichen Mutterboden. Es ist noch immer, auch im geschichtlichen Dasein, der Geist, der lebendig macht.

Vermag der Westen nicht, seine Gliedgemeinschaften auf diesen seinen Ordnungsgedanken zu verpflichten und in ihm zu einigen, dann wird er zu keiner überzeugenden Anwort an den Osten imstande sein.

Aus alledem ergibt sich, daß jede bloße Restauration dessen, was einmal gewesen ist, unsinnig sein würde. Sie würde — in einer Epoche größter Umwälzungen in allen Daseinsbereichen — die Zukunft und ihre Aufgabe verfehlen. Wir stehen allem Anschein nach mitten im dritten Akte, auf dem Höhepunkt der großen Revolutionsepoche, die 1789 begann und in den beiden Weltkriegen die Neuzeit zu Grabe getragen hat. Aus einer Revolution muß man vorne heraus, nicht hinten. Davon waren am Ende des Zweiten Weltkrieges nicht ganz wenige Menschen, in Deutschland wie anderwärts, überzeugt. Sie zweifelten nicht im mindesten daran, daß wir von Grund auf umdenken und neu aufbauen müßten. Einer der Blutzeugen des deutschen Widerstandes, P. Alfred Delp, schrieb damals aus seiner Gefängniszelle: „In einer verkehrten Welt kann man nicht richtig leben. Die Welt aber ist verkehrt, weil der Mensch durch die Sünde pervertiert ist. — Somit stellt sich die Frage , Was ist zu tun?'. Es gibt drei Möglichkeiten: 1. Alles lassen; die Ordnung Gottes verkünden und von ihrer Anerkennung alles erwarten. 2. Den Menschen in Ordnung bringen und von seiner Gesundheit die Gesundung erwarten. 3. Den Lebensraum in Ordnung bringen und dann einen Erfolg des Menschen erwarten.“ Und die Antwort: „Man muß alle drei Möglichkeiten tun.“

Wie konkret und wirklichkeitsnahe solche Gedanken bei aller Kühnheit des Ansatzes und der Perspektiven waren, zeigt am besten die Kritik, die der Sozialist Julius Leber in seinen nachgelassenen Aufzeichnungen an den verbürgerlichten Kaders und der unwahrhaftigen Ideologie seiner Partei oder P. Delp an der verbürgerlichten Kirche und ihrer bürokratischen Apparatur geübt haben. Das gilt auch für die Richtlinien, die nach der Meinung dieser Männer und vieler Gleichgesinnter beim Neuaufbau — gleichviel unter welchen äußeren Voraussetzungen — wegweisend sein sollten. Sie waren revolutionär und konservativ zugleich. Die formale Demokratie mit ihrem lebensfremden Gleichheitsprinzip und der Vergötzung des souveränen Volkes oder Staates wurde ebenso abgelehnt wie eine Restauration überlebter Herrschaftsformen oder die totalitäre Diktatur; der liberalistische Kapitalismus ebenso wie der kollektivistische Sozialismus oder das marxistische Klassenkampfschema. Der Entpersönlichung und Vermassung des Menschen durch die atomisierte Gesellschaft und die arbeitsteilige, technisierte Umwelt sollte bewußt entgegengewirkt werden: politisch durch eine lebendige Demokratie, die dem Staatsbürger in überschaubaren politischen Einheiten gegenübertritt und sich von der Urzelle der Familie und der Gemeinde bis zum Bundesstaat und der schon damals angestrebten, übernationalen europäischen Einheit föderativ und damit freiheitlich aufbaut; unter Einbeziehung aller Gruppen, die in der herkömmlichen Form der Demokratie nicht oder nur unzulänglich integriert sind, wie der Kirchen, der Gewerkschaften, der Unternehmerschaft und der Berufsstände. Wirtschaftlich gehörten zu den wichtigsten Forderungen eine großzügige Neuschaffung von Bauernstellen durch Aussiedlung des Großgrundbesitzes, die Mitbestimmung des Arbeiters im Betrieb und eine breite Eigentumsbildung, etwa durch Ausgabe von Kleinaktien und eine zweckmäßige Steuergesetzgebung. Sie wurden jedoch nicht so sehr erhoben, um den einzelnen von materiellen Sorgen zu befreien, sondern um die Würde und Freiheit des arbeitenden Menschen durch seine Beteiligung an den Produktionsmitteln auch materiell möglichst solid zu unterbauen. Nicht der Mensch als Wirtschaftsfaktor, sondern als im Dienste des Ganzen zur Entfaltung berufene Person sollte den Anspruch auf weiteren materiellen Spielraum rechtfertigen. Aus dieser Sicht ergab sich von selbst die Forderung einer familiengerechten Sozialpolitik, — von der wir heute in Deutschland weiter entfernt sind als jede große Nation des Westens. Es sollte uns zu denken geben, daß diese politisch-sozialen Leitgedanken sich aufs engste mit Ideen berühren, die einer der führenden Köpfe des französischen Widerstandes, Emmanuel Mounier, entwickelt hat: ein Anzeichen dafür, daß sich schon damals über die nationalstaatlichen Fronten und Grenzen hinweg gemeinsame Leitbilder für eine gemeinsame Zukunft durchzusetzen begannen, die ernstzunehmen wir heute alle Veranlassung haben.

