Warum der 9. November 1918 nicht zum Staatsfeiertag erklärt wurde
Wenige Ereignisse der deutschen Geschichte waren und sind so umstritten wie die Revolution von 1918
Der Streit der Meinungen ist also nicht merkwürdig. Es wäre vielmehr sonderbar, wenn es ihn nicht gegeben hätte. Aber wirklich auffällig und kennzeichnend ist, daß sich nach vollzogener Revolution, von der allerersten Übergangszeit abgesehen, keine einzige politische Gruppe mit ihr identifiziert hat und daß folgerichtig der Tag, der die Voraussetzung zur Gründung der Weimarer Republik schuf, von dieser und den sie tragenden Gruppen nicht zum Staatsfeiertag erhoben wurde. So hat der 9. November für das deutsche Volk niemals auch nur annähernd dieselbe Bedeutung erlangt wie etwa der 14. Juli für Frankreich, der 4. Juli für die Vereinigten Staaten von Amerika oder der 7. November für die Sowjetunion.
Ein Grund dafür liegt auf der Hand. In der Niederlage geboren, erschien die Weimarer Republik vielen als bloßes Produkt des Zusammenbruchs ohne Eigenwert, ihre führenden Köpfe als Nutznießer des Elends der Nation. Die Dolchstoß-Legende in ihren verschiedenen Spielarten, nach der die Revolution dem deutschen Heer den sicheren Sieg geraubt oder doch wenigstens den möglichen weiteren Widerstand zur Erzwingung eines erträglichen Friedens verhindert habe, und die weite Verbreitung, welche diese Legende fand, sind hierfür Beweis
Indessen genügt dieser Hinweis nicht, um die Schwäche der jungen Republik hinreichend verständlich zu machen. Die Wirkung der Dolchstoß-Legende und anderer Propaganda-Manöver ist überhaupt eher ein Zeichen der Schwäche als deren Ursache. Die Ursache selbst wird man in der Unvereinbarkeit der politischen und sozialen Grundvorstellyngen sehen müssen, welche die mächtigsten und wichtigsten Gruppen und Parteien in Deutschland beherrschten
Ein Grund dafür liegt auf der Hand. In der Niederlage geboren, erschien die Weimarer Republik vielen als bloßes Produkt des Zusammenbruchs ohne Eigenwert, ihre führenden Köpfe als Nutznießer des Elends der Nation. Die Dolchstoß-Legende in ihren verschiedenen Spielarten, nach der die Revolution dem deutschen Heer den sicheren Sieg geraubt oder doch wenigstens den möglichen weiteren Widerstand zur Erzwingung eines erträglichen Friedens verhindert habe, und die weite Verbreitung, welche diese Legende fand, sind hierfür Beweis 2).
Indessen genügt dieser Hinweis nicht, um die Schwäche der jungen Republik hinreichend verständlich zu machen. Die Wirkung der Dolchstoß-Legende und anderer Propaganda-Manöver ist überhaupt eher ein Zeichen der Schwäche als deren Ursache. Die Ursache selbst wird man in der Unvereinbarkeit der politischen und sozialen Grundvorstellyngen sehen müssen, welche die mächtigsten und wichtigsten Gruppen und Parteien in Deutschland beherrschten 3).
Die Träger der Macht und der Staatsidee des Bismarck-Reiches, also die Rechtsparteien einschließlich der Masse der Nationalliberalen und die von diesen Parteien geführten oder beeinflußten Volksteile, vermochten die Revolution naturgemäß nicht zu billigen oder gar zu begrüßen. Im günstigsten Falle fanden sie sich mit den neugeschaffenen Tatsachen ab, und auch die verhältnismäßig wenigen Männer unter ihnen, die in Niederlage und Revolution das fast unvermeidliche Ergeb-nis einer verfehlten inneren und äußeren Politik erkannten, gewannen damit noch kein herzliches Verhältnis zu dem neuen Staatswesen.
