In der letzten Ausgabe der Beilage wurde bereits ein Kapitel des demnächst bei Macmillan & Co. Ltd. in London erscheinenden Buches „Religion in the Soviet Union“ von Walter Kolarz veröffentlicht. Wir bringen diesen Vorabdruck heute mit dem folgenden Kapitel über das Schicksal der religiösen Judentums in der Sowjetunion zum Abschluß.
Das Schicksal des religiösen Judentums
„Jehova! dir künd’ ich auf ewig Hohn Ich bin der König von Babylon!“
Heinrich Heine, Belsazar.
Untersuchungen über die sowjetische Einstellung zum religiösen Judentum werden durch die Zwiespältigkeit des Judenproblems in Ruß-land erschwert. Für gewöhnlich steht nur der nationale, nicht aber der religiöse Aspekt des Problems im Blickpunkt des Interesses. So wird z. B. in einem Standardwerk über die Juden in der Sowjetunion das Schicksal des religiösen Judentums nur am Rande behandelt
Wenn man der sowjetischen anti-religiösen Theorie Glauben schenken will, so war der jüdische Monotheismus eine Erfindung der „Propheten“, dazu bestimmt, den Juden eine Art religiöser Exklusivität zu verleihen, um auf diese Weise die Klassengegensätze innerhalb der jüdischen Gesellschaft zu dämpfen. Die „Propheten“, so heißt es, geißelten zwar den Luxus und das Wohlleben der Reichen, unterließen es jedoch, zum Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit aufzurufen. Ihre Vertröstungen auf die Ankunft des Messias dienten dem Zweck, die zur Tat drängenden und ausgebeuteten unteren Klassen in Zaum zu halten
Die von den atheistischen Propagandisten gegen das religiöse Judentum gerichteten Angriffe unterschieden sich nur geringfügig von den Attacken, die gegen die anderen Religionen geführt wurden. Die jüdische Religion, so sagt man, predigt unwissenschaftliche Lehren über Natur und Gesellschaft; das Priestertum hat Philosophen vom Range eines Spinoza, Uriel d’Accosta und viele andere fortschrittliche Gelehrte und Schriftsteller
In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg ist die jüdische Religion vor allen Dingen als die „amtliche Religion des Bourgeois-Staates Israel“ gebrandmarkt worden. Die Verfechter der atheistischen Propaganda haben dabei den israelischen Rabbinern immer wieder einen politischen Einfluß zugeschrieben, den sie im Urteil des religiösen Judentums gar nicht besitzen
Die Praxis des sowjetischen Kampfes gegen das religiöse Judentum
Der Kampf gegen die Juden ist von den Kommunisten stets um einige Grade anders geführt worden als die Kampagnen gegen die anderen Religionen. Zunächst einmal war die tagtägliche Agitation weniger auf die Vernichtung des religiösen Judentums gerichtet — wenngleich das natürlich ein kommunistisches Fernziel blieb — als darauf, die russischen und ukrainischen Antisemiten eines ihrer Lieblingsargumente zu berauben: Zu Beginn der kommunistischen Herrschaft gab es viele Menschen in der Sowjetunion, die die kommunistische Macht mit den Juden gleichsetzten und infolgedessen die atheistische Bewegung nicht als ein Instrument antireligiöser Propaganda schlechthin ansahen, was sie in der Tat war, sondern als eine Einrichtung zur Verfolgung der Christen und insbesondere der Orthodoxen Kirche.
Um zu verhindern, daß der Kampf gegen das Christentum sich abschwächte, intensivierten die Kommunisten ihren Kampf gegen die jüdische Religion, womit sich Sigmund Freud’s berühmter Ausspruch bewahrheitete, daß „Haß auf das Judentum iw Grunde Haß auf das Christentum ist“. 1°)
Die Propaganda gegen das religiöse Judentum stellte also gewissermaßen einen Blitzableiter für den allgemeinen Antisemitismus dar, der damit in Zaum gehalten wurde. Die Wochenzeitung „Besboschnik" brachte regelmäßig eine Spalte unter der Überschrift „Nieder mit den Rabbinern". Jede gegen christliche Gruppen gerichtete Aktion fand sogleich ihre Parallele in einer entsprechenden Aktion gegen die Juden. Karikaturen und Plakate, die Schmähungen des christlichen Glaubens darstellten, standen Seite an Seite mit Karikaturen und Plakaten auf denen abstoßend aussehende Rabbiner mit großen Hakennasen abgebildet waren. Was immer die Absichten der Initiatoren dieser Propaganda gewesen sein mögen, es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß sie antijüdische Gefühle hochspülten.
Diese Feststellung trifft ungeachtet der Tatsache zu, daß die atheistische Propaganda fast ausschließlich vonjüdischenKommunisten—Mitgliedern der „Jüdischen Abteilungen“ (Jewsektsii) — betrieben wurde, die innerhalb der kommunistischen Partei und der Liga der militanten Atheisten entstanden waren. Letztere zählte im Jahre 1929, als die anti-religiöse Kampagne ihren Höhepunkt erreicht hatte, insgesamt 40 000 jüdische Mitglieder
Es fällt schwer, die Leiden, die die „Jüdischen Abteilungen“ und andere jüdische Institutionen dem religiösen Judentum in Rußland in den zwanziger und dreißiger Jahren zugefügt haben, heute noch in der richtigen Perspektive zu sehen; diese Ereignisse sind überschattet von der Vernichtung von 6 Millionen Juden durch die Nationalsozialisten.
Aber denjenigen, die die früheren und weniger heftigen kommunistischen Verfolgungen erlebt hatten, erschienen sie grausam und einmalig in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wenngleich auch in Ländern wie Rumänien und Ungarn der Antisemitismus verbreitet war, so wurden die Juden dort in der Ausübung ihrer Religion nicht behindert. Lediglich in Sowjetrußland hatte man der jüdischen Religion den Krieg erklärt.
Die Anti-Sabbat-Kampagne
Das wohl hervorstechendste Merkmal der sowjetischen Offensive gegen die jüdische Religion, war der Kampf gegen den Sabbat und die religiösen Feiertage der Juden, insbesondere das Passahfest, Rosch haSchanah (das Neujahrsfest) und Jom Kippur (der Tad der Sühne). Wenn es gelingen würde, die Juden zur Aufgabe des Sabbat und der religiösen Feiertage zu bewegen, so argumentierten die anti-religiösen Agitatoren, dann wäre die Schlacht gewonnen. Ein Bericht über anti-religiöse Propaganda unter den russischen Juden läßt sich daher eigentlich auf eine Schilderung der Methoden, mittels derer man die Juden „zu überzeugen" versuchte, reduzieren. Das Regime war entschlossen, Arbeitsverweigerungen am Sabbat moralisch unmöglich zu machen, ausgenommen waren lediglich die untersten Schichten der Arbeiterklasse. Gleichzeitig wurden besondere Kampagnen durchgeführt unter dem Motto „Arbeite am Sabbat“, die darauf abzielten, das religiöse Judentum zu schockieren. Im Verlauf solcher Kampagnen wurden junge Kommunisten zur Schau gestellt, die gerade am Sabbat Arbeiten wie Straßenfegen und Lieferungen von Heizmaterial an öffentliche Gebäude verrichteten.
