Mit freundlicher Genehmigung des Droste-Verlages in Düssedorf wird das Kapitel „Reform und Reaktion 1807— 1840" aus dem Buch von Gordon A. Craig „Die preußisch-deutsche Armee 1640— 1945“ in dieser Ausgabe zum Abdruck gebracht.
Reform und Reaktion
Frisch auf, mein Volk! Die Flawweuzeickeu rauchen, Hell aus dem Norden bricht der Freiheit Licht!
Arndt Though soldiers are the true Supports, The natural allies of Courts, Woe to the Monarch who depends Too wuch on his red-coated friends;
For even soldiers sometimes think — Nay, Colonels have been known to reason — And reasoners, whether clad in pink, Or red, or blue, are on the brink (Nine cases out of ten) of treason.
Thomas Moore In den Monaten nach der Kapitulation von Tilsit konnten nur die größten Optimisten an den Fortbestand Preußens als eines selbständigen Staates glauben. Napoleon enthüllte bald seine Absicht, aus dem zerrütteten Land einen Satelliten seines Kaiserreiches zu machen, und bedeutende Teile des preußischen Volkes schienen nur allzu bereit, sich in dieses Los zu schicken. Im Mittelstand und in der Aristokratie rief der militärische Zusammenbruch einen weitverbreiteten Defätismus und ein nicht unerhebliches Maß von Opportunismus hervor; unter den Intellektuellen erhoben sich bald Stimmen, die auf die Vorteile eines Anschlusses an Napoleons europäische Neuordnung hinwiesen, auch wenn er mit einer Schmälerung der preußischen Souveränität verbunden sei. In der großen Masse des Volkes gab es wenig Anzeichen für einen Groll über die Demütigung Preußens und noch weniger für ein Verlangen nach Revanche.
Um so bemerkenswerter ist es daher, daß diese apathische Hinnahme der Niederlage innerhalb sechs Jahren überwunden wurde und daß unter den Staaten, die sich zusammenschlossen, um den Korsen zu besiegen und zu vertreiben, Preußen an erster Stelle stand. Die Wiedererstarkung war in erster Linie das Werk einer kleinen Gruppe hingebungsvoller, patriotischer Reformer, zu denen vor allem Stein, Scharnhorst, Gneisenau, Boyen und Grolman gehörten. Diese Männer gestanden sich wohl ein, daß militärisches Versagen zu der wilden Flucht bei Jena geführt hatte, doch erkannten sie auch deutlich die tiefere Ursache des preußischen Zusammenbruchs — den Abgrund, der zwischen der Staatsmaschine und dem Volk klaffte, der es dem Volke unmöglich gemacht hatte, sich mit seiner Regierung zu identifizieren und der den Staat der Unterstützung des Volkes in Krisenzeiten beraubte. Diesen Abgrund zu überbrücken und im Volk ein neues Gefühl der Anhänglichkeit an den preußischen Staat zu erwecken, war das Endziel der von Stein und seinen Kollegen in den Jahren nach 1807 eingeführten sozialen, politischen und militärischen Reformen. Das unmittelbare Ergebnis ihrer Anstrengungen spiegelt sich in dem erfolgreichen Krieg von 1813— 14 gegen Napoleon und in der allgemeinen Begeisterung wider, mit der das preußische Volk daran teilnahm.
Trotz des Erfolges, den die Reformer mit der Befreiung Preußens von der Fremdherrschaft errangen, gelang es ihnen auf die Dauer nicht, ihre Ziele zu erreichen. Möglich, daß sie das Vermögen des preußischen Staates, auf fundamentale Traditionen zu verzichten, überschätzt hatten. Tatsache ist jedenfalls, daß sie eines nicht voraussahen: die Neigung der herrschenden Klasse, zum alten Stil zurückzukehren, sobald Preußen einmal vom fremden Joch befreit war. Als sich diese Tendenz nach 1814 geltend machte, waren die Reformer politisch nicht geschickt genug, ihr Widerstand zu leisten. Und um 1819 waren sie aus der Macht verdrängt, ihr politisches und soziales Programm gescheitert und verzerrt, und ihre Hoffnung, Preußen möge ein fortschrittlicher Staat mit repräsentativen Einrichtungen werden, war zunichte gemacht. Der Reformzeit folgte nach 1819 eine Zeit der Reaktion, in der die alten Nöte des preußischen Volkes in neuem Gewände erschienen und die Armee, aus der Scharnhorst und Boyen einen Gegenstand des Stolzes für das Volk hatte machen wollen, wieder einmal der Gegenstand allgemeinen Un-willens wurde.
1. Stein, Scharnhorst und die Reformen
Der Beginn der Reformzeit kann in der Einsetzung der sogenannten Reorganisationskommission gesehen werden, die König Friedrich Wilhelm III. im Juli 1807 ernannte. Er wies die Kommission an, eine Untersuchung über den letzten Feldzug durchzuführen, Offiziere, die sich schlecht aufgeführt hatten, zu maßregeln und zu entlassen und Änderungsvorschläge in bezug auf Heeresorganisation, Versorgung, Dienst-bestimmungen, Auswahl von Offizieren, Erziehung und Ausbildung zu machen. Die Einsetzung solch einer Kommission war nichts Neues; nach einer großen Niederlage wie der voi. Jena mußte mit Untersuchungen irgendwelcher Art gerechnet werden. Weniger wurde indes zunächst damit gerechnet, daß die Kommission überraschende Veränderungen an dem bestehenden System Vorschlägen würde. In den Augen vieler älterer Offiziere — unter ihnen Graf Lottum, anfänglich Mitglied der Kommission, und die Generäle von Yorck und von dem Knesebeck — war die Niederlage von 1806 weniger durch fundamentale Mängel im militärischen oder politischen System als durch ein Zusammentreffen von unfähiger Führung und Mißgeschick verursacht worden. Daher glaubten sie, daß zwar die offenkundigeren Mißstände behoben werden müßten, nicht aber, daß irgend etwas von der Art einer grundsätzlichen Reorganisation und Reform notwendig sei
Vor einem solch oberflächlichen Flickwerk wurde der preußische Staat durch zwei Umstände bewahrt. Der erste war die Tatsache, daß die Reorganisationskommission nach anfänglicher interner Disharmonie mehr und mehr von Scharnhorst und seinen Schülern Gneisenau, Boyen und Grolman dominiert wurde
In ihrem Temperament waren Stein und Scharnhorst absolute Gegensätze. Stein war heftig und erregbar und trat so leidenschaftlich für seine Ansichten ein, daß ihn der König nach einer früheren Amtszeit als „widerspenstigen, trotzigen, hartnäckigen und ungehorsamen Staats-diener“ entlassen hatte
Die Reformer waren allerdings auch einhellig der Überzeugung, daß unter den bestehenden Verhältnissen diese Wiedergeburt unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich sei. Wie konnte von einem märkischen Bauern erwartet werden, als verantwortungsbewußter Bürger zu handeln, solange er noch auf den Rittergütern in Erbuntertänigkeit gehalten wurde? Wie konnte vom städtischen Mittelstand erwartet werden, sich dem Staat gegenüber verpflichtet zu fühlen, solange er von der Teilnahme an der Lokalyerwaltung ausgeschlossen war? Und vor allem: wie konnte von preußischen Untertanen, die zu den Fahnen gerufen wurden, erwartet werden, treu und tapfer in einer Armee zu kämpfen, die sie als Einzelpersonen nicht respektierte, die ihnen während der Dienstzeit keine Gelegenheit zur Beförderung gab und in ihnen eher Kanonenfutter als Bürger sah