Die politische Linke wiederum hielt in einer oft phantastischen Über-schätzung ihrer eigenen Stärke und Möglichkeiten die Ergebnisse der Revolution für allzu gering, als daß sie sich mit dem neuen Staat zu identifizieren wünschte. Ihr radikaler Flügel, der tief in die Unabhängige Sozialdemokratische Partei hineinreichte, glaubte, sich mit nichts geringerem als der vollständigen Ausschaltung aller nicht zu ihm gehörigen Kräfte zufriedengeben zu dürfen, war also das Spiegelbild der soeben gestürzten Rechten, ja, er ging weit über deren Ziele hinaus, hatte es doch im Kaiserreich niemals eine ausschließliche Herrschaft der Rechten gegeben. Beide Gruppen bestanden sozusagen aus Demokraten auf Zeit. Sie waren und blieben im Kern potentielle oder aktive Konterrevolutionäre. Zwischen ihnen stand der Block der Mehrheitsparteien der Kriegszeit, Mehrheitssozialisten, linke Liberale, Teile der Nationalliberalen und den weitaus größten Teil der Zentrumspartei umfassend 4). Diese politischen Gruppen erwiesen sich als stark genug, um das Absinken Deutschlands ins Chaos, den Zerfall des Reiches und die Errichtung einer Diktatur der radikalen Linken zu verhindern, die demokratische Republik zu gründen und diese zunächst auch gegen alle Anschläge von rechts zu verteidigen. In praktischer Politik noch wenig erfahren, mußten sie den Gebrauch von Macht erst erlernen. Sie standen vor der Aufgabe, ein desorganisiertes Staatswesen wieder funktionsfähig zu machen und waren dabei dem Druck eines harten, unerbittlichen Siegers ausgesetzt. Das zusammengebrochene Land hatte Jahre hindurch schwere außenpolitische Niederlagen und Demütigungen hinzunehmen, und eine geschickte und skrupellose Propaganda schob die Schuld nicht, wie es den Tatsachen entsprochen hätte, auf die völlige Machtlosigkeit des Reiches, sondern auf die Demokratie und ihre Parteien.
So ist es diesen nicht gelungen, eine stabile Staatsordnung zu errichten, den Gedanken des demokratischen Rechtsstaates fest in den Massen zu verankern und so die notwendige Macht zu erringen, die zur Abwehr der antidemokratischen Kräfte auf die Dauer erforderlich gewesen wäre. Keine einzige soziale Gruppe stand geschlossen und bedingungslos hinter der Republik. Vor allem waren es die Intellektuellen, die antidemokratischen Affekten zugänglich waren. Ein großer Teil von ihnen lehnte die demokratische Republik überhaupt ab. Manche bekämpften sie direkt mit dem Ziel, eine andere Ordnung an ihre Stelle zu setzen, sei es aus völkisch-nationalistischer, sei es aus kommunistischer Überzeugung. Wichtiger noch und weit verhängnisvoller war es, daß weite Kreise dieser wichtigen und einflußreichen Schicht, belastet von Sentiments und Ressentiments, den Staat, die regierenden Parteien und die führenden Männer einer permanenten erbarmungslosen Kritik unterzogen, ohne doch bereit oder fähig zu sein, selbst einen Teil der Verantwortung für das Ganze zu übernehmen
So hat der junge Staat kein Vertrauen in seine Dauerhaftigkeit wecken können. Es gelang ihm nie, die totalitären und antidemokratischen Kräfte der Rechten wie der Linken völlig unter Kontrolle zu bringen, und er ist zwischen ihnen zerrieben worden, als die Weltwirtschaftskrise Probleme aufwarf, die nur von einer starken und selbstbewußten Regierung ohne größeren Zeitverlust hätten gelöst werden können.