Der Kampf gegen den Sabbat war verhältnismäßig harmlos in den Orten, wo die Juden eine Minderheit bildeten; er war viel schwieriger in Städten der Ukraine und Weißrußland (sthete im Yiddischen), wo die Juden einen erheblichen Teil der Bevölkerung ausmachten. Hier unterwanderten die jüdischen Kommunisten die örtlichen Handwerksgenossenschaften (artels) und brachten es durch Einschüchterungstaktik soweit, daß diese mit Stimmenmehrheit beschlossen, den Sonnabend zu einem obligatorischen Arbeitstag für alle Mitglieder zu erklären. Man kann sich vorstellen, welche Bestürzung diese Entheiligung des Sabbat bei den frommen Juden in den westlichen Grenzgebieten Sowjetrußlands auslöste. Sie befanden sich angesichts einer solchen Blasphemie in größter Verwirrung. Dies bedeutete für sie den Zusammenbruch der Welt ihrer Vorfahren. Die sowjetische atheistische Presse hat seinerzeit sehr lebendige Schilderungen dieser ersten Sabbat-Arbeitstage gegeben. Die Leute standen in Trauben vor den Gebäuden der Schneider-und Schuhmachergenossenschaften herum, um sich mit ihren eigenen Augen von der neuen kommunistischen Ungeheuerlichkeit zu überzeugen — Arbeit an einem Tag, der seit Jahrtausenden für die frommen Juden in der ganzen Welt heilig gewesen war.
Einige der Herumstehenden fluchten den arbeitenden Genossenschaftsmitgliedern und bedachten sie mit Schmährufen. So kam es, daß die Arbeit am Sabbat zu einer scharfen Trennung der jüdischen Gruppen in den einzelnen Ortschaften führte, und sich störend auf das jüdische Familienleben auswirkte. Oft gelang es, die Männer für die Arbeit am Sabbat zu gewinnen, ihre Frauen jedoch hielten unbeirrt an den alten religiösen Traditionen fest und erzogen auch ihre Kinder in diesem Geiste
Die Kampagne gegen die jüdischen Feiertage
Jüdische Kommunisten, die bereit waren am Sabbat zu arbeiten, hatten oft mit „religiösen Vorurteilen“ zu kämpfen, wenn es um das Passahfest oder um Jom Kippur ging. Auch diejenigen, für die diese Feiertage ihre religiöse Bedeutung verloren hatten, hielten sie aus Gründen der Pietät streng ein, um an dem Gedächtnisgottesdienst für die Toten teilnehmen zu können, der ein Teil der Liturgie dieses Feier-tages bildete. Der Kampf gegen die jüdischen Feiertage mußte also innerhalb der Partei ausgenommen werden. Es wurde nunmehr genau registriert, welche Parteimitglieder die Synagogen besuchten; diejenigen, die dabei ertappt wurden, erhielten Bestrafungen verschiedenster Art. In manchen Fällen wurden Schauprozesse mit solchen frommen Kommunisten veranstaltet. In anderen Fällen mußten die Schuldigen an politischen Schulungskursen teilnehmen. Die Unbelehrbaren wurden aus der Partei ausgestoßen. In späteren Jahren wurde dann jegliche Art von religiöser Betätigung von Parteimitgliedern mit dem Ausschluß aus der Partei bestraft. Die Einhaltung der jüdischen Feiertage bei den Kommunisten ging mit der Zeit immer mehr zurück, dennoch sollte es mit den Schikanen noch kein Ende haben. Viele jüdische Kommunisten, die ihren Glauben aufgegeben hatten, wollten mit einer aktiven Propaganda gegen die jüdischen Feiertage nichts zu tun haben. Diese passive Haltung wurde als „Rechtsopportunismus" angeprangert
Bei der Masse der jüdischen Bevölkerung sollte die Einhaltung der religiösen Feiertage jedoch auf andere Weise bekämpft werden, nämlich durch Vorträge über ihre Schädlichkeit und ihren reaktionären Wesens-kern. Oft wurden solche Vorträge am Abend vor dem betreffenden Feiertag gehalten. Mehrere Jahre hindurch wurden Kundgebungen in unmittelbarer Nähe der Synagogen abgehalten, und zwar gerade während der um auf diese Weise die religiösen Riten der Juden lächerlich zu machen. Diese gegen die jüdischen Feiertage gerichteten Kundgebungen glichen fast aufs Haar den Feldzügen gegen das christliche Oster-und Weihnachtsfest. Immer wenn die Intensität der antichristlichen Kundgebungen nachließ, erfuhren auch die jüdischen Feiertage eine etwas schonendere Behandlung. Jedes Jahr gab die Liga der militanten Atheisten bis ins einzelne gehende Instruktionen heraus, in denen die Kampagnen gegen die Einhaltung des Passahfestes und des Laubhüttenfestes festgelegt wurden; sie erstreckten sich sogar auf die anzuwendenden Schlagworte. Das Schwergewicht lag dabei meistens auf dem Klassencharakter der Feiertage.
Neben der negativ ausgerichteten Propaganda bemühte sich die Liga der militanten Atheisten darum, die Juden gerade an den Feiertagen zur Arbeit anzuhalten. So verkündete 1932 das Organ der jüdischen Kommunisten, „der EMES“ zum Beispiel, daß besondere Anstrengungen der Arbeiter notwendig seien. Während der Feiertage sollten jüdische Handwerker über ihr „Plansoll" hinaus produzieren. Jüdische Kolchosbauern sollten „Rote Konvois“ organisieren mit dem Ziel, Versammlungen durch anfahrende mit Korn beladene Wagen zu sprengen, deren Ladungen für landwirtschaftliche Lieferungen bestimmt waren
Doch nicht nur zusätzliche Arbeit sondern auch zusätzliche Vergnügungen sollten die Einhaltung der Feiertage unterminieren. Öffentliche Festmahle wurden ausgerechnet am Tag der Sühne organisiert, einem Tag, an dem jeder fromme Jude sich jeglicher Nahrung enthält
Die Frage des ungesäuerten Brotes führte jedes Jahr zu neuen Kämpfen. Während der Zeit der „Neuen Wirtschaftspolitik“, als Privatunternehmen in Sowjetrußland noch in beschränktem Umfang existieren konnten, waren Matzen ohne große Schwierigkeit fast überall erhältlich. 1928 wurde eine halbe Million Pfund allein in Moskau während der Passahzeit verkauft. 1929 hatte sich die Situation gründlich verändert, und Matzen mußten vom Ausland eingeführt werden. Die sowjetische Regierung gab ihre Zustimmung zu diesen Importen, um die herrschende Hungersnot zu lindern. Es wurde ein Zoll von 5 Kopeken pro Kilogramm festgesetzt. Als dann das Brot eintraf, erhöhten die sowjetischen Behörden diesen Zoll um das Zehnfache
Die ländlichen jüdischen Siedlungen — Bollwerke der Religion
Auf dem Lande erwiesen sich die Bemühungen um eine Säkularisierung des sowjetischen Judentums jedoch als Fehlschlag. Die neuen jüdischen Siedlungen und Kolchosen in der Ukraine und auf der Krim wurden zu Bollwerken des religiösen Lebens. Dies kommt in den Berichten amerikanischer Beamter des „Joint Distribution Committee“ aus dem Jahr 1925 über die landwirtschaftlichen Siedlungen zum Ausdrude: „Die neuankowweHden Siedler wollen Bauern werden, aber jüdische Bauern. Der Sabbat und alle jüdisdten Feiertage werden eingehalten. Angesichts der Tatsache, daß sie den Einflüssen, die das Leben der Städte bestimmen, nicht in so starkem Maße aufgesetzt sind, kann sidr in den landwirtschaftlichen Siedlungen ein engeres Familienleben entfalten. Der starke väterliche Einfluß auf die Kinder hat ein viel intensiveres religiöses Leben zur Folge, als es in den Städten möglich ist. Das Ergebnis ist eine von Staatsfunktionären unbehinderte Entwicklung von Schulen und anderen Institutionen im Sinne alter jüdischer Tradition"
Diese aus der Mitte der zwanziger Jahre stammende Beurteilung der Situation erwies sich eigentlich bis zu den dreißiger Jahren, ja sogar bis zu der Liquidation der Siedlungen während des Krieges, als zutreffend. Im Oktober 1931 beklagte sich die kommunistische Presse immer noch, daß die Frauen der jüdischen Siedler ihr Geflügel von den jüdischen Ritualschächtern schlachten ließen. Noch unangenehmere Dinge gab es zu berichten: neue Synagogen schossen wie Pilze aus der Erde, Hochzeiten wurden nach jüdischem Brauch gefeiert und Beschneidungen vorgenommen
Im Jahre 1932 führte die Liga der militanten Atheisten eine Untersuchung über die Einhaltung der Feiertage in den autonomen Gebieten der Juden und in den jüdischen Kolchosen durch; das Resultat war vernichtend für die atheistischen Propagandisten, es war ermutigend für die Gläubigen. Im Dschankou-Distrikt auf der Krim erschienen Hunderte von jüdischen Kolchosbauern an den Feiertagen einfach nicht zur Arbeit. Priester und Rabbiner schienen freien Zugang zu den Kolchosen zu haben. Im Distrikt von Fraydorf auf der Krim hieß es sogar, daß die „schwarzen Agitprop“ (gemeint waren die Vertreter des religiösen Judentums) einen beherrschenden Einfluß auf ganze Gruppen von Kolchosbauern ausübten. Obgleich es Zellen der militanten Atheisten in Fraydorf gab, betätigten sich diese auf gar keine Weise. Im Distrikt von Nowoslatopol in der Ukraine arbeiteten selbst die leitenden Mitglieder der Kolchose nicht an religiösen Feiertagen
Die landwirtschaftlichen Siedlungen konnten sich die spezifisch jüdische Religiosität bewahren, weil sie sich der Protektion einiger gemäßigter Kommunisten erfreuen konnten. Diese Toleranz erinnert vielleicht ein wenig an die Nachgiebigkeit, die man ursprünglich den Kolchosen der christlichen Sekten gegenüber gezeigt hatte.