Ehe jedoch die ehrgeizigeren Pläne erwogen werden konnten, mußte die Kommission ihre Energien jenem Gegenstand zuwenden, an dem der König am meisten interessiert war, nämlich der Maßregelung von Offizieren, die im letzten Feldzug ohne sichtlichen Grund oder ohne gebührenden Widerstand vor dem Feinde kapituliert und damit gegen den preußischen Ehrenkodex verstoßen hatten. Dieses Geschäft versprach peinlich und kompliziert zu werden, und die Kommission war angesichts der anderen vor ihr liegenden Aufgaben bestrebt, sich herauszuhalten. Und das gelang ihr. Nachdem ihre Mitglieder sich für eine strenge Bestrafung aller eines unehrenhaften Verhaltens für schuldig befundenen Offiziere ausgesprochen und dies zu Protokoll gegeben hatten, setzte der König für das post Wörtern des Jenaer Feldzugs eine separate Untersuchungskommission ein. Die mühselige Tätigkeit dieser Körperschaft zog sich bis 1814 hin, teilweise wegen der Schwierigkeit, Zeugen beizubringen, teilweise weil die Pläne und Akten der Armee auf dem Rückzug verloren gegangen waren. Schließlich wurden nur 208 Offiziere für schuldig befunden, darunter alle, die dem Feind Festungen übergeben hatten, mit Ausnahme von Blücher, der in Lübeck erst kapituliert hatte, als seine Vorräte an Nahrung und Munition erschöpft waren. Davon abgesehen, war die unmittelbar nach dem Feldzug in der Presse hitzig diskutierte Säuberung des Heeres von unfähigen und überalterten Offizieren weit weniger gründlich, als oft angenommen wird, und viele; denen 1806 und 1807 Treu-bruch vorgeworfen wurde, durften im Kriege von 1813 ihr Ansehen wiederherstellen
Die Reformer in der Kommission waren sehr froh, von diesem Aspekt der militärischen Reorganisation befreit zu sein, denn ihr Hauptinteresse lag weniger im Zugerichtsitzen über das Offizierskorps der Vergangenheit, als vielmehr in der Verbesserung des Offizierkorps der Zukunft. Im allgemeinen sah die Reformpartei den besten Weg hierzu in der Beseitigung des Monopols, das der Adel im Offizier-korps innehatte. Scharnhorst wies darauf hin, daß sich der preußische Adel in der Vergangenheit keineswegs durch Lerneifer oder durch ein Interesse an der Hebung seiner militärischen Tüchtigkeit ausgezeichnet habe. Er bekämpfte die von Yorck, von der Marwitz
Trotz seiner angeborenen Abneigung gegen kühne Neuerungen legte der König den Reformern in der Hinsicht keine direkten Hindernisse in den Weg. Wahrscheinlich hat ihn seine Erbitterung über das Verhalten des Adels und insbesondere des Offizierskorps dazu veranlaßt, den Mittelstand mit mehr Geneigtheit zu betrachten, als man erwartet haben mochte
Zur Durchführung dieser weitgehenden Order wurden Bestimmungen erlassen, die jenem System ein Ende setzten, nach dem 12-und 13-jährige Söhne des Adels so lange als Korporale dienen durften, bis sie ihr Offizierspatent erhielten. Von nun an konnte jeder junge Mann, der 17 Jahre alt war und drei Monate als Gemeiner gedient hatte, bei seinem Regiment eine Prüfung zwecks Beförderung zum Portepeefähnrich ablegen. Bei jedem Infanterieregiment waren vierzehn, bei jedem Kavallerieregiment acht Portepeefähnriche zugelassen. Das neue Prüfungssystem wurde auch bei Beförderungen in höhere Chargen angewandt. Bevor ein Fähnrich Leutnant wurde, mußte er vor einer Kommission in Berlin eine zweite Prüfung ablegen; und es bestand — wenigstens anfänglich — die Absicht, alle Offiziere vor einer Beförderung einer Prüfung zu unterziehen
Derartige Neuerungen betrachteten die Offiziere der alten Schule mit Entsetzen. In der Zulassung des Bürgertums zum Offizierkorps sahen sie einen Angriff auf ihren eigenen Stand und einen unzulässigen Eingriff in die ihnen zustehenden Vorrechte. Als Prinz Wilhelm die neuen Bestimmungen zu verteidigen suchte, soll ihm der ungestüme General Yorck erwidert haben: „Wenn Ew. Königliche Hoheit mir und meinen Kindern ihr Recht nehmen, worauf beruhen dann die Ihrigen?“
Die Erneuerung des Offizierskorps bildete wohl den erfolgreichsten Teil in der Tätigkeit der Reorganisationskommission. Langsamer und weniger aufsehenerregend ging es mit der Umgestaltung der Armee in eine leistungsfähige Streitmacht. Dafür gab es nätürlich gute Gründe. Die Heeresstruktur und der Rekrutierungsapparat mußten völlig überholt werden, während Napoleon buchstäblich den ganzen Kontinent kontrollierte, was die Anwerbung fremder Soldaten unmöglich machte und das stark verkleinerte Preußen zwang, ausschließlich auf Einheimische zurückzugreifen. Außerdem war es schwierig, den Umfang des stehenden Heeres festzusetzen, ohne zu wissen, bis zu welchen Grenzen es Napoleon und die erschütterten Staatsfinanzen erlauben würden. In den Jahren 1807 und 1808 sah sich die Kommission gezwungen, eher an Herabsetzung als an Erweiterung der Truppenstärke zu denken. Sie ging zunächst von der Annahme aus, das Land könne eine Armee von sechs Divisionen unter Einschluß aller Waffengattungen unterhalten, und mehrere Kabinettsordern setzten neue Stärken für Infanterie-, Kavallerie-und Artillerieeinheiten fest. Aber diese Pläne wurden fast ebenso rasch aufgegeben, wie sie aufgestellt worden waren. AIs Napoleon im September 1808 auf Grund des Pariser Vertrags die Höchststärke der preußischen Armee auf 42 000 Mann beschränkte, mußte alles wieder umgeworfen werden. An die Stelle der geplanten Sechs-Divisionen-Armee mußte ein Heer treten, das aus sechs kombinierten Brigaden — jede bestehend aus sieben bis acht Infanteriebataillonen und zwölf Kavallerieschwadronen — und drei Artilleriebrigaden zusammengesetzt war
Der Pariser Vertrag beschränkte nicht nur den Umfang des Heeres, sondern untersagte auch außergewöhnliche Maßnahmen zur LandesVerteidigung und die Aufstellung einer Zivilgarde
Man darf die Bedeutung, die die Reformer dieser Seite ihrer Tätigkeit beimaßen, nicht unterschätzen. In einem Brief, den Stein nach seiner zweiten Amtsentlassung schrieb, hob er hervor, daß sich die „Allgemeinheit der Verpflichtung zu Kriegsdiensten, die sich auf jeden Stand der bürgerlichen Gesellschaft ausdehnt", nur durch die Verbindung von stehendem Heer und Miliz erreichen lasse. Er fügte hinzu: „Durch sie wird es möglich, einen hochherzigen, kriegerischen Nationalcharakter zu bilden, langwierige entfernte Eroberungskriege zu führen und einen Nationalkrieg einem übermächtigen feindlidten Anfall entgegen-zusetzen“
