Einleitung
Es entbehrt nicht eines gewissen Reizes, sich nachträglich noch einmal die Verwirrung der Weltöffentlichkeit vor Augen zu führen, die entstand, als es zum Abschluß des Paktes zwischen der UdSSR und dem Croßdeutschen Reich am 23. 8. 1939 kam. Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, wie sehr beide Systeme sich 6 Jahre hindurch gegenseitig beschimpft hatten (die heutige Ost-West Polemik ist dagegen nur ein schwacher Abklatsch). Leitartikel, Zeichnungen, Karikaturen und schließlich auch Sensationsberichte und Reden sprechen eine deutliche Sprache. Nun verbanden sich der „Erbfeind der europäischen Kultur", die Sowjetunion und der „braune Mörderstaat", um nur zwei der Schlagworte der gegenseitigen Propaganda zu gebrauchen, um das europäische Gleichgewicht, diese Idee einer in traditionellen Vorstellungen befangenen Diplomatie und damit Europa selbst aus den Angeln zu heben. Man „. . . begoß sich mit Kübeln von Jauche..., um dann Gemeinsamkeiten gegenüber den „dekadenten westlichen Demokratien“ zu entdecken. Für den Historiker ist die Frage, wie die Publikationen zu diesem Thema zeigen, brennend, denn die Antwort gibt nicht mehr und nicht weniger als die Ursache zur Agonie Resteuropas, brennend insofern, zu erfahren, was den Anstoß zu diesem Teufelspakt geben konnte, wo die tieferen Ursachen lagen, was stark genug war, daß Hitler seine Rolle als europäischer Vorkämpfer gegen den Bolschewismus aufgab, daß Stalin dem Reich, seinem erklärten Gegner, die Hand zur Versöhnung reichen konnte. Der folgende Abschnitt wird zeigen, daß mehrere Faktoren zusammenkamen: 1. Das erklärte Mißtrauen Stalins gegenüber den Westmächten und ihrer Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der UdSSR. Stalin, der den Weltbrand kommen sah, glaubte, daß ihm von diesen die Rolle zugedacht war, . . die Kastanien aus dem Feuer zu holen . ..“. 2. Die Notwendigkeit für die Sowjetunion, sich an eine bereits bestehende Mächtegruppe anzuschließen, um nicht außenpolitisch einsam zu bleiben. Die Jahre der Isolation waren noch nicht vergessen. Da die Westmächte, wie Stalin es empfand, unehrlich waren, außerdem nach Ansicht Stalins seit dem Debakel von München ihre Schwäche bewiesen hatten, konnte der politischen Lage entsprechend nur das Reich in Frage kommen, wobei die Frage vorläufig offen bleibt, ob er seinerseits vertragstreu bleiben wollte. Stalin war aber sicher vor einem deutschen Angriff, zumindest gewann er wertvolle Zeit. 3. Die Möglichkeit, durch eine Annäherung an Deutschland, die allerdings nicht zu weit gehen durfte, den Preis für diese Haltung fast nach Gutdünken festzusetzen. Denn erst die wohlwollende Haltung der Sowjetunion versetzte Hitler in die Lage, seine Pläne zu verwirklichen, nun erst konnte er im Falle eines ausbrechenden Konflikts mit den Westmächten als gleichwertig gelten. Andererseits gelangte nun Stalin in den Besitz der Gebiete, die nach dem ersten Weltkrieg den Sowjets entrissen worden waren. Peter der Große hatte vor zweihundert Jahren blutig darum gekämpft, „. . . Stalin fielen sie jetzt durch den Vertragsabschlu/J mit Hitler kampflos in den ScJiofl. .
4. Die Wahrscheinlichkeit, daß sich die kapitalistischen Mächte in dem zu erwartenden Konflikt soweit schwächen würden , daß die UdSSR im Hinblick auf ihre ideologischen und politischen Ziele jederzeit unangetastet das Schwergewicht ihrer gesamten Macht in die Waagschale werfen konnte, eine ideale Position für Erpressungsmanöver. 5. Die Erinnerung an eine Zeit der Zusammenarbeit mit Deutschland, in der beide Staaten sich bewußt waren, einen Weltkrieg verloren zu haben. 6. Die Notwendigkeit für Hitler, den Rücken freizuhaben, um seine Ziele erreichen zu können. Er war fest davon überzeugt, daß die Westmächte nicht eingreifen würden, um Polen zu retten, wenn die Sowjetunion neutral bliebe . In dieser Ansicht wurde er durch deutsche Sachverständige bestärkt, die eine Hilfeleistung der Westmächte wegen der mangelnden Landverbindung für unmöglich erklärten. 7. Nach Aussage der deutschen Wirtschaftsexperten verhinderte die sowjetische Unterstützung die noch vom ersten Weltkrieg her gefürchtete britische Blockade und stellte die Versorgung des Reiches mit kriegswichtigen Gütern sicher . 8. Moralisch bedeutete eine Duldung der Operationen gegen Polen oder sogar eine Beteiligung der Sowjetunion an der „Liquidierung“ dieses Staates für die deutsche Diplomatie eine fühlbare Entlastung. Konsequenterweise mußte die Garantie der Westmächte diese in einen Konflikt mit Stalin verwickeln, falls er als Komplice auftrat. Trat das nicht ein, sondern richteten sich die Aktionen Englands und Frankreichs diplomatisch und militärisch nur gegen Deutschland, so war die Weltöffentlichkeit schwer davon zu überzeugen, daß der Krieg wegen Polen geführt wurde. Er schien dann ausschließlich auf die Vernichtung des Großdeutschen Reiches gerichtet.
Wir werden sehen, inwieweit die beiderseitigen Hoffnungen in Erfüllung gingen.