Folge des militärischen Zusammenbruchs
Es dürfte heute nicht mehr bezweifelt werden, daß die Novemberrevolution die Folge des militärischen Zusammenbruchs gewesen ist, der sich seit dem Sommer 1918 abzuzeichnen begann. Die Fehlschläge an der Westfront, der Abfall der Bundesgenossen und schließlich das dem widerstrebenden Reichskanzler Prinz von Baden von der Obersten Heeresleitung abgezwungene Ersuchen um sofortigen Waffenstillstand machten die Katastrophe des alten Reiches offenbar. Die Folge war ein fast schlagartiges Nachlassen der Moral des ausgehungerten Volkes, das nun keine Hoffnung mehr hatte, mit weiterem Durchhalten einen erträglichen Kriegsausgang zu erzwingen. Die Revolution von oben, die Preußen-Deutschland innerhalb weniger Tage zur parlamentarischen Monarchie umgestaltete und das demokratische Prinzip zur Grundlage des Staates machte, konnte die kontinuierliche Entwicklung nicht mehr sichern. Sie erfolgte zu offensichtlich unter dem Druck der Niederlage, als das sie noch zu moralischen Eroberungen größeren Umfanges geführt hätte.
Die eigentliche Novemberrevolution, das heißt die Abschaffung der Monarchie in Reich und Ländern, die Aufhebung des Bundesrates, die Ausschaltung des Reichstages und der übrigen Instanzen des Bismarck-sehen Reichsbaus ist, wie Hans Herzfeld bemerkt hat, gleichwohl keinem Plan entsprungen, sondern das Ergebnis einer „Kette von Irrungen und 'Wirrungen“ gewesen
Somit war die Erhaltung der Monarchie, die von der gesamten Rechten und dem Gros der Mittelparteien ohnehin erwartet wurde, nach der Änderung der Reichsverfassung und der Abschaffung des Drei-Klassen-
Wahlrechtes in Preußen
Der Streit um die Abdankung Kaiser Wilhelms II. hat erst spät, im Herbst 1918, die öffentliche Debatte zu beherrschen begonnen
Für die Lösung der Frage aber wurden nicht solche sachlichen Erwägungen entscheidend; es war vielmehr der Druck der Unabhängigen und der äußersten Linken, der die Sozialdemokraten zwang, die Abdankung des Kaisers ultimativ zu verlangen, wenn sie nicht immer breitere Massen ihrer Führung entgleiten lassen wollten. Unmöglich konnte sich die SPD dem geschickt genährten Verdacht aussetzen, sie wolle den Kaiser auch dann halten, wenn dies zur Fortsetzung des verlorenen Krieges oder zu einem harten Frieden führen sollte
Die Opferung Wilhelms II. konnte den Führern der Sozialdemokratie lediglich wegen der dadurch möglichen Gefährdung einer organischen inneren Entwicklung schwerfallen. Persönliche Bindungenzwischen ihnen und dem Kaiser bestanden nicht. Allerdings war der Kaiser auch nicht verhaßt. Seine schroffen Reden gegen die Sozialisten aus der frühen Vorkriegszeit, die niemals entsprechende Taten eingeleitet hatten, gehörten wohl noch zu den Propagandarequisiten der Partei, haben ihre Politik aber nicht beeinflußt. Wilhelm II. galt als wenig fähig und politisch höchst ungeschickt, und dieses Urteil war noch einmal auf dem Höhepunkt des Krieges, im Juli 1917, bestätigt worden, als es der Kaiser fertigbrachte, auf einem Empfange, bei dem er den Führer der Sozialdemokratischen Partei wenigstens flüchtig kennenlernte, diesem und den übrigen Parlamentariern prahlerisch zu versichern, daß es dort keine Demokratie gebe, wo seine Garde hinkomme
Audi maßgebende Führer der Sozialdemokratie sind zeitweilig von der Illusion beseelt gewesen, Deutschland werde nach dem Abgang Wilhelms II. einen erträglichen Verständigungsfrieden schließen können. Für den Parteiführer Friedrich Ebert, der wie Scheidemann genau die Unzugänglichkeit selbst fast aller Sozialisten der Ententeländer kannte
Das war jedoch nicht identisch mit dem Ende der Monarchie überhaupt. Ebert hat mit der Weiterführung der parlamentarischen Monarchie als einer ernsten Möglichkeit gerechnet, schon weil er nicht sicher war, ob das deutsche Volk in seiner Mehrheit für die Republik reif genug sei