Hier wurde der landwirtschaftlichen Produktion der Vorrang vor der anti-religiösen Propaganda gegeben, sehr zum Ärger der atheistischen Propagandisten. Die Organisation, die ihre schützende Hand über die jüdischen Siedler breitete, war das Komzet (Komitee für die landwirtschaftliche Ansiedlung der jüdischen Werktätigen). Bei einer Gelegenheit ging dieses Komitee sogar so weit, vorzuschlagen, daß die Feier des „Tages der Industrialisierung“ verschoben werde, um ein Zusammenfallen dieses Feiertages mit dem jüdischen Tag der Sühne zu vermeiden. Der Führer der atheistischen Organisation beeilte sich denn auch festzustellen, daß es sich hier um einen „rechtsopportunistischen Fehler" handle
Die jüdische Schule
Abgesehen von den landwirtschaftlichen Siedlungen, gab es bis in die dreißiger Jahre noch ein anderes Bollwerk des religiösen Judentums: die jüdischen Schulen. Eine Minderheit religiöser Juden verteidigte sie heroisch gegen kommunistische Übergriffe. Zunächst entschlossen sich die sowjetischen Behörden nur zögernd, die jüdischen Religionsschulen zu schließen, da es keine weltlichen Schulen gab, auf die man hätte zurückgreifen können. Gegen Ende 1922 aber begann eine intensive Kampagne gegen jüdische Schulen. Zwei Schularten waren davon betroffen: die traditionellen religiös ausgerichteten Grundschulen, die sogenannten Hedarim und die Akademien zur Vermittlung von rabbinischem Wissen, Jeschiwoth genannt. Letztere bildeten Rabbiner aus, waren aber nicht eigentlich Rabbiner-Seminare, da ihre Absolventen ebensogut Schächter, Beschneider und Religionslehrer werden oder auch säkulare Berufe ausüben konnten.
Als der Staat dazu überging, die Hedarim und Jeschiwoth zu schließen, wurden diese heimlich von den Gläubigen wiedereröffnet. Dies wiederum führte zu Verhaftungen von Rabbinern und Religionslehrern. Während der zwanziger Jahre berichtete die sowjetische Presse über viele Prozesse gegen Lehrer, die heimlich Hedarim unterhalten hatten.
Ja, sogar bescheidene jüdische Frauen wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie Gruppen von Kindern das Beten gelehrt hatten. Alle früheren jüdischen Religionslehrer wurden scharf beobachtet. Bei verschiedenen Gelegenheiten wurden sie dazu gezwungen, Erklärungen zu unterschreiben, in denen sie sich verpflichteten, an keinen illegalen Schulen Dienst zu tun. Manche Behörden ergriffen andere Maßnahmen, um die religiösen Schulen zu bekämpfen. In der Stadt Kamenets Podolsk z. B. wurden Brigaden von Schuljungen organisiert, um illegale hebräische Schulen aufzudecken („die die Kinder zu geistigen Krüppeln machen“) und hebräische Lehrer bei den Behörden zu denunzieren
Amerikanische Quellen berichten, daß gegen Ende 1929 etwa noch 12 000 jüdische Kinder illegal in ihrer Religion unterwiesen wurden und daß 800 Studenten in 22 Ortschaften die Jeschiwoth besuchten. Diese illegalen jüdischen Erziehungsinstitutionen existierten noch bis etwa 1936
Die „Frommen”
Es war weitgehend der Tätigkeit der „Frommen" zu verdanken, daß die jüdische Religionswissenschaft in der Sowjetunion erhalten blieb und die Juden fortfuhren, die Werke ihrer Weisen in Kellern und Dachkammern, ja sogar in der sibirischen Taiga, zu studieren. Die „Frommen“ oder Chassidim, die die Seele des religiösen Widerstandes gegen den kommunistischen Atheismus bildeten, leiteten ihren Namen von dem hebräischen Wort „Hassid" ab, das fromm bedeutet. Die Bewegung begann im 18. Jahrhundert in dem Gebiet, das heute zu der westlichen Ukraine und zu Weißrußland gehört. Sie ist eine mystische Form der jüdischen Religion und legt das Schwergewicht auf eine Verbindung mit Gott, zu der man in einem Zustand religiöser Ekstase zu gelangen sucht. Der Chassidismus entstand in den jüdischen Gemeinden Weißrußlands und der Ukraine wie z. B. Braslaw, Medschborosch, Ljubawitschi etc., wo ihre großen Rabbiner, die sogenannten Chassidim (die Gerechten) lebten und wirkten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zählte der Chassidismus etwa 250 000 aktive Mitglieder in Rußland und umfaßte nahezu 5 ’/o des russischen Judentums
Eine kleine jüdische Gemeinde in Weißrußland, Ljubawitschi an der Beresina, erwies sich infolge seiner starken geistigen Ausstrahlung als ein besonderes Hindernis für die anti-religiöse Propaganda unter den Juden. Diese Ortschaft war einst die Residenz von Schneur Zahlmann ben Baruich (1747— 1812), einem berühmten Chassidim, der den litauisch-weißrussischen Chassidismus begründete. Einer seiner Nachfahren, Joseph Isaak Schneersohn (1880— 1950), spielte in den ersten Jahren der Sowjetherrschaft eine bedeutende Rolle. Ausgangsbasis seiner Arbeit war zu-nächst Rostow am Don und später Leningrad. Von hier aus bemühte sich Rabbi Schneersohn unermüdlich darum, das religiöse Judentum in Rußland vor dem Untergang zu bewahren. Er förderte die illegale jüdische Erziehung und entsandte Lehrer bis in die entlegensten jüdischen Gemeinden der Sowjetunion. Er unterstützte die Rabbiner durch Darlehen und Subventionen und begründete ein Komitee, das sich dafür einsetzte, den Sabbat für die jüdischen Handwerker als Ruhetag zu bewahren. Darüber hinaus half er religiösen Juden, eine theologische Ausbildung in Polen zu erhalten.
