Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Nikita Sergejewitsch Chruschtschow | APuZ 36/1960 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 36/1960 Nikita Sergejewitsch Chruschtschow

Nikita Sergejewitsch Chruschtschow

Georg P Aloczi-hor V Ath

Mit freundlicher Genehmigung des Heinrich Scheffler Verlages, Frankfurt/Main, werden nachfolgend drei Kapitel aus dem Buch von Georg Paloczi-Horvath „Chruschtschow" zum Abdruck gebracht.

Herrscher der Ukraine in Krieg und Frieden

Iw Januar 1938 wurde N. S. Chruschtschow zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Ukraine und im gleichen Jahr zum Kanditaten des Politbüros gewählt . . . Nach dem XVIII. Parteikongreß 1939 wurde er Vollmitglied des Politbüros. Während des Großen Vaterländischen Krieges 1941 bis 1945 stand N. S. Chruschtschow mit der Armee im Feld . . . Neben seinem Dienst an den Fronten oblagen N. S. Chruschtschow . . . bedeutungsvolle Arbeiten beim Aufbau der ukrainischen Partisanenbewegung gegen die fasdustischen deutschen Eindringlinge . . .

(Große Sowjet-Enzyklopädie, Band 46, 1957.)

Im Jahre 1937 stand Chruschtschow auf dem Lenin-Mausoleum zur Rechten Stalins. Nur der berühmte Kominternführer Dimitrow stand zwischen ihm und dem Diktator. Mit einer zerfetzten Arbeitermütze auf dem Kopf und mit erhobenem Arm blickte Chruschtschow auf die Menge hinab. Sein Gesicht war ernst, angespannt, fast ausdruckslos. Es war das leblose Gesicht eines Mannes, der viele Jahre lang seine Züge in der Gewalt haben, seine Miene der Apparatschik-Schablone anpassen mußte. Alle Funktionäre lernten, nur mit dem Mund zu lächeln. Die Augen blieben ernst, wachsam, immer auf der Hut. Im Laufe der Stalin-Ära wurden alle Apparatschiks Meister in der Kunst streng kontrollierten Mienenspiels. Die Tatsache, daß sie jahrelang ihren Launen, Ideen, ihrer Freude oder ihrem Zorn nur ganz selten freien Lauf lassen konnten, prägte ihre Züge. Selbst in ihren Gesten versuchten sie Stalin zu imitieren

Chruschtschow stand nun ständig in Kontakt mit dem „genialen Führer''. „Stalin war ein sehr argwöhnischer, krankhaft mißtrauischer Mann; wir wußten das aus unserer Arbeit mit ihm. Er konnte einen ansehen und sagen: . Warum flackern deine Augen heute so? ‘, oder: . Warum wendest du didt heute immer ab und siehst mir nicht gerade in die Augen?“ Das krankhafte Mißtrauen erzeugte in ihm einen allumfassenden Argwohn, selbst gegenüber treuen Parteifunktionären, die er seit Jahren kannte. Überall und in allem sah er Feinde, Doppelzüngler und Spione.

Damals habe ich mich oft mit Nikolaj Alexandrowitsch Bulganin unterhalten. Als wir einmal zusammen im Auto fuhren, sagte er: , Es ist vorgekommen, daß jemand als Freund einer Einladung Stalins Folge leistete. Sitzt er dann bei Stalin, so weiß er nicht, wohin er ansdtließend geschickt wird, nach Hause oder ins Gefängnis.“ "

Bulganins Bemerkung fiel, nach Chruschtschow, im Anschluß an die Beseitigung Postyschews im Jahre 1937. Sie zeigte ein überraschendes Maß an Vertrauen zwischen den beiden. Wenn Chruschtschow Stalin gegenüber etwas von dieser Bemerkung erwähnt hätte, wäre Bulganin exekutiert worden. Andererseits hätte auch Bulganin wiederum Chruschtschow mit der Rechtfertigung ruinieren können, er habe seinen Ausspruch als provokatorische Frage gedacht und Chruschtschow habe nicht protestiert. Wie dem auch sei, das Zitat gibt eine Vorstellung von der Atmosphäre, in der diese Männer lebten.

Bulganin wurde 1938 Vorsitzender des Rates der Volkskommissare und der Russischen Sowjetrepublik und Oberhaupt der Staatsbank. Chruschtschow stand aber im Rang immer noch höher als er und Malenkow.