Aus diesen Gründen hat er sich in den kritischen Stunden zweifellos ernsthaft bemüht, die Monarchie zumindest zunächst zu erhalten. Da der Kronprinz als Nachfolger seines Vaters nicht in Frage zu kommen schien
Die Auseinandersetzung um die innerpolitische Neuordnung
Die ungemein schwierige Stellung, die Friedrich Ebert als Führer einer radikalen Oppositionspartei im Augenblick der Übernahme der höchsten Verantwortung hatte, wird erst klar, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Sozialdemokratie von ihrer Entstehung an nicht weniger als die vollständige Umgestaltung von Staat und Gesellschaft nach ihren von keiner anderen Partei gebilligten Theorien gefordert hatte und noch forderte, also Ziele anstrebte, die im Jahre 1918 aus außenpolitischen, aber auch aus inneren Gründen ganz unerreichbar waren. Eine Politik der Sicherung der Demokratie, die nicht nur den Grundsätzen der SPD — als entscheidender Schritt zum Sozialismus — entsprach, sondern der Partei auch das Maximum an Wirksamkeit versprach, konnte unter den gegebenen Umständen selbstverständlich nicht sofort den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft gewähren. Die SPD mußte sich auf eine Zusammenarbeit mit anderen Parteien einlassen, wenn sie einen Bürgerkrieg, aus dem gewiß nicht sie als Sieger hervorgegangen wäre, vermeiden wollte. Doch damit geriet die Partei in einen schroffen Widerspruch zwar nicht mit den Prinzipien des Marxismus, der eine sehr bewegliche Taktik gestattete
Friedrich Engels hat kurz nach dem Zusammenbruch der deutschen Revolution von 1848 in seiner Studie über den Deutschen Bauernkrieg an der Person von Thomas Müntzer dargestellt, wie problematisch die Rolle eines radikalen Oppositionsführers ist, der überraschend zur Macht kommt, bevor die allgemeine Entwicklung deren volle Ausnutzung ermöglicht. „Es ist das schlimmste“, so schrieb er hier
Er findet sich so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: was er tun kann, widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten, seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner Partei; und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er ist mit einem Worte gezwungen, nicht seine Partei, seine Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herrschaft die Bewegung gerade reif ist. Er muß im Interesse der Bewegung selbst die Interessen einer ihm fremden Klasse durchführen und seine eigene Klasse mit Phrasen und Versprechungen, mit der Beteuerung abfertigen, daß die Interessen jener fremden Klasse ihre eigenen Interessen sind. Wer in diese schiefe Stellung gerät, ist unrettbar verloren.“
Mit diesen Worten des Altmeisters des Marxismus ist die Stellung Eberts — mutatis mutandis — ziemlich genau umrissen. Die unter dem Druck des Krieges zerfallene Partei, deren stärksten Flügel er führte, bot keine Grundlage für eine kraftvolle, weitausgreifende Politik. Wohl war die Mehrheitssozialdemokratie noch ein bedeutender Machtfaktor.
Schwerlich ließ sich eine Regierung ohne ihre Beteiligung oder gar gegen ihren ausdrücklichen Willen bilden, und darüber hinaus war anzunehmen, daß sie bei freien Wahlen erneut die stärkste Partei werden würde. Und schließlich kontrollierte sie durch ihre enge Verbindung mit der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands noch einen beträchtlichen Teil der Industriearbeiter, und sie konnte hoffen, daß sich ihre Stellung nach der Rüdekehr des Feldheeres mit seinen Hundert-tausenden von gewerkschaftlich und politisch geschulten Arbeitern auch in den gefährdeten Betrieben beträchtlich verbessern würde. Die SPD war andererseits alles andere als allmächtig, und es ist eine Legende, wenn man behauptet, es habe damals in ihrem Ermessen gestanden, Deutschland nach ihren Prinzipien umzugestalten.