Die Kommunisten erkannten sehr bald in Rabbi Schneersohn die treibende Kraft des religiösen Judentums. Im Juli 1927 wurde er verhaftet und zum Tode verurteilt. Aufgrund des überaus großen Interesses, das nicht nur das Weltjudentum, sondern auch führende ausländische Staatsmänner an dem Schicksal des „Ljubawitscher“, wie er allgemein genannt wurde, bezeugten, wurde er aber später freigelassen, ja man gestattete ihm sogar das Land zu verlassen, und zwar mit seiner Familie. Er ging zunächst nach Lettland, später nach Polen und schließlich in die Vereinigten Staaten. Von Lettland aus setzte er seine Bemühungen um die Erhaltung des religiösen Judentums in Rußland fort, indem er Geld für religiöse Zwecke aufbrachte und die russischen Juden mit Matzen versorgte. Auch nachdem er das Land längst verlassen hatte, betrachteten ihn die Kommunisten immer noch als den überragenden geistigen Führer des sowjetischen Judentums. Als im Frühjahr 1931 die yiddische Atheistenzeitschrift „Der Apikoires“ (die Bezeichnung des Talmud für Ketzer) zum ersten Mal erschien, gab sie das bedeutsame Versprechen, daß sie sowohl dem Papst in Rom wie auch dem Rabbi von Ljubawitschi den Kampf angesagt habe.
Die Verfolgung der Rabbiner und Schließung der Synagogen
Die Verhaftung des Rabbi von Ljubawitschi war nur das Vorspiel zu den gegen die Rabbiner und Synagogen im allgemeinen gerichteten Maßnahmen, die in den zwanziger und dreißiger Jahren erfolgten. Rabbiner haben für das kultische Leben der Juden nicht die gleiche Bedeutung wie die Priester für die katholische und orthodoxe Kirche. Dennoch konnte das sowjetische Regime nicht umhin, den Rabbinern angesichts ihres großen Einflusses auf die Gläubigen und ihrer Bemühungen um die Erhaltung des jüdischen Glaubens, ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Ebenso wie alle anderen Mitglieder des Klerus wurden die Rabbiner ihrer bürgerlichen Rechte beraubt. Ihr Ansehen litt aber darunter in keiner Weise, und die religiös eingestellten Juden sorgten großzügig für ihren Unterhalt. In den Jahren zwischen 1920 und 1930 waren die Rabbiner außerordentlich aktiv. Sie gründeten Gesellschaften für medizinische Hilfe, veranstalteten Rezitationen geistlicher Musik in den Synagogen und gründeten Vereinigungen, die sich dem Studium religiöser Bücher und der Rezitation von Psalmen widmeten
Das geeignetste Mittel zur Ausschaltung von Rabbinern und Magids, und damit von jeder ernsthaften ideologischen Opposition, war natürlich die Eroberung ihrer wichtigsten Bollwerke, den Synagogen.
Die Haltung der sowjetischen Behörden den Synagogen gegenüber war denn auch ebenso feindlich wie gegenüber den christlichen Kirchen. Einzelne Gotteshäuser waren bereits in der Anfangszeit des sowjetischen Regimes geschlossen worden; aber eine großangelegte Kampagne, die auf eine Umwandlung der Synagogen in säkulare Institutionen abzielte, setzte erst nach 1927 ein. 1928 waren bereits 50 Synagogen geschlossen, das waren mehr als 10 °/o der Kultstätten sämtlicher Religionen, die in dem betreffenden Jahr liquidiert worden waren. Doch auch diese Maßnahmen sollten nur ein sanftes Vorspiel sein. Im darauffolgenden Jahr zählte man die konfiszierten Synagogen nicht mehr nach Dutzenden, sondern nach Hunderten. Diese Massenschließungen gingen auf die engstirnige materialistische Einstellung der Kommunisten zurück. Bis Ende der zwanziger Jahre betrieb das Sowjetregime eine maßvolle Politik, weil man die Gefühle der jüdischen Händler und Kaufleute, die man als die tragende Klasse und das Rückgrat der jüdischen Religion ansah, schonen wollte. Mit dem Anlaufen der langfristigen Wirtschaftsplanungen und der daraus resultierenden Zerstörung des privaten Unternehmertums waren Rückschichten auf diese Bevölkerungsgruppen nicht mehr erforderlich. Die Synagogen konnten daher mit der Begründung geschlossen werden, daß sie „Klubs von Profitjägern“ oder „Klubs von Ausbeutern" seien, die von der „Neuen Wirtschaftspolitik“ mit der die Regierung im März 1921 begonnen hatte, profitieren wollten. Man führte auch das Argument ins Feld, daß sie Tummelplätze für Händler seien, wo diese darüber debattierten, wie sie ihre geschäftlichen Transaktionen am besten vor den Steuerbehörden verbergen könnten
Die Synagoge:
Haus des lebendigen Gottes . . . Ihr Augen glühet!
Ihr Wangen rötet euch!
Der Weg, der zu ihren Portalen führt wird viel beschritten von all den Händlern, die frontnt sich beugend dahinziehn.
In ihren Wänden kannst du, ohne in Demut Deinen Kopf zu neigen, Gott verherrlichen, während Ergriffenheit Dein ganzes Wesen . erfüllt;
stredte Deinen Wanst vor, der glatt ist und gut genährt und zähle nun Deine Geldscheine und Wedtsel.
Was würdest Du tun, wenn die Synagoge nicht wäre? Anderswo wirst Du Didi verlassen und deprimiert fühlen! Laß das ehrwürdige Gebetstudi von Deiner Schulter wallen, hier, nur hier wird Deine Seele ausruhen.
Die Synagoge ist der geeignete Ort, um den besten Preis für einen Mantel zu bekommen oder einen Ring, eine Fälschung;
Die Synagoge ist, wenn man es recht betrachtet, der beste Klub für Schieber und solche, die es werden wollen
Die sowjetische Propaganda stellt die Dinge so dar, als geschehe die Schließung der Synagogen nur auf das ungestüme Drängen breiter jüdischer Kreise hin. In einigen Fällen berichteten die Zeitungen etwa wie folgt: „Das Zentrale Exekutivkomitee der Krim hat der Forderung der Eupatoria-Juden nach einer Liquidation der leeren Synagoge und ihrer Umwandlung in einen Klub nunmehr stattgegeben“
Bei der Schließung der Synagogen beachteten die sowjetischen Behörden stets das Prinzip der Parität. Auf die Schließung einer christlichen Kathedrale folgte alsbald die Konfiskation einer großen Synagoge. In Ausnahmefällen wurde eine zuvor konfiszierte jüdische Synagoge ihrer Gemeinde zurückgegeben, wenn am gleichen Ort auch die Christen ihr Gotteshaus wieder benutzen durften. Die Politik der „gleichen Ungerechtigkeit“ wurde sogar bis auf die Altarleuchter ausgedehnt. Im Jahre 1929/30 wurden Leuchter in den Synagogen beschlagnahmt, um ein Gegengewicht für die Konfiskation von Kirchenglocken in den christlichen Kirchen im gleichen Zeitraum zu schaffen
Ein Merkmal der sowjetischen Politik gegenüber dem Christentum wiederholte sich dem religösen Judentum gegenüber jedoch nicht: Man verzichtete auf die Etablierung einer schismatischen Institution, die die Ziele des Regimes unterstützten. Zwar wurden in der Ukraine und in Weißrußland Versuche unternommen, eine „Lebendige Synagoge"
Von den großen Säuberungsaktionen bis zum „Großen Vaterländischen Krieg"
Zur Zeit der großen Säuberung im Jahr 1937/38 wurden die gegen die Synagogen und Rabbiner gerichteten Maßnahmen nicht mehr mit deren klassenfeindlichen Charakter begründet, sondern mit ihrer angeblichen Spionagetätigkeit für den faschistischen Geheimdienst. Diese Beschuldigung wurde z. B. erhoben, als der NKWD 1938 ein „feindliches Rabbinernest" in der Hauptsynagoge von Moskau aufdeckte
Obgleich die Situation der Juden in diesen Ländern und Territorien keineswegs befriedigend gewesen war, und ihre bürgerlichen Rechte sowohl in Polen wie auch in Rumänien begrenzt waren, hatte man die Juden nirgendwo in der Ausübung ihrer Religion behindert.
