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Wirtschaftsund sozialpolitische Entwicklung in der Sowjetunion seit 1953 | APuZ 40/1960 | bpb.de

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APuZ 40/1960 Wirtschaftsund sozialpolitische Entwicklung in der Sowjetunion seit 1953 Die deutsch-russischen Beziehungen 1939-1941

Wirtschaftsund sozialpolitische Entwicklung in der Sowjetunion seit 1953

GANGOLF PFLÜGER

I. Die Situation vor Stalins Tod

Abbildung 1

1. Die wirtschaftliche Lage

Die Sowjetunion hatte durch den 2. Weltkrieg erhebliche wirtschaftliche Verluste erlitten. Die Schäden konnten jedoch schneller als von der Sowjetführung erwartet beseitigt werden. Seit etwa 1950 trat dagegen eine deutliche Stagnation der wirtschaftlichen Entwicklung ein, über die auch hohe Indexziffern nicht hinwegtäuschen konnten. Die Gründe dafür waren: a) Die übermäßige und einseitige Zentralisierung der Planung, Lenkung und Kontrolle des gesamten Wirtschaftsablaufes in den Fachministerien und anderen Zentralbehörden in Moskau. b) Die daraus resultierende starkeVerbürokratisierung des Wirtschaftsapparates, seine Schwerfälligkeit und Unelastizität, welche der persönlichen Initiative kaum noch Raum zur Entfaltung ließen. c) Die trotz Wiederaufbau große technische Rückständigkeit des Produktionsapparates, der sich — abgesehen von einigen Renommierbetrieben — in seiner Ausstattung und Arbeitsweise nicht mit den Verhältnissen im Westen messen konnte. d) Die ungleichmäßige Entwicklung der Volkswirtschaft durch einseitige Bevorzugung der Grund-und Schwerindustrie und Vernachlässigung der Konsumgütererzeugung und Landwirtschaft. Selbst solch lebenswichtige Produktionszweige wie das Verkehrswesen, die Energieerzeugung, der Fahrzeugbau und die organische Chemie standen im Schatten der Entwicklung der Gesamtwirtschaft.

e) Die mangelnde Arbeitsleistung und Spezialisierung innerhalb der Industrie, hervorgerufen durch die Tendenz eines jeden Betriebes und eines jeden Fachministeriums, -selbstgenügsam und autark zu sein, um nicht von den Lieferungen anderer Unternehmen bzw.

Fachministerien abhängig zu werden, deren häufiges Ausbleiben die Planerfüllung gefährden könnte.

Die Folge dieser Situation war eine geringe Produktivität der Volkswirtschaft und ein erschreckend niedriger Lebensstandard bei der Masse der Bevölkerung. Die Bereitschaft der Arbeitnehmer zur Mitarbeit war dementsprechend gering und die Tendenz zur Obstruktion, zur Passivität und zur persönlichen Bereicherung stark ausgebildet.

2. Die gesellschafts-und sozialpolitische Lage

Die Erfordernisse der forcierten Industrialisierung der Sowjetunion seit Beginn der dreißiger Jahre, insbesondere die starke Lohndifferenzierung, hatten zur Herausbildung einer privilegierten Schicht der Verwaltungs-und Wirtschaftsintelligenz geführt. Diese war bestrebt, ihre Position nicht nur zu bewahren, sondern noch zu festigen und auszubauen. Der riesige zentralistische Verwaltungs-und Wirtschaftsapparat, dessen Spitzen sich in den Ministerien in Moskau konzentrieren, verlieh der neuen Fachintelligenz zudem eine wachsende Machtstellung im Staatswesen, welche sich weitgehend von der Parteikontrolle emanzipiert hatte. Sie trat in Konkurrenz zu den übrigen Machtsäulen des Sowjetstaates, der Partei, der Sicherheitspolizei und der Wehrmacht, die allein durch die alles überragende Autorität Stalins zusammengehalten wurden.

Die Lage auf dem Gebiete der Sozialpolitik war gekennzeichnet durch eine strenge Arbeitsdisziplin, deren Verletzung als kriminelles Vergehen geahndet wurde. Durch die Führung von Arbeitsbüchern, erheblicher Benachteiligung in der Sozialversicherung beim Arbeitsplatzwechsel und verschiedene Möglichkeiten der Arbeitsverpflichtungen war die Fluktuation der Arbeitskräfte auf ein Minimum reduziert. Zwangsarbeit spielte vor allem bei der wirtschaftlichen Erschließung klimatisch ungünstiger Gebiete eine bedeutende. Rolle.

Die Lohnfestsetzung erfolgte für die Arbeitnehmer in der Produktion zum größten Teil nach dem Normensystem. Die Normen waren oft veraltet und willkürlich festgesetzt und deshalb eine ständige Quelle der Ungerechtigkeit und des passiven Widerstandes der Arbeitnehmer.

Die Folge war eine im Vergleich mit dem Westen sehr niedrige Arbeitsproduktivität, die durch antreiberische Maßnahmen, wie sozialistischen Wettbewerb und Stachanowbewegung, nur in geringem Maße gehoben werden konnte. Die Gewerkschaften vertraten in keiner Weise die Belange der Arbeitnehmer, sondern bestätigten sich fast ausschließlich als Handlanger des Staates und der Partei zur Steigerung der Arbeitsleistung. Von einer Teilnahme der Arbeitnehmer an der Unternehmensleitung konnte keine Rede sein.

II. Die Entwicklung nach Stalins Tod

Den Nachfolgern Stalins war von vornherein klar, daß das sowjetische Wirtschaftssystem weitgehender Reformen bedurfte, um seine Leistungsfähigkeit und Produktivität zu heben, seine technische Rückständigkeit zu überwinden und die Disproportionen in der Entwicklung der einzelnen Produktionszweige zu beseitigen. Nur so konnte die Sowjetunion hoffen, ökonomisch Anschluß an den Westen zu finden und das alte Ziel der wirtschaftlichen Überholung des Westens zu erreichen. Ferner erwies es sich als unumgänglich notwendig, den Lebensstandard und die materiellen Anreizmittel für die arbeitende Bevölkerung zu erhöhen, um ihre Passivität zu überwinden. Dies um so mehr, als die zunehmende Reife und Kompliziertheit der sowjetischen Wirtschaft eine stärkere Bereitschaft der Arbeitnehmer zur Mitarbeit und eine größere Entfaltung und Einspannung der persönlichen Initiative erforderten.

1. Dezentralisierung der Wirtschaftslenkung

Einer der wichtigsten und entscheidenden Schritte zur Erhöhung der Effizienz und Elastizität der Sowjetwirtschaft war die Dezentralisierung der Wirtschaftslenkung vom Mai 1957. Der größte Teil der zentralen Fachministerien in Moskau wurde aufgelöst und ihre Kompetenzen in der Leitung der ihnen unterstehenden Industriebetriebe und Baustellen auf 105 regionale Volkswirtschaftsräte (Sownarchose) übertragen. Schon in den Jahren vorher waren zahlreiche Unternehmen aus der Zuständigkeit der zentralen Fachministerien in diejenigen der Unionsrepubliken überführt worden.

Zugleich wurde der Übergang von der Totalplanung auf die Rahmenplanung vollzogen, welche nur noch die grundlegenden Sollziffern der einzelnen Produktionszweige festsetzt, während die Detailplanung den unteren Instanzen überlassen bleibt.

Die Dezentralisierung der Wirtschaftslenkung, die sich in der Praxis zu einer Dekonzentration entwickelte, bedeutete aber keine Verselbständigung der Unternehmen, welches die logische Konsequenz gewesen wäre Auch an eine stärkere Einführung des Marktmechanismus — wie etwa in Jugoslawien — ist nicht gedacht. Die Planung erfolgt weiterhin zentral, obwohl durch die Mitwirkung der unteren Instanzen eine größere Berücksichtigung der lokalen Gegebenheiten erfolgt. Schließlich ist auch die Kontrolle des Wirtschaftsablaufes nach anfänglichen Experimenten wieder an zentraler Stelle konzentriert worden.

Die Dezentralisierung ist deshalb ökonomisch gesehen eine halbe Maßnahme geblieben, und der wirtschaftliche Erfolg blieb nach anfänglichen Impulsen hinter den Erwartungen zurück. Die regionalen Volkswirtschaftsbetriebe streben genauso wie die Fachministerien zuvor nach. Autarkie und Selbstgenügsamkeit und behindern dadurch weiterhin die Arbeitsteilung und Spezialisierung innerhalb der Volkswirtschaft.

