Bei der Suche nach den Motiven und Hintergründen für das Scheitern der Pariser Gipfelkonferenz wurde als einer der wichtigsten Faktoren die Abhängigkeit der sowjetischen Außenpolitik von der innersowjetischen Machtpolitik genannt.
So wurde auf die angeblich nicht gefestigte Machtposition Chruschtschows in den sowjetischen Führungsorganen hingewiesen, der im Unterschied zu der unbestrittenen Herrschaftsstellung Stalins ständig mit oppositionellen Kräften rechnen muß. Man nannte die widerstrebenden Kräfte in den privilegierten Schichten der ehemaligen stalinistischen Bürokratie, die auf Grund des von Chruschtschow betriebenen Transformationsprozesses in eine permanente Oppositionsstellung gedrängt wurden. Man wies auf die kritische Einstellung militärischer Kreise zu den Abrüstungs-und Reorganisationsplänen Chruschtschows hin sowie auf zahlreiche Schwierigkeiten auf dem Agrarsektor und dem industriellen Gebiet. Schließlich spielte der offenbar gewordene Gegensatz Peking — Moskau eine erhebliche Rolle, der vor der Pariser Gipfelkonferenz in bemerkenswerter Weise sichtbar wurde. Da Chruschtschow — so lautete die Argumentation — auf Grund der außen-politischen Entwicklung in der letzten Zeit zu der Überzeugung gekommen war, daß er aus Paris mit keinem für sowjetische Vorstellungen greifbaren Erfolg zurückkommen würde, ließ er auf Grund der innerpolitischen Situation die Konferenz noch vor ihrem Zusammentritt auffliegen.
So richtig all diese Einschätzungen der innerpolitischen Lage im einzelnen sein mögen und zur Klärung des Auftritts von Chruschtschow in Paris und vor der UNO in New York herangezogen werden können, so ergibt sich daraus immer noch keine gültige Antwort auf die Fragen nach der grundsätzlichen Bedeutung des totalitären Machtsystems für die sowjetische Außenpolitik und die Verhaltensweise der sowjetischen Machtträger auf außenpolitischem Gebiet.
Es gehört zu den axiomatischen Erkenntnissen der Sowjetologie, daß für die sowjetische Politik das Primat der Innenpolitik gilt und die sowjetische Außenpolitik entscheidend von der totalitären Machtstruktur des bolschewistischen Herrschaftssystems abhängig ist. Dabei sind es vor allen Dingen die spezifischen Elemente des von Lenin geschaffenen bolschewistischen Machtsystems als Grundlage für die Diktatur der KPdSU, die Ideologie des Leninismus und der unter Stalin zur Höchstform entwickelte sowjetische Imperialismus, die in entscheidendem Maße Form und Inhalt der sowjetischen Außenpolitik bestimmen.
Die innersowjetische Machtstruktur kann in ihren grundlegenden Komponenten nur erklärt werden, wenn man das bolschewistische Machtsystem und seinen Schöpfer vom Hintergrund der historischen und soziologischen Ursprungssituation zu begreifen sucht, d. h. von den Politischen und ökonomischen Bedingungen des zaristischen Rußlands und der dort herrschenden Autokratie, in die Lenin vor 90 Jahren hineingeboren wurde. Im Widerstreit der politischen Strömungen in Ruß-landzum Ausgang des 19. Jahrhunderts, bei der Suche nach Wegen zur Überwindung der autokratischen Ordnung optiert der junge Lenin früh für jene Richtung, die vom radikalen Willen zur Zerschlagung und Liquidierung der zaristischen Selbstherrschaft bestimmt wird.
Von dem Soziologen Carl J. Friedrich wird unter Hinweis auf die historisch-soziologischen Zusammenhänge zwischen der zaristischen Autokratie und den leninschen Prinzipien zutreffend bemerkt, daß „das Zarenreich alles andere als eine Demokratie war, und es war daher von Lenin nur folgeridttig, darauf zu bestehen, daß auch die kommunistische (bolschewistische) Partei trotz ihrer ideologischen demokratischen Zielsetzung auf lange Sicht nicht demokratisch, sondern nur autokratisch organisiert sein könne. Sein Bestehen auf einer straff disziplinierten, auf soldatischer Unterordnung beruhenden Organisation war den autokratischen Verhältnissen, unter denen die revolutionäre Partei wirken sollte, allein angemessen. Das bedeutet aber,“ —so heißt es dann abschließend — „daß sich die von einer solch autoritär-totalitären Partei getragene totalitäre Diktatur unmittelbar aus der Autokratie des zaristischen Rußlands herleitete. Sie ist eine moderne Form dieses Autokratismus.“
„Diktatur ist eine sich unmittelbar auf Gewalt stützende Macht, die an keinerlei Gesetze gebunden ist.