Es gab in diesen Gebieten sogar einige hervorragende Zentren jüdischen Geisteslebens wie z. B. in Kischinew, wo es zeitweise bis zu 40 jüdische Gotteshäuser gegeben hatte, und Wilna, das Jerusalem von Litauen, wie man es zu nennen pflegte. Während der Besetzung von Wilna durch die Nationalsozialisten vernichteten diese den größten Teil der Juden des Ortes. Bereits zuvor, d. h. während der sowjetischen Besetzung von 1940/41 war das religiöse Leben der Stadt auf ein Minimum reduziert worden. Die Sowjets bereiteten der-berühmten Jeschiwah von Wilna, vielen Synagogen und einer großen Anzahl von sogenannten Klausen (kombinierte Gebets-und Unterrichtshäuser)
Der gleiche Prozeß wiederholte sich in allen annektierten Gebieten.
Der Etablierung der sowjetischen Herrschaft folgte unweigerlich die Schließung jüdischer Religionsschulen, einschließlich der Jeschiwoth in Lomschah, Slonim, Nowogrodek, Brest Litowsk, Grodno, Baranowitschi und Mir, eine hohe steuerliche Belastung der Rabbiner und Synagogen sowie die Förderung atheistischer Erziehungsmaßnahmen im Hinblick auf die jüdische Bevölkerung. Die widerstrebende ältere Generation wurde gezwungen, am Sabbat zu arbeiten.
Noch bevor alle diese Maßnahmen ihre völlige Wirkung entfalten konnten, brach zwischen Sowjetrußland und dem nationalsozialistischen Deutschland der Krieg aus. Nur dem Zeitmangel war es zu verdanken, daß die Säkularisierung des Judentums in Ostpolen, Bessarabien und in den Baltischen Staaten noch nicht . vollendet war. Gerade diese Tatsache lieferte nun der sowjetischen Propaganda einige eindrucksvolle statistische Zahlen. In dem Bemühen, die Befürchtungen der neuen Alliierten über die antireligiösen Maßnahmen des kommunistischen Regimes zu zerstreuen, konnten nunmehr Sprecher der Regierung darauf hinweisen, daß es bei Ausbruch des russisch-deutschen Krieges insgesamt 2 559 Rabbiner und 1 Oll Synagogen in der UdSSR gab. Der weitaus größte Teil davon befand sich in den Gebieten, die erst seit einigen Monaten den religiösen Verfolgungen der Kommunisten ausgesetzt waren.
Vom „Großen Vaterländischen Krieg" bis zu Stalins Tod
Der Krieg zwischen Rußland und Deutschland, der die Vernichtung des osteuropäischen Judentums beschleunigte, war ein komplexes Phänomen; bei näherer Betrachtung zeigt es sich, daß er auf verschiedenen Ebenen geführt wurde. Da war zunächst der Krieg zwischen zwei einander feindlichen totalitären Herrschaftssystemen, dann der Krieg zur Verteidigung von Mütterchen Rußland und schließlich der Kampf der sowjetischen Juden, die für die Bewahrung ihrer Existenz rangen. Zu Beginn des Krieges gaben offizielle sowjetische und kommunistische Quellen sogar offen zu, daß die religiösen Juden den sowjetischen Krieg aus eigennützigen Motiven führten und nicht etwa aus Liebe für das kommunistische Rußland, das sie so lange unterdrückt hatte. „Viele Rabbiner“, so hieß es in einer kommunistischen Propagandaschrift jener Zeit, die von Professor Hyman Levy zusammengestellt worden war, „haben sielt den Partisanen angeschlossen, weil sie über die ganz bewußte Zerstörung der Synagogen und Thorarollen durch die Nazis aufgebracht sind.“
Während des Krieges zog eine bedeutende Persönlichkeit die Aufmerksamkeit auf sich — es war der Moskauer Rabbi Shloime Schliefer. Seine Reden und Botschaften waren das wichtigste Bindeglied zwischen den religiösen Juden Rußlands und ihren Brüdern in anderen Ländern. Von Taschkent aus, wohin die jüdische Gemeinde Moskaus evakuiert worden war, sandte er seine Grußbotschaften zum Neujahrsfest an die Juden im Westen. Nach seiner Rückkehr nach Moskau sprach er auf einem „antifaschistischen Treffen der Vertreter des Judentums“, das vor allem das Ausland beeindrucken sollte. Die anderen Sprecher waren zumeist Atheisten jüdischer Abstammung, kommunistische Parteifunktionäre, Soldaten im aktiven Militärdienst und Schriftsteller, die sich der russischen Sprache bedienten oder Yiddisch sprachen. Von all diesen Sprechern war Rabbi Schliefer der einzige, der ein Bekenntnis zum jüdischen Glauben ablegte, indem er sein Vertrauen auf Gott zum Ausdruck brachte, daß er das Volk Israel nicht verlassen würde. Schliefer stellte seinen Zeitgenossen den „großen Rabbi Shneur Zahlmann als leuchtendes Beispiel hin, der zur Zeit des Krieges mit Napoleon seinen Glaubensbrüdern immer wieder klarzuntachen versuchte, daß sie die Russen in ihrem Kampf gegen den Feind unterstützen müßten.“
Vermutlich äußerte sich Rabbi Schliefer zugunsten der militärischen Anstrengungen der Sowjets in der Erwartung, daß dadurch dem religiösen Judentum in Rußland nach Beendigung des Krieges ein besseres Los zuteil werden würde. Diese Hoffnungen erschienen zunächst begründet, da Stalin allem Anschein nach eine tolerantere Haltung gegenüber den religiösen Institutionen einzunehmen gewillt war. Es zeigte sich jedoch bald, daß er nicht gewillt war, etwaige Konzessionen in dieser Richtung auch auf die Juden auszudehnen. Vom rein machiavellistischen Standpunkt aus betrachtet war diese Diskriminierung nicht ohne Logik. Die Verproletarisierung des Judentums, die Abwanderung jüdischer Gruppen in die Küstengebiete, die sich während der beiden Kriege vollzogen hatte, und schließlich die Vernichtungsmaßnahmen der Nationalsozialisten hatten dem gesamten Judentum einen schweren Schlag versetzt. Dies betrifft besonders die Form des Judentums, wie sie in Litauen und anderen westlichen Grenzländern der UdSSR bestanden hatte. Ein großer Teil der Juden, die den Krieg überlebt haben, waren weit entfernt von den traditionellen Zentren jüdischen Geisteslebens in Rußland. Sie befanden sich in der Diaspora und scheuten sich daher häufig, ihre jüdische Abstammung offen zuzugeben. Unter diesen Umständen war das religiöse Judentum für Stalin kein Faktor mehr, mit dem er in seiner Außen-und Innenpolitik hätte rechnen müssen. Er sah voraus, daß das religiöse Judentum viel schneller untergehen würde als andere Religionen, bei denen die soziologischen Wurzeln erhalten geblieben waren, und er war entschlossen, diesen Entwicklungsprozeß so wirksam wie möglich zu beschleunigen. Die jüdische Gemeinde wurde zwar nicht in Acht und Bann getan wie die Katholische Kirche des slavo-byzantinischen Ritus, ihre Position war jedoch unbedeutender als die irgendeiner anderen Religionsgemeinschaft. So verwehrten die Behörden den Juden das Recht, religiöse Bücher und Schriften zu veröffentlichen und machten es ihnen praktisch unmöglich, Rabbiner und Ritualschächter auszubilden. An vielen Orten mit jüdischen Minderheiten erteilten die Behörden keine Genehmigungen zur Wiedereröffnung von Synagogen.