Es war jedoch leichter, den König zur Unterzeichnung solcher prinzipiellen Erklärungen zu überreden, als ihn zu bewegen, sie in die Tat umzusetzen. Als die Reorganisationskommission im Dezember 1808, wie bereits erwähnt, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht empfahl, rührte sich der König nicht. Friedrich Wilhelm wollte nicht das Berufsheer durch ein Volksheer ersetzt sehen. In seinem Widerstand wurde er unterstützt von seinen Finanzberatern, die ihm sagten, ein Volksheer würde den Staat ruinieren, von Männern wie Niebuhr, die aus religiöser Überzeugung dagegen waren, und von provinziellen Stellen, die in solcher Neuerung eine gefährliche französische Idee sahen
Mit der Beibehaltung des Kantonsystems wurden nicht nur die Grundziele der Reformer blockiert, es war hierdurch auch jede merkliche Erhöhung der Heeresstärke unmöglich. Nach 1807 und vor allem nach 1809 versuchte man, eine Reserve hauptsächlich mit Hilfe des soge-nannten Krümpersystems zu schaffen. Nach diesem System wurden von jeder Kompanie oder Schwadron Neuausgehobene nach kurzer Ausbildung wieder entlassen, um anderen Platz zu machen. Der Glaube, es sei ursprünglich beabsichtigt gewesen, damit die Bedingungen des Vertrags mit Frankreich zu umgehen, und man habe auf diese Weise eine Geheimarmee von 150 000 Mann ausgebildet, hat sich längst als patriotische Legende erwiesen
Aus alledem darf indes nicht gefolgert werden, die Reformer hätten nur wenig ausgerichtet. Wenn sie auch in ihrem Bestreben, ein echtes Volksheer zu schaffen, behindert worden waren, so hatten sie doch zumindest den Grund gelegt, auf dem solch eine Armee zu irgendeinem späteren Zeitpunkt errichtet werden konnte. Darüber hinaus waren gewisse Neuerungen, wie die Zulassung von Bürgerlichen zum Offizierkorps und die Revision der Militärjustiz, von der Öffentlichkeit günstig ausgenommen worden; sie trugen dazu bei, den im Volke seit Jena herrschenden starken Unwillen gegen Staat und Armee zu vermindern. Die Reformer waren realistisch genug zu erkennen, daß sie nun die Ereignisse abwarten mußten. Sie hofften, die wachsende Anmaßung Napoleons und die immer stärker werdende Erbitterung des Volkes über die französischen Kontributionen würden schließlich den König dazu bringen, seinen vorsichtigen Kurs aufzugeben und wieder zu den Waffen zu greifen. Wenn es so weit war, wollten sie ihn dazu bewegen, das in den Jahren 1807 und 1808 so gut angelaufene Werk zu vollenden und das Volksheer zu schaffen, in das sie so große Erwartungen setzten.
Davon ganz abgesehen, hatten Scharnhorst und seine Mitarbeiter allen Grund, zufrieden zu sein, denn sie hatten innerhalb der bestehenden Streitmacht entscheidende technische Verbesserungen bewirkt. Die Grundausrüstung der Armee, angefangen bei der Uniform bis zum schweren Geschütz, wurde einer kritischen Überprüfung unterzogen. Man bemühte sich eifrig, die Beschaffung und Wirksamkeit von kleineren Waffen und Artilleriegeschützen zu verbessern; es wurden neue Waffengießereien errichtet, obwohl die schwachen Staatsfinanzen die Produktion stark begrenzten. Auf dem Gebiet der Taktik wurden ernsthafte Anstrengungen gemacht, aus der französischen Praxis Nutzen zu ziehen; man gab neue Ausbildungshandbücher heraus, die besonderes Gewicht auf den Einsatz leichter Truppen, die Säulen-gliederungen und das Zusammenwirken aller Waffengattungen im Felde legten. Was das letztere anging, so ermöglichte es die nach dem Pariser Vertrag von 1808 eingeführte Brigadeordnung den Infanterie-und Kavallerieeinheiten, gemeinsame Übungen zu machen und sich an jene Art von Zusammenwirken in der Schlacht zu gewöhnen, an der es 1806 so offensichtlich gemangelt hatte. Die Brigadeorganisation machte auch eine vollständige Überholung der Versorgungsdienste möglich; Nachschubverteilung und Rechnungsführung wurden nun unter einem neu eingerichteten Kriegskommissiariat zusammengefaßt, das in jeder der sechs Brigaden Vertreter hatte
Unter diesen vielen technischen Neuerungen war die bedeutendste die im März 1809 erfolgte Schaffung des neuen Kriegsministeriums. Hier macht sich, wie auch bei vielen militärischen Reformen, Steins Einfluß bemerkbar. In gewissem Sinne entstand das neue Amt als Folge von Steins Kampf gegen eine Regierung, die nicht verfügungsberechtigt war, und gegen die Anhäufung von Funktionen in der Staatsverwaltung. In einer Denkschrift vom 23. November 1807 empfahl er, die gesamte Staatsverwaltung unter fünf Ministerien zusammenzufassen, deren verantwortliche Leiter ein Staatsministerium bilden und dem König direkt vortragen sollten. Unter diesen Ministerien, betonte er, müsse eines ein Kriegsministerium sein, das für alle militärischen Angelegenheiten zuständig sei
Darin hieß es: „Zum Geschäfts-Kreis des Kriegs-Departements gehört Alles, was auf das Militair, dessen Verfassung, Errichtung, Erhaltung . . . Bezug hat. Es wird demselben alles beigelegt, was bisher ZUM Geschäfts-Kreis des Ober-Kriegs-Kollegii, des Militair-Departe-wents des General-Directorii und der Provincial-Magazin-Departements von Schlesien und Preußen, so wie der General-Intendantur . . . gerechnet worden ist“
Nachdem der König dies alles bewilligt hatte, scheute er bezeichnenderweise vor dem letzten die Reform vervollständigenden Schritt zurück. Er lehnte es ab, einer einzigen Person
Wenn es auch bis 1814 nicht zur Ernennung eines die beiden Abteilungen unter sich vereinigenden Kriegsministers kam, so richtete doch des Königs Vorsicht keinen allzu großen Schaden an. Als im März 1809 das Ministerium seine Tätigkeit aufnahm, dominierte in ihm Scharnhorsts Persönlichkeit, und die beiden Departements scheinen freundschaftlich zusammengearbeitet zu haben. Daß die kommandierenden Generale, die in Friedenszeiten dem Ministerium unterstanden, über die Neuschöpfung nicht erbaut waren, ist natürlich
2. Der Sieg über Napoleon
Im April 1809 kamen die schon lange schwelenden Spannungen zwischen Österreich und Frankreich zum Ausbruch. Österreichische Truppen fielen in Bayern ein, und ihr Befehlshaber, Erzherzog Karl, rief alle Deutschen auf, sich um das Freiheitsbanner zu scharen und Napoleon über den Rhein zurückzutreiben
Die Führer der Reformpartei versuchten den König dahin zu bringen, die Stimmung im Volke auszunutzen. Scharnhorst drängte nicht nur auf ein sofortiges Bündnis mit Österreich, er legte auch einen neuen Plan zur Verwirklichung der allgemeinen Wehrpflicht vor, einen Plan, nach dem zunächst das stehende Heer durch eine aus ehemaligen Soldaten zusammengesetzte ausgebildete Reserve und durch eine Reihe freiwilliger Jägerbataillone ergänzt werden sollte, die selber für Ausrüstung und Montur aufkommen konnten