Die revolutionäre Diktatur des Proletariats ist eine Macht, die durdt die Gewalt des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie erobert wurde und behauptet wird, eine Macht, die an keinerlei Gesetze gebunden ist.“ 3)
Früh, beim Beginn der Auseinandersetzungen um diese Idee Lenins, wird vor den Folgen gewarnt, die als zwangsläufig vorausgesehen werden.
Zu den entschiedensten Kritikern gehören in jener Zeit Rosa Luxemburg und Leo Trotzki. Visionär formuliert Trotzki bereits 1904 den grundsätzlichen Vorbehalt:
„Bei Lenin wird die Organisation der Partei die Partei verdrängen, das ZK wird an die Stelle der Organisation treten und schließlich wird das ZK dem Diktator das Feld räumen müssen." 4)
Nichts vermag jedoch Lenin von seinen Ideen und seiner Überzeugung abzubringen. Unter dem von ihm entwickelten totalitären Gesetz geht er seinen Weg der Zersetzung und Spaltung bis zum unabwendbaren Schisma der russischen Sozialdemokratie. Von diesem autoritären Machtgesetz wird die Entwicklung der von ihm begründeten und geführten bolschewistischen Partei geformt und der totalitäre Charakter des bolschewistischen Herrschaftssystems als „moderne Form des Autokratismus'' bestimmt.
Eine typische Erscheinungsform der von Lenin praktizierten Autokratie ist die von Beginn seines politischen Wirkens her feststellbare Intoleranz und sein spezifischer Stil in der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern. „Lenin teilt die Welt ein in die, die für ihn und die, die gegen ihn waren,“ sagt ein Kampfgefährte aus jenen frühen Tagen. Bei diesem Freund-Feind-Prinzip Lenins gilt es, „Haß, Ekel und Verachtung“
für seine Gegner zu wecken. „Es war nicht meine Absicht zu überzeugen,“ so sagte Lenin einmal, „sondern die Reihen zu durdtbrechen;
nicht einen Fehler des Gegners zu korrigieren, sondern ihn zu vernichten, ihn vom Erdboden zu vertreiben.“ 5)
Die von Lenin entwickelte und später von seinen Epigonen zu beflissen kopierte Methode der Diffamierung, Schmähung, Herabsetzung und Verleumdung aller politischen Gegner gehört zu den typischen Erscheinungsformen des von den Kommunisten entwickelten totalitären Systems, die konsequent sowohl gegen die innenpolitischen Gegner wie auch — wie die von 1917 bis in die jüngsten Tage vorliegende Erfahrung zeigt — im außenpolitischen Bereich ihre Anwendung finden.
Die bisher dargelegten Komponenten des bolschewistischen Macht-systems erhalten ihre formative Ausgestaltung mit dem Machtantritt der Bolschewiken 1917. Die Perfektionierung des totalitären Macht-systems erfolgt schließlich unter dem Diktator, den Trotzki in seiner visionären Voraussage kommen sah: Stalin.
Unter der Herrschaft Stalins erfolgt die volle Entfaltung der Elemente, die a priori von der autokratischen Ursprungssituation und vom totalitären Leninismus her das bolschewistische Machtsystem bestimmen. Es entsteht jene für den totalitären Kommunismus spezifische geistige Atmosphäre, die bestimmt wird durch die Angst des Menschen vor dem Terror des Herrschaftssystems, den lähmenden Schrecken, der durch Geheimpolizei, Mißtrauen und Zersetzung aller normalen menschlichen Beziehungen das Klima innerhalb der Sowjetunion verändert und auch für die Entwicklung der sowjetischen Außenpolitik entscheidend werden soll.