Vorspiel
Nach dem deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei, im März 1939, ergab sich für die übrigen europäischen Großmächte die Notwendigkeit, ihre Abwehrmaßnahmen gegenüber dem deutschen Vordringen zu konsolidieren. Es war deutlich geworden, daß das Reich versuchte, für die kommende Auseinandersetzung sich in die denkbar stärkste Ausgangsposition zu setzen. Hierbei war es sogar bereit, das Odium des Vertragsbruches und der Unterdrückung völkischer Minderheiten auf sich zu nehmen. Zum ersten Mal hatte Hitler den sicheren Boden verlassen, der ihm sogar stillschweigende Duldung der Westmächte eingebracht hatte: die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, die vernünftige Revision angetanen Unrechts und der Wunsch der europäischen Völker, Frieden zu bewahren und sich nicht wegen des Begehrens der Deutschen Irredenta, „Heim ins Reich“ zu gelangen, aufzuopfern. Nun war auch klar geworden, daß, so berechtigt dieser deutsche Standpunkt erschien, die Befriedungspolitik zu einer Lage führte, in der man, um in Frieden zu leben, von der Gnade Hitlers leben mußte. Das deutsche Reich bildete nunmehr eine gewaltige geballte Macht in Mitteleuropa; die von der Entente eingebauten Sicherungen gegen diese Konsolidierung, vor allem die CSR, waren durchgebrannt. Gleichzeitig mit dem strategischen Debakel erwuchs den Westmächten aber auch ein psychologisches. Denn bereits seit München gaben sich Hitler und die Weltöffentlichkeit der verhängnisvollen Annahme hin, England und Frankreich seien schwach und nicht gewillt, außer mit papiernen Protesten etwas gegen das Reich zu unternehmen. Die März-ereignisse 1939 konnten diesen Eindruck nur verstärken. Auch Stalin hatte die Lektion nicht vergessen. Unter dem Eindrude des deutschen Einmarsches in die CSR, im März 1939, kam es zu einer Anfrage der britischen Regierung in Paris, Moskau und Warschau, ob die Regierungen dieser Staaten bereit seien, im Falle der Bedrohung der Unabhängigkeit eines europäischen Staates gemeinsam zu den Waffen zu greifen Daß dieser Versuch fehlschlug, ist neben anderen Faktoren, von denen noch die Rede sein wird, auf das verächtliche Mißtrauen der Sowjetunion zurückzuführen, die von der Schwäche der Westmächte und ihrem mangelnden Willen zum Krieg zutiefst überzeugt war.
Wann beginnt die erste Fühlungnahme der beiden autoritären Staaten? Es scheint, als ob die Initiative von Stalin ausging, der in ständiger Sorge wegen des Wiedererstarkens Deutschlands lebte, zumal die Berliner Regierung nach der Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten laut genug erklärte, daß ihr Weltfeind Nr. 1 der Bolschewismus sei. Offiziell konnte aber der Versuch einer Einigung nicht erfolgen, wenn sich die Sowjetunion nicht des Vorwurfs der Schwäche aussetzen wollte. So ergibt sich das einigermaßen verwirrende Bild, daß die offiziellen Vertreter der Sowjetdiplomatie nach wie vor eisige Mienen zur Schau trugen; die wirkliche Arbeit aber wurde von Personen geleistet, deren untergeordneter Rang in keinem Verhältnis zu der Wichtigkeit der Aufgabe stand. In Berlin soll es denn auch der Handelsvertreter, lies Leiter der sowjetischen Handelsdelegation, David Kandeliki gewesen sein, der, ein persönlicher Freund Stalins, von diesem im Jahre 1936 den Auftrag erhalten haben soll, ...... um jeden Preis ein harmonisches Verhältnis zu Hitler herzustellen.“ Sollte das stimmen, so hätten wir hier den ersten Anhaltspunkt für die russische Bereitschaft, dem deutschen Anerbieten zu folgen. Nichts aber an dieser Nachricht widerspricht den staatspolitischeninteressen der UdSSR. Hitler soll aber diese ausgestreckte Hand im April 1937 zurückgewiesen haben; offenbar war er zu diesem Zeitpunkt noch nicht bereit, seine Ideologie den politischen Realitäten zu opfern Die Hoffnung, mit England zu einem Agreement zu kommen, war zu diesem Zeitpunkt noch durchaus berechtigt
Das für den europäischen Frieden so verhängnisvolle Jahr 1938 sollte auch in dieser Hinsicht einen Wandel bringen. Die bange Frage aller Friedenswilligen war, ob sich Deutschland mit seinem inneren Aufbau zufriedengeben würde oder ob sich nicht, wie es die Logik zu gebieten schien, hinter der wirtschaftlichen Erstarkung die geplante Expansion verberge. Die Eingliederung Österreichs, mochte man gegen die Methoden auch viel einwenden können, stand auf dem Boden des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Auch bei dem beginnenden Konflikt um die Einbeziehung der Sudetendeutschen berief sich Hitler hierauf, aber es war deutlich, daß mehr auf dem Spiel stand als dieses Prinzip. Die Frage war, ob die Westmächte mit der Preisgabe der CSR selbst ihrem Sicherheitssystem in Mitteleuropa, das der Verewigung des Versailler Vertrages dienen sollte, den Todesstoß versetzen konnten. Wo waren die Grenzen? Die Kausalkette lief ab mit einer schicksalhaften Notwendigkeit, wenn man nicht den Sperrhebel, eben die Tschechoslowakei, um jeden Preis in der Hand behielt. Aber eins war klar: Nur die Sowjetunion war in der Lage, diesen Staat zu unterstützen, ihn bei der Verteidigung mit Streitkräften unter die Arme zu greifen. Jede noch so energische Aktion der Entente konnte seine Niederlage vielleicht, wenn man siegreich blieb, revidieren, aber sie nicht verhindern. Nun sah das kunstvolle Gebäude der westlich orientierten Bündnissysteme zwar vor, daß die UdSSR die CSR bei einem Angriff einer fremden Macht unterstützen sollte, aber das galt nur für den Fall, daß auch Frankreich zu den Waffen griff Andererseits bestand aber eine zusätzliche Bekräftigung dieses Paktes in dem wenige Tage zuvor abgeschlossenen sowjetisch-französischen Beistandspakt Trotzdem wurde Stalin das Gefühl nicht los, daß es so kommen könne, wie er es am meisten fürchtete, daß nämlich Rußland von Frankreich im Stich gelassen werden würde und dann allein den Ansturm Deutschlands auszuhalten habe. Daß Stalin aber der einzige war, der bereit war, für den Vielvölkerstaat das Schwert zu ziehen, werden wir sehen.
Aber gerade zu dieser Zeit gewann ein Schreckgespenst Einfluß auf die französische Politik: Das Gespenst einer deutsch-russischen Verständigung. Schon am 28. Februar 193 8 teilte das deutsche Auswärtige Amt den Botschaften in London, Paris und Moskau und den Gesandtschaften in Brüssel und Prag mit, daß ein Mitglied der französischen Botschaft in Berlin einem Angehörigen des Auswärtigen Amtes gegenüber betont habe, für die Republik ergebe sich die Notwendigkeit, am „Russenbündnis“ vom Mai 1935 festzuhalten, weil sonst Deutschland an Frankreichs Stelle trete Als Beweis dafür führte der Franzose die Tuchaschewskiaffäre an Das deutsche Auswärtige Amt ist zu diesem Zeitpunkt der Ansicht, daß Litwinow, der sowjetische Außenkommissar, diese Gerüchte in die Welt setze, um eine „Aktivierung der Beziehungen zu Frankreidt zu erreichen“ Weizsäcker dementiert denn auch derartige Gerüchte kategorisch und weist auf die Hitlerrede vom 20. Februar 1938 hin, in der des Reichskanzlers Ansichten über Sowjetrußland genügend deutlich zum Ausdruck gekommen seien. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß Rußland mit diesen Gerüchten in Berlin vor-fühlen wollte. Dafür spricht, daß Coulondre, zu dieser Zeit französischer Botschafter in Moskau, seine Regierung in Paris wegen diesen Nachrichten „alarmiert"; für ihn steht fest, daß „Moskau in den Vor-kriegsjahren ohne Unterbredtung in Berlin verhandelt hat“ Quel-lenmäßig ist diese Nadiricht mit dieser Entschiedenheit nicht zu bestätigen, aber die heraufziehende Sudetenkrise enthebt uns weiterer Spekulationen. Sie beeinträchtigt die offiziellen Beziehungen der beiden Staaten so entscheidend, daß kein Raum mehr für derartige Hypothesen übrig zu bleiben scheint. Litwinow erklärt am März 1938, die Sowjetunion sei bereit, sich an Kollektivverhandlungen zum Schutz gegen Aggressoren zu beteiligen 17).