Wir sind darauf noch mehr angewiesen als die Menschheit von 1944/45. Der Westen als Ganzes erscheint heute noch ungleich mehr gefährdet als damals. Die Schablonen aus der Vorkriegszeit passen heute noch weniger als am Kriegsende. Wie in den zwischenstaatlichen Beziehungen oder im staatlich-institutionellen Bereiche, so werden wir auch auf anderen Gebieten dem Osten mit überzeugenderen Lösungen als bisher antworten müssen. Die Einsicht von 1945 war richtig: „Es geht nicht“ — schrieb damals Alfred Delp — „ohne ein Minintunt von Personalität und Solidarität, es geht nicht ohne ein Minitnutn von allgemeiner Hingabe an die Transzendenz. Es geht schließlich nur so, daß man die verschiedenen Lebensräume in Ordnung bringt, innen die Persönlichkeit, außen die Familie, Gemeinde, Betrieb.“ Und auch in der Bestandsaufnahme von damals hat sich im Grunde nichts geändert. „Der Mensch ist nicht nur gottlos, sondern gottes-unfähig. Es hat sich dem Menschen ein Bild seiner selbst gebildet, in dem er sich nur noch als ens Vegetativum et sensitivum sieht. Verstand, Vernunft, Gemüt sind eigentlich nur noch Larven zur Intensivierung des Faktischen. Es ist der Mensch anzuleiten, sielt selbst als Ordnungsentwurf ernst zu nehmen und zu deuten und zu befolgen .. . Es ist auf eine Ordnung des äußeren, sozialen, wirtschaftlichen, technischen etc. Lebens hinzuarbeiten, die dem Menschen ein relativ gesichertes Existenzminimum feglicher Art (auch geistig, zeitlidt, räumlich etc.) verbürgt. Das Maß des Ziel bildes ist vom Menschen zu nehmen; das Ausmaß der jeweiligen Verwirklichung ist nach den sachlichen Möglichkeiten zu bemessen: die Durchführung ist zu erzwingen.“

Es gehört zu den ermutigenden Erscheinungen im Bilde des heutigen Westens, daß in vielen Bereichen des Denkens und Lebens Strömungen zu verzeichnen sind, die trotz der Fassadenwelt, die uns umgibt, in ihrer Konsequenz den vulgären Materialismus der Endphase der Neuzeit sprengen müßten. Eine neue Sicht der menschlichen Wirklichkeit in allen Lebensbereichen scheint sich anzubahnen. So kündigt sich z. B. nicht bloß von der Philosophie der Gegenwart her ein neues Verhältnis zur Transzendenz an, sondern auch und gerade in jenen Wissenschaften, die bisher als uneinnehmbare Bollwerke des materialistischen Denkens galten: in den Wirtschafts-und Sozialwissenschaften. In diesen stehen heute die sogenannten „menschlichen Probleme der Gesellschaft“ im Vordergrund. Bei der Vollbeschäftigung z. B. oder der Mechanisierung geht es nicht bloß um die Erhöhung der Produktion, sondern auch darum, den Menschen in der industriellen Arbeitswelt bessere Möglichkeiten der Daseinsgestaltung zu verschaffen. Auch bei Fragen wie der Verstaatlichung oder der Mitbestimmung ist nicht die Rücksicht auf die Produktivität oder die Hebung des Lebensstandards entscheidend; die Testfrage ist vielmehr, ob man auf diesem Wege der Menschenwürde des Arbeiters gerechter werden kann. In ähnlicher Weise wird — wenn nicht von den Politikern, so doch von den Soziologen — die Familie heute als das fundamentale Element der Gesellschaft begriffen und auch als sittliches Werk gewürdigt. Werden solche praktischen Probleme unserer politisch-sozialen Wirklichkeit folgerichtig weiter durchdacht, so müssen sie schließlich das gesellschaftswissenschaftliche Denken aus seiner Verstrickung in nur wirtschaftliche und politische Kategorien befreien. Es würde sich dann herausstellen, daß sowohl der heutige Neoliberalismus des Westens wie sein Antipode, der Kommunismus, nach-hinkende Ideologien gewesen sind, deren geschichtliche Zeit im Grunde bereits abgelaufen war, als sie sich noch bitter befehdeten.