Stalin entwickelte im Laufe des Kampfes um die Stabilisierung seiner Macht den Begriff der kapitalistischen Einkreisung, um daraus innenpolitisch die Theorie vom Volksfeind abzuleiten und sein totalitäres Regime zu rechtfertigen. Von dem englischen Historiker Seeley wurde einmal festgestellt: „Der Grad der Freiheit innerhalb eines Staates wird immer umgekehrt proportional sein dem Grad des Druckes, der auf seinen Grenzen lastet.“ 6) Dieser Maxime könnte für die sowjetische Innenpolitik Stalins gelten, die in einer von ihm bewußt provozierten Wechselwirkung von der angeblichen „feindlichen Außenwelt“ bestimmt wurde. Die aus dem internen Machtkampf sich ergebende scheinbare Überlagerung der sowjetischen Innenpolitik durch die „ feindliche Umwelt“ ändert nichts am Axiom vom Primat der totalitären Machtstruktur über die Außenpolitik. Im Gegenteil: Es erklärt den verhängnisvollen Kausalzusammenhang zwischen der totalitären Machtstruktur und der sowjetischen Außenpolitik und die Intransigenz in den Beziehungen zu den nichttotalitären Staaten.
Niemand hat zutreffender als Chruschtschow selbst die totalitären Wesenszüge des bolschewistischen Machtsystems und ihren Einfluß auf die sowjetische Außenpolitik bloßgelegt, als er auf dem XX. Parteitag daran ging, mit Stalin abzurechnen und die Stalin-Legende zu zerschlagen. Man muß diese Auseinandersetzung des Epigonen mit seinem Schöpfer als eine List der Geschichte empfinden, wenn man sieht, wie mit den gleichen, sich aus dem totalitären Machtsystem ergebenden Mitteln, die schonungslose Offenbarung der entscheidenden Komponenten und des Entartungsprozesses dieses Systems erfolgt.
„Non Stalin stammt der Begriff des Volksfeindes,“ erklärte Chruschtschow. „Dieser Terminus ermöglichte die Anwendung grausamster Unterdrückung . . .derer, die in irgendeinem Punkt nicht mit Stalin übereinstimmten.“
Chruschtschow stellt dann fest: „Die Willkür Stalins zeigte sich nidit nur in seinen Entscheidungen zu innenpolitisd'ien Fragen, sondern auch in der Beziehung der Sowjetunion zum Ausland."
Am Beispiel des Konflikts mit Jugoslawien erklärt Chruschtschow den Delegierten des XX. Parteitages: „Sie sehen, wohin Stalins Größen-wahnsinn führte. Er hatte völlig den Sinn für die Realität verloren. Et demonstrierte sein Mißtrauen und seine Arroganz nicht nur in den Beziehungen zu den einzelnen Menschen hier in der Sowjetunion, sondern audt in den Beziehungen zu ganzen Parteien und Staaten.“
An einer anderen Stelle stellt Chruschtschow fest, daß „während der Herrsdtaft Stalins unsere friedlichen Beziehungen zu den anderen Nationen oftmals bedroht wurden, weil aus den Ein-Mann-Entsdieidungen sidt größere Komplikationen ergeben konnten, wie dies audt oft der Fall war.“
Schließlich zitiert Chruschtschow den Ausspruch Bulganins, der ihm einmal bei Lebzeiten Stalins erklärt hat: „Es kann passieren, daß jemand einer Einladung Stalins als Freund Folge leistet; wenn er daun mit Stalin zusammensitzt, weiß er nidit, ob er anschließend nach Haust oder ins Gefängnis gesdiidkt wird.“
Hier liegt die historische Evidenz vor, über das von Mißtrauen, Terror und Furcht bestimmte innenpolitische Klima der totalitären So wjetherrschaft, das auf die sowjetische Außenpolitik übertragen wurde, die dann zusätzlich durch den Größenwahnsinn des Diktators und durch ein Gemisch von ideologischem Wunschdenken und imperialistischen Zielsetzungen ihre besondere Ausformung erhielt.