Das wird ihm schwergefallen sein, denn noch am 22. Januar 1938 hatte der Generalstab der CSR den Vorschlag der Roten Armee abgelehnt, eine gemeinsame Kommission zur Prüfung der Verteidigungsmöglichkeiten Böhmens, Mährens und der Slowakei gegen einen deutschen Angriff einzusetzen Diese auf den ersten Blick unverständliche Haltung eines Staates, dem an der Unterstützung eines starken Freundes unter den strategisch Januar 1938 hatte der Generalstab der CSR den Vorschlag der Roten Armee abgelehnt, eine gemeinsame Kommission zur Prüfung der Verteidigungsmöglichkeiten Böhmens, Mährens und der Slowakei gegen einen deutschen Angriff einzusetzen 18). Diese auf den ersten Blick unverständliche Haltung eines Staates, dem an der Unterstützung eines starken Freundes unter den strategischen Gegebenheiten gelegen sein mußte, erklärt sich bald genug. Man muß sich die Lage der in Versailles geschaffenen Randstaaten gegenüber der UdSSR vor Augen halten. Denn Polen und die Tschechoslowakei starren wie gebannt auf die geringste Bewegung des russischen Bären, sie fürchten um Teile ihres Gebietes, sobald Stalin „zu Hilfe kommt“. Denn auch in Prag wußte man, daß das Problem der Carpatho-Ukraine bestand, in Warschau rechnete man mit dem Versuch der Russen, die Curzonlinie zu erreichen 19). Und was Rumänien anbetrifft, so bildete die Bessarabienfrage einen Stein des Anstoßes, der Bukarest in ewiger Furcht vor russischen Revisionsgelüsten hielt 20). Aber gerade von Polen und Rumänien hing eine wirksame Unterstützung der CSR ab, nur durch ihr Gebiet konnte die -rus sische Hilfe wirksam werden. Aber beide Staaten wußten nur zu gut, oder glaubten zu wissen, daß die Sowjetunion nicht mehr aus den von ihr besetzten strittigen Gebieten vertrieben werden konnte. Auch die Westmächte wissen Bescheid, vor allem Frankreich, während England sich zurückhält. Verzweifelt bemühen sich die französischen Diplomaten, beide Länder zur Genehmigung des russischen Durchmarsches zu veranlassen 21). Polen aber erklärt geradezu, daß es kämpfen werde, falls die Rote Armee die polnische Grenze überschreite; Rumänien lehnt zwar freundlicher, aber doch entschieden genug die Anfrage ab. Zu welch grotesken Plänen diese Sachlage den französischen Außenminister Bonnet veranlaßte, zeigt der in allem Ernst Moskau unterbreitete Plan, auch ohne Zustimmung Polens und der CSR nach Westen zu marschieren 22). Die Falle von Versailles war zugeschnappt, die Beute aber war genau das Gegenteil von dem Fang, den man erwartet hatte. Die Stimmung in Paris wurde auch nicht besser, als bekannt wurde, daß Litwinow die Hilfeleistung für Prag als selbstverständlich betrachte, immer unter der Voraussetzung, daß die Rote Armee marschieren könne Ende April sickern Gerüchte durch, daß Rumänien ernsthaft mit der Sowjetunion über dieses Problem verhandele Die Reaktion der deutschen Reichsregierung ist bezeichnend. Am 30. April fragt sie offiziell 'n Bukarest an, was es mit den Gerüchten über diese Verhandlungen auf sich habe Der rumänische Außenminister Comnen dementiert zwar dem deutschen Gesandten Fabricius gegenüber diese Nachrichten, aber man gibt zu, daß 7 russische Bomber unbewaffnet nach Prag geflogen und mit rumänischer Erlaubnis auf rumänischem Boden zwischengelandet seien Die deutsche Stimmung gegenüber der Sowjetunion kommt denn auch am 3. -9. Mai 193 8, beim Staatsbesuch Hitlers in Rom, schroff zum Ausdruck. Am 6. Mai nämlich erklärt v. Ribbentrop seinem Kollegen Ciano, man müsse die Sowjetunion mit Unterstützung Japans vernichten Ob in dieser Äußerung des Reichsaußenministers die Anstrengungen Litwinows um Durchmarscherlaubnis der Roten Armee ihren Niederschlag finden? Es scheint so, denn Rußland bemüht sich wirklich intensiv. Am 12. Mai fragt Moskau wieder in Paris an, oh Frankreich nicht in dieser Angelegenheit auf Polen und Rumänien einwirken könne; aber die Antwort Comnens an Paris ist wieder negativ 28). Auch Bonnet vermag, als er am 22. Mai erneut in Bukarest drängt, nicht mehr zu erreichen 29). Rumänien weist auf das polnische Verhalten hin.