Es bedeutet deshalb auch keine Überraschung, daß neuerdings wieder eine Bewegung zur Rekonzentration der sowjetischen Wirtschaftsverwaltung eingesetzt hat. Im Juni 1960 wurde in der RSFSR, der größten sowjetischen Unionsrepublik, ein „Allrussischer Wirtschaftsrat" geschaffen, der den 70 regionalen Volkswirtschaften der RSFSR übergeordnet ist. Die Aufgabe des neuen Organs ist die Koordinierung der Arbeit der regionalen Volkswirtschaftsräte, die Kontrolle der Planer-füllung und die Überwachung der Staatsdisziplin. Kurz darauf erfolgten ähnliche Maßnahmen in den übrigen Unionsrepubliken, welche mehrere regionale Volkswirtschaftsräte aufweisen, und zwar in der Kasachischen und in der Ukrainischen SSR. In der Usbekischen SSR sind die bisherigen vier Volkswirtschaftsräte zu einem gemeinsamen Organ zusammengefaßt worden.

2. Stärkung der Parteikontrolle

Die Hauptgründe für die Dezentralisierung der Wirtschaftslenkung im Jahre 1957 lagen im Grunde auch auf nichtökonomischem Gebiet: Abgesehen von strategischen Erwägungen war sie in erster Linie ein Schlag der Parteiführung unter Chruschtschow gegen die zu größerem Einfluß gelangten Wirtschaftsführer und eine Maßnahme zur Wiederherstellung der vollen Vorherrschaft der Partei auf wirtschaftlichem Gebiet. Diese Vorherrschaft war bereits unter Stalin durch den Ausbau der Fachministerien zu Hochburgen des Fachwissens, bei denen die Partei nicht mehr viel dreinzureden hatte, in Frage gestellt worden. Nach Stalins Tod hatte sich die Stellung der Wirtschaftsführer noch weiter gefestigt, da auf Grund der Notwendigkeit wirtschaftlicher Reformen ökonomische Gesichtspunkte gegenüber ideologisdhren und parteipolitischen Erwägungen zunächst in den Vordergrund traten. So stellte die Dezentralisierung den ersten entscheidenden Schritt dar, die wirtschaftliche Intelligenz wieder an die Zügel zu nehmen, denn die lokalen Partennstanzen erhielten von Anfang an die Anweisung zur Beaufsichtigung und Kontrolle'der entsprechenden Organe der regionalen Wirtschaftsverwaltung.

Der nächste Schritt innerhalb dieser Entwicklung bildete die Gründung der „ständigen Produktionskonferenzen“ innerhalb der Betriebe im Sommer 195 8, eine Art Instrument der Mitbestimmung, in denen neben Angehörigen der Belegschaft, Vertreter der Partei und der Gewerkschaften sitzen. Die erklärte Aufgabe dieser Gremien war die Bildung eines Gegengewichtes gegen die sich oft allzu selbständig gebärdenden Betriebsdirektoren. Aber offenbar haben sich die „ständigen Produktionskonferenzen“ nicht bewährt, da sie kaum noch erwähnt werden.

Ihre Aufgaben übernahmen die sehr viel wirksameren betrieblichen Parteikontrollkommissionen, deren Gründung von Chruschtschow auf dem Juni-Plenum 1959 des ZK der KPdSU mitgeteilt wurde. Damit wurde die sowjetische Wirtschaft bis zur untersten Instanz einer lückenlosen Aufsicht und Kontrolle der Partei unterworfen, wie sie in diesem Umfang seit Beginn der Industrialisierung, zu Anfang der dreißiger Jahre, nicht mehr bestanden hatte. Die Voraussetzung für die Etablierung dieser lückenlosen Kontrolle stellt die Heranbildung eines neuen Parteifunktionärtyps dar, der mit der intensiven ideologischen und parteipolitischen Schulung die wirtschaftliche Ausbildung und das Verständnis für ökonomische Zusammenhänge verbindet. Dennoch ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die Parteifunktionäre bei der Ausübung ihrer Obliegenheiten ideologische und politische Erwägungen vor solche ökonomischer Art stellen werden.

So betrachtet stellt die Wiederherstellung der vollen Parteikontrolle innerhalb der sowjetischen Wirtschaft eine Gegenbewegung gegen die andere große Tendenz der Nachstalinzeit, der Rationalisierung und Modernisierung der Wirtschaft dar, dazu geeignet, viele positive ökonomische Ergebnisse der letzteren wieder aufzuheben bzw. zu neutralisieren.

3. Ideologische und machtpolitische Komponente der Wirtschaftspolitik

Wie stark das ideologisch-politische Element in der sowjetischen Wirtschaftspolitik vorherrscht, zeigt auch die offizielle Zielsetzung des laufenden Siebenjahresplans (1959— 65). Derselbe soll in erster Linie dazu dienen, einen entscheidenden Schritt bei der Schaffung der materiell-technischen Basis für den Übergang zum Kommunismus, dem gesellschaftspolitischen Endzustand des Marxismus-Leninismus, zurückzulegen. Ferner soll die Produktion der UdSSR soweit erhöht werden, daß bis etwa 1970 die USA in der Pro-Kopf-Erzeugung eingeholt und überholt werden können. Auf die konkreten Möglichkeiten zur Realisierung dieser Forderungen kann hier nicht näher eingegangen werden. Zumindest beanspruchen die Sowjets, daß der Ostblock bis zum oben genannten Zeitpunkt über die Hälfte der Weltproduktion stellt. Damit werde die Überlegenheit der sozialistischen Wirtschaft über die „kapitalistische" in einer entscheidenden Phase der Menschheitsgeschichte unter Beweis gestellt. Als des sowjetischen Siebenjahresplanes wird die Frage des Zeitgewinns im wirtschaftlichen Wettbewerb mit dem „Kapitalismus“ hingestellt. Hierin wird die machtpolitische Komponente neben der ideologisch-politischen besonders deutlich.

Darauf deutet auch die Ankündigung eines neuen sowjetischen 20Jahres-Perspektivplanes hin. Nach den Worten Chruschtschows, Ende Juni 1960, soll dieser auf dem Anfang 1961 stattfindenden 22. Parteikongreß der KPdSU als Kern des neuen Parteiprogramms vorgelegt werden und die Richtlinien für die Errichtung der kommunistischen Gesellschaft enthalten. Es dürfte sich bei diesem angekündigten Perspektivplan demnach nicht so sehr um einen neuen noch ehrgeizigeren Mehrjahresplan handeln, der an die Stelle des geltenden Siebenjahresplanes tritt, sondern vielmehr um ein ideologisch-politisches Programm und damit ein Vermächtnis Chruschtschows für den weiteren Aufbau der kommunistischen Gesellschaft. Durch Verkündung des Stadiums des „entfalteten Aufbaus des Kommunismus“ auf dem 21. Parteitag der KPdSU, ist die Epoche des Übergangs zum kommunistischen Endzustand bereits Anfang 1959 eingeleitet worden.

Dabei bleibt jedoch die maximale Produktionserhöhung eines der Hauptziele der weiteren Planung, da eine Überfülle an allen Erzeugnissen eine der wichtigsten Voraussetzungen für den endgültigen Über-gang zum Kommunismus ist. Chruschtschow betonte in diesem -Zusam menhang, daß die steigende Wirtschaftsmacht des „sozialistischen Lagers" eine zunehmende Wirtschaftshilfe an die neutralen Länder ermögliche, das Prestige und die Anziehungskraft des Kommunismus in der Welt erhöhe und schließlich eine Hauptvoraussetzung für den Sieg des Kommunismus im Weltmaßstab sei.

4. Rationalisierung des Wirtschaftsapparates

a) Beseitigung von Disproportionen Der erste großangelegte Versuch, einen oder mehrere der bis dahin vernachlässigten Produktionszweige der sowjetischen Volkswirtschaft auf das allgemeine Niveau zu heben, stellte der „Neue Kurs“ Malenkows dar, der 195 3 eine stärkere Entwicklung der Konsumgüterherstellung auf Kosten der Schwerindustrie vorsah. Der „Neue Kurs“ war jedoch eines der Hauptargumente Chruschtschows gegen Malenkow und führte maßgeblich zum Sturz des letzteren vom Posten des Regierungschefs im Februar 1955, wonach der Vorrang der Schwerindustrie wiederhergestellt wurde. Doch fiel die Konsumgütererzeugung seitdem nie mehr ganz in die Aschenbrödelrolle zurück wie unter Stalin. Neuerdings gewinnt sie sogar ständig mehr an Bedeutung, ein Beweis für die nicht mehr zu übergehenden wachsenden Ansprüche der sowjetischen Verbraucher. Im Siebenjahresplan (1959— 65) sind mit 80— 85 Mrd. Rubel rund doppelt so viel Investitionsmittel für die Entwicklung der Konsumgüter-und Nahrungsmittelindustrie bereitgestellt worden wie in den 7 Jahren zuvor. Neuerdings hat die Sowjetregierung noch zusätzlich 25— 30 Mrd. Rubel für diesen Zweck bewilligt. Chruschtschows Hauptaugenmerk galt ferner seit 1953 der Fortentwicklung der in besonderem Maße rückständigen Landwirtschaft, die jedoch anschließend gesondert behandelt wird.