Die sieben Jahre, die Chruschtschow in den Parteiorganisationen der Stadt und des Oblast Moskau verbracht hatte, und die großen Säuberungsaktionen gaben ihm reichlich Gelegenheit, den Moskauer Apparat mit seinen eigenen Leuten zu besetzen, für die es eine Frage auf Leben und Tod war, daß ihr eigener Chef nicht liquidiert werde. Alle diese Apparatschiks, die Chruschtschow mehrmals befördert hatte, kannten ihn gut, und sie wären mit ihm gestürzt worden. Stalin tat alles, um freundschaftliche Verbindungen in seinem Apparat auszuschalten. Aber gerade durch die Massensäuberungen schuf er starke defensive Treue-bindungen. Natürlich wußte er das, und er sorgte deshalb auch dafür, daß niemand zu lange in einer führenden Position blieb. Er sah es gern, wenn sich unter seinen Gefolgsleuten Rivalitäten und Fehden entspannen. Es wäre für Stalin auch lebensgefährlich gewesen, wenn etwa die mächtigen Parteiorganisationen von Leningrad, Moskau, die der Ukraine und des Ostens von einer Freundesgruppe geleitet worden wären. Jene Parteiorganisationen verfügten über die Stimmenmehrheit im Zentralkomitee und bei den Parteikongressen. Nur dadurch, daß er die Spitzen-funktionäre gegeneinander ausspielte, hielt er sie in Schach. Eine andere Methode war es, sie fortwährend zu versetzen. Auch für Chruschtschow war nun eine Änderung fällig.

Mitglied einer Säuberungs-Troika

In der Ukraine stand schon seit fast zehn Jahren Kossior an der Spitze der Partei. Der Apparat Kossiors mußte also gesäubert werden. Im Jahre 1937 bildeten Chruschtschow, Molotow und der gefürchtete NKWD-Chef Jeschow eine „Säuberungs-Troika“ für die Ukraine, um dort die „Volksfeinde“ zu liquidieren. Die Säuberungsgruppe'arbeitete erfolgreich. Die meisten Mitglieder des ukrainischen Kabinetts, des ukrainischen Obersten Sowjets und des ukrainischen Zentralkomitees wurden summarisch exekutiert. Vorsichtigen Schätzungen zufolge wurden sechzig Prozent des ukrainischen KP-Apparates liquidiert, ganz zu schweigen von Tausenden einfacher Parteimitglieder und ihren „Komplicen", den „klassenfeindlichen Elementen“ unter denen, die nicht der Partei angehörten.

In der offiziellen sowjetischen „Geschichte der Ukraine“ heißt es: „Nach der Ankunft von Stalins Wasfenkaweraden N. S. Chruschtschow in der Ukraine wachte die Beseitigung der Saboteure besonders erfolgreiche Fortschritte.“

Chruschtschow selbst sagt und viele tausend Urteile des Obersten Militärgerichts und anderer Gerichte in den fünfziger Jahren bestätigten, daß es damals keine Verschwörungen, Saboteure, keine Feinde mehr gab. Wie überall in der Sowjetunion forderte auch die Säuberung in der Ukraine Tausende und Zehntausende unschuldiger Opfer.

Während Molotow und Jeschow im Januar 1938 nach Moskau zurückkehrten, blieb Chruschtschow als Erster Sekretär des dortigen Zentralkomitees in der Ukraine. Er war Politbürokandidat, Vollmitglied des ukrainischen Politbüros, Mitglied des ukrainischen legislativen Präsidiums, und bald übernahm er auch die Stelle des Ersten Sekretärs von Stadt und Oblast Kiew. Er war nun der Diktator der Ukraine unter dem Chefdiktator Josef Stalin.

Die Monsterperiode der sowjetischen Geschichte, die Jeschowtschina, ging ihrem Ende entgegen. Zehn Tage vor Chruschtschows Ernennung in der Ukraine, am 19. Januar 1938, veröffentlichte das Zentralkomitee in Moskau ein neues Dekret mit dem Titel: „Über Fehler der Parteiorganisation beim Ausschluß von Kommunisten aus der Partei.“