Infolge der Parteispaltung, welche Ebert bis zum letzten zu verhindern versucht hatte
Man kann auch nicht annehmen, daß es der Führung der Mehrheitspartei doch schließlich freigestanden hätte, die Einheit der Partei durch einen entschlossenen Ruck nach ganz links wiederherzustellen. Zunächst einmal hätte sie dazu mit ihrer Tradition brechen müssen, denn die marxistische SPD war wohl eine revolutionäre, aber doch keine terroristische Partei gewesen, und eine Revolution im Sinne der äußersten Linken hätte sich des schärfsten Terrors bedienen müssen, wenn sie überhaupt einige Aussicht auf Machtbehauptung im ganzen Lande hätte haben wollen. Dazu kam, daß sich die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse seit den Zeiten der Ersten Internationale und des Sozialistengesetzes beträchtlich gewandelt hatten. SPD und Gewerkschaften waren längst in Staat und Gesellschaft hineingewachsen und zu einem Teil dieser Gesellschaft geworden. Sie konnten sich unmöglich noch als reine Antithese zu ihr empfinden
Solch allgemeine Erwägungen reichen zur Beurteilung der Lage im übrigen nicht aus. Für die linken Radikalen und für beträchtliche Teile der Unabhängigen handelte es sich bei ihrem Kampf gegen die Mehrheit ja nicht nur um die Durchsetzung einer bestimmten Politik, sondern vor allem um die Ausschaltung der Führer der Mehrheitspartei wie der Gewerkschaften. In jahrelanger Agitation hatten sie diese auf das leidenschaftlichste bekämpft und als Verräter denunziert und ihre Beseitigung verlangt; das Beispiel Rußlands hatte gezeigt, daß solche Bestrebungen unter bestimmten Umständen Erfolg haben konnten. Man wird vielleicht einwenden, daß diese Befürchtungen der Mehrheitspolitiker unter den in Deutschland bestehenden Bedingungen doch übertrieben, vielleicht sogar gegenstandslos waren. Das ist möglich, jedoch nicht sicher. In jedem Falle aber haben sie bei den wichtigsten Entscheidungen der Zeit eine große Rolle gespielt; die sozialdemokratische Taktik ist weitgehend von dem Entschluß bestimmt worden, eine Entwicklung wie die in Rußland in Deutschland nicht zuzulassen
Nach allgemeiner Meinung der deutschen Sozialdemokratie, der Unabhängigen wie der Mehrheitsparteiler, war der Bolschewismus weder eine demokratische noch eine sozialistische noch eine marxistische Bewegung. Seit seiner Machtergreifung galt er als de? Zertrümmerer des russischen Sozialismus, und in der deutschen Partei befürchtete man, daß seine bloße Existenz den Sozialismus auf eine unübersehbare Zeit diskreditieren werde. Man braucht nur auf die Schriften Karl Kautskys
Unter den gegebenen Verhältnissen mußte es also Eberts Taktik sein, möglichst schnell eine stabile demokratische Staatsorganisation unter Führung seiner Partei aufzubauen; eine Unterdrückungspolitik gegen nicht-sozialistische Parteien und Gruppen war mit dieser Zielsetzung nicht vereinbar. Ebenso aber mußte er zu verhindern suchen, daß die von der SPD abgesplitterten Gruppen in eine extreme Oppositionsstellung getrieben wurden. Möglicherweise wurde damit die Quadratur des Kreises angestrebt, aber angesichts der furchtbaren außen-politischen Lage Deutschlands ließ sich ein ernsthafter Versuch einer innenpolitischen Befriedung gewiß rechtfertigen. Zweifellos mußte es sehr schwierig sein, die USPD für eine gemeinsame demokratisch-sozialistische Politik zu gewinnen, vor allem deshalb, weil die persönlichen Beziehungen zwischen den wichtigeren Führern der Parteien kaum noch schlechter werden konnten, als sie es im Jahre 1918 geworden waren. Vielleicht aber konnte der Zwang der Lage zu einer Wieder-annäherung führen. Der Chefredakteur des „Vorwärts“, Friedrich Stampfer, hat uns die Überlegungen Eberts ausgezeichnet, die diesen am Nachmittag des 9. Novembers bestimmten
Natürlich konnte niemand sagen, ob eine solche Politik des Ausgleichs zu dieser Zeit noch — oder schon — möglich war; die Entscheidung hierüber aber hing in erster Linie nicht von dem guten Willen der SPD, sondern von der Stabilität der USPD ab.