Von diesen Komponenten wurden auch die Formen der außenpolitischen Beziehungen zu den nichttotalitären Staaten bestimmt. Das im Verkehr zwischen souveränen Staaten entwickelte Brauchtum, die überlieferten Normen des diplomatischen Rituals und des Völkerrechts wurden relativiert und einem Wandlungsprozeß unterworfen. Stalin spricht in seiner Zeit von den „Säuen“, die mit „ihren Rüsseln int sowjetischen Kartoffelacker wühlen“ wollen — die Tiraden Chruschtschows in Paris, New York und Moskau in unseren Tagen erscheinen vom gleichen Stil geprägt. Sie entsprechen dem von Lenin konzipierten Geist der Freund-Feind-Theorie. Von demgleichen totalitären GeististTonundlnhalt der sowjetischen Noten bestimmt, über die man sich, wie einmal richtig festgestellt wurde, „eigentlich gar nicht wundern darf, denn solche Noten, in denen sich nur die totalitäre Weltansicht spiegelt, sind ja gar nicht darauf abgestellt, das Verständnis zwischen den Nationen zu fördern, wie das in der Vergangenheit der Fall war, vielmehr sind sie Werkzeuge in der Hand totalitärer Parteigänger, die int wesentlichen entweder auf die heimische öffentliche Meinung wirken oder den Gegner bedrohen sollen.“ Abschließend wird von Carl. J. Friedrich in höchst aktueller Bezogenheit auf den uns vertraut gewordenen Stil internationaler Konferenzen hingewiesen, wo „die Totalitären eine Art Wettbewerb in gegenseitiger Herabsetzung in Szene setzen, so dass solche Konferenzen nicht mehr der Verhandlung dienen können, sondern als Schaubühne für die Beeinflussung der Weltöffentlichkeit gedacht sind."
Die nichttotalitären Staaten, die nun ständig mit einer derartigen, ihnen wesensfremden offensiven Taktik und Strategie konfrontiert werden, reagieren mit entsprechenden politischen und militärischen Gegenmaßnahmen auf diese sowjetische Politik, die, wie Hermens richtig feststellt, „dann wieder als ein Versudt der Einkreisung interpretiert werden.“
Es gibt jedoch noch andere Elemente, die von der totalitären Machtstruktur des Bolschewismus einen bestimmenden Einfluß auf die sowjetische Außenpolitik haben. Das sind die bereits erwähnte Ideologie und der von den geschichtlichen Triebkräften bestimmte sowjetische Imperialismus. Bei der Ideologie haben wir es mit dem von Lenin her stammenden und durch seine Epigonen noch stärker akzentuierten Zerrbild eines primitiven ökonomischen Determinismus zu tun, der mit veralteten Klischees den Gläubigen den Endsieg des Kommunismus „über den von der Geschichte zum Untergang verurteilten Kapitalismus“ suggeriert. Inzwischen haben auch einige kluge Leute in Moskau begriffen, daß diese utopischen Dogmaformeln von dem angeblich „in periodischen Zykluskrisen geschwächten und automatisch seinem Ende entgegengehenden Kapitalismus offenbar revisionswürdig geworden sind. Der Nestor der sowjetischen Nationalökonomie, Varga, ein seit Jahrzehnten erprobter Forinulierer polit-ökonomischer Glaubenssätze, spricht von „regenerativen Elementen im Kapitalismus und warnt vor einem allzu optimistischen Siegesdenken
Diese von den Sowjets manipulierten Parteien stellen wichtige Instrumente für die Realisierung weltpolitischer Ziele der Sowjetunion dar, und sind in der sowjetischen Einschätzung des weltpolitischen Situationsbildes Machtpositionen, die man je nach Lage in der außenpolitischen Strategie entsprechend einplant. Bezeichnend für die enge Funktionsverflechtung der kommunistischen Parteien außerhalb des sowjetischen Machtblocks mit dem bolschewistischen Machtapparat und den strategischen Fernzielen der sowjetischen Politik war die von den führenden kommunistischen Parteien des Westens (Italien, Frankreich) 1949 abgegebene Erklärung, wonach im Kriegsfall die Kommunisten in den kapitalistischen Ländern die Sowjetunion unterstützen werden