Hoffnung auf die Nachkriegsgeneration

In jedem Zeitalter tritt ein Menschentyp hervor, der wesentliche Charakterzüge seiner Zeit verkörpert. Die Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg erblickte, soweit sie nicht einer romantisch verklärten Vergangenheit nachhing, ihr Ideal in Männern, die den brüchigen Konventionen ein Dasein am Rande der Gesellschaft oder in der inneren Emigration verzogen. Sie fühlte sich zu ihnen hingezogen durch das Empfinden, daß Ungebundenheit und Gefährdung sie zu tieferen Schichten der Wirklichkeit in Beziehung setze als zu jenen, die ihrer Umwelt zugänglich waren. Wir brauchen nur daran zu denken, was z. B. Kierkegaard und Nietzsche, van Gogh und Chesterton, Dostojewski und Hemingway, Whitman und T. E. Lawrence dieser Generation zu bedeuten hatten. Solche Männer schufen Kultur, indem sie sich von der Kultur ihrer Zeit ausschlossen; und eben diese Abseitshaltung war es, von der ihre jungen Verehrer sich angezogen fühlten. Dabei sprach nicht selten eine unverhohlene Abneigung gegen die technische Welt, gegen das „seelenlose“ Maschinenzeitalter mit. Nicht zuletzt darum, weil sie sich von dieser aufsteigenden Welt in ihren menschlichen Werten bedroht fühlte, war die junge Generation der frühen zwanziger Jahre Weltuntergangsstimmungen und -prophetien zugänglich, wie sie am erfolgreichsten Sprenglers „Untergang des Abendlandes“ verkündete.

Der neuen Nachkriegsgeneration scheint dieser Protest gegen die Technik nicht mehr recht verständlich zu sein. Nicht nur darum, weil ihr die Maschine zum selbstverständlichen Mittel der Daseinsbewältigung und -gestaltung geworden ist; sondern auch darum, weil sie durch die Technik ihr Menschsein nicht nur nicht bedroht fühlt, sondern in ihr Möglichkeiten der Steigerung sowohl ihres subjektiven Lebensgefühls wie auch des Menschlichen überhaupt erblickt. Das entspricht insofern der jüngsten Stufe der industriellen Revolution seit dem Zweiten Weltkrieg, als mit den neuen, elektronisch selbstgesteuerten Automaten der Mensch von der „Bedienung" der Maschine loszukommen beginnt: von einer Beziehung also, die seine Freiheit und Würde ohne Zweifel eingeengt und auf die er mit einer Oppositionshaltung geantwortet hat. Diese Wandlung müßte aber auch politische Auswirkungen nach sich ziehen. Denn die Selbstentfremdung des Menschen in der industriellen Revolution des neunzehnten Jahrhunderts hatte ihn nicht nur gegen die Technik, sondern auch gegen die mit dieser Stufe verknüpfte Gesellschaftsordnung rebellisch gemacht. Eine solche Haltung wird jedoch gegenstandslos in einer Zivilisation, in der der Mensch mit der Maschine vertraut zusammenarbeitet. Sein unbefangenes Ja zur Technik hat auch nichts mehr mit jener Vergötzung zu tun, die der älteren Generation als Alternative zu ihrer Ablehnung blieb, und die im Osten zunächst, nach der Revolution, zu beobachten war, wie sie heute auch in den Entwicklungsländern die Zivilisationsscheu abgelöst hat. Das Ja der Jüngeren zur Technik scheint vielmehr Hand in Hand zu gehen mit der ahnenden Gewißheit, daß auch die technische Welt ihren letzten Sinn nicht in sich selbst trägt; daß sie nichts Absolutes ist, sondern auf ein Höheres bezogen bleibt; und daß es für den Menschen darauf ankommt, für diesen verborgenen Sinn der heutigen Weltzeit offen zu sein. Manches, insbesondere manche Klagen der Parteistellen könnten darauf hindeuten, daß auch in der Jugend der Sowjetunion die Einsicht dämmert, die Technik und die Produktionsverhältnisse könnten das Menschenwesen als solches nicht „feststellen“; und daß die vom Kommunismus verheißene Transfiguration der Welt und der Menschen durch die Arbeit allein nicht zu bewirken sei.