Als am 20. Mai 193 8 die Tschechoslowakei mobilisiert, obwohl das Deutsche Reich zu diesem Zeitpunkt keinerlei militärische Maßnahmen, die ein Angriffsunternehmen einleiten konnten, vorbereitete, stand die Entscheidung über Krieg und Frieden auf des Messers Schneide. Wir wissen heute, daß Hitler durch das Triumphgeschrei der Weltpresse, er sei vor dieser entschlossenen Haltung Beneschs zurückgewichen, aufs äußerste gereizt wurde und die Vernichtung des Staates, der es gewagt hatte ihn zu provozieren, als Prestigefrage aufzufassen begann. Es scheint müßig zu sein, in dieser Zeit in den Quellen nach Anzeichen einer deutsch-russischen Verständigung zu suchen. Und dennoch wollen die Gerüchte darüber auch zu diesem Zeitpunkt nicht verstummen. Schon der Ton, mit dem sich der neuernannte russische Botschafter in Berlin, Merekaloff, am 16. Juni 1938 in Moskau von Graf von der Schulen-burg verabschiedete, muß Erstaunen erregen. Er spricht ausdrücklich davon, daß die Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion wachsen und sich festigen würden . Selbst diese Formelhafte Wendung, die auch sonst bei derartigen Gelegenheiten üblich ist, war für den Tiefpunkt des Verhältnisses beider Staaten zuviel, wenn man nicht hinter ihr die Unsicherheit der Sowjetregierung über die Lage, wie wir sie oben skizziert haben, sehen will. Dazu paßt auch, daß die Sowjetunion eine Nachricht des Journalisten Knickerbocker aus Prag, der im Juli 1938 ausdrücklich von einem bevorstehenden deutsch-sowjetischen Paktabschluß wissen will, nicht etwa entrüstet dementiert, sondern erklärt, daß jeder deutsche Vorschlag, der den Weltfrieden fördere, in Moskau willkommen sein werde Diese Formulierung verdient Aufmerksamkeit, denn ähnlich begründete ein Jahr später Stalin den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt Und auch in Paris, durch die Cassandrarufe Coulondres aufgeschreckt, lanciert die französische Regierung einen Artikel in der „Revue des Deux Mondes" vom 1. Juli, in dem gesagt wird, daß nach wie vor Frankreich eine solche Möglichkeit wie ein deutsch-russisches Übereinkommen fürchtet und für realisierbar hält So ist die Eile verständlich, mit der Bonnet versucht, vollendete Tatsachen zu schaffen, das heißt nun aber, die UdSSR in den sich abzeichnenden Konflikt zu verstricken. Und das wieder scheint an der Haltung Polens und Rumäniens zu scheitern. Aber wies nicht die oben erwähnte Überführung russischer Flugzeuge nach Prag einen gangbaren Weg unter Umgehung des Durchmarsches von Landtruppen? Und schien nicht die rumänische Haltung in diesem Fall sehr entgegenkommend? Daß diese Möglichkeit auch in Prag, wohl auf französische Vorstellungen hin, geprüft wurde, zeigen die Gerüchte, die über diese Angelegenheit in der Stadt kursieren und sogar in die offiziellen Berichte des deutschen Gesandten in der CSR Eingang fanden. So sollen am 21. Mai, also auf dem Höhepunkt der „Maikrise" 2000 russische Flugzeuge in der Sowjetunion startbereit gewesen sein Außerdem sollen sich bereits 400 russische Flugzeuge in der Tschechoslowakei befinden, deren Besatzungen in die tschechische Armee ausgenommen worden seien Die Wirklichkeit aber sieht anders aus: Der rumänische König lehnt das Ansinnen Beneschs, einer Luftbrücke in dem notwendigen Umfang zuzustimmen, rundweg ab
Eine gewisse Unsicherheit der russischen Regierung kann also festgestellt werden. Während sie ständig ihre Bereitschaft zur Unterstützung der Tschechoslowakei erklärt, lassen gewisse Bemerkungen und Handlungen von sowjetischen Politikern den Schluß zu, daß ihr an einem Ausgleich mit Deutschland sehr gelegen ist Ihr Pochen auf Bündnistreue war einigermaßen risikolos, denn man wußte natürlich im Kreml ganz genau, daß Polen und Rumänien den Durchmarsch sowjetischer Truppen verweigern würden. Ein schönes Beispiel für diese Haltung der UdSSR finden wir in den letzten Augusttagen des Jahres, als der rumänische Außenminister Comnen endlich den Wünschen Prags Rechnung zu tragen scheint. Die Anzeichen einer akuten Krise waren so deutlich geworden, daß die ganze Welt mit einem Krieg zu rechnen begann, und jede Hilfe, so gering sie auch sein mochte, war für Benesch wertvoll. Als der Außenminister der CSR, Krofta, in Bukarest erneut wegen der Möglichkeit einer Luftbrücke vorstellig wird, erklärt Comnen, daß Rumänien zwar protestieren werde, wenn die Sowjetunion rumänisches Gebiet überfliegen werde, im übrigen aber beide Augen zudrücken wolle Diese Haltung der rumänischen Regierung wurde schnell bekannt, und der deutsche Geschäftsträger in Bukarest berichtet am 9. September, Rumänien habe dem unbewaffneten Lufttransport russischer Flugzeuge ausdrücklich zugestimmt Dies traf zwar nicht zu, aber immerhin bedeutete die rumänische Antwort stillschweigende Duldung, und das war in dieser prekären Situation schon viel. Wer aber nun annimmt, daß Stalin diese Gelegenheit eifrig genutzt hätte, sieht sich enttäuscht. Er verlangt eine formelle Zustimmung der rumänischen Regierung, mit der unter den Umständen überhaupt nicht gerechnet werden konnte, und als diese erwartungsgemäß ausbleibt, beschränkt er sich darauf, Litwinow an den Völkerbund appellieren zu lassen Die Ablehnung ihrer Forderung durch Rumänien bot eben der UdSSR eine Handhabe, nicht zu helfen; die Ernsthaftigkeit aller anderen Anstrengungen wird dadurch äußerst fragwürdig. Es muß aber zugegeben werden, daß die Haltung der Sowjetunion in den Augen der Weltöffentlichkeit gerechtfertigt war.
Mit einem letzten Appell Bonnets an die rumänische Regierung am 11. September, dem Durchmarsch der Roten Armee zuzustimmen und einer erneuten Weigerung Comnens geht diese Phase zu Ende. Deutlich sagt der rumänische Außenminister, daß seine Regierung in diesem Fall mit dem Verlust Bessarabiens, ja sogar mit einem Umsturzversuch rechnen müsse
Die Konferenz von München findet am 29. September statt. Die Großmächte einigen sich, die UdSSR allerdings ist nicht geladen. Und sollte ihre Einstellung gegenüber den Westmächten im Jahre 193 8 auch vom Mißtrauen diktiert worden sein, sollte Litwinow mit seinem System der kollektiven Sicherheit wenigstens ein Ohr Stalins besessen haben, eins war sicher: die Sowjetregierung hatte sich außenpolitisch neu zu orientieren. Sie stand an einem Scheidewege. Wenn wir Coulondre glauben dürfen, so war ein führender Politiker der Sowjetunion schon über diesen Punkt hinaus und wußte um den neuen Kurs. Potemkin sagt am 4. Oktober 193 8 zu dem französischen Botschafter: „Mein armer Freund, was habt ihr da angestellt? Für uns sehe ich keine andere Lösung mehr als die 4. Teilung Polens.“
Ergebnisse
Wir glauben, daß nach der vorstehenden Untersuchung, die bewußt das tschechoslowakische Problem ausführlicher behandelte, festgehalten zu werden verdient, daß auch in einer Zeit, in der man bisher nicht mit Anzeichen einer deutsch-russischen Verständigung rechnen zu müssen Politiker glaubte, die der UdSSR bereits diese Möglichkeit in Erwägung zogen, wenn nicht sogar darauf hinarbeiteten. Deutlich ist aus den wenigen, aber einwandfreien Beispielen zu ersehen, daß Rußland jede Gelegenheit, entschieden von Gerüchten über einen bevorstehenden Pakt mit Hitler abzurücken, nicht nur ungenutzt vorübergehen läßt, sondern sogar durch unklare Formulierungen weitere Verwirrung schafft. Gelegentlich geht diese Taktik so weit, daß offiziellen Vertretern des Deut-sehenReiches gegenüber eine Änderung der russischen Politik angedeutet wird, falls Deutschland will. Deutschland aber weist jeden derartigen Versuch in statu nascendi zurück oder nimmt überhaupt keine Notiz davon. Denn im Gegensatz zur Polenkrise, im Jahre 1939, waren Vorteile, die die ein Paktabschluß mit Stalin bot, gering, die ideologischen Bedenken wogen weitaus schwerer. Wer weiß, wie sehr das Gefühl, im Reich Hitlers ein Bollwerk gegen den Bolschewismus zu besitzen, die Engländer veranlaßte, ihm Konzessionen zu machen? Lord Halifax ist nicht das einzige Beispiel dafür. Die Sowjetunion war kein Nachbar der CSR, sie konnte ohne Übereinkommen mit Polen und Rumänien nicht marschieren, bei deren bekannter Haltung war sie keine unmittelbare Gefahr. Andererseits erwuchsen Stalin aus dem Vorgehen Hitlers keine wesentlichen Nachteile, sie waren jedenfalls nicht so groß, daß Stalin einen Alleingang riskieren konnte. Polen aber, in unbegreiflicher Verblendung, leistete Hitler Schützenhilfe in der Hoffnung, an der Beute beteiligt zu werden.