Die Entmutigung wurde noch größer, als in den Jahren 1810 und 1811 der andernorts bedrängte Napoleon begann, Preußen stärker auszupressen. Im Januar 1810 forderte der Kaiser peremptorisch Zahlung der im Vertrag vom 8. September 1808 festgesetzten Entschädigungssumme. Als das Ministerium Dohna-Altenstein um weiteren Aufschub bat, zeigte Napoleon, daß ihm Scharnhorsts Bemühungen um die Wiederherstellung der preußischen Militärmacht nicht entgangen waren. Er gab zu verstehen, daß Preußen, sofern es nicht statt der Entschädigungssumme die Provinz Schlesien abtreten wolle, das Geld ja durch Reduzierung der preußischen Armee auf eine königliche Garde von 6000 Mann zusammenbringen könne. In der sich anschließenden Krise kam es zum Sturz des Ministeriums, das — nach einem von Scharnhorst mutig geführten Kampf — vorgeschlagen hatte, lieber Schlesien oder zumindest einen Teil der Provinz abzutreten, als das Heer völlig zu zerschlagen; und zu guter Letzt wurde auch noch Schlesien gerettet, als Hardenberg im Juni Staatskanzler wurde und es ihm gelang, den Vertreter des Kaisers davon zu überzeugen, daß die verlangten Gelder ohne Verzug zusammengebracht würden
Gramgebeugt durch seinen Verlust, machte sich Friedrich Wilhelm diese Anschauung zu eigen und wurde, während er in der Religion Trost suchte, dem Schicksal seines Landes gegenüber offenbar gleichgültig
Im Laufe des Jahres 1811 brachte das Verhalten des Königs die Reformer zur Verzweiflung. In diesem Jahr traten die ersten deutlichen Anzeichen eines möglichen Bruches zwischen Frankreich und Rußland zutage, und die Reformpartei reagierte darauf genau so wie auf den österreichischen Krieg von 1809. Wieder bedrängte sie den König, die Mobilmachung aller wehrfähigen preußischen Untertanen zu genehmigen. Der Hauptsprecher war diesmal Oberst von Gneisenau, der Held von Kolberg, der zu dem Schluß gelangt war, daß Preußen nur durch eine Massenerhebung des Volkes gerettet werden könnte. Und wenn das Volk den Staat gerettet habe, müsse es eine Verfassung und alle anderen Privilegien einer Volksvertretung erhalten. Im Sommer 1811 richtete Gneisenau eine beredte, ausführliche Denkschrift an den König, worin er ihn dringend aufforderte, beim ersten Anzeichen eines Konflikts zwischen Frankreich und Rußland sein Volk zu den Fahnen zu rufen. An den Rand dieses Dokuments kritzelte der König zwei Bemerkungen: „Keiner würde kommen!" und „Als Poesie — gut!“ Über die letztere Randbemerkung gekränkt, schrieb Gneisenau: Religion, Gebet, Liebe zum Regenten, zum Vaterland sind nichts anderes als Poesie; keine Herzenserhebung ohne poetische Stimmung. Wer nur nach kalter Berechnung handelt, wird ein starrer Egoist. Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet“
Aber es war nicht allein der König, der den Reformern im Wege stand. Auch Hardenberg war immer noch nicht überzeugt, daß es ratsam sei, ihre Projekte durchzuführen. Obwohl man in reaktionären Kreisen annahm, der neue Staatskanzler sei von derselben Farbe wie Stein, Scharnhorst und Gneisenau, so vertrat er doch in Wirklichkeit einen ganz anderen Standpunkt. Er setzte weit weniger Vertrauen in die Massen als zum Beispiel Gneisenau, und infolgedessen besaß für ihn die Idee eines Volkes in Waffen geringere Anziehungskraft. Sein Hauptinteresse galt außerdem der Außenpolitik, einem Gebiet, auf dem seine Begabung sich mit der Metternichs und Talleyrands messen konnte. Er hatte auch einen größeren Weitblich und einen schärferen Sinn für Realitäten als die Reformer. Sein Wunsch, Preußen vom französischen Joch zu befreien, wurde gedämpft durch seine Abneigung, an die Stelle der französischen Vorherrschaft in Mitteleuropa die russische treten zu sehen; er war nicht willens, Preußens Geschicke mit denen Rußlands zu verbinden, solange er nicht Gewißheit über die letztlichen Absichten des Zaren hatte. Daher operierte Hardenberg während der zweiten Hälfte des Jahres 1811 sehr vorsichtig; obwohl Scharnhorst ermächtigt wurde, mit den Russen Besprechungen zu führen, so prüfte doch der Staatskanzler die Vorteile eines Militärbündnisses mit Napoleon und stemmte sich unterdessen mit seinem ganzen Einfluß gegen irgendwelche Mobilisierungspläne
Im Spätherbst erreichten die französisch-russischen Beziehungen ihren Tiefpunkt, und beide Länder begannen, Druck auf die preußische Regierung auszuüben. Napoleon verlangte nun von Preußen, entweder dem Rheinbund beizutreten oder ein bedingungsloses Offensiv-Defensiv-Bündnis mit Frankreich einzugehen. Der Zar seinerseits versprach, Preußen gegen die Folgen einer Ablehnung der französischen Bedingungen zu schützen. Unter dem Zwang, zwischen diesen Alternativen wählen zu müssen, schlug sich Hardenberg zur Reformpartei und riet zu einem Bündnis mit Rußland. Doch der König war von der späten Bekehrung Hardenbergs nicht überzeugt und beschloß im November 1811 — zum Schrecken der Reformer und des größten Teils der Armee —, sich Napoleon zu beugen und das von dem Kaiser gewünschte Bündnis abzuschließen.
Der französisch-preußische Vertrag, der im März 1812 ratifiziert wurde, schien alles sinnlos zu machen, was seit 1807 getan worden war, um ein starkes Heer zu schaffen. Seine wichtigste Bestimmung war die, daß Preußen im Falle eines französisch-russischen Krieges dem Kaiser ein Hilfsheer von 20 000 Mann zu stellen hatte. Aber es gab noch andere Klauseln, die nicht minder schimpflich waren. So durften ohne Napoleons Genehmigung in Preußen keinerlei Mobilmachungsbefehle oder Truppenbewegungen erfolgen; von den preußischen Festungen sollten zwei sofort von französischen Einheiten besetzt werden, und die ganze Strenge der französischen Besatzung sollte wiederhergestellt werden. Die moralischen Folgen des Pakts waren verheerend. Dreihundert preußische Offiziere — fast ein Viertel des Offizierskorps — reichten entrüstet ihren Abschied ein; zu ihnen gehörten auch Boyen und Clausewitz. Clausewitz schrieb über den Vertrag: „Ich glaube und bekenne, daß der Schandfleck einer feigen Unterwerfung nie zu verwischen ist; daß dieser Gifttropfen in dem Blut eines 'Volkes in die Nachkommenschaft übergeht und die Kraft späterer Geschlechter lähmen und unter-_ graben wird“
Die Trübsal des Breslauer Kreises war jedoch nicht von langer Dauer. Im Juli marschierte Napoleon, dem ein preußisches Korps unter Yorck widerwillig Beistand leistete, in Rußland ein. Im Dezember strömten seine desorganisierten Truppen durch Ostpreußen zurück, und damit war Preußens große Stunde gekommen.