Die Hoffnung auf eine Erneuerung des Menschen könnte als Antwort des Westens recht weltfremd erscheinen, fernab der harten Wirklichkeit des heutigen Ost-West-Gegensatzes. Wenn jedoch dieser Gegensatz mehr ist als ein machtpolitischer Interessenkonflikt, wenn in ihm widerstreitende Prinzipien und letzte Haltungen miteinander ringen, dann wird für seine Überwindung alles das bedeutsam, was die Kruste der Materialismen im Osten wie im Westen zu durchstoßen geeignet erscheint. Selbst ein Berufsdiplomat von Rang und so kompetenter Fachmann für Fragen der Ostpolitik wie Georg F. Kennan hat auf die Frage, wie der sowjetischen Gefahr am besten zu begegnen sei, geantwortet: „Bei unseren eigenen Fehlern, bei den Dingen, derer wir uns selbst schämen, . . . bei den sozialen Zuständen in unseren großen Städten, bei der Erziehung und Umwelt unserer Jugend, bei der wachsenden Kluft zwischen Fachwissen und Volksbildung . . . Ich möchte hinzufügen, daß dies Probleme sind, die nicht nur durch das gelöst werden, was wir oder andere in der Stratosphäre angeben. Wenn Lösungen für sie gefunden werden sollen, dann müssen sie hier auf unserer alten Erde gefunden werden — durch das Verhalten der Menschen untereinander und das Ringen jedes einzelnen um eine höhere Sittlichkeit. Gäbe es eine Wahl zwischen dem Start von Erdsatelliten und der fortgesetzten Beschäftigung mit diesen sddichten Problemen, würde ich hundertmal lieber das zweite wählen; denn wenn wir darin keine Fortschritte machen, wird uns kein Erdsatellit je retten können. Ob wir gegen die Russen siegen, hängt vor allem davon ab, ob wir den Kampf gegen uns selbst bestehen."

Kennan weiß und wir wissen, daß es die Wahl zwischen Erdsatelliten und dem Ringen um eine höhere Sittlichkeit vorerst nicht gibt. Noch müssen wir dieses tun und dürfen jenes nicht lassen. Aber indem wir uns offen halten für das, was auf uns zukommt, indem wir durch die technische Revolution hindurch wieder zu einer dem Menschen dienenden Zivilisation vorstoßen, und indem wir zugleich immer wieder uns selbst und unser Verhalten zu unseren Mitmenschen in allen Daseins-bereichen, nicht zuletzt im Wirtschaftlich-Sozialen, der sittlichen Norm unterstellen, bleiben wir nicht nur dem Gesetze treu, nach dem der Westen einst angetreten ist und das ihn wahrhaft groß gemacht hat. Wir schlagen damit vielleicht auch eine Brücke über die Kluft, die den Osten heute noch vom Westen trennt.

So tief diese Kluft im Geistigen angelegt war: zur schwärenden Wunde wurde sie erst dadurch, daß das Russentum vergewaltigt wurde durch eine Europäisierung, die keine war. Rußland übernahm nach einigen Fehlschlägen vom Westen schließlich nur seine äußeren Errungenschaften, nicht seine geistigen Werte. Das, was seine Machthaber dafür hielten, der marxistische Sozialismus, war ein europäischer Irrtum, der sich im Westen — als Doktrin jedenfalls — längst ad absurdum geführt hatte. Im Rußland Lenins und seiner Epigonen aber wurde er zu einer Heilslehre emporgefeiert, die den Platz der ermordeten einheimischen Tradition einnahm. Die Frömmigkeit der Ostkirche und ihre Spiritualität wurde ersetzt durch den materialistischen Atheismus und den auf ihn gegründeten säkularen Endzeitglauben. Der Osten begab sich rückhaltlos auf die vermeintliche Ebene seines westlichen Gegenspielers. Er verfehlte jedoch damit nicht nur den Westen, sondern auch sich selbst. Als Ergebnis blieb das heutige Rußland: eine ungeheure, fassadenhafte Scheinwelt, die auf keinem eigenen Fundament aufruht. Es ist eine einzige Flucht vor sich selbst, vor seiner inneren Geschichte.