Das neue Dekret beschuldigte, getreu der üblichen Stalin-Technik, einige Parteiführer und Funktionäre unverantwortlicher Exzesse während der Säuberungen. Das Dekret zählte mehrere Sündenböcke für die schlimmsten Schrecken des Jeschow-Terrors auf. Es diente noch einem anderen nützlichen Zweck. Zum Abschluß der blutigen Säuberungen mußten die letzten Antistalinisten, Zauderer und „Leisetreter" liquidiert werden, indem man gerade sie jener Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten anklagte, gegen die sie aufbegehrt hatten. In der Ukraine legte man ausgerechnet Postyschew, der es gewagt hatte, offen die Schuld der Säuberungsopfer anzuzweifeln, die schlimmsten Exzesse des Terrors zur Last. Stalin und das Politbüro in der Hauptstadt, Chruschtschow und seine neuen Männer in der Ukraine konnten nun als Verteidiger einer „sozialistischen Gesetzlichkeit" auftreten. Sie verhängten die Todesstrafe über die ukrainischen Parteiführer für die Massenmorde des NKWD, denen gerade diese Führer machtlos gegenübergestanden hatten.

Und das Dekret diente noch einem dritten Zweck. Stalin hatte vor, auch unter den tatsächlichen Säuberern eine Säuberung durchzuführen. Im Januar 193 8 schien Jeschow, der NKWD-Chef, noch auf der Höhe seiner Karriere. Man bezeichnete ihn als „das flammende Schwert der Revolution". Stalin aber ernannte im August 1938 Berija zum Vize-kommissar des NKWD, und einige Monate später wurde Jeschow hingerichtet; mit ihm einige hundert Spitzenfunktionäre des NKWD.

Chruschtschows Versetzung in die Ukraine kann eine Degradierung gewesen sein, denn die ukrainische Parteiorganisation war, verglichen mit derjenigen Moskaus, zweitrangig. Doch zugleich mit seiner Versetzung wurde er auch Politbürokandidat, was andererseits ein bedeutungsvoller Schritt nach vorn war.

Die Versetzung war für Chruschtschow eine Bewährungsprobe. Er verlor dabei seine Moskauer Gefolgschaft, der er vertrauen konnte. Die führenden Moskauer Positionen wurden nach seiner Versetzung auch nicht mit seinen Leuten besetzt. „Seine“ Männer wurden in verschiedene Parteiorganisationen des Landes verstreut. Immerhin erlaubte man ihm, eine Handvoll seiner besten Gefolgsleute mit in die Ukraine zu nehmen, und mit ihrer Hilfe konnte er dort einen neuen Parteiapparat aufbauen und einen neuen eigenen Stab organisieren.

Die Ukraine war damals in einem erbärmlichen Zustand. Die industrielle und die landwirtschaftliche Produktion waren im Rückstand, und im Transportwesen wie in der Versorgung der Industrie mit Rohstoffen herrschte ein Chaos. Zehn Jahre bürokratischer Elefantiasis hatten die Wirtschaft des Landes ruiniert. In der Atmosphäre des Mißtrauens und der Furcht wurden die bürokratischen Kontrollen in einem fast unglaublichen Ausmaß vervielfacht. Jede „Einheit“, sei es nun eine Grube, eine Kolchose oder eine Fabrik, wurde von unzähligen Regierungs-, Gemeinde-, Partei-und NKWD-Organisationen überwacht. Die entsprechenden Kommissariate, die zentralen und die lokalen Planungsbüros überschwemmten die „Einheiten“ mit Fragebogen und Instruktionen, und die „Einheiten“ mußten Berichte in acht oder neun Ausfertigungen abliefern. Das Heer der Bürokraten stand in keinem Verhältnis zur Zahl derer, die in der Produktion beschäftigt waren.

Die Säuberungen taten das übrige. Seit jeher waren „die Experten“ eine höchst verdächtige Klasse. Ingenieure, Wirtschaftler und Landwirte wurden zu Tausenden als Mitglieder nicht existierender Spionageringe verhaftet. Wenn die einander widersprechenden Befehle, die Mißachtung der Ratschläge von Fachleuten oder die minderwertige Qualität der Rohstoffe Betriebsstörungen verursachten, so war es das einfachste, „Sabotage" aufzudecken und — die Fachleute zu verhaften. Es gab im Schwerindustriegebiet des Donez-Beckens Fabriken, in denen während der dreißiger Jahre vier oder fünf aufeinanderfolgende Garnituren von Ingenieuren und Direktoren verhaftet wurden.

Die Situation war in der ganzen Sowjetunion die gleiche. Chruschtschow kannte in diesem Stadium seiner Karriere alle Schrecken, Absonderlichkeiten und alle sinnlosen, unnötigen Krankheiten des sowjetischen Lebens. Seit den frühen dreißiger Jahren hatte er selbst Menschen, von deren Unschuld er überzeugt war, als verachtungswürdige Feinde der Revolution brandmarken müssen. Viele der Opfer oder ihre Familien wandten sich an ihn und baten um Hilfe, die er nicht geben konnte.