In den letzten Jahren der stalinistischen Ära verschlechterte sich die Lage des religiösen Judentums in der Sowjetunion zusehends. Zwei Ereignisse trugen zu dieser Entwicklung bei: einmal die Gründung des Staates Israel, mit dem das religiöse Judentum in sowjetischer Sicht eng liiert war, und zum anderen das Verbot aller sogenannten „Kundgebungen des bürgerlich-jüdischen Nationalismus". Es kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß das Erscheinen des ersten israelischen Botschafters, der Frau Golda Meyerson (später Frau Meir), in der sowjetischen Metropole einen sehr großen Eindruck bei dem religiösen Judentum hinterließ. Dies zeigte sich besonders deutlich, als sie in der Moskauer Hauptsynagoge erschien, um an der jüdischen Neujahrsfeier teilzunehmen. Diese zweifellos gut gemeinte Geste wirkte sich für die sowjetischen Juden unheilvoll aus. Die Botschafterin wurde vor der Synagoge von einer Menschenmenge mit Beifall begrüßt. Es besteht sogar eine Fotografie, auf der einige Gesichter der Leute, die Mrs. Meyerson zujubeln, klar erkennbar sind
Sehr viel schwieriger ist es, einzusehen, warum sich Stalins Maßnahmen gegen die „jüdischen Nationalisten der Bourgeoisie" ausgerechnet auf das religiöse Judentum auswirkten, denn diese angeblichen „bürgerlichen Nationalisten“ waren in Wirklichkeit Kommunisten. Sie pro-pagierten eine jüdische Kultur, die, obwohl jüdisch in ihren Formen, ihrem Inhalt nach vom Marxismus her bestimmt war. Die kulturellen und politischen Führer der Juden, deren Verhaftung und Hinrichtung Stalin anordnete, hatten sich durch ihren Kampf gegen und nicht für das religiöse Judentum ausgezeichnet. Dies gilt für das berühmteste Opfer dieser Hinrichtungen, nämlich Salomon Lozovsky, Hauptsprecher der Sowjetregierung während des Krieges, wie auch für den ehemaligen Generalsekretär der kommunistischen internationalen Gewerkschaft „Profintern", es gilt für die meisten Mitglieder des „Antifaschistischen Jüdischen Komitees", das 1949 aufgelöst wurde, ebenso wie für die führenden yiddischen Schriftsteller Peretz Markish, Itzig Fesser und David Bergelson; letzterer wurde 1952 hingerichtet. Alle drei polemisierten in ihren Veröffentlichungen „gegen die Synagoge und Gott“, wenngleich sie unter dem Eindruck der Kriegsereignisse eine etwas positivere Haltung gegenüber dem nationalen jüdischen Erbe einnahmen. Bergelson scheint sogar zum Glauben seiner Väter zurückgekehrt zu sein
Die wenigen Rabbiner, die in der Nachkriegszeit ihre Funktionen in der Sowjetunion noch ausüben konnten, wurden durch die antijüdische Säuberungsaktion offensichtlich nicht betroffen. Nur Rabbi Levi von Charkow wurde wegen angeblicher „umstürzlerischer Tätigkeit" verhaftet
Das religiöse Judentum unter Stalins Nachfolgern
Das allgemeine Nachlassen der religiösen Verfolgungen in Sowjetrußland nach dem Ende der Stalinherrschaft kam auch den Juden zugute. Die antijüdische Politik der letzten Jahre der stalinistischen Ära hatte sich zwar zunächst einschüchternd auf die sowjetischen Juden ausgewirkt; auf lange Sicht gesehen, bewirkte sie jedoch eine Belebung des religiösen Judentums, und zwar sowohl im persönlichen wie auch im kollektiven Bereich. Gerade aufgrund der Verfolgungen fanden einige Juden wieder Zugang zu ihrer Religion. Dies galt besonders für die westlichen Grenzgebiete, wo sich früher umfangreiche jüdische Siedlungen befunden hatten. Als sich die neue kollektive Führung von Stalins antijüdischer Politik abwandte, wagten es viele Juden wieder, ihre religiösen Bindungen offener zu bekennen. Die neue Regierung sah sich einer Art jüdischer Erweckungsbewegung gegenüber. Wenngleich die Erweckungsbewegung nur eine kleine Minderheit erfaßte, so mußte man sie bei der „Religionspolitik“ und bei der kommunistischen antireligiösen Propaganda doch in Betracht ziehen. Da sich die Erwartungen auf einen schnellen Untergang des religiösen Judentums als Fehlspekulation erwiesen hatten, wurden nun endlich einige Konzessionen gemacht, zu denen man sich anderen Religionsgemeinschaften gegenüber längst bequemt hatte. Hierzu gehörten die Wiedereröffnung einer kleinen Jeschiwa in Moskau — wobei die Aufnahme von Studenten genauso stark beschränkt war wie in allen anderen religiösen Ausbildungsstätten in der UdSSR —, einige Erleichterungen beim Kauf von Koscher-Nahrungsmitteln sowie die Veröffentlichung eines jüdischen Gebetbuches in Moskau, das in einer Auflage von 4000 Exemplaren erschien
Die sowjetische Regierung verschaffte dem religiösen Judentum im Interesse ihrer eigenen Propaganda eine gewisse Publicity. Im März 1955 z. B. veröffentlichte die Iswestija einen Aufruf, der sich gegen die atomare Kriegführung und für die Unterstützung des Weltfriedensrates aussprach. Er war von den Rabbinern acht großer jüdischer Gemeinden in der UdSSR unterzeichnet. Dazu gehörten Moskau, Kiew, Odessa, Riga, Kutaisi, Minsk, Wilna und Kowno
Obgleich der politische Drude auf die religiösen Juden nach wie vor sehr stark war, begannen diese nach dem Tode Stalins doch freier zu atmen. Verschiedene örtliche jüdische Gemeinden trafen sich, durch das politische Tauwetter ermutigt, zum gemeinsamen Gebet. Es wurde Geld gesammelt für den Bau neuer Synagogen und Gebetshäuser. In einigen Fällen begann man bereits mit dem Bau — allerdings nicht mit der ausdrücklichen Genehmigung, sondern eher mit einer stillschweigenden Duldung der Behörden. Hier und da gingen die Juden dazu über, für sich privat ihre eigenen Matzen zu backen. Da es keine gedruckten jüdischen Kalender gab, wurden handgeschriebene verfertigt und verkauft, vielleicht ist sogar auch die eine oder andere illegale Jeschiwa neu erstanden.