Man konnte nicht erwarten, daß der König diese Gelegenheit sofort erkennen würde. In seinem Berliner Schloß saß er weit vom Schauplatz der französischen Katastrophe entfernt, und es ist erklärlich, daß er den aufregenden Meldungen keinen Glauben schenkte. Tatsächlich scheint Friedrich Wilhelm allein dem Genie Napoleons vertraut zu haben, und da er nicht vergessen konnte, daß auf Aspern ein Wagram gefolgt war, verhinderte er jegliches ministerielle Handeln, das auf eine Ausnutzung der französischen Rüdeschläge hinzielte. Doch diesmal wurde die Macht, über die Ereignisse zu bestimmen, dem Souverän aus den Händen gerissen. Am 30. Dezember schloß General Yorck — ganz auf eigene Faust — mit dem Kommandeur der vordringenden russischen Truppen die Konvention von Tauroggen, zog sein Hilfskorps aus dem Kampf und verkündete dessen Neutralität
Und bevor noch der verblüffte König Gelegenheit hatte, Yorcks Handlungsweise zu verwerfen, traf Stein, vom russischen Hof kommend, in Ostpreußen ein, berief zusammen mit Yorck den ostpreußischen Landtag ein und veranlaßte diesen, alle wehrfähigen Männer zwischen 18 und 45 zur Landwehr einzuberufen, um die Provinz gegen französische Repressalien zu schützen
Hiernach gab es kein Zurück mehr. Der König siedelte von Berlin nach Breslau über, wo die Reformpartei das Übergewicht hatte, und setzte fast unmittelbar darauf ein Komitee ein, dessen führendes Mitglied Scharnhorst war und das so rasch wie möglich die Verstärkung des preußischen Heeres vornehmen sollte. Die ersten Befehle, die von diesem Komitee ergingen, brachten lediglich das Heer auf volle Stärke, vermehrten die Zahl der Regimenter und verteilten die ausgebildeten Mannschaften auf die neuen Formationen. Doch am 3. Februar wurden die ersten der von den Reformern so lange ersehnten Maßnahmen Wirklichkeit: es kam die Genehmigung zur Aufstellung von Abteilungen Freiwilliger Jäger, und an die bemittelten Klassen, die früher von der Wehrpflicht ausgenommen waren, erging der erste Aufruf. Wirklichkeit wurde endlich auch die allgemeine Wehrpflicht: am 9. Februar wurden die bestehenden Befreiungen für die Dauer des Krieges aufgehoben. Als am 17. März eine königliche Order die Schaffung einer Landwehr nach ostpreußischem Muster bekanntgab, die alle nicht in der regulären Armee oder bei den Jägern dienenden Männer zwischen 17 und 40 umfassen sollte, und als einen Monat später das Landsturmedikt die bisher nicht erfaßten Männer zur Verteidigung der Heimat und im Falle der Not sogar zum Heckenschützenkrieg aufrief, hatte sich endlich der Traum der Reformer von dem Volk in Waffen erfülltC
Im Januar und Februar, als die ersten dieser Befehle erlassen wurden, ließ man noch im unklaren, welchen Zweck die übereilte Mobilmachung hatte. Preußen entledigte sich zwar seiner Verpflichtung gegen Napoleon, traf aber auch keinerlei formelles Abkommen mit Rußland; in völkerrechtlicher Hinsicht näherte sich seine Stellung der Neutralität. Doch bei den Freiwilligen, die zu Tausenden in die preußischen Kantonnements strömten, bestand keinerlei Zweifel: sie wußten, daß sie gegen Frankreich kämpfen sollten, und die überall herrschende Einmütigkeit riß den König mit. Friedrich Wilhelm spielte zwar vorübergehend mit dem Gedanken, sich mit Waffengewalt zwischen Franzosen und Russen zu stellen, und sandte auch tatsächlich eine Sondermission ins russische Hauptquartier, die aber von Stein mit einiger Mühe aufs Nebengleis geschoben wurde
In den sogenannten Freiheitskriegen wurde das Werk der Reformer auf die Probe gestellt, und es wurde in deren Verlauf für gut befunden. 1813 schickte Preußen annähernd 280 000 Mann ins Feld — etwa 6 v. H.seiner Gesamtbevölkerung —, eine Leistung, die es nicht vollbracht haben würde ohne die von Scharnhorst und seinen Mitstreitern beharrlich geforderte Form totaler Mobilmachung. Der Anteil ausgebildeter Soldaten war verhältnismäßig klein; im März 1813 hatte die Linienarmee eine Stärke von nur 68 000 Mann, und die voll ausgebildeten Einheiten wurden bei Groß-Görschen und Bautzen, in den ersten Schlachten, stark dezimiert
Wie weit die Stimmung, in der das preußische Volk an dem Krieg teilnahm, vom Wirken der Reformer beeinflußt war, ist schwieriger festzustellen. Über die Volksbegeisterung von 1813 ist viel geschrieben worden, und mancherlei davon ist fraglos übertrieben; aber es steht außer Zweifel, daß sie in scharfem Gegensatz zu der Stimmung von 1806 stand
Es ist keine Frage, daß die nun gegen Napoleon marschierenden Armeen ihre Schlagkraft Scharnhorsts Leistungen verdankten. Mochte auch in den ersten Kampfmonaten die Artillerie schwach sein und Knappheit an Kleinwaffen und Munition bestehen, so wurden doch diese Mängel durch die hervorragende Führung ausgeglichen. Die kommandierenden Generäle — Blücher, Kleist, Yorck und Bülow — wurden nicht von Zweifeln geplagt und verloren auch nicht die Nerven, wie es in so lähmender Weise 1806 beim Oberkommando der Fall gewesen war und 1813 hier und da bei den verbündeten Armeen zutage trat, und die Subalternoffiziere bewiesen, dank der Reorganisation des Offizierkorps, im allgemeinen Initiativgeist und scheuten sich nicht vor Verantwortung. Der wohl auffallendste Aspekt der neuen Armee war die hervorragende Stabsarbeit während der ganzen Feldzüge. Zum erstenmal in der Geschichte der Armee wurden allen kommandierenden Generälen und Korpskommandeuren Generalstabs-offiziere zugeteilt. Gneisenau kam zu Blücher, Boyen zu General von Bülow, Grolman zu Kleist, Rauch zu Yorck, Clausewitz zu Thielmann, Reiche zu Ziethen und Rothenburg zum Korps Tauentzien. Größtenteils wurden sie willkommen geheißen und ständig konsultiert. Yorck allerdings soll seinen Chef des Stabes, Oberst von Rauch, mit den Worten empfangen haben: „Ich brauche keinen Chef des Generalstabes. Wenn ich aber dodt einen haben soll, so sind Sie mir immer noch der liebste.“ Und Ziethens Stabschef klagte bitter darüber, daß man ihm nichts zu tun gebe
Als Scharnhorst infolge eitler bei Groß-Görschen erlittenen Verwundung tragischerweise starb, war es Gneisenau, der anstelle des Führers der Militärreform die Aufgaben des Chefs des Generalstabs übernahm. Es war eine glückliche Wahl, denn Gneisenau besaß von den Reformern als einziger die militärischen Talente seines großen Chefs; ja, seine strategische Begabung ist sogar mit der Napoleons verglichen worden
Nachdem die Feindseligkeiten begonnen hatten, sah sich die Reform-partei neuen Problemen und neuen Antagonisten gegenüber. Napoleon hatte sich von seinem russischen Desaster erstaunlich schnell erholt, und die russischen und preußischen Verbündeten hatten nach den ersten Zusammenstößen mit ihm bei Groß-Görschen und Bautzen allen Grund zu der Annahme, daß sie ihn ohne einen weiteren Verbündeten nicht endgültig würden schlagen können. Infolgedessen strengte man sich doppelt an, Österreichs Beistand zu gewinnen, und wenn diese Bemühungen auch letzten Endes erfolgreich waren, so brachte doch Österreichs Hinzutreten ernsteste militärische und politische Komplikationen mit sich. Denn unter Metternichs Führung trat Österreich nicht mit dem nationalen Eifer von 1809 in den Krieg ein, sondern mit kühler Berechnung, die an die Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts erinnerte
Infolgedessen wurde denn auch, als die Verbündeten im Oktober 1813 Napoleon bei Leipzig eine vernichtende Niederlage beibrachten, die Gelegenheit einer raschen Verfolgung seiner desorganisierten Armee nicht voll genutzt, und in den Monaten darauf lockerte sich bald die Einheit der Verbündeten
Obwohl der Korse noch nicht ganz ausgespielt hatte, traf doch Steins Bemerkung im wesentlichen zu. 1815 rief Napoleons verzweifeltes Abenteuer der Hundert Tage die verbündeten Armeen aufs Schlachtfeld zurück, und die Zusammenarbeit zwischen Blücher und Gneisenau und die Entschlossenheit der preußischen Truppen wurden noch einmal auf die Probe gestellt. Aber Waterloo bestätigte lediglich das im Jahr vorher Erreichte und bewies noch einmal die Vortrefflichkeit des von Scharnhorst 1807 begonnenen Werks.