Hat dies alles seine kommunistische Überzeugung erschüttert? Wohl kaum. Sein Glaube, daß der im Sterben liegende Kapitalismus bald in der ganzen Welt vom Kommunismus abgelöst werde, war gewiß unerschütterlich. Er hatte zwar seine Zweifel an Stalins Methoden, führte aber ein so ausgefülltes Leben, daß ihm wenig Zeit zum Nachdenken blieb. Wie alle anderen Apparatschiks konnte er sich sehr selten den Luxus leisten, Fragen nachzugehen, die nicht vordringlich waren.

In der Ukraine mußte er nun rasch Resultate vorweisen. Er mußte das Land vom Chaos befreien, ohne daß dabei die vielen bürokratischen Kontrollen verringert oder das Klima der Furcht geschwächt würden. Lange Zeit mußte er dem NKWD bei der Liquidierung jener Menschen helfen, die zu Unrecht wegen der Exzesse der früheren Säuberungen angeklagt waren, und er mußte weiterhin Feinde beseitigen, die ebenso unschuldig waren wie alle anderen auch.

Wie schon in Moskau, so sorgte er auch in der Ukraine dafür, daß er in der Öffentlichkeit als konstruktiver Führer galt, der sich hauptsächlich für die landwirtschaftliche und industrielle Entwicklung interessierte. Er reiste kreuz und quer durch die Ukraine, besuchte Minen, Stahlwerke, Kolchosen, Arbeiterklubs, technologische Institute. Überall mischte er sich unter das gemeine Volk und ließ sich fotografieren, wenn er mit Bauern, Kumpels, mit Studenten sprach. Da er die Bürokratie ausmanövrierte, wo er nur konnte, und gewiß auch mit Hilfe der größeren Autorität, die er als neuemannter Gouverneur genoß, erzielte er einige Re-sultate. Dazu kam die Tatsache, daß das NKWD nun weniger streng gegen die Experten vorging und daß Chruschtschow hier die Macht hatte, seine besten Fachleute vor der Verhaftung zu schützen.

Denn obwohl Stalin die oberste Leitung des NKWD in der Hand behielt und persönlich darüber entschied, welche Spitzenfunktionäre verhaftet werden sollten, wurden Hunderte mittlerer und Tausende kleinerer Funktionäre in der Ukraine auf gemeinsamen Beschluß Chruschtschows und des ukrainischen NKWD-Chefs verhaftet. Das ukrainische NKWD stellte Listen der Personen zusammen, die verhaftet werden sollten, Chruschtschow als Parteichef mußte diese Listen billigen und wies dann seinen Apparat an, die verdächtigen Personen aus der Partei auszuschließen. Frühere Anhänger Kossiors, Tchubars und Postyschews wurden erbarmungslos verfolgt. Chruschtschow hatte nun die Macht, jeden auszuschalten, der ihm in irgendeiner Weise gefährlich werden konnte.

In seinen öffentlichen Reden predigte er fortwährend Wachsamkeit gegenüber Klassenfeinden und solchen, die sich „in die Partei eingeschlichen haben". Er wurde der gefürchtete und verhaßte Diktator der Ukraine, gehaßt als Erzsäuberer und Leiter des neuen Russifizierungs-feldzugs.

Russifizierungsfeldzug in der Ukraine

Auf dem XIV. Kongreß der ukrainischen KP im Juni 193 8 ließ Chruschtschow keinen Zweifel daran, daß die Partei zwar Auswüchse der Säuberung nicht wünsche, „legale" Säuberungen aber dennoch für notwendig hielt. „Wir haben eine beträchtliche Anzahl von Feinden beseitigt“, sagte er in Kiew, „aber keineswegs alle. Solange die kapitalistische Einkreisung besteht, werden die Kapitalisten Spione und Saboteure in unser Land schicken.“