Verhinderung eines gewaltsamen Umsturzes
Schwerlich kann Ebert am 9. November schon eine klare Vorstellung davon gehabt haben, auf welche Parteien er seine Regierung gründen könnte. Immerhin muß es als unwahrscheinlich gelten, daß er von Anfang an eine Alleinregierung der beiden sozialistischen Parteien angestrebt habe. Nach den Vorgängen des 9. und 10. Novembers aber blieb kein anderer Weg gangbar. Man hat, gestützt vor allem auf Aussagen des Generalleutnants Groener
Ganz sicher allerdings ist, daß sich Ebert der Kontrolle durch den im wesentlichen von den revolutionären Obleuten bestimmten Vollzugsrat in Berlin
Denn es zeigte sich, daß die auch in diesem Rätegremium in der Minderheit gebliebenen Gruppen der Radikalen den Willen der übergroßen Mehrheit des Volkes nicht anzuerkennen bereit waren. Die zur Gewaltanwendung bereiten und entschlossenen Teile dieser Minderheit dürften zunächst schwerlich sehr groß gewesen sein; aber sie waren stark genug, um die USPD zu lähmen und damit aus der Regierung herauszudrängen
Eine Gefahr von rechts hatte ursprünglich gar nicht bestanden. Der jähe und kampflose Zusammenbruch des alten Reiches hatte auf diesem Flügel eine vollständige Lähmung ausgelöst; selbstverständlich konnte niemand annehmen, daß sich die ganze politische Rechte von heute auf morgen in ein volldemokratisiertes Staatswesen loyal einfügen würde. Andererseits war nicht anzunehmen — und es gibt auch keine Anzeichen dafür —, daß nennenswerte Teile dieser politischen Rediten auf einen Bürgerkrieg hinarbeiten würden, der weder klare Ziele haben konnte
Zu diesem Zwecke hatte sich auch die Oberste Heeresleitung am 10. November durch Groener an Ebert gewandt und diesem ihre volle Unterstützung zugesagt. Damit wurde das sogenannte Bündnis Ebert-Groener begründet, über das phantastische Vorstellungen im Umlauf waren. In naher Zukunft haben wir eine Untersuchung von Wolfgang Sauer
Groener und Ebert hatten zwei Ziele gemeinsam; beide wollten einen Bürgerkrieg und die Errichtung einer bolschewistischen Diktatur verhindern. Es empfahl sich daher, den völligen Zerfall des Heeres zu unterbinden, wenn das möglich sein sollte. Aber während der General vor allem daran dachte, den Kern des Feldheeres als selbständige Kraft zu erhalten
Die erste Regierung der Volksbeauftragten
Am 10. November 1918 war die Regierung der Volksbeauftragten aus je drei Vertretern der SPD und der USPD gebildet worden. Die Verhandlungen waren nicht reibungslos verlaufen; einmal war Haase nicht in Berlin