Für Stalin war das französische Ansinnen äußerst verdächtig; was konnte nicht alles geschehen? Rußland hält auch 1938 alle Türen zu einer Verständigung mit Deutschland offen. Das Deutsche Reich aber ignoriert sie vollständig.
Das Eis bricht
Die maßgebenden Historiker sind sich darin einig, daß erst nach dem Münchener Abkommen von einer beginnenden Annäherung gesprochen werden kann Wir haben die Gründe dafür bereits dargelegt; es darf aber nicht vergessen werden, daß, wie wir gesehen haben, eine gewisse Bereitwilligkeit der Sowjetunion schon vorher bestand. Die Haltung des Deutschen Reiches aber war brüsk ablehnend. Wenn es also nach München zu einer Tauwetterperiode kommt, dann beruht das nicht zuletzt darauf, daß auch Hitler sich mehr und mehr mit der Tatsache vertraut machen mußte, daß die Münchener Konferenz keineswegs für ihn „pleinpouvoir"" bedeutete. Das in seinen Augen unehrliche Handeln Großbritanniens, das unmittelbar nach der Aussprache der führenden Staatsmänner fieberhaft aufzurüsten begann, schien ihm zu beweisen, daß die Westmächte nur Zeit gewinnen wollten, in Wirklichkeit aber mit einer endgültigen Auseinandersetzung rechneten. Das zwang ihn zu äußerster Vorsicht, sonst war, wenn die Sowjetunion feindselig blieb, der von ihm als dilettantisch angeprangerte Zweifrontenkrieg Wirklichkeit. Im Falle der Auseinandersetzung mit England und Frankreich war allerdings auch die Resttschechei ein Gefahrenherd ersten Ranges, und ihre „Liquidierung" wurde in seinen Augen zu einer strategischen Notwendigkeit. Das aber wiederum konnte die Sowjetunion nicht gleichgültig lassen, denn die Karpatho-Ukraine, von anderen Gesichtspunkten zu schweigen, war für Moskau ein heißes Eisen. Daß dieses Problem allgemein überschätzt wurde, zeigte sich erst später.
Es ist nun nicht so, als wenn die Neuorientierung der deutschen Politik gegenüber der UdSSR im Herbst 193 8 bewußt vollzogen wurde, vielmehr geschieht dies wohl mehr emotional, dem Charakter des deutschen Staatschefs adäquat. Man kann also mit Recht sagen, daß der Verständigungswille in Berlin allmählich gewachsen ist Prüfstein für den Ernst beider Seiten, zu einer Übereinkunft zu gelangen, mußten die deutsch-russischen Wirtschaftsverhandlungen sein, die bereits im März 193 8, soweit sie einen neuen Warenkredit betrafen, festgefahren waren 45444). Hier ist ein kurzer Rückblick auf die vorausgehenden Wirtschaftsverhandlungen zwischen den beiden Mächten nützlich. Das deutsche Interesse an Rußland galt vor allem den wertvollen Rohstoffen Holz, Öl, Manganerz und Ölkuchen. Besonders reizvoll war für die deutschen Wirtschaftsexperten, daß die Sowjetunion Gold als Zahlungsmittel anzubieten hatte, bei dem chronischen Devisenmangel des Reiches ein ernstzunehmender Faktor.
Seit 1933 hatte der Präsident der Deutschen Reichsbank der UdSSR ständig Finanzkredite vermittelt, die aber in relativ kleinem Rahmen blieben. Im Jahre 1935 dagegen hatte sich Hjalmar Schacht zu einem größeren Objekt durchgerungen: Dem Leiter der sowjetischen Handelsdelegation Kandeliki war ein Zehnjahreskredit in Höhe von 500 Millionen RM angeboten worden. Damit sollten die Sowjets in Deutschland einkaufen. Bei der tatsächlich eingereichten Warenliste aber wurde es einigen verantwortlichen Stellen in Berlin unheimlich, denn die Wünsche reichten vom Kreuzer über Unterseeboote bis zum Wunsch nach Unterstützung durch Zeiß Jena und die IG Farben. So war Schacht schließlich froh, daß Molotow ihm durch eine Indiskretion die Möglichkeit gab, das deutsche Angebot für nichtig zu erklären Am 29. April 1936 wurde das erste kurzfristige Verrechnungsabkommen unterzeichnet, es wurde am 24. Dezember 1936 bis zum 31. Dezember 1937 verlängert. Obwohl Deutschland mit einer weiteren Verlängerung einverstanden gewesen wäre, melden sich die Russen erst am 1. März wieder. Am 19. Dezember wird ohne weiteres das Jahr 1939 mit einbezogen, und obwohl dies eine Routineangelegenheit war, zeigt sich doch darin eine gewisse Konzilianz beider Seiten.
Wichtiger als Indiz für die eingetretene Entspannung scheint aber der obenerwähnte, im März 1938 eingeleitete Warenkredit zu sein. Erst am 22. Dezember 1938 können ihn Legationsrat Dr. Schnurre und der Russe Skossyrew zum Abschluß bringen. Bedeutsam ist, daß von einem Gesamtbetrag von 200 Millionen RM für sechs Jahre, den das Reich der Sowjetunion gewährt, dreiviertel für kriegswichtige Rohstoffe ausgegeben werden soll! Ein deutliches Anzeichen der Entspannung. Damit aber sind wir bereits mitten im „Frühling“, denn andere Ereignisse von Bedeutung hatten sich abgespielt.