Seit 195 8, insbesondere seit dem Anlaufen des Siebenjahresplanes (1959— 65), erfolgte auch innerhalb der Industrie die Beseitigung von Disproportionen. So werden die bis dahin vernachläßigten Zweige der Erdöl-und Erdgasgewinnung, der organischen Chemie, des Verkehrswebens und des Fahrzeugbaus besonders gefördert. Dem Energieengpaß soll ferner durch stärkere Umschaltung des Bauprogramms von den kapitalaufwendigen Wasserkraftwerken auf schnell und in größerer Verbrauchernähe zu errichtende Wärmekraftwerke gesteuert werden. Auch die großen Unterschiede in der technischen Ausstattung und Arbeitsweise der einzelnen Industriebetriebe, die auf dem Juni-Plenum 1959 des ZK der KPdSU erneut beleuchtet wurden, sollen beschleunigt überwunden werden. Die Ursachen für diese Ungleichheiten sind in dem Fehlen jeglichen Wettbewerbs, dem Vorherrschen behördlichen Denkens in der Wirtschaft und in der Isolierung der Sowjetindustrie vom Ausland zu suchen. b) Stärkere Erschließung der Ostgebiete Eine augenfällige Disproportion der sowjetischen Volkswirtschaft beruht darin, daß etwa 90% der festgestellten Rohstoff-und Energiereserven des Landes östlich des Urals liegen, dort aber bislang nur rund 20% der Bevölkerung wohnen bei entsprechend geringer Erschließung und Produktionskraft der Ostgebiete. Diese ungleiche Verteilung belastet das sowjetische Transportsystem in unvorstellbarem Maße. Ferner stellt die forcierte wirtschaftliche Erschließung des Raumes östlich des Urals die Voraussetzung für die schnelle Fortentwicklung der Gesamt-wirtschaft dar. Der Siebenjahresplan (1959— 65) konzentriert deshalb in viel stärkerem Maße als seine Vorgänger seine Bemühungen auf die wirtschaftliche Entwicklung der sowjetischen Ostgebiete, indem dort 40 % der vorgesehenen Kapitalmittel investiert werden sollen. Allerdings sind die Anfangsinvestitionen in Sibirien wegen der schwierigen klimatischen und verkehrsgeographischen Verhältnisse weniger rentabel als in der europäischen Sowjetunion. Der Zwang zu entsprechend höheren Aufwendungen zehrt deshalb an den ohnehin stark beanspruchten Kapitalmitteln der UdSSR und verschärft die Kapitalknappheit des Landes. Auch leiden die Gebiete östlich des Urals unter starkem Arbeitskräftemangel. c) Modernisierung und Mechanisierung der Industrie Abgesehen von der forcierten Erschließung der Ostgebiete sollen von dem im Siebenjahresplan (1959— 65) vorgesehenen industriellen Produktionszuwachs von insgesamt 80 % etwa % durch Modernisierung und weitere Mechanisierung der vorhandenen Anlagen etzielt werden, während in den Plänen zuvor die geplante Zunahme vornehmlich durch die Ausweitung des Produktionsapparates erreicht wurde. Das bedeutet, daß in der UdSSR an die Stelle der extensiven Wirtschafts-und Produktionsweise nunmehr die intensive getreten ist. Bedingt ist dieser Wandel durch den inzwischen erreichten Entwicklungs-und Reifegrad der sowjetischen Wirtschaft, die zu einem hochkomplizierten Gebilde geworden ist.

Analog zu den westlichen Industrieländern hat auch in der Sowjetunion die zweite industrielle Revolution in Form der Automatisierung der Produktionsvorgänge Eingang gefunden. Ihrer Einführung in großem Maßstab stellen jedoch die mangelnde Arbeitsteilung und Spezialisierung innerhalb der Sowjetwirtschaft, die systembedingt sind, ernste Hindernisse entgegen, da sie die Serienproduktion hemmen, welche die Voraussetzung für jede Automatisierung der Produktionsvorgänge ist.

Der erhöhte Reifegrad der sowjetischen Industrie und die damit verbundenen wachsenden Schwierigkeiten lassen auch das Wachstumtempo der Sowjetwirtschaft absinken. Gefördert wird dieser Prozeß durch die wachsende Kapitalknappheit und den Mangel an qualifizierten Fachkräften der mittleren Kategorie, wie Facharbeiter, Meister und Obermeister. Die durchschnittliche jährliche Zuwachsrate der Industrieproduktion, die noch 195 5 — 12 °/o betrug, ist deshalb im Siebenjahresplan auf 8, 6 °/o festgesetzt worden. Dennoch ist der absolute jährliche Zuwachs entsprechend dem hohen Produktionsniveau noch immer beträchtlich und muß sehr ernst genommen werden.

5. Umbau der Landwirtschaft

Die sowjetische Landwirtschaft war bei Stalins Tod, im März 1953, besonders rückständig. Die Erträge waren seit der Kollektivierung nur wenig gestiegen, und der Viehbestand lag unter dem Niveau von 1916, wie von Chruschtschow auf dem September-Plenum 195 3 des ZK der KPdSU mitgeteilt wurde. Chruschtschow betrachtete seit diesem Zeitpunkt die Agrarpolitik als eines seiner wichtigsten Betätigungsgebiete. Die dringend notwendige Steigerung der Agrarerzeugung versuchte er auf drei Wegen zu erreichen: a) durch Erhöhung der materiellen Anreizmittel mittels Hebung der Kolchoseinkommen, b) durch die Ausdehnung der Anbaufläche im Wege der Neulandgewinnung und c) durch die Änderung der betriebswirtschaftlichen Struktur in der Landwirtschaft. a) Erhöhung der Kolchoseinkommen Die Entlohnung der Kolchosbauern besteht in der Beteiligung am Kolchosgewinn, der nach Ableistung aller Staatsverpflichtungen übrig-bleibt. Die Zuteilung erfolgte im allgemeinen nur einmal im Jahr und zum größten Teil in Natura. Das Einkommen der Kolchosbauern lag im Durchschnitt weit unter dem der Industriearbeiter. Erst die Erlöse aus der Privatnebenwirtschaft sowie aus der privaten Viehhaltung ermöglichten den Bauern in den meisten Fällen überhaupt eine Existenz. Ihre Arbeitsbereitschaft auf den Kolchosfeldern war entsprechend gering. Zur Erhöhung der Kolchoseinkünfte wurden ab September 1953 die Ablieferungspreise an den Staat mehrfach angehoben und die Steuern gesenkt. 1957 wurden ferner die Zwangsablieferungen für die Erzeugnisse aus der Privatnebenwirtschaft aufgehoben. Im Juli 1958 wurden auch die Zwangsablieferungen für die Kolchosen abgeschafft und die Preise auf einem mittleren Niveau zwischen den ehemaligen Zwangsablieferungs-und Aufkaufpreisen fixiert. Regional erfolgte eine gewisse Differenzierung, durch die klimatisch und bodenmäßig begünstigte Kolchosen benachteiligt und arme Kolchosen bevorzugt wurden. Auf diese Weise fand eine Umverteilung der Einkommen innerhalb der Kolchosen statt.

Im Durchschnitt haben sich die Einkünfte der Kolchosen seit 1953 wesentlich erhöht, aber immer noch nicht soweit, daß die durchschnittlichen Einkommen der Bauern Anschluß an die der Industriearbeiter gefunden hätten. Die geplante Umschaltung in der Entlohnung der Kolchosbauern von der Gewinnbeteiligung, die vorwiegend in Natura erfolgte, auf einen als Vorschuß gezahlten monatlichen Barlohn konnte deshalb vorerst nur auf den reicheren Kolchosen durchgeführt werden, ist aber das Ziel der Einkommensgestaltung auf dem Lande. Im Augenblick kann der Bauer auf die Nebeneinkünfte aus seiner Privatnebenwirtschaft noch nicht verzichten. Die Einengung und die allmähliche Beseitigung dieser privaten Nebenwirtschaften zeichnet sich jedoch mehr und mehr ab. Mit der Einkommenserhöhung ist auch die Erzeugung der sowjetischen Landwirtschaft erheblich angewachsen; die Hektarerträge liegen aber noch immer weit unter dem westlichen Niveau. b) Neulandaktion Ein anderer Weg zur Erhöhung der Agrarproduktion stellt die extensive Methode der Ausweitung der Anbaufläche dar. Von 1954 bis 1957 wurden in den Schwarzerdegebieten östlich des Urals, vornehmlich in Nord-Kasachstan, Westsibirien und im Altaj, rund 36 Mill, ha Brach-und Neuland unter starkem Einsatz von Jugendlichen neu unter den Pflug genommen. Es handelt sich dabei allerdings um semiaride Zonen, die in erheblich größerem Maße als die alten Anbaugebiete der UdSSR von klimatischen Bedingungen abhängig sind. Starke Schwankungen in den Ernteerträgen sind die Folge. Immerhin konnte die Getreideernte der UdSSR nach einem Katastrophenjahr 1957 im Jahre 1958 auf den Rekordstand von rund 115 Mill, t (westliche Schätzungen) gehoben werden, lag aber 1959 bereits wieder erheblich darunter und wird infolge starker Auswinterungsschäden auch im Jahre 1960 nicht wieder das Ergebnis von 1958 erreichen.