3. Die Zeit Doyens und die Krise von 1819
Die Reformer hatten ihrem Lande große Dienste geleistet, und als Napoleon sicher in St. Helena saß und die Feindseligkeiten endgültig zum Abschluß gekommen waren, wurde das auch von der Krone anerkannt. Über die allgemeine Verhimmelung hinaus, mit der man sie, wohin sie auch kamen, empfing, wurden Blücher, Gneisenau, Boyen, Grolman und andere mit offiziellen Ehrungen, pekuniären Sporteln, entsprechenden Beförderungen und staatlichen Ehrenämtern bedacht. Doch die Verleihung solcher Würden konnte nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß ihr Verhältnis zum König etwas gespannt war. Das war kein gutes Vorzeichen für die Dauerhaftigkeit der von ihnen bisher bewirkten Änderungen, noch für die Vollendung ihres Programms in Gestalt einer grundlegenden Verfassungsreform.
Tatsache blieb, daß die Reformer, mochten sie auch für ihren Souverän die Schlachten gewonnen haben, wenig getan hatten, um sich bei ihm in Gunst zu setzen, und daß ihn ihr Verhalten in den Jahren 1814 und 1815 oft gereizt und erschreckt hatte. Blüchers und Gneisenaus beharrliches Festhalten an ihrem eigenen Kriegsplan während der Krise vom Februar 1814 hatte zwar zu einem guten Ende geführt, aber die Heftigkeit, mit der sie für ihre Sache eingetreten waren, und ihre mehrfache glatte Weigerung, Befehle aus dem obersten Hauptquartier durchzuführen, waren beunruhigend gewesen. Solches Verhalten hatte einen Beigeschmack von Insubordination und hatte für den König Ähnlichkeit mit Schills Revolte von 1809, an die er nicht gern erinnert wurde
Noch schlimmer hatten sie sich bei den Friedensverhandlungen in Wien aufgeführt. Sie hatten dort bittere Kritik an der Verfahrensweise des Kongresses und an der Taktik der preußischen Vertreter geübt, wobei Boyen sogar wegen einer geringfügigen Angelegenheit Wilhelm von Humboldt zum Duell gefordert hatte
Dem König entging natürlich nicht die wachsende Abkühlung in anderen Hauptstädten. Hardenberg wies ihn darauf hin, daß die Haltung des Militärs für Preußens Stellung nicht förderlich sei. Und da Friedrich Wilhelm sich die Achtung und Freundschaft der anderen Herrscher erhalten wollte, wurde er Gneisenau und den Reformern gegenüber zunehmend kritisch. Noch vor Beendigung der Feldzüge vertraute er einem englischen Militärbeobachter an, Gneisenau sei ihm zu gescheit, und sein Generaladjutant von dem Knesebeck schrieb im Oktober 1815 an Pozzo di Borgo, der König sei besorgt über den Einfluß Gneisenaus und seiner Mitarbeiter auf das Kabinett und darum entschlossen, sich seiner zu entledigen
Der Sinneswandel des Königs war Wasser auf die Mühlen aller, die glaubten, Stein und Scharnhorst hätten „die Revolution ins Land gebracht“, und die Verwaltungs-und Heeresreform würden zur Zerstörung der Monarchie, zu einem Krieg der Besitzlosen gegen die Besitzenden führen
Allerdings war der Sieg der Reaktion ein allmählicher Prozeß. 1814 und 1815 sah es noch so aus, als seien die Reformer in gesicherter Position und die Reformen von Dauerhaftigkeit. Im Juni 1814 beispielsweise verkündete der König nicht nur den Fortbestand der Verwaltungsreform von 1809, er tat auch den letzten Schritt zur Vereinheitlichung des Kriegsministeriums. Das Allgemeine Kriegsdepartement und das Militär-Ökonomiedepartement wurden aufgelöst und ein einheitliches Ministerium geschaffen, das für alle Aspekte der Heeresverwaltung zuständig war
Boyens Hauptziel war, dem Werk seines früheren Chefs Dauerhaftigkeit zu verleihen. Er war sich darüber klar, daß in konservativen Kreisen der Wunsch bestand, nunmehr, nach Beendigung des Krieges, mit der allgemeinen Wehrpflicht Schluß zu machen und zu dem Kanton-system zurüdezukehren, das Abbild und Stütze der traditionellen Standesstruktur gewesen war. Fürst Wittgenstein, der sich nicht scheute, durch Polizeispitzel im Kriegsministerium spionieren zu lassen, erklärte ganz offen, eine Nation zu bewaffnen, heiße nichts anderes, als Widerstand und Unzufriedenheit organisieren und fördern
Im Sommer 1814 entwarfen Boyen und Grolman das Gesetz, das bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts für den Militärdienst in Preußen bestimmend bleiben sollte. Nachdem sie den König zur Annahme bewogen hatten, wurde das neue Wehrgesetz am 3. September 1814 verkündet. Es erklärte alle Männer in Preußen vom 20. Lebens-jahre ab für wehrdienstpflichtig. Sie hatten zunächst drei Jahre im stehenden Heer zu dienen, dann zwei Jahre in der Reserve, danach sieben Jahre im ersten Aufgebot der Landwehr, das im Kriege gleich dem stehenden Heer verwendet werden sollte, und schließlich sieben Jahre im zweiten Aufgebot der Landwehr, das im Krieg den Garnison-dienst und die Heimatverteidigung übernehmen sollte. Zwar hatten sie nur die ersten drei Jahre zusammenhängend abzudienen, aber bis zum 39. Lebensjahr unterlagen sie eindeutig der Wehrverfassung und konnten zu periodischen Übungen einberufen werden; selbst nach diesem Alter hatten sie noch, in Zeiten nationalen Notstands, im Landsturm zu dienen. Die Reformer hatten sich ausgerechnet, daß Preußen durch die Verbindung des Prinzips der allgemeinen Wehrpflicht mit einer verhältnismäßig kurzen Dienstzeit im stehenden Heer zu einer Armee von 500 000 Mann kommen, jedoch jeweils nur die 130 000 in aktivem Dienst stehenden Mann zu unterhalten haben würde
Mit der Veröffentlichung des Wehrgesetzes verschwand die letzte Möglichkeit einer Rückkehr zum Kantonsystem mit seinen weitherzigen Befreiungen. Die einzige Einschränkung der Wehrpflicht, zu der man sich herbeiließ, geschah im Interesse der höheren Bildung. Hardenberg und andere Minister hatten geltend gemacht, daß Unterbrechungen in der Ausbildung junger Männer für höhere Berufe, Wissenschaft oder Staatsdienst einen nicht wiedergutzumachenden Schaden für die Nation mit sich bringen würden, und Boyen hatte daraufhin, wenn auch äußerst widerstrebend, eine Bestimmung in das Gesetz eingeführt, nach der junge Leute „der gebildeten Stände“, die sich selbst bekleiden, ausrüsten und verpflegen konnten, als Einjährig-Freiwillige in die Jäger-bataillone aufzunehmen und nach zwölfmonatiger Dienstzeit zu entlassen waren. Diese Bestimmung stieß auf lebhafte Kritik, was berechtigt war, denn nach ihrer ursprünglichen Form durften die kommandierenden Offiziere darüber entscheiden, wer zu den „gebildeten Ständen“ gehörte. 1822 jedoch kam eine Neuregelung heraus, nach der Einjährig-Freiwillige die Sekundareife auf dem Gymnasium erreicht haben mußten, und in dieser Form blieb die Einrichtung bis 1918 bestehen