Für den modernen totalitären Staat mit der durch Presse und Rundfunk beeinflußten öffentlichen Meinung, ist die Propaganda ein unentbehrliches Hilfsmittel. Sie vermag unendlich viel, da der Wahrheitsgehalt einer Behauptung hinter dem staatspolitischen Nutzeffekt zurückzutreten hat, andere Informationsmöglichkeiten nur für einen geringen Personenkreis in Frage kommen und so im Laufe der Zeit unter dem massierten Trommelfeuer der Publizistik kein Mensch sich dessen Wirkung entziehen kann. Man schafft Prototypen von politischen oder ideologischen Gegnern, stattet sie mit wenigen, aber einprägsamen Mängeln aus und bringt sie in die Öffentlichkeit. Besonders die Karikatur erweist sich als wirkungsvoll, denn sie lebt von wenigen typischen Merkmalen, erregt Heiterkeit und macht in einem solchen Maße lächerlich, daß alles, was ein solcher „Bedauernswerter" tut, nicht mehr ernst genommen wird, selbst von solchen, die es besser wissen müssen. Als Idealfall für die Propaganda beider Länder, von denen hier die Rede ist, dürfen die Beziehungen zwischen 1933 und 1939 angesehen werden. Denn beide Staaten boten Angriffsflächen in Hülle und Fülle, dann aber konnten die Staatsoberhäupter und andere Politiker leicht karikiert werden, vor allem war es der Bart, der bei Hitler und Stalin von den Zeichnern beider Systeme liebevoll stilisiert wurde.
So viele Vorteile diese Art Propaganda auch bot, in einem Falle, allerdings nur in diesem, war sie gefährlich, dann nämlich, wenn aus dem erbitterten Gegner von gestern über Nacht ein Freund gemacht werden mußte. Dann konnte es geschehen, daß das jahrelang systematisch verdummte Publikum aufhorchte und, was schlimmer war, nachzudenken begann.
Folgerichtig muß, wenn das zutrifft, die Entspannung zwischen zwei totalitären Staaten behutsam damit eingeleitet werden, daß die gegenseitigen Beschimpfungen einer sachlichen Berichterstattung weichen. Und eben das geschah im Herbst 193 8 nach der Münchener Konferenz. Im Oktober vereinbaren Graf Schulenburg und Litwinow, daß Presse und Rundfunk des deutschen Reiches und der UdSSR sich der Angriffe auf die jeweiligen Staatsoberhäupter enthalten sollten Das Datum ist bemerkenswert; die Münchener Konferenz und die Chamberlainerklärung über die für Großbritannien notwendige Aufrüstung tun ihre Wirkung. Auch der deutsche Botschafter in Moskau hält es für richtig, nachzustoßen und benutzt die Lage, um seine Auffassung von den deutsch-russischen Beziehungen in einem Memorandum niederzulegen, das er am 26. Oktober nach Berlin sendet. Den Anlaß bildeten die deutsch-russischen Wirtschaftsgespräche Und tatsächlich scheint man im Auswärtigen Amt aufgeschlossen, der reibungslose Ablauf der oben skizzierten Verhandlungen scheint das zu beweisen.
Aber erst das Jahr 1939 bringt die entscheidende Wendung! Schon beim Neujahrsempfang, am 12. Januar 1939 in der Reichskanzlei, führte Hitler mit dem russischen Botschafter ein herzliches Gespräch Das Aufsehen in diplomatischen Kreisen war groß; bisher hatte Hitler den Vertreter der UdSSR mehr oder weniger geschnitten. Am Tage vorher hatte Merekaloff dem deutschen Auswärtigen Amt den Vorschlag gemacht, den Verhandlungsort für die Wirtschaftsgespräche nach Moskau zu verlegen Ob die überraschende Geste Hitlers damit in Zusammenhang steht? Unmöglich ist es nicht, denn Deutschland akzeptiert am 20. Januar diesen russischen Wunsch. Aber gerade dieses Entgegenkommen führte zu einem Rückschlag, der deutlich zeigte, wie sehr man sich mißtraute; noch war die Vergangenheit zu frisch in Erinnerung. Als Leiter der deutschen Delegation war Legationsrat Schnurre vorgesehen, und er begleitete den Reichsaußenminister nach Warschau, der dort mit der polnischen Regierung in Sachen Korridor sprechen wollte. Von dort aus wollte Schnurre dann nach Moskau reisen; die deutsche Botschaft erwartete ihn am 30. Januar Botschaftsrat Hilger reist ihm nach Warschau entgegen, um Dr. Schnurre über das Moskauer Klima, aber auch über die Person seines Gesprächspartners, des mit 31 Jahren zum Volkskommissar ernannten Mikojan, zu informieren Da macht eine für die deutsche Politik dieser Jahre typische Gefühlsreaktion die Arbeit von Monaten zunichte und droht endgültig Feindschaft zwischen Moskau und Berlin zu säen. Der Grund ist folgender: In großer Aufmachung hatten englische, französische und polnische Blätter von der Reise Schnurres nach Moskau berichtet, man hatte den Geist von Rapallo beschworen und warnend auf die Möglichkeit einer deutsch-russischen Verständigung hingewiesen Das war an sich nichts Neues, aber zu diesem Zeitpunkt mußten derartige Meldungen sich äußerst störend auf die geplanten deutsch-polnischen Korridorverhandlungen auswirken, und der Reichsaußenminister war davon überzeugt, daß es sich hier um ein planmäßiges Störmanöver Moskaus handele, um die Warschauer Gespräche durch diese Indiskretion zu torpedieren. Ribbentrop ruft Schnurre nach Berlin zurück, die Russen aber empfanden diese Wendung . . als einen SMag ins Gesicht . . .“ Moskau hat wohl nichts Derartiges unternommen, aber die deutsche Reaktion erhellt noch einmal die Szene: Man glaubte noch immer daran, daß Stalin das Deutsche Reich in eine Falle locken und bloßstellen wollte. Auch später noch taucht dieser Gedanke wiederholt auf
Trotzdem gehen die Verhandlungen wegen des 2OO-Millionenkredits weiter. Ende Februar übergibt Mikojan Hilger eine Liste mit Wünschen über zusätzliche Lieferung von Kriegsmaterial. Unterzeichnet wurde der Kreditvertrag, über den nun in Berlin weiterverhandelt wurde, wenn auch Hitler ständig mit Mikojan in Fühlung blieb, am 19. August 1939. Er war das Trompetensignal für den Nichtangriffspakt
Man wird deutlich
Der Monat März kann als entscheidend für den weiteren Verlauf des von uns behandelten Ereignisses angesehen werden. Die Weichen werden gestellt, wenigstens einer der beiden Kontrahenten tritt aus der vorsichtigen Reserve heraus und ergreift die Initiative. Stalin äußert sich, wie wir sehen werden, zuerst, und wenn auch anzunehmen ist, daß seine Worte das Ohr dessen, für den sie bestimmt waren, nicht erreichten, so ist zumindest seine plötzliche Sinnesänderung äußerst interessant. Was zwang ihn dazu? Wo liegen die Gründe?