Neuerdings scheinen sich die Voraussagen westlicher Kenner der sowjetischen Agrarverhältnisse, die vor einer baldigen Erschöpfung der Neulandböden warnten, zu bewahrheiten. Darauf deuten Maßnahmen hin, die Neulandfläche wiederum auszuweiten. Dabei scheint es sich zu einem großen Teil um den Versuch zu handeln, durch Ausweichen auf neue Neulandböden die Möglichkeit zu schaffen, die seit Jahren bebauten Flächen für einige Zeit brachliegen zu lassen, um so ein völliges Erschöpfen dieser Böden zu verhindern. Dagegen verfolgen verschiedene Teilaktionen zur Neulandgewinnung in Ostsibirien und Fernost offensichtlich den Zweck, dort in Entstehung befindliche neue Industrie-und Wohnzentren von der Lebensmittelzufuhr über weite Entfernungen aus dem Westen der UdSSR unabhängig zu machen und dadurch das Transportsystem zu entlasten. c) Änderung der betriebswirtschaftlichen Struktur Auch der Umbau der betriebswirtschaftlichen Struktur dient in erster Linie, auf dem Wege der Rationalisierung, der Erhöhung der Agrarerträge. Doch werden diese Veränderungen auch aus politisch-ideologischen Wurzeln gespeist. Ab 1953 erfolgte eine ständige Verschmelzung von Kolchosen zu Großkolchosen, so daß deren Zahl von rund 93 000 Ende 1953 auf weniger als 55 000 Ende 1959 sank. Parallel dazu setzte eine verstärkte Umwandlung von Kolchosen in Sowchosen (Staatsgüter) ein. Auch bei der Neulandaktion wurden die Sowchosen durch einen prozentual stärkeren Anteil an der neugewonnenen Fläche bevorzugt. Von 36 Mill, ha entfielen auf sie rund 14 Mill. ha.

Seit 1958 wurden die Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS), vordem Stützpunkte der Partei und des Staates auf dem Lande, in Reparatur-Technische Stationen (RTS) umgewandelt und ihr Maschinenpark an die Kolchosen verkauft. Durch die Auflösung der MTS sollte die doppelte Betriebsführung in der Landwirtschaft beseitigt und die Arbeit dadurch rationeller gestaltet werden. Zudem waren die MTS Zuschußbetriebe gewesen. Das hochqualifizierte Personal der MTS sollte die Kader der Kolchosen stärken, ist aber offenbar zu einem großen Teil in die Industrie abgewandert.

Eine weitere Rationalisierung besteht darin, daß der Maschinenerwerb durch die Kolchosen in Zukunft auf dem Wege über den Ausgleich von Angebot und Nachfrage erfolgen soll, ein deutlicher Durchbruch ökonomischen Denkens. Allerdings bedeutet der Kauf und der Unterhalt der Maschinen zugleich eine neue zusätzliche Belastung für die Kolchosen, das um so mehr, als eine erhebliche Forcierung der Mechanisierung der sowjetischen Landwirtschaft vorgesehen ist, die in der Maschinenausstattung noch weit hinter dem im Westen üblichen Maß zurückgeblieben ist.

Die politischen Voraussetzungen für die Auflösung der MTS waren dadurch gegeben, daß die Kolchosleiterposten von Chruschtschow in den Jahren zuvor ausreichend mit linientreuen Parteileuten besetzt wor-den waren. Ideologisch bedeutete der Übergang der Landmaschinen von den MTS zu den Kolchosen zunächst eine Rückstufung von Staatseigentum in genossenschaftliches Eigentum. Dem soll jedoch dadurch entgegengewirkt werden, daß — wie von Chruschtschow auf dem 21. Parteitag der KPdSU Anfang 1959 angekündigt wurde — die Kolchosen vom kollektiv-genossenschaftlichen zum „allgemeinen Volkseigentum“ fortentwickelt werden, in das dieselben gemeinsam mit den Sowchosen eingehen und dadurch mit diesen verschmelzen sollen.

Diese Fortentwicklung soll vor allem durch stärkere Speisung der „Unteilbaren Fonds“ aus den Gewinnen der Kolchosen erfolgen. Die genannten Fonds, die heute bereits weitgehend den Charakter des staatlichen Eigentums besitzen, sind vorgesehen für die soziale und kulturelle Betreuung der Kolchosbauern, für öffentliche Arbeiten sowie für gemeinsam von den Kolchosen zu errichtende Elektrizitäts-und Verarbeitungsbetriebe, Transportunternehmen und Lagerhäuser sowie für den Straßenbau. Diesem Zweck sollen auch die seit Ende 1959 propagierten Kolchosverbände dienen, da die Kraft einer Kolchose für die Errichtung der oben genannten Einrichtungen im allgemeinen nicht ausreicht. Zugleich scheint beabsichtigt zu sein, die privaten Nebenwirtschaften der Bauern weiter einzuengen und schließlich ganz zu beseitigen. Ferner ist an die Zusammenziehung der Landbevölkerung in stadtähnlichen Siedlungen gedacht, um sie in der Arbeits-und Lebensweise den Industriearbeitern anzugleichen. Damit würde ein altes kommunistisches Ziel, die Verwischung der Unterschiede zwischen Stadt und Land, erreicht.

Wie auf dem industriellen Sektor, so sind die genannten politischen und ideologischen Tendenzen auch in der Agrarwirtschaft geeignet, den positiven ökonomischen Auswirkungen der Rationalisierung und der höheren Leistungsanreize entgegenzuwirken und zu einem großen Teil zu neutralisieren. Denn viele der zuletzt genannten Ziele müssen als äußerst unpopulär unter den Bauern bezeichnet werden, so die Stärkung des „Unteilbaren Fonds“ auf Kosten der persönlichen Einkommen, die Einigung und letztliche Beseitigung der Privatnebenwirtschaften sowie die Zusammenziehung der Bauern in stadtähnlichen Siedlungen, was ihrer Entwurzelung gleichkommt.

Daraus entspringt die Tatsache, daß die Produktionszunahme in der sowjetischen Landwirtschaft zwar beträchtlich ist, aber immer noch weit hinter den Erfordernissen eines Industriestaates, der für die Versorgung einer wachsenden Stadtbevölkerung in steigendem Maße veredelte Produkte, wie Gemüse, Fette und tierische Erzeugnisse benötigt, zurückbleibt. Die Ursache dafür liegt vor allem in dem weiteren Zurückbleiben der Viehwirtschaft. Kennzeichnend dafür ist, daß noch immer etwa 50 °/o des Viehbestandes in der Sowjetunion in privater Hand sind. Im übrigen zeigt die sowjetische Agrarwirtschaft, im Gegensatz zu den meisten anderen Wirtschaftszweigen des Landes, noch heute die Merkmale der Landwirtschaft eines Entwicklungslandes, da in ihr noch rund 42 °/o der Bevölkerung tätig sind und diese die übrigen 58 °/o nur unzureihend mit landwirtschaftlichen Veredlungsprodukten ernähren können. Dagegen sind in den USA z. B. etwa nur 8— 10 0/0 der Bevölkerung in der Agrarwirtshaft tätig und shaffen einen ständigen Übershuß an hohwertigen landwirtschaftlichen Erzeugnissen.