Boyens Wehrgesetz sicherte auch den Fortbestand der Landwehr, in die er die größten Erwartungen gesetzt hatte. Im August 1814, bei einem Bankett anläßlich der Verleihung des Ehrendoktors durch die Berliner Universität, brachte Blücher einen Trinkspruch auf die „glück-liche Verbindung des Krieger-und des Bürgerstandes vermittelst der Landwehr“ aus
Daß Boyen dieses Programm erfolgreich durchführte und es 1817, als eine Finanzkrise ausbrach, wirkungsvoll gegen scharfe Angriffe verteidigte
Vielleicht war es ein Unglück, daß Wilhelm von Humboldt den Kampf um die Verfassungsreform anführte. Nachdem Stein die Bühne verlassen hatte, galt Humboldt allgemein als der hervorragendste und aufgeklärteste Staatsdiener. In der Reformzeit hatte er als Kultus-und Unterrichtsminister die Berliner Universität gegründet; auf dem Wiener Kongreß waren von ihm, obwohl er es mit brillanten Gegenspielern zu tun hatte, Organisationsgabe und eine gründliche Kenntnis diplomatischer Finessen bewiesen worden. Als politischer Denker zeichnete er sich durch ausgeprägte liberale Ansichten und durch sein unbeirrbares Eintreten für eine geschriebene Verfassung aus, für parlamentarische Einrichtungen und für das Prinzip der ministeriellen Verantwortlichkeit
Diese Hoffnungen sollten sich nicht erfüllen. Mochte Humboldt auch ein großer Denker sein, er besaß nicht die Talente, die erforderlich gewesen wären, um die politische Lage, in die er sich hineingestellt sah, zu meistern. Es erwies sich, daß er sich sowohl in der Einschätzung der politischen Realität wie in seiner Menschenkenntnis irrte. Er überschätzte den Umfang seiner Autorität und durchschaute nicht im geringsten die Machenschaften der reaktionären Partei am Hofe. Am schlimmsten aber war, daß er den Einfluß, den er zweifellos besaß, in einer erbitterten persönlichen Fehde mit dem Staatskanzler Hardenberg vertat.
Hardenbergs Haltung war allerdings zweideutig
Humboldt hatte für diesen Standpunkt kein Verständnis. Zudem war er moralisch entrüstet über Hardenbergs Lebenswandel. Er scheint in dem Staatskanzler einen Mann gesehen zu haben, für den Politik lediglich ein Mittel war, an der Macht zu bleiben. Er gab sich keinerlei Mühe, sich mit Hardenberg zu verständigen, und nachdem er im August 1819 aktives Mitglied des Staatsministeriums geworden war, übte er scharfe Kritik an dem von Hardenberg im gleichen Monat vorbereiteten Verfassungsentwurf und versuchte, eine Front der übrigen Minister gegen den Staatskanzler zustandezubringen: Zum Entzücken der reaktionären Mitglieder des Staatsministeriums, vor allem Wittgensteins, der Humboldt schmeichelte und ermutigte, weil er genau wußte, daß die Reaktion Nutznießer der so entstehenden Konfusion sein würde
Diese Konfusion spitzte sich zu, als der König im September, nach voraufgegangenen Besprechungen zwischen Hardenberg und Metternich in Teplitz und Karlsbad, verkündete, Preußen werde an den Karlsbader Beschlüssen festhalten. Die Beschlüsse waren dazu gedacht, der revolutionären Agitation in allen deutschen Staaten ein Ende zu setzen. Es ist kaum daran zu zweifeln, daß Hardenberg hierbei keine große schäft und der Ermordung Kotzebues durch einen geistesverwirrten Studenten erschrockene — König unter allen Umständen auf der Vereinbarung bestanden haben würde
Für die Restaurationspartei war nun die Gelegenheit gekommen, auf die sie lange gewartet hatte. Humboldt zu erledigen, konnte sie Hardenberg überlassen, denn der Staatskanzler war nun sehr aufgebracht und hatte sich entschlossen, sein Verbleiben im Amt von Humboldts Entlassung abhängig zu machen. Wittgenstein und seine Anhänger nahmen sich Boyen aufs Korn. Sie wußten, daß der König seinem Kriegsminister skeptisch gewesen war, denn Boyen gegenüber stets war, wie Clausewitz im Dezember 1819 schrieb, „zu sehr ein Gewächs auf Scharnhorsts Grund und Boden, um (dem König) nicht immer etwas fremdartig geblieben zu seyn, als ein anderer in seiner Stelle gewesen seyn würde"
Das alles gab der Wittgenstein-Partei ein weiteres Argument, mit dem sie beim König, der jeder die Tüchtigkeit seiner Armee betreffenden Kritik gegenüber sehr empfindlich war, operieren konnten. Schon seit langem behauptete sie, die Landwehr sei politisch unzuverlässig, ein Hort für Verschwörer und Andersdenkende, und ihre Führer hegten nationalistische Aspirationen, die Preußen sehr wohl in einen Krieg mit den anderen deutschen Staaten verwickeln könnten
Boyen reagierte hierauf spontan und kompromißlos, genau wie die reaktionäre Partei erwartet hatte. Die Order des Königs war nach seiner Auffassung der Anfang vom Ende der Landwehr, wie sie 1814 konzipiert worden war. Habe sie erst einmal den Status der Gleichberechtigung gegenüber der Linienarmee verloren, meinte er, so würde sie allmählich der engherzigen Disziplin und den beschränkten politischen Ansichten unterliegen, die von jeher das stehende Heer und sein Offizierkorps gekennzeichnet hätten; und der bereits erzielte Fortschritt auf dem Wege der Aussöhnung zwischen Armee und Zivilbevölkerung werde sich unvermeidlich in sein Gegenteil verkehren. Statt sich hierfür herzugeben, kam Boyen lieber um seine Entlassung ein, und obwohl der offenbar schwankende König ihn zum Bleiben aufforderte, bestand er auf seinem Abschied
4. Die Reaktion und ihre Folgen
Friedrich Meinecke hat das Jahr 1819 das Unglücksjahr des 19. Jahrhunderts genannt und stets die Auffassung vertreten, die Ministerkrise, mit der das Jahr zu Ende ging, sei der bedeutsamste Wendepunkt in der deutschen Geschichte gewesen
Nach 1819 bestand keine Hoffnung mehr auf irgendeine Verfassungsreform. Mit dem Sturz Boyens und Humboldts war der Plan für eine Volksvertretung effektiv abgewürgt. Zwar setzte Hardenberg seine Bemühungen um eine konstitutionelle Verfassung fort, aber er befand sich jetzt in isolierter Stellung, und 1821 schließlich wurden seine Anstrengungen durchkreuzt: Wittgenstein und der Kronprinz, der äußerst romantische Vorstellungen vom Regieren hegte und in die Idee der Feudalherrschaft verliebt war, überredeten den König, die alten Provinzialstände wieder ins Leben zu rufen, statt eine allgemeine Verfassung zu promulgieren