Keitel soll bereits in den ersten Märztagen im Hause eines bekannten Industriellen mit dem sowjetischen Militärattache in Deutschland zusammengetroffen sein, um vorsichtige Fühlung aufzunehmen. Dabei soll bereits von einem möglichen Konflikt mit Polen die Rede gewesen sein, wobei der Militärattache geäußert habe, daß die UdSSR bei einer eventuellen „Revolution“ in Polen nicht indifferent bleiben würde, sie würde dann den an ihre Grenzen stoßenden Teil „reorganisieren“ Man wird dieser Nachricht gegenüber skeptisch sein müssen; die Quelle, der Daily Telegraph vom 30. März 1940, muß zu diesem Zeitpunkt als dubios angesehen werden. Keitel soll Hitler von diesem Gespräch unterrichtet haben, aber dieser wollte nicht auf die Möglichkeiten eingehen Fest steht allerdings, daß Hitler bis zum März 1939 entschlossen war, die Frage des Korridors und der Freien Stadt Danzig friedlich zu lösen. Die Ablehnung des Keitelschen Vorschlags erscheint daher als logisch, wenn sie zutrifft. Es schien ihm der Plan nicht aussichtslos zu sein, Polen in seine antibolschewistischen Pläne zu verwickeln; er soll Beck die Ukraine angeboten haben Erst als Polen abgelehnt habe, sei Hitler den umgekehrten Weg gegangen.
An dieser Nachricht mag, wie gesagt, manches falsch sein, zutreffend aber ist die politische Lage, wie sie hier von den ersten Märztagen umrissen wird. Denn zweierlei zeichnete sich ab und beides ging Sowjetrußland unmittelbar an: die bevorstehende Liquidierung der Resttschechei warf ihre Schatten voraus, aber auch die Lösung des Korridor-problems und der Danziger Frage schien heraufzudämmern. Wie auch immer Polen und Deutschland zu einem Ende kommen würden, für Stalin war die Zeit der Passivität vorbei. Denn eine kriegerische Auseinandersetzung beider Staaten, deren Ausgang für ihn nicht zweifelhaft sein konnte, brachte ihm die Nachbarschaft des radikal-antibolschewistischen Hitlers ein, die Bedrohung der UdSSR wuchs dann ins Riesenhafte. Einigte man sich aber in Warschau und Berlin, so war auch das keine Beruhigung, denn freundschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Polen hatten einen antisowjetischen Beigeschmack, hier verstand man sich über die Tagespolitik hinaus. Das aber war bei der hochgezüchteten deutschen Rüstung doppelt gefährlich. Für den Diktator im Kreml gab es nur zwei Wege, er ging sie mit grimmiger Entschlossenheit. Sein Vorteil war, daß sie eine Strecke weit nebeneinanderführten, wann sie sich trennen würden, war noch nicht zu erkennen. Der erste Weg hieß Verständigung mit Hitler, der zweite aber Eintritt in das Einkreisungssystem der Westmächte.
Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der Anstoß zu einer grundlegenden Änderung der Politik der beiden Großmächte von der Sowjetunion ausging, wie immer auch das Vorgeplänkel ausgesehen haben mag. Man muß die tiefe Beunruhigung verstehen, die die verantwortlichen Führer Rußlands ergriff, als der deutsche Einmarsch in die CSR unmittelbar bevorstand. Stalin sah sich Auge in Auge mit seinem erbittertsten Gegner, ohne doch hoffen zu dürfen, Unterstützung durch andere Mächte zu erhalten. Er war praktisch isoliert. Das war um so bedenklicher, als Rußland, wie eben gezeigt wurde, bereit war, vor München militärisch auf Seiten der Westmächte einzugreifen. Wie auch immer eine solche Unterstützung Prags ausgesehen haben würde, exponiert hatte sich Stalin auf jeden Fall. München hatte gezeigt, daß er auf Dank nicht hoffen durfte. In den ersten Märztagen hatte die immer glänzend orientierte Sowjetdiplomatie zuverlässige Nachrichten über die bevorstehende deutsche Aktion, sie zögerte nicht, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Am 10. März 1939, also noch vor dem Besuch Tisos in Berlin, der erst am 13. erfolgte, wies Stalin in seiner berühmten Rede vor dem XVIII. Parteitag der KPdSU die Gerüchte über deutsche Annexionspläne zurück Wörtlich führte er aus: „Die Sowjetunion, muß sich davor hüten, von Kriegshetzern, die es gewöhnt sind, daß andere ihnen die Kastanien aus dem Feuer holen, in Konflikte hineingezogen werden.“ Diese Wendung hat nur Sinn, wenn sie an die Berliner Adresse gerichtet war. Gleichzeitig bedeutet sie eine unmißverständliche Drohung für die Westmächte sie zeigt aber auch, daß Stalin sie und die CSR bereits abgeschrieben hat, wenigstens, soweit es den bevorstehenden deutschen Einmarsch in diesen Staat betrifft. Im übrigen saß Stalin nun in der Hinterhand; wenn er richtig kalkuliert hatte, kamen beide Parteien auf ihn zu. Er hatte dann die Möglichkeit zu wählen; je nach der Höhe des Angebotes konnte er sich entscheiden. Als Stalin am 15. März vor demselben Gremium erklärte, „für die Sowjetunion sei eine realistischere Politik durchaus Möglich . . .“, horchte man auch in deutschen diplomatischen Kreisen auf Dieses Datum bezeichnet die Gründung des Protektorats Böhmen und Mähren! Auch in Berlin zog man, wenn auch auf andere Weise, Konsequenzen. Die Reaktion der Westmächte auf den Bruch des Münchner Abkommens erschien zwar nach außen hin lahm, aber hinter den Kulissen begann man sich auch in Deutschland ernsthafte Sorgen zu machen. Es schien der Reichsregierung geraten, sich nach Bundesgenossen umzusehen, um die Einkreisung zu neutralisieren oder gar zu verhindern. Man war allerdings noch immer davon überzeugt, daß sich die „Plutokratien" nicht schlagen würden, aber man wußte um Londoner Bemühungen, wenigstens den diplomatischen Druck zu verschärfen.