6. Rationalisierung der Arbeitsverhältnisse

Die Sowjetunion hat sih in den letzten Jahrzehnten zu einem hohindustriellen Land entwickelt. Entsprehend ist die Bedeutung des arbeitenden Menshen gestiegen. Die wahsende Kompliziertheit und Mehanisierung der Produktionsvorgänge setzt eine höhere Qualifizierung, ein steigendes Verantwortungsbewußtsein und eine stärkere Entfaltung der persönlihen Initiative beim Arbeitnehmer voraus. Als Äquivalent dafür müssen ihm eine bessere materielle Versorgung sowie günstigere Arbeits-und Lebensbedingungen gewährt werden. An Stelle von Zwang und administrativen Maßnahmen treten zwangsläufig stärker die materiellen Anreizmittel. Aus dieser Siht ist vor allem die Hebung des Lebensstandards während der letzten Jahre zu verstehen. Die erzielte Verbesserung mag dem ausländishen Beobahter gering ersheinen, für den sowjetishen Staatsbürger wiegt sie dagegen shwer und bindet ihn stärker an das System. a) Humanisierung der Arbeitsgesetzgebung Die vershärfenden Bestimmungen des sowjetishen Arbeitsrehts von 1940, die Vergehen gegen die Arbeitsdisziplin als kriminelle Delikte ahndeten und die Arbeitsverpflihtung stark ausdehnten, wurden 1956 beseitigt. Seitdem ist der Arbeitsplatzwechsel theoretisch wieder frei, wird aber in der Praxis durh die Fortexistenz des Arbeitsbuhes sowie durh die Bindung der Höhe der Renten und Sozialleistungen an die Dauer des letzten Arbeitsverhältnisses stark eingeengt.

Zudem ist für die Jugendlihen insofern wieder eine Vershlehterung eingetreten, als die Erziehungs-und Bildungsreform vom Dezember 195 8 die Berufswahl erheblih beshränkt. Durh Ershwerung der Zulassungsbedingungen zu den Hohshulen und durh Koppelung der theoretishen Ausbildung mit der praktishen Arbeit wird vielen der Zugang zum Studium bzw.der Abshluß desselben verwehrt bleiben, so daß die Betreffenden mit mittleren Berufen vorliebnehmen müssen. Auf diese Weise soll der Zustrom zu den Hohshulen abgedämmt und dem Mangel an mittleren tehnishen Fahkräften abgeholfen werden, während an Akademikern bereits ein Überangebot besteht. b) Angleichung der Löhne und Erleichterung der Arbeitsbedingungen Hervorstehend war in der Sowjetunion der Stalinzeit die starke Differenzierung der Löhne der Arbeiter und Angestellten außerhalb der Landwirtshaft. Diese dem kommunistishen Gleihheitsprinzip kraß widersprechende Situation war eine typishe Ersheinung der „sozialistishen Aufbauperiode“ der dreißiger Jahre, d. h. vor allem der forcierten Industrialisierung, die ohne Betonung des Leistungsgrundsatzes und der Shaffung starker materieller Anreizmittel in Gestalt hoher Löhne für die wirtshaftlihen Führungskräfte niht auskommen konnte. Die Masse der unqualifizierten Arbeiter bezog dagegen Hungerlöhne von 150— 200 Rubel, gegenüber Gehältern von 6000 Rubel und mehr für die Spitzenkräfte. Zur Beseitigung dieses Auseinanderklaffens wurden 1956 zunähst die Mindestlöhne auf 300— 350 Rubel festgelegt und ihre spätere Erhöhung auf 500— 600 Rubel vorgesehen. Parallel dazu wurden die Renten angehoben. Ferner kündigte Chrushtshow Anfang 1959 eine Reduzierung der Spitzengehälter auf das Doppelte des Minimallohnes an, das hieße demnah auf 1200 Rubel. Die Durhführung dieser Maßnahmen läßt jedoh noh auf sih warten; sie dürfte erheblihen Unwillen in der Intelligenz hervorrufen.

Auh das Normensystem, die Grundlage der Lohnfestlegung in der sowjetishen Industrie und im Bauwesen, wird z. Zt. einer grundlegenden Reform unterzogen, da dasselbe inzwishen völlig veralten ist und viele Ungerechtigkeiten und umständlihe Berehnungen mit sih bringt. Doh sheint die Reform nur langsam vorwärtszushreiten, wie die Kritik an den verantwortlihen Stellen zeigt.

Zur Erleihterung der Arbeitsbedingungen soll auh die Verkürzung der Arbeitszeit beitragen. Bis Ende 1960 ist in der Industrie und dem Bauwesen der Übergang auf den 7-Stundentag, für Shwerstarbeiter auf den 6-Stundentag vorgesehen, was der 40-bzw. 3 5-Stundenwohe entspriht. Ab 1964 will man mit dem allmählichen Übergang auf die 35-bzw. 30-Stundenwohe beginnen. Durh die weitere Mehanisierung der Produktionsvorgänge soll shließlih die shwere körperlihe Arbeit ganz entfallen und die Unterschiede manueller und geistiger Arbeit eingeebnet werden, womit einer marxistishen Grundforderung entsprohen würde. Damit wäre nah Meinung der Kommunisten auh eine der Voraussetzungen geshaffen, daß die Arbeit aus einer Last zu einem Haupt-bedürfnis des Menshen wird, so wie es im kommunistischen Endzustand vorgesehen ist.

Eine stärkere Entfaltung der persönlihen Initiative und des Verantwortungsbewußtseins, die wesentlih zur Besserung der Arbeitsatmosphäre und der Produktivität beitragen kann, ist durh die Dezentralisierung der Wirtshaftslenkung eingeleitet worden, die den unteren Instanzen größere Kompetenzen zugesteht. Allerdings wurde das dadurh erzielte Maß an Bewegungsfreiheit für die unteren Organe durh die stärkere Parteikontrolle und andere Maßnahmen eingeengt. c) Begrenzte Mitbestimmung Zur Besserung der Arbeitsatmosphäre dient neben den geschilderten Maßnahmen auch die Einräumung einer begrenzten Mitsprache der Arbeitnehmer bei der Regelung von Betriebsangelegenheiten seit Sommer 1958. Diese Konzessionen sind vor allem eine Folge des Eindringens der Idee der Arbeiterräte in der UdSSR während und nach den Oktober-Ereignissen 1956. Die genannte Mitsprache beschränkt sich in der Sowjetunion allerdings im wesentlichen auf die Gewährung zusätzlicher Rechte an die gewerkschaftlichen Betriebskomitees. Sie müssen heute bei der Regelung der meisten Werksangelegenheiten gehört werden, ohne allerdings dabei über Entscheidungskompetenzen zu verfügen. Nur in einigen sozialpolitischen Fragen besitzen die genannten Komitees neuerdings auch das Recht der Mitentscheidung und Kontrolle.. Diesen neuen Rechten kommt jedoch weithin nur formelle Bedeutung zu, da die sowjetischen Gewerkschaften wie alle anderen Massenorganisationen in der UdSSR fest in der Hand der kommunistischen Partei sind und ihre Betriebskomitees deshalb kaum irgendwelche Entscheidungen gegen den Willen der Partei fällen können.

Liegt hierin nach außen hin immerhin eine gewisse Konzession gegenüber den Arbeitnehmern vor, so erweisen sich die gleichfalls im Sommer 1958 gegründeten „Ständigen Produktionskonferenzen'', denen Vertreter der Belegschaften, der Partei und den Gewerkschaften angehören, mehr oder weniger als getarnte Gegengewichte gegen die der Selbständigkeitsbestrebungen verdächtigten Betriebsdirektoren. Mit der Schaffung der sehr viel wirksameren betrieblichen Parteikontrollkommissionen dürften die „Ständigen Produktionskonferenzen“, um die es sehr ruhig geworden ist, überflüssig geworden sein. d) Fachlich und regional begrenzte Arbeitskräfteknappheit Zu Stalins Zeiten zeichnete sich der sowjetische Arbeitsmarkt im allgemeinen durch eine große Aufnahmebereitschaft für Arbeitskräfte jeglicher Art, vor allem auch unqualifizierter, aus, da in den Jahren der Anfangsindustrialisierung jede Hand benötigt wurde und Gesichtspunkte der Rentabilität keine Rolle spielten. Inzwischen hat die Sowjetwirtschaft die ersten Stadien der Entwicklung hinter sich gebracht und auf einigen Gebieten — wenn auch noch nicht in der gesamten Breite — bereits eine anerkennenswerte technische Reife erreicht. Der Arbeitskräftebedarf hat sich deshalb zunehmend von unqualifizierten Arbeitern auf technisch gebildete Fachkräfte aller Art verlagert. In den europäischen Industriegebieten der UdSSR kann heute sogar schon von einer gewissen Überbesetzung der Werke mit Hilfsarbeitern gesprochen werden. In den Industriegebieten und auf den Baustellen des Ostens sowie in den Neulandgebieten fehlen dagegen nach wie vor Arbeitskräfte jeder Art. Es kann daher lediglich von einem fachlich und regional begrenzten Mangel an Arbeitskräften in der UdSSR gesprochen werden, dagegen nicht von einer allgemeinen Arbeitskräfte-knappheit, wie es im Westen häufig geschieht.