In dieser Zusammensetzung hat der Rat der Volksbeauftragten eine Zeitlang sachlich gut zusammengearbeitet. Natürlich wirkten die schweren Auseinandersetzungen aus der Kriegszeit noch nach. Auch persönliche Gegnerschaften zwischen den Mitgliedern der Revolutionsregierung erleichterten die Arbeit nicht. Ebert und Dittmann waren schon seit der Vorkriegszeit Rivalen auf dem Gebiet der Parteiorganisation, und jeder hielt den anderen für einen subalternen Kopf. Das Verhältnis Eberts zu seinem Mitvorsitzenden Haase war durch die Parteispaltung besonders belastet, denn Ebert konnte es Haase nie vergessen, daß dieser als damaliger Partei-und Fraktionsvorsitzender das separate Vorgehen der Fraktionsminderheit gegen die Mehrheit im Reichstag geleitet hatte, ohne ihn, den Mitvorsitzenden der Partei, vorher auch nur zu informieren
Barth selbst aber hegte einen wütenden Haß vor allem gegen Landsberg, der ihn einmal —in einer allerdings nicht sehr taktvollen Art — auf seine nicht aus politischen Gründen erlittenen Vorstrafen hingewiesen zu haben scheint
Die soeben geschilderten Spannungen zwischen den Volksbeauftragten haben ihre gemeinsame Regierung nicht zum Scheitern gebracht. Der Grund des Zerfalls der Regierungskoalition liegt vielmehr in der Tatsache, daß die USPD keine einheitliche Partei war und somit keine Politik treiben konnte, die nicht auf den leidenschaftlichen Widerstand wichtiger Gruppen ihrer eigenen Mitgliedschaft stieß. Dazu kam, daß Haase, neben Ebert Ratsvorsitzender, sich gegen den energischen Arbeiterführer, der noch dazu ein genialer Taktiker und durchaus nicht der harmlose Kleinbürger war, für den er oft gehalten wurde, niemals recht durchsetzen konnte, wodurch der Einfluß der USPD geringer war, als dies nach den Verhältnissen notwendig gewesen wäre
So erhielten die radikalen Gruppen in der USPD einen weiteren Vorwand, um die Zerschlagung der Koalition voranzutreiben, und damit begann der Zerfall der USPD
In der kritischen Situation und angesichts der politischen Unsicherheit waren Unruhen und Gewalttätigkeiten gar nicht zu vermeiden. Sie hätten aber vergleichsweise schnell unterdrückt werden können, wenn nicht die USPD aus Rücksicht auf ihren radikalen Flügel, aber auch gehemmt durch ihren „ Antimilitarismus“ -Komplex und ihre grundsätzlich pazifistische Einstellung jede Gewaltanwendung auch geringfügigster Art — jedenfalls gegen Gruppen der Linken
Generalleutnant Groener hat das Ausscheiden der Unabhängigen aus der Revolutionsregierung als einen Sieg der Mehrheitssozialdemokraten gefeiert und der Auffassung Vorschub geleistet, als ob Ebert ein planmäßiges Ausmanövrieren des Koalitionspartners angestrebt und schließlich erreicht habe
So begann die traurigste Phase der deutschen Revolution, die auf allen Seiten zu grausamer Verhetzung und leidenschaftlicher Verbitterung führte und die Entwicklung der Weimarer Republik auf das schwerste belastet hat. Die hierdurch aufgeworfenen Probleme gehören nicht mehr in den Rahmen dieser Untersuchung.