Im weiteren Verlauf seiner Rede griff er heftig den ukrainischen Nationalismus an und drückte seinen großen Unwillen darüber aus, daß „die Sprache des Leninismus-Stalinismus", die russische Sprache, in den ukrainischen Schulen nicht bevorzugt behandelt wurde. Die Schuld daran gab er der liquidierten Intelligenz und den Nationalisten. „Die 'Volksfeinde und bourgeoisen Nationalisten kannten die Kraft der russisdren Sprache und der russischen Kultur. Sie wußten, daß es die Kraft des Bolschewismus war, die Kraft Lenins und Stalins, die den Geist des ukrainischen Volkes beeinflussen würde . . . Deshalb verdrängten sie die russische Sprache aus den Sdtulen. In manchen ukrainischen Schulen lehrte man Deutsch, Französisch, Polnisch und andere Sprachen. Aber nicht Russisch. Die Feinde versuchten mit allen Mitteln, die Kultur des ukrainischen Volkes von der russischen Kultur zu trennen. In Kiew zum Beispiel erschien keine einzige Zeitung in russischer Sprache.“

Chruschtschow wußte natürlich wie jedermann in der Ukraine, daß die Partei in den späten zwanziger Jahren eine Politik der Ukrainisierung betrieben hatte. Stalin versuchte damals, die rebellischen Arbeiter und Bauern in den nichtrussischen Republiken zu besänftigen, indem er ihnen erlaubte, ihn und den Bolschewismus in ihren eigenen Sprachen zu preisen. Die Partei wollte damals Auseinandersetzungen mit ukrainischen Patrioten vermeiden, wenigstens was die Sprache anbetraf.

Doch während der wachsenden internationalen Spannungen in den Jahren 1938 und 1939 mußten Grenzrepubliken wie die Ukraine gefestigt werden. Chruschtschow war in den Augen der Ukrainer nicht nur der Großinquisitor, sondern auch der grausame Russifizierer, der Unterdrücker ihrer Sprache und ihrer Kultur. Die russische Sprache wurde Hauptfach in den Schulen, und Chruschtschows NKWD-Chef -ver doppelte seine Anstrengungen, alle tatsächlichen und möglichen Nationalisten zu entlarven.

Im Jahre 1939 hatte Chruschtschow seinen ersten Zusammenstoß mit Berija. Die erste Amtshandlung des neuen NKWD-Chefs war es, fünf führende NKWD-Funktionäre der Ukraine verhaften und hinrichten zu lassen. Diese Funktionäre waren in der Tat Werkzeuge des beseitigten Jeschow gewesen. Sie hatten mit der „Säuberungs-Troika" Molotow-Chruschtschow-Jeschow harmonisch zusammengearbeitet, die 1937 aus Moskau in die Ukraine entsandt worden war. Nun, als sie verhaftet wurden, standen sie gerade ein Jahr unter Chruschtschows Oberbefehl.

Chruschtschow arbeitete schon seit über acht Jahren eng mit dem NKWD zusammen. Er wußte, daß hohe Partei-und NKWD-Funktionäre nach ihrer Verhaftung gezwungen wurden, nicht nur Geständnisse über ihre eigenen Handlungen, sondern auch über die ihrer Vorgesetzten abzulegen. Im stalinistischen System hielt man solche Geständnisse für absolut beweiskräftig, da der Mann seine Aussage ja schließlich mit dem Leben bezahlte. Stalin und die NKWD-Chefs benutzten nicht im-mer sofort die „Geständnisse" gegen die Beschuldigten. Aber die erpreßten Aussagen bildeten die sogenannten „schwarzen Listen“, die Stalin und die NKWD-Chefs in ihren Geheimtresors aufbewahrten. Wann immer Stalin oder das NKWD'einen hohen Funktionär beseitigen wollten, griffen sie auf das angesammelte Material zurück. Alle höher-gestellten Mitglieder des Apparates wußten, daß solche Akten über sie existierten. Es gehörte zur Routinearbeit, stets über jedermann belastendes Material zur Hand zu haben.

Als Berija die ukrainischen NKWD-Chefs exekutierte, wußte Chruschtschow, daß Berija auch ein schwarzes Dossier über ihn hatte, das von seinem Vorgänger stammte, und daß nun neue Anschuldigungen dazugekommen waren. Auch er beging ja viele „Exzesse“ in der Ukraine.

Berijas zweite durchgreifende Aktion war eine Überprüfung aller Ausschlüsse aus der Partei. Berija nahm viele tausend ausgestoßene ukrainische Parteimitglieder wieder in die Partei auf, da sie unschuldig und auf Grund persönlicher Intrigen und Verleumdungen ausgestoßen worden waren. Wenn nötig, konnte Berija jeden Tag Tausende ungerechtfertigter Ausstoßungen aus der Partei aufzählen.