Zwar ist es richtig, daß zur Zeit die kriegsgeschwächten Kriegs-und Nachkriegsjahrgänge eintreten. Die Lücken könnten jedoch durch vorzeitige Demobilisierung von über 2 Millionen Soldaten, durch Auflösung der Zwangsarbeitslager bzw.deren Umwandlung in Arbeitskolonien sowie durch die Dezentralisierung der Staats-und Wirtschaftsverwaltung und die damit verbundenen Personaleinsparungen sowie durch andere Maßnahmen gefüllt werden. Auch die Durchführung des Siebenjahresplanes (1959— 1965) erfordert ohne Zweifel neue zusätzliche Arbeitskräfte, aber auch in erster Linie technisch qualifizierte Arbeiter für die alten Industriegebiete der UdSSR sowie Arbeitskräfte aller Art für die forcierte Erschließung der Ostgebiete. Die im Siebenjahresplan eingeleitete Entwicklung verschärft also nur die ohnehin vorhandene Situation der fachlich und regional begrenzten Arbeitskräfte-knappheit in der UdSSR.

Auf fachlichem Gebiet soll insbesondere die Erziehungs-und Bildungsreform vom Dezember 1958 Abhilfe schaffen, deren Ziel es u. a. ist, durch Koppelung der theoretischen Ausbildung mit der praktischen Arbeit und durch Erschwerung des Zugangs zur Hochschule die Jugendlichen — zumeist Angehörige der Intelligenz — auf die mittleren praktischen Berufe zu verweisen und vom akademischen Studium fernzuhalten. Ferner sollen umfangreiche Schulungs-und Ausbildungsprogramme, wie Fernstudien, Abendkurse, die ohne Arbeitsunterbrechung durchgeführt werden können, zur Erhöhung der Qualifizierung der Arbeitskräfte beitragen.

Bei der Überwindung des Mangels an Arbeitskräften in den Ostgebieten der UdSSR betätigt sich vor allem der sowjetische Jugendverband, der „Komsomol“, indem er „Freiwilligenaktionen“ Jugendlicher organisiert, die sich zum Einsatz in den Ostgebieten und Neulandregionen verpflichten. Auf diese Weise sollen die dringend benötigten Arbeitskräfte für die wirtschaftliche Entwicklung dieser Räume gewonnen werden. Ihre Rekrutierung ist wegen der schwierigen klimatischen Verhältnisse und der harten Lebensbedingungen besonders schwer. Nachdem Zwangsarbeiter nicht mehr in dem Maße wie früher zur Verfügung stehen, muß nunmehr auf den Idealismus und die Einsatzbereitschaft der Jugend zurückgegriffen werden.

Demselben Ziel dient in gewisser Weise die seit Anfang 1960 in Gang befindliche neuerliche vorzeitige Demobilisierung von 1, 2 MIL Sowjetsoldaten. Denn ein großer Teil von diesen, die auf Grund ihrer militärischen Ausbildung zumeist bereits eine technische Qualifizierung besitzen, verpflichtet sich, wie die Erfahrung der letzten Monate zeigt, „freiwillig“ zum Einsatz in den Ostgebieten. Die übrigen sind zur Auffüllung der technischen Kader im europäischen Teil der UdSSR höchst willkommen. e) Oberstes Ziel: Erhöhung der Arbeitsproduktivität Während noch unter Stalin der Produktionszuwachs vor allem durch Ausweitung und Neuerrichtung von Produktionskapazitäten angestrebt wurde, hat sich neuerdings das Schwergewicht aller Maßnahmen zur Hebung der Erzeugung auf die Erhöhung der Arbeitsproduktivität verlagert. Diesem Ziel dienen einmal alle Bestrebungen zur Einführung neuester technischer Verfahren und Einrichtungen, zur besseren Ausnützung aller modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse, zur Ausschöpfung aller Reserven und zur Senkung der Selbstkosten in der Sowjetwirtschaft. Zum anderen soll die ständige Erhöhung der Ausbildung und des Fachwissens der sowjetischen Arbeitnehmer die Erhöhung der Arbeitsproduktivität fördern. Welche Bedeutung diesen Problemen heute in der UdSSR zugemessen wird, erhellt daraus, daß sowohl das Juni-Plenum 1959 des Zentralkomitees der KPdSU als auch das Juli-Plenum sich fast ausschließlich mit ihnen befaßt haben.

Es ist bezeichnend für das sowjetische Wirtschaftssystem, daß sich solch hohe Gremien überhaupt um Fragen der Arbeitsproduktivität bemühen müssen. Im Westen sorgen der Markt und die Konkurrenz sowie die persönliche Initiative des Unternehmers im allgemeinen dafür, daß sich der technische Fortschritt durchsetzt und die Kosten auf ein Mindestmaß gesenkt werden. Im Osten ist jedoch das höchste Gebot des Wirtschaftens die Erfüllung des Plans, das durch die Einführung neuer Maschinen und Verfahren eher gestört als gefördert werden kann. Die Betriebsleiter neigen deshalb in der Sowjetunion im allgemeinen zum technischen Konservatismus und zum Behördengeist. Neben hochmodernen Werken und anerkennenswerten technischen Hochleistungen steht infolgedessen in der Sowjetunion die Masse der rückständigen und veralteten Betriebe. Zur Zeit werden nach amtlichen sowjetischen Angaben noch über 40 Prozent der Arbeiten in der Industrie der UdSSR ohne Verwendung von Maschinen ausgeführt.

Bislang wurde versucht, diesem Übel mit administrativen Maßnahmen, Ermahnungen und Strafandrohungen entgegenzusteuern. Neuerdings hat man erkannt, daß es auch hierbei vor allem auf die Hebung der Initiative des einzelnen sowie auf die Schaffung neuer Anreizmittel ankommt. Eine der wichtigsten Maßnahmen auf diesem Gebiet ist die ab Oktober 1960 vorgesehene Änderung des Prämiensystems in dem Sinne, daß nicht mehr wie bisher allein die Erhöhung der Qualität, sondern auch die Entwicklung neuer bzw. besserer technischer Verfahren und deren praktische Einführung prämiiert werden sollen. Eine andere wichtige Bestrebung der Sowjetführung ist auf die Hebung der fachlichen Qualifizierung der Arbeitskräfte ausgerichtet. Auf die Erziehungs-und Bildungsreform vom Dezember 1958 wurde bereits hingewiesen. Sie beabsichtigt, durch Polytechnisierung des theoretischen Unterrichts eine Ausweitung der praktischen technischen Ausbildung der Schüler zu erzielen. Die Kehrseite ist allerdings, daß infolge der mit der Reform verbundenen Erschwerung des Hochschulstudiums ein gewisses Absinken des akademischen Niveaus eintreten könnte.

Auch die oben behandelten Maßnahmen zur Arbeitszeitverkürzung in der UdSSR, die z. T. weiter gehen als westliche Absichten auf diesem Gebiet, haben — wie sich immer stärker herausschält — u. a.den Zweck, den Arbeitnehmern in der Freizeit Gelegenheit zur Erhöhung ihrer Qualifizierung zu geben. Die starke Propagierung von Abendkursen, Fernstudium und sonstigen Mitteln zur Weiterbildung neben der Arbeit zeugen davon, daß von dieser Seite her ein immer stärkerer Drude auf die sowjetischen Arbeiter und Angestellten zur sinnvollen Ausgestaltung ihrer Freizeit ausgeübt werden soll.

Im übrigen sind die sowjetischen Maßnahmen zur Arbeitszeitverkürzung, die im Westen viel Erstaunen und Unglauben hervorgerufen haben, selbst ein wichtiges Mittel zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Westliche Besucher sowjetischer Betriebe bestätigen im allgemeinen deren Überbesetzung mit Arbeitskräften, vor allem mit unqualifizierten Arbeitern. Eine Verkürzung der Arbeitszeit kann deshalb unter sowjetischen Verhältnissen ein heilsamer Ansporn zur besseren Ausschöpfung aller Produktionsreserven der Unternehmen und zur rationelleren Organisation der Betriebe sein, womit zugleich der Weg für eine stärkere Mechanisierung und Modernisierung der Unternehmen bereitet wird.