Wir im Westen, vornehmlich wir Deutschen, haben diese Flucht vor uns selbst schon mehr als einmal versucht. Sie hat uns und mit uns ganz Europa zuletzt an den Rand des Nichts geführt. Wir sind noch einmal davongekommen. In den apokalyptischen Schrecken des Zusammenbruchs haben die Besten von uns vor Gott und der Geschichte versprochen, eine bessere westliche Welt zu errichten: eine, die ihr Maß vom Menschen nimmt, der imago Dei ist. Wir Überlebenden haben viel geschaffen und erreicht; aber dieser Aufbau ist in den Anfängen stechen geblieben. Wird die aufsteigende Generation das Werk in Angriff nehmen? Für die Dimensionen, die sich seit 1945 abzeichnen, scheint sie Voraussetzungen mitzubringen, die den Älteren von uns gefehlt haben und wohl fehlen mußten. Aber auch drüben im Osten scheint eine junge Generation heranzuwachsen, die vom Trauma der Älteren frei ist. Sie ist heute noch künstlich und gewaltsam von ihren Kameraden im Westen getrennt. Wenn es jedoch gelingen sollte, die Totalkatastrophe eines Dritten Weltkrieges zu vermeiden, dürften der westliche Neoliberalismus und der östliche Kommunismus nicht mehr lange als ideologischer Eiserner Vorhang von Bestand sein. Jugend hat nichts übrig für „nachhinkende Bewegungen". Und hüben wie drüben steht sie der aufsteigenden Welt des Atomzeitalters, der Automation und der Kybernetik mit mehr Offenheit und zugleich Gelassenheit — mit einem Wort: menschlicher gegenüber, als die vorausgegangenen Generationen der Umwelt ihres Zeitalters.

Der Westen ist das, was er ist, geworden durch eine Haltung, die einer seiner großen Erzieher, der Vater des abendländischen Mönchtums, auf die Formel „Ora et Labora“ gebracht hat. Im Zeichen dieser Maxime hat die europäische Menschheit den Grund zur westlichen Kultur und Wissenschaft gelegt. Auf diesem Fundamente ruht — nur wenige Europäer sind sich heute noch dessen bewußt — nicht nur die staunenswerte Zivilisation des Westens. Ihm verdanken wir auch die Institutionen und die Ordnungen des Daseins, in die hinein der Westen die Freiheit und die Würde des Menschen geborgen hat. Als die westliche Menschheit nur noch das Labora, die Arbeit ernst nahm, wurde ihr weltgeschichtlicher Glanz sehr bald zum Elend. — Der Osten zog das Ora vor; er glaubte in seinem Verlangen nach der Vollendung der Welt und des Menschen auf den vorläufigen Schutz des Menschen durch rechtlich abgesicherte Institutionen verzichten zu können. Er übersah das Labora im politisch-sozialen Bereich so lange, bis er über ihn als äußerer Zwang hereinbrach. Der letzte Akt der vermeintlichen Europäisierung Rußlands wurde zur äußersten Selbstentfremdung. Er erfolgte im Zeichen des Atheismus und mit dem Anspruch, der Menschheit die Erlösung zu bringen. Es gibt nur eine Antwort auf diese Herausforde-rung: „Entweder“, schrieb Wladimir Solowjew 1890, „sollen die Gesellsdiaften, die sich christlich nennen, diesen Namen verleugnen; oder sie sollen es als ihre Pflicht erachten, alle ihre politischen und sozialen Verhältnisse in Einklang mit den christlichen Prinzipien zu bringen: sie also in die Sphäre des Gottesreiches einzuführen. Das ist die wahre christliche Politik.“ — Es ist die einzige Politik, mit der der Westen dem irdischen Erlösungsanspruch des heutigen Ostens überzeugend antworten kann. Ob das geschieht, wird von uns, von der westlichen Menschheit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, abhängen.

Anmerkung:

Georg Smolka, Dr. phil., geb. 8. 2. 1901 in Breslau, o. Prof, für Neuere politische Geschichte an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer.

Fussnoten

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