Diese Entwicklung ließ es den sowjetischen Behörden geraten erscheinen, dem religiösen Judentum von neuem den Kampf anzusagen. In der Nachkriegszeit, d. h. bis etwa 1957, strafte die antireligiöse Propaganda die jüdische Religion mit Nichtachtung oder tat sie mit einigen summarischen Bemerkungen ab. In diesem Jahr wandte sich jedoch das Blatt. Wie in den zwanziger Jahren waren es auch dieses Mal Kommunisten jüdischer Abstammung, die bei den Angriffen auf den jüdischen Glauben in vorderster Front standen. Anläßlich der antireligiösen Konferenz im Mai 1957, gaben zwei jüdische Kommunisten das Signal für eine neue Offensive gegen das religiöse Judentum. Der eine war Mitglied der Akademie .. ., Mitin mit Namen und einer der ganz wenigen Juden, die noch einen hohen politischen Posten in der Sowjetunion inne-hatten. Er beklagte sich, daß die Rabbiner „offensichtlidt wieder aktiv“ geworden seien und das der Besuch der Synagogen „erheblich gestiegen“ sei. Der andere Sprecher, der sich mit dem religiösen Judentum befaßte, war Schakschnowich, der stellvertredende Direktor des Leningrader Museums für Religion und Atheismus. Er hielt einen Vortrag zum Thema „Ursprung und Klassencharakter der jüdischen Religion"
Nach der Moskauer Atheisten-Konferenz beschränkten sich die sowjetischen Behörden zunächst darauf, die jüdische Religion durch Propaganda zu bekämpfen. Atheistische Pamphlete, deren Inhalt auf die religiösen Juden abzielte, wurden in der Ukraine wie in der Moldaurepublik veröffentlicht. Sehr bald ging man dann aber zu direkten Angriffen über. 1959 geriet die Freie Welt in den Besitz von Beweismaterial über die Beschränkungen, die die sowjetischen Behörden dem jüdischen Religionsleben von neuem auferlegt hatten. Neue Instruktionen wurden von der Zentralregierung an die örtlichen Verwaltungsinstanzen herausgegeben mit dem Tenor, daß eine strengere Haltung gegenüber den jüdischen Gemeinden erforderlich sei. Daraufhin konfiszierten die betreffenden Stadtsowjets in der Ukraine, Weißrußland, und bis zu einem gewissen Grade auch in anderen Sowjetrepubliken, weitere Synagogen und verordneten ihre Umwandlung in säkulare Einrichtungen. So wurde z. B. die Synagoge in Woronesch in ein Lagerhaus verwandelt; in Simferopol machte man daraus eine Lesehalle und in Uschgorod eine Konzerthalle. Sogar gemeinsame Gebetsstunden in Privathäusern wurden verboten und das von frommen Juden für den Bau neuer Synagogen gesammelte Geld beschlagnahmt. Anträge auf die Wiedereröffnung von Synagogen wurden zurückgewiesen, die Unterzeichner solcher Anträge einem Verhör unterzogen und von den Behörden bedroht
Die Zahl der in der Sowjetunion lebenden Juden — es mögen etwa 3 500 000 sein, wenngleich die amtliche Volkszählung von 1959 nur etwa 2 268 000 ermittelte — gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, wieviele Juden in der UdSSR ihre Religion noch ausüben. Nur ein verschwindend geringer Teil von ihnen hat die nach den des Möglichkeit, strikt Vorschriften orthodoxen jüdischen Glaubens zu leben und den Sabbat wie auch die jüdischen Speisegesetze einzuhalten. Aber auch die Zahl derer, die nur noch einige religiöse Riten einhalten, wird nicht höher sein als 500 000, eine Schätzzahl, die von einem Beamten des sowjetischen „Rates für Angelegenheiten der Religiösen Kulte"
Die Mehrzahl des sowjetischen Judentums ist heute in den großen Städten konzentriert, wo die religiösen Bindungen nur schwach entwikkelt sind und die Synagogen nur noch auf einen kleinen Teil der jüdischen Bevölkerung eine Anziehungskraft ausüben. Moskau hat nicht nur die größte jüdische Gemeinde in der Sowjetunion, es ist auch wahrscheinlich noch immer die größte „Judenstadt" nach New York, dessen jüdischer Bevölkerungsanteil größer ist als die Einwohnerzahl der Stadt Tel Aviv. An den großen jüdischen Feiertagen sind die Gottesdienste in der Moskauer Hauptsynagoge überfüllt. Doch das bedeutet nicht viel, da sie nur 2 000 Menschen fassen kann. Abgesehen von der Haupt-synagoge waren in der Nachkriegszeit noch zwei oder drei kleinere Synagogen zeitweise in Benutzung. Die Gesamtzahl der jüdischen Bewohner Moskaus, die am Neujahrsfest den Gottesdienst besuchen, wurde in einem bestimmten Jahr während des „politischen Tauwetters“ auf 12 000 geschätzt
Ziemlich große jüdische Gemeinden leben auch in den verschiedenen ukrainischen Städten. Doch sind die Möglichkeiten zur Ausübung der Religion unzureichend, und die Zahl der religiösen Juden ist entsprechend klein. Ein amtlicher sowjetischer Bericht erwähnte, daß es „Dutzende von Synagogen in der Ukraine“ gebe, einschließlich derer von Kiew, Odessa, Lemberg, Cherson Nikolajew, Berditschew, Dniepropetrowsk und Kirowograd
Man weiß nur wenig über das Leben jener jüdischen Gemeinden, die im Zuge der strukturellen Neuordnung und der Verpflanzung großer Bevölkerungsgruppen entstanden sind. Es handelt sich hier in erster Linie um Gebiete wie den Ural, Sibirien, Kasachstan und Kirgisien. Das sogenannte „Autonome Gebiet der Juden" von Birobidschan im östlichen Teil der Sowjetunion kann hier nur mit negativem Vorzeichen erwähnt werden, wenigstens soweit es das religiöse Judentum betrifft. Dieses Autonome Gebiet der Juden sollte „ohne Thora und ohne Gott aufgebaut werden. Seine Siedler rekrutieren sich weitgehend aus der jüngeren kommunistischen Generation. Nur einige von ihnen wanderten in die Landwirtschaft ab, die meisten wurden als Industrie-und Transportarbeiter in den neuen sozialistischen Städten und Industriezentren wie Birobidschan, Oblutsche, Londoko, Nikolsewka und Birakan angesiedelt. Auf diese Weise wurde die jüdische Provinz zu einem der dichtbesiedeltsten Industriegebiete der östlichen Sowjetunion, wo angesichts der proletarischen Bevölkerungsstruktur das religiöse Leben nur sehr schwach entwickelt ist. Die einzige Synagoge, die es dort Berichten zufolge gibt, ist „eine kleine baufällige Baracke ohne Rabbiner“
Die orientalischen Juden in der Sowjetunion
Im sowjetischen Herrschaftsbereich gibt es eine Reihe jüdischer Gemeinden, die aus historischen Gründen getrennt behandelt werden müssen. Diese Gemeinden, die weit entfernt von den Wirtschafts-und Verwaltungszentren liegen, haben sich den Einflüssen der antireligiösen Propaganda und der Säkularisierung besser widersetzen können als die Juden im europäischen Rußland. Auch Mischehen mit Nichtjuden, die in den großen russisdien Städten so häufig sind, findet man bei den orientalisch-jüdischen Gemeinden nur selten. Die feste Verbundenheit der jüdischen Familie ist hier erhalten geblieben. 1. Die georgischen Juden Immer wieder hat das Verhalten der georgischen Juden ausländische Besucher, die mit ihnen in Verbindung kamen, in Erstaunen versetzt. Ein jüdischer Kommunist aus einem der mitteleuropäischen Länder, der im Jahre 1930 jüdische Siedlungen in der UdSSR besuchte, stellte fest, daß die georgischen Juden sich der anti-religiösen Politik der Sowjets eigensinnig widersetzten. Er erzählte die Geschichte von den Juden in der Stadt Kutaisi, die von dem örtlichen Sowjet die Erlaubnis zum Wiederaufbau ihrer Synagoge erhielten; diese war während eines Großfeuers im jüdischen Ghetto im Jahre 1928 zerstört worden. Die Erlaubnis wurde zu einer Zeit erteilt, als man mit der Schließung der Synagogen in Rußland begann. Auch wollte der Stadtsowjet die Juden nach dieser Katastrophe auf der anderen Seite des Rionflusses ansiedeln, der die Stadt Kutaisi in zwei Hälften teilt. Die Juden weigerten sich in der Befürchtung, daß es ihnen dann vielleicht nicht mehr möglich sein würde, den Sabbat einzuhalten. Es wurde ihnen schließlich ein neues Gelände in der Nähe ihrer niedergebrannten Häuser zugewiesen