Es verbleibt noch der Hinweis auf den sowjetischen Imperialismus, der seine besondere Ausformung unter Stalin erhalten hat und in der Chruschtschow-Ära ein entscheidendes Element der sowjetischen Außenpolitik geblieben ist. Im Verlauf des „Großen Vaterländischen Krieges" erfolgte die Herausstellung der patriotischen Symbolzeichen aus der „glorreichen russischen Geschichte" mit dem Bekenntnis zu den Meriten Iwans des Schrecklichen und Peters des Großen. Kutusow-und Suworow-Orden wurden geschaffen und panslawistische Ideen wieder belebt. Alles das waren Elemente in der Entwicklung eines nationalistisch-imperialistischen Bewußtseins mit dem Höhepunkt des Sieges im Jahre 1945, als Stalin auf einem Bankett im Kreml als Sieger dieses Krieges das Großrussische Volk feierte und bei der Kapitulation Japans ausrief: „Jetzt ist die Niederlage von Port Arthur gerächt!“
Bei Stalin vereinigen sich die messianistischen Elemente der vulgär-marxistischen Ideologie mit russischen imperialistischen Zielsetzungen zu einer Herrschaftsideologie, die ihre unmittelbare Anwendung in der von 1945 betriebenen Außenpolitik fand. Die unmittelbaren Objekte dieser stalinschen Politik wurden die osteuropäischen Völker und Mittel-deutschland. Dort sollte in den Volksdemokratien nach sowjetischen Modellbildern die forcierte Entwicklung vom Kapitalismus zum Sowjet-kommunismus und die Integration in den sowjetischen Machtbereich vollzogen werden.
Wie wirkte sich nun der seit Stalins Tod und in gesteigerter Form der nach dem XX. Parteitag einsetzende innerpolitische Transformationsprozeß auf die gekennzeichneten totalitären Wesenszüge des bolschewistischen Machtsystems aus? Lassen sich aus den nachweisbaren Veränderungen in der sowjetischen Basis entsprechende schlüssige Folgerungen für grundsätzliche Veränderungen in der totalitären Machtstruktur und somit auch für die sowjetische Außenpolitik ableiten?
Bei der radikalen Kritik Chruschtschows an den entarteten Herrschaftsformen Stalins erfolgte auf dem XX. Parteitag eine Revision der Doktrin Lenins über die Unvermeidbarkeit der Kriege im Kapitalismus. Chruschtschow erklärte, daß im atomaren Zeitalter Kriege vermieden werden können, was in der nichttotalitären Welt hoffnungsvoll als eine Beachtung rationaler Überlegungen in der zukünftigen sowjetischen Außenpolitik gewertet wurde. Die bei gleichem Anlaß und in immer wiederkehrender Folge beschworene These von der Koexistenz aller politischen Systeme, ließ ebenfalls manche Hoffnungen für einen realistischen modus vivendi zwischen dem totalitären Sowjetblock und den nichttotalitären Staaten aufkommen. Auch der verkündete Grundsatz vom „Recht der Völker auf den eigenen Weg zum Sozialismus“ wurde zunächst als eine Bereitwilligkeit gedeutet, den intransigenten Integrationskurs Stalins abzubauen und den unterdrückten Völkern innerhalb des sowjetischen Machtblocks einen gewissen nationalen Unabhängigkeitsbereich zu gewähren.
Doch all diese Erscheinungsformen eines „Neuen Kurses“ der Nachfolger Stalins sind sekundär und dürfen nicht von einem entscheidenden Tatbestand ablenken, der bereits auf dem XX. Parteitag offenbar wurde und inzwischen durch die weitere Entwicklung bestätigt werden konnte: Die unveränderten Grundzüge der totalitären Machtstruktur und die unverminderte Rolle der Partei, der KPdSU, bei der Aufrechterhaltung der kommunistischen Diktatur. Es zeigte sich bereits bei der Abrech-nung Chruschtschows mit den Verbrechen Stalins, daß hier in einer geschichtlich abstrusen Form die Schuld für die pervertierte Entwicklung des bolschewistischen Machtregimes ausschließlich als die Schuld eines Mannes postuliert wurde. Mit dieser einseitigen Akzentuierung wurde bewußt von der entscheidenden, geschichtlich-relevanten Frage nach der Bedeutung des totalitären Systems und der prinzipiellen Rolle der Parteidiktatur in dem sowjetischen Entartungsprozeß abgelenkt.