Das Ende der Revolution
Die Wahlen zur Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 beendeten, staatsrechtlich gesehen, die eigentliche Revolution. Sie erbrachten eine große demokratische, aber keine sozialistische Mehrheit
Als reine Klassenpartei von Arbeitern und bestimmten Gruppen von Kleinbürgern entstanden und herangewachsen, besaß die SPD unter ihren Mitgliedern und vornehmlich unter ihren Führern zwar eine Anzahl klassenfremder Elemente; sie verfügte aber nicht über die Fülle von Fachleuten auf allen Gebieten, die zur Inganghaltung einer Industriegesellschaft nun einmal notwendig sind. Diese hätte man in der nötigen Anzahl schwerlich anders als durch Gewaltanwendung gewinnen können, und es ist doch sehr fraglich, ob eine solche Politik, die von einer demokratischen Partei ohnehin nicht angestrebt werden kann, nicht auch den Bürgerkrieg ausgelöst hätte, und zwar einen Bürgerkrieg, der sicherlich nicht mit dem Siege der Sozialdemokraten geendet hätte. Zeitweilige Lähmung der nicht-sozialistischen Kräfte war ja nicnt gleichbedeutend mit ihrer Beseitigung. Bekanntlich ist General Groener schon wegen seiner Zusammenarbeit mit der Regierung Ebert-Haase schärfsten Angriffen von Seiten beträchtlicher Teile des Offizierkorps ausgesetzt gewesen
Aber die Volksbeauftragten mußten noch ganz andere Probleme berücksichtigen. Sie wurden aufs höchste beunruhigt von Meldungen über separatistische Bewegungen, und sie mußten befürchten, daß diese Strömungen bei der Grenzbevölkerung, die in den in Frage kommenden Gebieten in ihrer Mehrheit nicht sozialistisch war, starken Auftrieb erhalten würden, wenn von Berlin aus eine radikale sozialistische Politik getrieben würde
Unter Berücksichtigung aller dieservTatbestände ist die SPD bei der Verfolgung ihrer Politik niemals schwankend geworden. Aber auch die Unabhängigen, immer abgesehen natürlich von ihren radikalen Flügeln, die ursprünglich vor dem Zusammentritt einer Nationalversammlung die entscheidenden Maßnahmen zur Sicherung einer unwiderruflichen Sozialisierung durchzusetzen wünschten, wurden während ihrer praktischen Regierungstätigkeit immer bedenklicher. Wilhelm Dittmann, seit der Jahrhundertwende einer der wichtigsten Führer des radikalen Parteiflügels und noch nach dem Zweiten Weltkriege ein unbedingter Anhänger des Sozialismus Bebelscher Prägung, hat die Gründe hierfür in seinen Lebenserinnerungen zusammengefaßt. Für ihn war — neben den schon genannten Argumenten, von denen er einige etwas anders bewertete als die Mehrheitssozialdemokraten — die folgende Überlegung entscheidend
Viele der genannten schwerwiegenden Argumente eigneten sich aus verständlichen Gründen in der damaligen Zeit nicht für eine öffentliche Diskussion, ganz gewiß jedenfalls nicht dasjenige, das Dittmann von so ausschlaggebender Bedeutung erschien. Die sozialistischen Parteien konnten daher ihren Anhängern, soweit diese nicht bedeutende politische Kenntnisse hatten, nicht recht verständlich machen, warum sie ihr politisches Endziel nicht unmittelbar in Angriff nahmen. Erklärungen, daß die Sozialisierung marschiere
So entwickelten sich die Verhältnisse in ähnlicher Weise, wie Engels dies 70 Jahre zuvor für einen solchen Fall vorausgesagt hatte, wenn auch das Problem weit verwickelter war, als der orthodoxe Marxist hatte annehmen können. Immerhin war die SPD nicht „verloren“, und sie konnte große Teile ihrer Anhängerschaft in der Hand behalten. Es war ihr jedoch nicht vergönnt, die gesamte sozialistische Bewegung Deutschlands auf den Boden der Demokratie zu führen. Ihr Schicksal gleicht dem, das der deutsche Liberalismus erlitten hat. Der radikale Flügel erstrebte das mindestens zur Zeit Unerreichbare, verhinderte damit die Konsolidierung des Erreichten und versperrte so den Weg zum Erreichbaren. Das Ergebnis war ein schwacher Staat, zu dem sich nur eine Minderheit aus wirklicher Überzeugung bekannte und den wenige liebten. Ein solcher Staat aber ist in den unvermeidlichen Krisen des Völkerlebens besonders gefährdet. Nur ein längerer Zeitraum ruhiger Entwicklung hätte diesen grundlegenden Mangel beseitigen und ein neues Staatsgefühl entstehen lassen können. Aber dieser notwendige Zeitraum ruhiger Entwicklung ist der Weimarer Republik nicht vergönnt gewesen.