Zusammenfassend können auch auf dem Gebiet der Arbeitsverhältnisse der UdSSR zwei gegensätzliche Tendenzen beobachtet werden. Einerseits sind die Bemühungen um die Verbesserung der Lebens-und Arbeitsbedingungen sowie die Qualifikation der Arbeitskräfte dazu bestimmt, der gestiegenen Bedeutung des arbeitenden Menschen in der modernen Industriegesellschaft gerecht zu werden und dadurch die Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Auf der anderen Seite stehen aber Maßnahmen, wie die Beschneidung der Spitzenlöhne, die verstärkte Parteikontrolle in den Betrieben sowie die Beschränkung der freien Berufswahl für die Jugendlichen durch die Erziehungs-und Bildungsreform, welche die Bereitschaft der Betroffenen zur Mitarbeit und Übernahme von Verantwortung zwangsläufig dämpfen müssen. Bei den Leidtragenden handelt es sich in erster Linie um Angehörige der Intelligenz und deren Kinder, eine Schicht, auf deren bereitwillige Mitwirkung bei der wirtschaftlichen Fortentwicklung des Landes es aber in besonderem Maße ankommt.

7. Gesellschaftspolitische Nivellierung

Unter Stalin hatte sich durch die oben erwähnte starke Lohndifferenzierung und Verbürokratisierung der Staats-und Wirtschaftsverwaltung eine privilegierte Schicht der fachlichen Intelligenz herausgebildet. Sie strebte naturgemäß nach Ausbau und Festigung ihrer Positionen sowie nach Aufrechterhaltung der Privilegien für ihre Nachkommen. Nach Stalins Tod hatten besonders die Wirtschaftsführer im Zuge der notwendigen ökonomischen Reformen eine gewisse Machtstellung erlangen können, die aber — wie dargestellt — durch die Dezentralisierung und verstärkte Parteikontrolle wieder beschnitten wurde.

Nunmehr ist Chruschtschow bestrebt, die Unterschiede zwischen der Intelligenz und der Masse des Volkes allmählich wieder einzuebnen. Diesem Ziel dient vor allem die Erziehungs-und Bildungsreform Chruschtschows vom Dezember 1958, welche dahin tendiert, das Bildungsprivileg für die Kinder der oberen Schicht zu durchbrechen und die Unterschiede zwischen körperlicher und geistiger Arbeit zu verwischen. Durch frühzeitige Gewöhnung der Schüler an die praktische Arbeit, die im polytechnischen Unterricht mit der theoretischen Ausbildung gekoppelt ist, soll diesen von vornherein die Abneigung gegen und die Verachtung für manuelle Arbeit genommen werden. Das Endziel dieser Entwicklung ist unverkennbar das marxistische Ideal des allseitig ausgebildeten Menschen, der seine Fähigkeiten und Neigungen jederzeit auf allen Gebieten zum Wohle der Gesamtheit einsetzen kann. Durch Erschwerung des Zugangs zur Hochschule soll ferner ein großer Teil der Nachkommenschaft der neuen Oberschicht von den akademischen Berufen ferngehalten und — wie erwähnt — in die mittleren fachlichen Berufe abgedrängt werden.

Es erübrigt sich, festzustellen, daß der Unwillen der Intelligenz über diese Absichten Chruschtschows beträchtlich ist, und es hat deshalb den Anschein, daß sich die Erziehungs-und Bildungsreform in der Durchführung beträchtliche Abstriche gefallen lassen muß.

Andererseits aber besteht auch kein Zweifel daran, daß die genannten Maßnahmen von der Masse des Volkes begrüßt werden, da sie ihnen wieder gleiche Bildungs-und Aufstiegschancen gewähren und zum Abbau von höchst unbeliebten Privilegien der Stalinzeit beitragen.

8. Belebung der Wirtschaftstheorie

Eine der interessantesten Erscheinungen der Nachstalinzeit auf wirtschaftlichem Gebiet ist die Renaissance der theoretischen Nationalökonomie in der Sowjetunion. Die Wirtschaftswissenschaften galten stets als eine der am stärksten dem marxistischen Dogma unterliegenden Disziplinen. Wissenschaftliche Diskussionen fanden nur über Randfragen statt, während die theoretischen Grundlagen des sowjetischen Wirtschaftssystems nicht berührt werden durften.

Bemerkenswerterweise entzündete sich die Debatte ab etwa 1956 an der Frage der Geltung des Wertgesetzes in der Übergangsperiode vom Sozialismus zum Kommunismus, d. h.der Wirksamkeit der Geld-Ware-Beziehungen und des Marktmechanismus in der genannten Epoche. Stalin hatte in seinem Vermächtnis, der Schrift „Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR“, festgelegt, daß die Geld-Ware-Beziehungen schon in der Übergangsphase vom Sozialismus zum Kommunismus absterben müßten, um dem „direkten Produktenaustausch“ im kommunistischen Endzustand Raum zu geben. Die nach Stalin entbrannte Diskussion über das Wertgesetz kam aber zu dem Ergebnis, daß die Geld-Ware-Beziehungen in der Übergangszeit nicht nur nicht absterben, sondern sich sogar zunächst noch weiter entfalten sollten, um durch die Stärkung der Produktivkräfte und durch die Erhöhung des Produktionsniveaus um so eher die materiellen Voraussetzungen in Gestalt eines Überflusses an allen Produkten für den endgültigen Über-gang zum Kommunismus zu schaffen. Im kommunistischen Endzustand würden dann die Geld-Ware-Beziehungen nach ihrer vollen Entfaltung im dialektischen Sprung absterben. Zwar gibt es auch gegenteilige Ansichten, aber die Mehrzahl der führenden Nationalökonomen der UdSSR bekennt sich zu der oben entwickelten These, die von der Parteiführung bislang nicht verworfen worden ist.

Deutlich macht sich in der neuen Theorie über die Geltung des Wert-gesetzes in der Übergangsperiode vom Sozialismus zum Kommunismus der Einfluß des praktischen ökonomischen Denkens bemerkbar, das nach größerer Rentabilität und Elastizität im Wirtschaftsprozeß strebt. Die Auswirkungen einer konsequenten Anwendung des Wertgesetzes und der Geld-Ware-Beziehungen in der Praxis des sowjetischen Wirtschaftssystems wären allerdings beträchtlich. Sie würde eine Orientierung der Preise an den Kosten erfordern, was eine generelle Erhöhung der manipulierten und durchweg zu niedrigen Investitionsgüterpreise und eine Ermäßigung der durch die ausbeuterische Umsatzsteuer belasteten Konsumgüterpreise erfordern würde. Damit erst wären die Voraussetzungen für eine breitere Ingangsetzung des Marktmechanis-mus gegeben, wobei die zentrale Rahmenplanung in entsprechender Form bestehen bleiben könnte.

Immerhin würden auf diese Weise zum ersten Mal seit Beginn der Industrialisierung und der Kollektivierung in der UdSSR die Grundlagen des sowjetischen Wirtschaftssystems angetastet. Denn es könnte nicht ausbleiben, daß bei Preisreformen oben genannten Ausmaßes die Proportionen in der Entstehung und Verwendung des Sozialproduktes in Richtung auf eine stärkere Berücksichtigung der Konsumgütererzeugung und -Versorgung geändert werden müßten. Außerdem würde sich der Wirtschaftsapparat infolge größerer Bewegungsfreiheit dem staatlichen Zugriff stärker entziehen und somit nicht mehr wie noch heute vornehmlich für die Stärkung der wirtschaftlichen und militärischen Potenz eingespannt werden können. Die Entwicklung würde etwa in Richtung auf die „sozialistische Marktwirtschaft" Jugoslawiens verlaufen, mit größerer Selbständigkeit der Wirtschaftssubjekte und stärkerer Berücksichtigung der Verbraucherwünsche.

Es ist aber bezeichnend, daß vorläufig keinerlei Anzeichen dafür vorhanden sind, die eine breitere Anwendung der neuen national-ökonomischen Ideen in der Praxis des sowjetischen Wirtschaftssystems vermuten lassen könnten, abgesehen von Konzessionen auf einigen kleinen Teilbereichen. Trotzdem bleibt es bemerkenswert genug, daß die sowjetische Nationalökonomie sich in ihrer Diskussion soweit vorwagen konnte und von der Parteiführung bislang zu keinerlei Selbstkritik gezwungen wurde.

III. Schlußfolgerungen

Die geschilderten Maßnahmen und Ereignisse auf wirtschaftlichem Gebiet haben eine Fülle von heterogenen Entwicklungstendenzen in der nachstalinschen UdSSR erkennen lassen. Sie können im wesentlichen auf drei große Bewegungsrichtungen reduziert werden:

1. Durch zahlreiche wirtschaftliche Reformen, die einen Durchbruch ökonomischen pragmatischen Denkens bedeuten, ist es der Sowjetführung gelungen, das unter Stalin erstarrte Wirtschaftssystem elastischer und leistungsfähigerzu gestalten. Durch Verbesserung der Lebens-und Arbeitsbedingungen war es zugleich möglich, die B e v ö 1 -kerung zu größerer aktiver Mitarbeit und zu einer positiveren Haltung gegenüber dem System zu gewinnen. Es besteht kein Zweifel daran, daß sich das Wirtschaftspotential der Sowjetunion dadurch erhöht hat und die UdSSR als Machtfaktor gefährlicher geworden ist. Das um so mehr, als trotz aller Reformen die Grundlagen des sowjetischen Wirtschaftssystems, der Gemeinbesitz an Produktionsmitteln, die zentrale Planung, Lenkung und Kontrolle des Wirtschaftsablaufs sowie der Vorrang der Schwerindustrie vor der Konsumgüter-erzeugung in ihrem Kern nicht angetastet worden sind und damit die Voraussetzungen für eine Einspannung des Wirtschaftssystems für außerökonomische, machtpolitische Zwecke nach wie vor in vollem Maße gegeben sind.