Die Entwicklung seit 1956 zeigt den funktionellen Zusammenhang zwischen der auf dem XX. Parteitag versuchten neuen Legendenbildung und dem angestrebten Ziel auf. Einerseits werden in pragmatischer Form eine Reihe von strukturellen Veränderungen im wirtschaftlichen Gefüge vorgenommen, um die Weiterentwicklung der Produktivkräfte den Erfordernissen einer von Atomkraft und Automation bestimmten Gesellschaftsordnung anzupassen; andererseits versuchen Chruschtschow und seine Gruppe, das Instrument der totalitären Macht, die Partei, unverändert in ihrer Machtpotenz zu erhalten. Die seit Stalins Tod vorliegende Erfahrung beweist, daß zwar auf Grand des immanenten Widerspruchs zwischen den Basiskräften und dem reaktionären Überbau eine permanente Dilemmasituation im innersowjetischen Machtfeld besteht, daß jedoch die Partei aus dem bisherigen Transformationsprozeß nicht geschwächt, sondern eher gestärkt hervorgegangen ist. Darüber hinaus zeigte die Entwicklung der letzten Jahre, daß im Zuge einer nachweisbaren neoleninistischen Renaissance folgerichtig auch die Grundzüge der leninistischen Ideologie in einem unveränderten Macht-sinn verbindlich geblieben sind, und damit der totalitäre Charakter der sowjetischen Machtstruktur. Das bedeutet, daß bei der bewiesenen Interdependenz zwischen totalitärer Machtstruktur und der Außenpolitik die sowjetische Außenpolitik in der Chruschtschow-Ära in Form und Inhalt unverändert bleibt. Verändert wurden im leninistischen Sinne die Methoden zur Realisierung der traditionellen Machtziele
Bei diesen Folgerungen ergibt sich abschließend die Frage nach möglichen Wegen und Methoden, um angesichts der atomaren Schranke, vor der die Menschheit steht, und dem sowjetischen Machtanspruch in Deutschland, der seit Stalin ebenfalls unverändert besteht, die Probleme unserer Zeit mit friedlichen Mitteln zu lösen. Georg Kennan hat einmal erklärt, daß mit den Sowjets ein „enges Verstehen" auf Grund der besonderen Geisteshaltung nicht möglich ist. „Nur eine Art der Äußerung ihnen gegenüber hat Sinn: Zu erklären, wozu wir unter bestimmten Verhältnissen bereit bzw. wozu wir nicht bereit sind.“
Diese Erkenntnis Kennans, abgeleitet aus einer umfassenden Kenntnis der totalitären Machtstruktur und der sowjetischen Mentalität, führt zu einer anderen, wie wir glauben, entscheidenden Erkenntnis: Unser Aussprechen der Bereitschaft zum Tun oder Lassen muß von Tatbeständen echter Macht erfolgen. Darunter verstehen wir alle Erscheinungsformen unserer demokratischen Gesellschaftsordnung, die politisch, sozial, ökonomisch, psychologisch und militärisch das geschlossene Erscheinungsbild einer nicht manipulierbaren Ordnung präsentieren. Eine solche Macht wird auch von den sowjetischen Führern schließlich nicht übersehen werden können. Vom Standort einer solchen evidenten Macht kann eines Tages die Korrektur des dogmatischen Sendungsglaubens der Sowjets und ihrer reaktionären Ideologie erfolgen und schließlich auch zur realistischen Überprüfung der imperialistischen Herrschaftsziele führen. Diese macht-mäßig fundierte, geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus muß geduldig und zäh, auf allen Ebenen mit den unserer Wertwelt gemäßen Mitteln offensiv geführt werden. Nur so können wir hoffen, in einer längeren Zeitperspektive die Voraussetzungen zur Änderung der „merkwürdig verwirrten Mentalität“ der sowjetischen Führer zu erreichen. Erst dann dürfen wir auch hoffen, daß vom innersowjetischen Transformationsprozeß her in dem Maße, wie der rational denkende Sowjetmensch sich seine neue Wertstellung gegenüber dem totalitären Machtanspruch der Kommunisten zu erkämpfen imstande ist, erst dann können wir hoffen, daß es zu einer Änderung der totalitären sowjetischen Machtstruktur kommt und damit zu. einer neuen Ära in den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den nichttotalitären Staaten.