Es kann als sicher gelten, daß Hitler von Stalins Rede, die so bedeutsam war, keine Kenntnis hatte Aber da gerade um diese Zeit Entschlüsse von äußerster Tragweite gefaßt werden mußten, fand er auch ohne Wissen um die russische ausgestreckte Hand die richtige Einstellung. Diese mußte vorerst darin liegen, niemanden, auch nicht Moskau, unnötig zu vergrämen, man hatte auf diesem Gebiet vorerst genug getan. Und es stand fest, daß für die Zukunft die deutsche Außenpolitik revidiert werden mußte. Mitte März hoffte Hitler immer noch, ja sogar mehr denn je, Polen von den Westmächten zu trennen, denn die Haltung Becks in der tschechoslowakischen Frage stempelte ihn zum Mitschuldigen und erregte in London größten Unwillen. In der Vorstellung des deutschen Diktators bieten sich ihm, um es noch einmal zu sagen, zwei Wege: Erstens ein Freundschaftspakt mit Polen, der ihm den Rücken gegenüber den westlichen Demokratien freihalten würde zweitens ein Bündnis mit der Sowjetunion, um die Drohung eines möglichen polnischen Flankenstoßes, falls sich England und Frankreich doch zum Krieg entschlössen, zu neutralisieren. Es ist nun so, daß sich wohl Hitler rein national diese Lösungsmöglichkeiten noch nicht zu eigen gemacht hatte, aber im Unterbewußtsein scheinen sie bereits vorhanden. Der erste Weg schien den Prinzipien der nationalsozialistischen Ideologie zu folgen, aber am 21. März 1939 stellte sich nach einem Gespräch zwischen Reichsaußenminister v. Ribbentrop und dem polnischen Botschafter Lipski heraus, daß die englische Garantie, die unmittelbar bevorstand, die Tür nach dem Lande eines Pilsudskis, den Hitler persönlich sehr verehrte verschloß So wird sich denn wohl bei Hitler der zweite Gedanke immer mehr durchgesetzt haben, zumal die Anfang April in Moskau beginnenden Gespräche zwischen den Botschaftern der Westmächte und dem Kreml erkennen ließen, daß höchste Eile geboten war
Ende März 1939 läßt Hitler denn auch seine Gedanken durchblicken.
Als General Brauchitsch ihn besucht, fragt er ihn lächelnd, nachdem er ihn zum Platznehmen aufgefordert hat, was er von einem Staatsbesuch des deutschen Reichskanzlers in Moskau halte? Er sei sicher, daß Brauchitsch diese Frage unerwartet komme Wir können annehmen, daß diese Bemerkung nach dem Gespräch Ribbentrop-Lipski gefallen ist, hier liegt also der Zeitpunkt, an dem wir belegen können, daß Hitler sich ernsthaft mit dem Gedanken der Revision der deutsch-russischen Beziehungen beschäftigt. Ein weiteres Indiz folgt unmittelbar: Am 1. April 1939 spricht Hitler anläßlich des Stapellaufs des Schlacht-schiffs „Tirpitz“. Er vermeidet jegliche Beschimpfung der UdSSR und sagt, daß das Reich auf die Dauer die Einkreisungspolitik der Westmächte nicht hinnehmen werde Nun ist diese Äußerung recht unverbindlich, da man sich theoretisch eine ganze Reihe von Maßnahmen gegen diese Drohung vorstellen kann. Aber realpolitisch, also praktisch gesehen, bleibt doch nur die Möglichkeit, daß Hitler sich mit dem Gedanken trug, eine Großmacht aus der sich aufbauenden Front her-auszubrechen. Daß das nicht Frankreich und auch nicht England sein konnten, obwohl Versuche dazu bis in die letzten Friedenstage hinein unternommen worden zu sein scheinen, war anzunehmen. Es bleibt also nur die UdSSR übrig, da deren Mitwirkung bei der geplanten militä-. rischen und diplomatischen Initiative noch nicht gesichert war. Es scheint also, als ob Hitler damals daran dachte, mit Stalin ins Gespräch zu kommen. Und auch Moskau tut etwas, um die Dinge in Fluß zu halten. Am 4. April beschuldigt die Prawda die Westmächte, das Reich zum Angriff auf die Ukraine zu ermuntern Da die sowjetische Presse stets das Sprachrohr Stalins war, läßt diese Mitteilung aufhorchen.
Am 6. April 1939 kündigt Chamberlain den bilateralen Beistandspakt mit Polen im Unterhaus an Damit war für Hitler die Entscheidung gefallen, welchen Weg er gehen sollte. Immer deutlicher wurde ihm von diesem Zeitpunkt an, daß nur die Verständigung mit Rußland ihm die Chance gab, der Einkreisung zu entgehen. Es hätte allerdings auch die Möglichkeit gegeben, auf weitere Eskapaden im mittel-und osteuropäischen Raum zu verzichten, aber davon war keine Rede. Und es scheint klar zu sein, daß die entscheidende Wendung zu grundsätzlicher Verständigungsbereitschaft mit Stalin, die Hitler unserer Ansicht nach eben damals vollzog, in die Zeit von Mitte März 1939 bis Anfang April 1939 fällt. So fehlt denn auch in Hitlers großer Rede vom 28. April vor dem Reichstag wiederum . . der schon traditionell gewordene Hinweis auf die feindliche Haltung der Sowjetunion“. . , Auch Stalin will sicher gehen. Zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt erscheint am 17. April 1939 im Auswärtigen Amt bei Staatssekretär v. Weizsäcker der russische Botschafter Merekaloff Wenn man auch annimmt, daß Astachoff der eigentliche Träger der sowjetischen Politik in Deutschland war, so scheint es Stalin doch jetzt an der Zeit, durch normale diplomatische Kanäle die Neuorientierung seiner Politik zu unterstreichen und zu legalisieren. Offiziell will Merekaloff nur vom deutschen Staatssekretär wissen, wie sich in Zukunft die noch ausstehenden Lieferungen der tschechoslowakischen Skodawerke an die UdSSR abwickeln werden, nachdem Deutschland nunmehr Herr dieser Anlagen ist. Die Angelegenheit ist im Rahmen dessen, was bisher ohne das persönliche Erscheinen des Botschafters verhandelt worden war, zweitrangig, zumindestens aber rechtfertigt sie nach den bisherigen Praktiken die Aufgabe der diplomatischen Zurückhaltung nicht. So weiß auch Staatssekretär von Weizsäcker gleich Bescheid und hängt seinen Köder aus: Die Lieferungen seien doch wohl nun problematisch geworden, da die Sowjetunion sich mit England und Frankreich über einen Luftpakt unterhalte Da läßt Merekaloff, nachdem er noch eine Frage über die deutsche Auffassung von der Lage in Mitteleuropa gestellt hatte, die Maske fallen: er fragt „plötzlich", was Deutschland vom deutsch-russischen Verhältnis halte. Weizsäcker erklärte etwas allgemein, daß das Reich Interesse an befriedigendem Wirtschaftsaustausch habe, dann aber läßt er einfließen, daß die Sowjetunion die Eskapaden der Westmächte „nicht ganz“ mitmache Der Sowjetbotschafter versteht und erklärt, daß aus normalen Beziehungen sich auch bessere entwickeln könnten die Ideologie spiele keine Rolle. Zum Abschluß erwähnt er, daß er in den nächsten Tagen beabsichtige, nach Moskau zu fahren, auch das ist eine unüberhörbare Aufforderung, ihm Material im gewünschten Sinne mitzugeben, um es seiner Regierung vorlegen zu können. Man war ins Gespräch gekommen.