Neuerdings macht sich zwar eine gewisse Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in der Sowjetunion bemerkbar, bedingt durch die zunehmende Reife und Kompliziertheit des Produktionsapparates, durch wachsende Kapitalknappheit und durch steigenden Mangel an mittleren Fachkräften, besonders in den Ostgebieten. Dennoch ist der absolute Produktionszuwachs noch immer sehr hoch. Mit der Erfüllung der wichtigsten Planziele des Siebenjahresplanes (1959 bis 1960) in der Grund-und Schwerindustrie muß gerechnet werden.

Die sowjetische Ankündigung, bis etwa 1970 die am höchsten entwickelten „kapitalistischen" Länder in der Pro-Kopf-Produktion einzuholen und zu überholen, entbehrt jedoch der ökonomischen Grundlage. Trotzdem ist das wirtschaftliche Wachstum in der Sowjetunion sehr ernst zu nehmen, da jeder Zuwachs in weit größerem Maße die machtpolitische Position der Sowjetunion stärkt, als das bei der staatsfreien Wirtschaft der westlichen Länder der Fall ist. 2. Die positiven Wirkungen, die das Vordringen ökonomischen pragmatischen Denkens für die Leistungskraft und Produktivität der sowjetischen Wirtschaft zur Folge hatte, werden durch Gegenbewegungen ideologisch-politischer Art gebremst und zum Teil wieder aufgehoben. Diese Gegenbewegungen setzten verstärkt nach der Festigung der Alleinherrschaft Chruschtschows im Sommer 1957 ein. Ihre Tendenz geht dahin, den Einfluß der Wirtschaftsführer und technischen Intelligenz zurückzudrängen und die Vorherrschaft und Kontrolle der Partei im wirtschaftlichen Bereich voll wiederherzustellen. Zugleich ist Chruschtschow bemüht, die Privilegien der unter Stalin herausgebildeten neuen Oberschicht wieder abzubauen und deren automatische Übertragung auf die Nachkommenschaft zu verhindern. Die Zurückdrängung der Wirtschaftsführer und die Tendenzen zur Einebnung der Unterschiede zwischen den Bevölkerungsschichten stoßen naturgemäß auf den Widerstand der technischen Intelligenz und dämpfen ihre Bereitschaft zur Mitarbeit und Verantwortungsübernahme, was sich hindernd auf den wirtschaftlichen Fortschritt auswirken muß.

Über die ideologisch-politischen Tendenzen hinaus sind sogar Ansätze für eine neue revolutionäre Entwicklung vorhanden, die in manchem Ähnlichkeit mit der Stalinschen „Revolution von oben“ hat. Hierunter fallen u. a. die utopischen Ziele der E r z i e -hungs-und Bildungsreform, so die gesellschaftspolitische Nivellierung, die Heranziehung eines neuen Menschentyps, dem die Arbeit das Hauptlebensbedürfnis bedeutet und der frei ist von den lasterhaften Überbleibseln des „Kapitalismus“, sowie die Verwischung der Unterschiede zwischen körperlicher und geistiger Arbeit.

Die genannten Ziele setzen in den meisten Fällen eine Änderung der Natur der Menschen voraus und dürften nach den Erfahrungen mit 40 Jahren Sowjetmacht nicht zu realisieren sein. Denn als der konstanteste Faktor in dem ständigen Umformungsprozeß des Sowjetsystems hat sich gerade der Mensch erwiesen. Trotzdem ist anzunehmen, daß Chruschtschow starr an den obengenannten Zielen festhält, da sie immanenter Bestandteil des Programms für den endgültigen Übergang zum Kommunismus, als dessen Vollstrecker er sich fühlt, sind. Die Folgen können nur neue Schwierigkeiten und innerpolitische Spannungen sein.

3. Neben diesen Schwierigkeiten, die aus subjektiven politisch-ideologischen Momenten herrühren, zeichnen sich objektive ökonomische Spannungsfaktoren in der Sowjetwirtschaft ab. Die Sowjetunion steht wirtschaftlich an einem Scheidewege, wofür die offene Diskussion der nationalökonomischen Fachwissenschaft in der UdSSR über die Geltung des Wertgesetzes in der Übergangsperiode vom Sozialismus zum Kommunismus ein untrügliches Indiz ist. Bislang war es möglich, bei allen wirtschaftlichen Reformen die Grundlagen des sowjetischen Wirtschaftssystems unangetastet zu lassen. Je weiter sich aber die sowjetische Wirtschaft, vor allem die Industrie, fortentwickelt, um so gebieterischer fordern die ökonomischen Gesichtspunkte eine entsprechende Berücksichtigung. Dabei handelt es sich u. a. um die Forderungen nach Wirtschaftlichkeit und Rentabilität, nach zureichender Koordinierung des Wirtschaftsprozesses, verbunden mit wachsender Arbeitsteilung und Spezialisierung innerhalb der Wirtschaft, ferner um die Notwendigkeit des ständigen Schritthaltens mit dem technischen Fortschritt in der gesamten Breite der Wirtschaft, nicht nur an einigen Schwerpunkten.

Zur Lösung dieser Aufgaben ist das sowjetische Wirtschaftssystem aber in seiner heutigen Form offenbar nicht mehr in ausreichendem Maße imstande. Das System besitzt z. B. in seiner jetzigen Form kein leistungsfähiges Instrument für eine zureichende Rentabilitätsmessung;

und keine noch so verfeinerte Planungs-, Lenkungs-und Kontrollmethode ist in der Lage, die Koordinierung und das tägliche Zusammenspiel des Wirtschaftsablaufs in einer modernen komplizierten Industrie mit ihren millionenfachen Interdependenzen und Querverbindungen ausreichend zu gewährleisten. Schließlich hat die Sowjetwirtschaft in ihrer heutigen Form bislang kein ausreichendes Mittel gefunden, um den Behördengeist zu überwinden und an Stelle des fehlenden Wettbewerbs ein anderes zureichendes Stimulans zur Aufrechterhaltung des technischen Fortschritts in jeder einzelnen Produktionssparte zu setzen.

Sicherlich wird die Sowjetunion imstande sein, weiterhin erhebliche Produktionszunahmen durch weitere Ausdehnung des Produktionsapparates und Erschließung neuer Rohstoff-und Energiequellen zu erreichen.

Auch die Rationalisierungsreserven der Sowjetwirtschaft sind noch beträchtlich, da sie bislang nur zu einem Teil ausgeschöpft sind. Aber je mehr sich die Sowjetwirtschaft auf diesem Wege fortentwickelt, wird es sich erweisen, daß einer echten Leistungssteigerung im Sinne einer Intensivierung des Produktionsprozesses Grenzen gesetzt sind, falls nicht echte Reformen in Angriff genommen werden, die auch vor den drei Grundprinzipien des sowjetischen Wirtschaftssystems, des Gemeinbesitzes an den Produktionsmitteln, der zentralen Planung, Lenkung und Kontrolle des Wirtschaftsprozesses sowie der forcierten Industrialisierung unter Bevorzugung der Schwerindustrie nicht Halt machen. Alle anderen Maßnahmen, mögen sie dem System auch im Augenblick neue Impulse vermitteln, können auf die Dauer nur ein Herumkurieren an den Symptomen bedeuten.

Der Ausweg aus dieser Sackgasse ist von den sowjetischen Wirtschaftswissenschaftlern bereits gewiesen worden: die volle Entfaltung der Geld-Ware-Beziehung, d. h. die Ingangsetzung des Marktmechanismus in großem Maßstab, nicht nur an einigen Stellen innerhalb der sowjetischen Wirtschaft. Voraussetzung dafür wäre aber eine generelle Preisreform und eine relative Verselbständigung der Unternehmen. Bislang sind aber in der sowjetischen Praxis keine Indizien zu beobachten, die auf eine solche Entwicklung schließen ließen. Im Gegenteil deuten die letzten Maßnahmen eher wieder auf eine Festigung des Dogmatismus im Wirtschaftsbereich hin.

Fussnoten

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