In der nun folgenden Restaurationsperiode gelang es jedoch Wittgenstein und seinen Anhängern nicht, die von ihnen gewünschten grundsätzlichen Änderungen in der Heeresverfassung durchzusetzen. Von der Wiederbelebung des Kantonsystems war nicht mehr die Rede, es blieb bei der allgemeinen Wehrpflicht. Man bemühte sich sogar, diese wirkungsvoller auszubauen. Als sich 1833 zeigte, daß die Bevölkerung Preußens rascher zunahm als das Vermögen, die Linienarmee zu unterhalten, und daß man infolgedessen viele Jugendliche vom Militärdienst befreien mußte, wurde die Dienstzeit vorübergehend von drei auf zwei Jahre herabgesetzt. Damit hoffte man zu einer gerechteren Anwendung des Wehrgesetzes von 1814 zu gelangen, die Zahl der die reguläre Armee durchlaufenden Rekruten zu erhöhen und mit der Zeit auch die Qualität der Landwehr zu verbessern, zu der sie nach ihrem Dienst in der Linienarmee gehörten. Zwar gingen nicht alle Erwartungen in Erfüllung, doch wurden eine gewisse Verbesserung und die Beibehaltung der Grundzüge des Wehrgesetzes von 1814 erreicht
Was nun die Schlagkraft des Heeres im allgemeinen anging, so bedeutete die Zeit nach 1819 einen steten Fortschritt. In der Linienarmee zumindest wurden Ausbildung, Ausrüstung, Artillerie und Handfeuerwaffen wesentlich verbessert. Zum Beispiel war die preußische Armee die erste in Europa, die vollständig mit den neuen Perkussionsgewehren ausgerüstet wurde, und schon in den 30er Jahren führte Dreyse Experimente durch, die die Erfindung des Zündnadelgewehrs brachten, das sich später, besonders in der Schlacht von Königgrätz, glänzend bewährte
Zeit die preußische Armee in bezug auf Generalstabsarbeit jeder anderen in Europa überlegen war
Auch die zwischen 1809 und 1814 geschaffene Einheit der Heeresverwaltung wurde größtenteils beibehaltcn, obwohl mancherlei darauf schließen ließ, daß es nicht immer so bleiben würde. Noch vor Boyens Sturz hatte der König den Wunsch zu erkennen gegeben, die alte Generaladjutantur wieder ins Leben zu rufen. 1816 hatte er den Oberst Job von Witzleben, den Leiter der Personalabteilung des Kriegsministeriums, zum Chef seines Militärkabinetts ernannt und 1818 die Zweideutigkeit von Witzlebens Position noch verstärkt, indem er ihn zum Generaladjutanten mit dem Rang eines Generalmajors machte. Doch trotz seines großen persönlichen Einflusses betrachtete Witzleben weiterhin den Kriegsminister als seinen Vorgesetzten, so daß das Militär-kabinett zu seiner Zeit nicht jene verantwortungslose Stelle wurde, die es in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts werden sollte
Der Sturz der Reformer hatte jedoch noch andere, weniger günstige Folgen. Es läßt sich zum Beispiel nicht bestreiten, daß die von Scharnhorst im Offizierkorps eingeführten Sozial-und Erziehungsreformen nach 1819 abgeschwächt wurden. General Hake, der von 1819 bis 1833 Kriegsminister war, hielt nicht so viel von Bildung wie die Reformer. In privatem Kreise äußerte er sich einmal, für einen Offizier genüge es, wenn er lesen, schreiben und rechnen könne: „Man zeige mir ciodt den, der später viel mehr gebraudtt hätte!“
Noch ernster waren, auf die Dauer gesehen, die Folgen des wachsenden Professionalismus in der Armee. Nach Boyens Sturz hörten die jüngeren Offiziere auf, in ihren Idealen und Interessen „boyensch" zu sein, und Boyens Bild von dem aufgeklärten Bürgersoldaten, der im Leben der Gesellschaft, zu der er gehörte, eine aktive Rolle spielte, verblaßte bis zur Unkenntlichkeit
Es gab indes noch viele andere Anzeichen dafür, daß sich die alte Antipathie zwischen Heer und Volk geltend machte. Der tiefere Sinn der Krise von 1819 war den mittleren und unteren Ständen nicht entgangen. In der ihr folgenden Restaurationsperiode rührte sich in Preußen zum erstenmal eine organisierte liberale Bewegung, eine Bewegung, deren Antrieb das Verlangen nach einer Verfassungsreform und nach einer Außenpolitik war, die den Hoffnungen des deutschen Volkes auf nationale Einigung Rechnung trug. Da sie weder in der einen noch in der anderen Richtung weiterkamen, übten die Liberalen in zunehmendem Maße Kritik an der Regierung und an der Armee. Es war die Zeit, in der die Verhimmelung der Landwehr einsetzte und in der man begann, deren Leistungen in den Freiheitskriegen auf Kosten der Linienarmee zu verherrlichen. Es war die Zeit, in der die Werke des süddeutschen Geschichtschreibers Karl von Rotteck große Popularität gewannen. Die preußischen Liberalen griffen gläubig seine Argumente gegen das stehende Heer auf: es sei ein Werkzeug des Despotismus, seine Rekruten würden vorsätzlich dem Volke entfremdet und in ihnen eine Verachtung für menschliche Werte und Gesetz gezüchtet, die Armee stehe der Entfaltung von Gewerbe, Kunst und Wissenschaft feindselig gegenüber, sie müsse aufgelöst und durch eine vergrößerte Nationalmiliz ersetzt werden
Diese überschwenglichen Argumente würden an sich nicht viel bedeutet haben, hätten nicht Regierung und Armee sich in einer Weise verhalten, die dazu angetan war, ihnen Triftigkeit zu verleihen. Das enge, bei den Liberalen unpopuläre Bündnis mit Österreich nach 1819 schien zu beweisen, daß dem König und seinen nächsten Ratgebern mehr daran lag, die liberale Bewegung zu unterdrücken als Preußens nationale Hoffnungen zu erfüllen, und daß sie die Armee weniger als ein Verteidigungsmittel gegen äußere Feinde denn als eine Waffe gegen das eigene Volk ansahen. Tatsächlich wurde dies fast unverhohlen in dem mit Genehmigung des Königs 1826 erschienenen „Handbuch des preußischen Militärrechts“ von Rudolf und in anderen militärischen Publikationen zugegeben; darin hieß es nachdrücklich, die Armee sei ein „Ordnungsfaktor" innerhalb der Gesellschaft
Solche Übergriffe konnten nur dazu beitragen, im Volke Mißtrauen und Abneigung gegen die Armee zu erwecken. In den Jahren zwischen 1819 und 1840 wurde alles, was Scharnhorst und seine Anhänger getan hatten, um Militär und Zivilbevölkerung auszusöhnen, zunichte gemacht. Die Armee galt nun wieder allgemein als Haupthindernis für den sozialen Fortschritt, und es war deutlich, daß ihre Existenz im Falle einer größeren Erhebung im Innern gefährdet sein würde.