Viele Jahre später machten ausländische Besucher noch immer die Beobachtung, daß die kleine Gruppe der georgischen Juden, und zwar im besonderen in Kutaisi, sich durch große Frömmigkeit auszeichneten und vertrauensvoller in die Zukunft blickten als die Juden in der übrigen Sowjetunion. Eine Rabbinerdelegation aus den USA war vor allem davon beeindruckt, daß 1 200 von 2 000 jüdischen Familien in Kutaisi das Laubhüttenfest noch gemäß den alten Riten feierten, indem sie acht Tage in behelfsmäßigen Hütten verbrachten
Was die Gebirgsjuden von Dagestan angeht, so wurde in einem 1955 veröffentlichten ethnographischen Symposion über das Land behauptet, daß hier die Religion — sie hatte früher in diesem Gebiet eine sehr große Rolle gespielt — mit Erfolg beseitigt worden sei. Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges gebe es weder Synagogen noch Rabbiner mehr in den Suis. Seitdem gebe es auch keine Heiratsabsprachen mehr; die Hochzeiten würden nicht mehr nach altem Brauch und unter Mitwirkung des Rabbiners gefeiert. Nur die ältere Generation halte sich noch an einige religiöse Traditionen. Besonders die Beschneidung existiere noch in Familien, in denen noch Mitglieder der älteren Generation am Leben seien. Solche Einzelfälle blieben jedoch ohne Einfluß auf das Leben der jüdischen Gesellschaft im allgemeinen
Was über das Schicksal der kaukasischen Juden vor dem zweiten Weltkrieg bekanntgeworden ist, läßt keine Zweifel darüber bestehen, daß die gegen das religiöse Judentum gerichteten Maßnahmen in Dagestan auf außerordentlich starken Widerstand gestoßen sind. 1932 gaben sowjetische Quellen immer noch lebhafte Schilderungen von der Macht der Rabbiner von Dagestan, die gleichzeitig Richter, Anwälte, Ärzte und Leiter der Synagogen waren. Die Rabbiner in Dagestan bereiteten den Behörden großen Ärger. So waren sie z. B. die Anführer der Öffentlichkeit im Kampf gegen die Einführung des lateinischen Alphabets anstelle des hebräischen und widersetzten sich der Kollektivierung der Landwirtschaft. Als ihnen ihr Widerstand nichts half, bestanden sie darauf, daß die Kolchosen wenigstens auf der Basis vollkommener Gleichheit errichtet würden — ein Prinzip, das die Kommunisten bekanntlich ablehnen. Die Rabbiner machten den nicht-gläubigen Juden das Leben schwer, indem sie sie aus der jüdischen Gemeinde aus-schlossen. Sie waren der Ansicht, daß ein gottloser Mensch überhaupt kein Jude sei. Zu dieser Zeit gab es noch wenige kaukasische Juden, die kommunistische Aktivisten werden wollten. Jüdische Frauen, die der Partei oder der Jungen Kommunistischen Liga beitraten, waren eine Seltenheit. In den frühen zwanziger Jahren wurde es noch als etwas Bemerkenswertes angesehen, wenn ein paar Kolchosbauern in aller Öffentlichkeit am Sabbat rauchten
Rückblick auf das religiöse Judentum in der Sowjetunion
Der verstorbene Hauptrabbiner von Großbritannien, Dr. H. J. Hertz, prägte bereits 1927 den prophetischen Satz von der „Strangulierung der Seele“ von drei Millionen russischer Juden
Gäbe es anstelle der antiliberalen Sowjetunion ein liberales Rußland, so wäre das Problem des Verfalls der jüdischen Religion ebenfalls gestellt. Nur wäre es in diesem Falle einzig und allein durch soziologische Faktoren wie Assimilation, Mischehen und den Triumph politisch-nationalistischer jüdischer Vorstellungen bedingt gewesen. In London z. B. sind ein Drittel bis zur Hälfte aller erwachsenen Juden Synagogenmitglieder
Die Juden in der Sowjetunion haben nur die Nachteile der Säkularisierung zu spüren bekommen, während sie in den demokratischen Ländern in der Lage gewesen sind, ihre nationalen Bindungen zu festigen in dem Maße, wie ihre religiösen Bindungen sich aufzulösen begannen. Wie fragwürdig der Wert solcher Kompensationen auch, vom Standpunkt des religiösen Judentums aus gesehen, sein mag, sie verhinderten jedenfalls den Untergang des Judentums als eine bewußte nationale Einheit. In der Sowjetunion ist der Prozeß der Entnationalisierung der Juden mit der Zerstörung ihrer Religion Hand in Hand gegangen. Der religiöse Jude in Rußland hat sich nicht — und hierin unterscheidet er sich von seinen Glaubensbrüdern im Westen — in einen religiös indifferenten oder sogar religionslosen Juden verwandelt, der stark nationale Tendenzen hat. Er wird zu einem undefinierbaren Wesen ohne Religion und ohne Nationalität, zu einem zweitrangigen Bürger, der nicht das Recht hat, die Geschichte, Sprache und Kultur seiner Vorfahren zu pflegen und zu bewahren. Doch etwas bleibt ihm — die Hoffnung auf die Zukunft.
Die frommen Juden werden den Kommunismus genauso überleben wie die frommen Christen. Zum Zeichen dafür, wie der wahre jüdische Geist dem kommunistischen Materialismus trotzt, sei hier folgende wahre Geschichte über den Rabbiner von Ljubawitschi wiedergegeben: Eines Tages kommen Mitglieder der sowjetischen Geheimpolizei in die Synagoge — das Gewehr in der Hand —, um den Rabbiner zu verhaften. Selbst angesichts dieser bewaffneten und zu allem entschlossenen Männer blieb er fest darin, daß ihn Drohungen nicht an der Ausübung seiner religiösen Pflichten hindern würden. Als einer der Polizei-funktionäre den Lauf seines Gewehres auf ihn richtete mit den Worten: „Dies kleine Spielzeug hat schon manchen dazu gebracht, sich die Sache anders zu überlegen“, antwortete der Rabbiner von Ljubawitschi ruhig:
„Dies kleine Spielzeug kann nur den Menschen Furcht einjagen, die viele Götter haben — ihre Leidenschaften — und nur eine Welt — die diesseitige. Weil ich aber nur einen Gott habe und zwei Welten, macht mir dies kleine Spielzeug keinen Eindruck“
* * * •) In diesem Kapitel ging es nicht um die Abhandlung theologischer Probleme, sondern um die Darstellung einer mit Tatsachen belegten Situation. Wir sind von der Annahme ausgegangen, daß das religiöse Judentum die einzige geistige Ausdrucksform der jüdischen Menschen ist. Die Möglichkeit, daß jüdische Menschen in der Sowjetunion eine andere Religion annehmen als die jüdische — das Christentum z. B. —, ist nicht sehr wahrscheinlich. Dennoch gibt es solche Möglichkeiten. In einigen Fällen haben russische Juden die christliche Religion angenommen. Wir sprechen hier nicht von Konvertierungen mit dem Ziel, sich der Verfolgung zu entziehen oder als einem Hilfsmittel zur Assimilation, sondern von jenen seltenen Fällen, wo Juden überzeugte Christen geworden sind, sich aber weiterhin mit den Juden identifizierten. Kleine Gemeinden hebräischer Christen oder jüdischer Christen gab es im zaristischen Rußland in Kischinew und während der sowjetischen Ära in Moskau, Dniepropetrowsk, Kiew und Odessa