Auf dem XVIII. Parteikongreß wandte sich Berija dagegen, daß der Apparat die Schuld an allen Fehlschlägen Feinden und Saboteuren gab — eine weitere Warnung für Männer wie Chruschtschow, die seit 1934 an den Säuberungen teilgenommen hatten. Chruschtschow wußte, daß Berijas Anspielungen keine unmittelbare Gefahr für ihn bedeuteten. Aber ein NKWD-Chef ist immer für alle Spitzenfunktionäre gefährlich. Doch bis jetzt entsprachen Chruschtschows Wachsamkeit und selbst seine Säuberungsexzesse in der Ukraine durchaus der Parteilinie.

Stalin war mit Chruschtschow zufrieden. Auf dem XVIII. Parteikongreß der Sowjetunion im März 1939 wurde Chruschtschow Vollmitglied des Politbüros. Das Politbüro bestand nun aus Stalin, Andrejew, Kaga-nowitsch, Kalinin, Mikojan, Molotow, Woroschilow, Shdanow und Chruschtschow.

Er war nun einer der anerkannten acht Herrscher der Partei und der Sowjetunion unter Stalin, erhielt den Orden „Held der Arbeit", und die „Prawda Ukrainy“ propagierte eifrig den Chruschtschow-Kult.

Seine Karriere wurde außerdem dadurch gefördert, daß die ukrainischen Patrioten seine Bemühungen auf ihre Art vergalten. Im Jahre 1939 warfen sie ein kleines Paket in sein Eisenbahnabteil. Es explodierte und tötete die beiden Begleiter Chruschtschows. Sein Glück bewährte sich abermals, und er kam mit geringfügigen Verletzungen davon.

Im Sommer 1939 entfernte Stalin Maxim Litwinow, der seit 1930 sein Kommissar für Äußere Angelegenheiten gewesen war. Er war überzeugt, daß Litwinows Versuch, das Land politisch zu sichern, völlig fehlgeschlagen war und übergab Molotow das Außenministerium. Am 25. August 1939 schockierten Hitler und Stalin die Welt und die Sowjetunion, indem sie einen Nichtangriffspakt abschlossen. Dieser Vertrag hatte die Billigung des gesamten Politbüros. Alle Führer waren überzeugt, daß die „westlichen Imperialisten" Hitlers Armeen gegen die Sowjetunion marschieren lassen wollten. Nun glaubten sie, das Blatt sei gewendet. Durch den Nichtangriffspakt setzte Stalin umgekehrt Hitler in die Lage, sich gegen den Westen zu wenden. Das Politbüro kannte die Geheimklausel des Hitler-Stalin-Paktes, die Stalin freie Hand in den baltischen Staaten, in Finnland und im östlichen Teil Polens gab. Chruschtschow wußte, daß es seine Aufgabe wäre, große Teile Ostpolens der Ukraine einzuverleiben.

Als Hitler am 1. September 1939 Polen angriff, bereitete sich die Rote Armee auf eine rasche Besetzung Ostpolens vor. Elitetruppen wurden eingesetzt, und die Besetzung vollzog sich innerhalb von knapp drei Tagen. Ein kleinerer Teil Ostpolens wurde der Weißrussischen Sowjetrepublik einverleibt, der größere der Ukraine. Die Angliederung und Sowjetisierung war Chruschtschows Aufgabe. Er zog mit seinem Stab nach Lemberg, der Hauptstadt Polnisch-Galiziens, das nun den Namen „Westukraine“ trug. Das Gebiet hinter der neuen deutsch-sowjetischen Grenze wurde innerhalb weniger Tage zwangsweise evakuiert. Tausende von Güterzügen und Hunderte von Lastwagenkolonnen standen bereit, um die Kleinbürgerschaft, die Mittel-und Oberschicht in die Gefängnisse und die neuen Konzentrationslager zu transportieren. LInter Chruschtschows Leitung deportierten das NKWD und die Armee fast anderthalb Millionen Menschen in die sibirischen und nordrussischen Zwangs-arbeitslager. Das gesamte Offizierskorps der polnischen Armee und die polnische Intelligenz wurden verhaftet, denn die neueinverleibten Territorien mußten vom Gift des Kapitalismus desinfiziert werden.

Alle früheren Staats-und Gemeindebeamten, Industriellen, Händler, Landbesitzer, Bankangestellten, Lehrer, Rechtsanwälte, Richter wurden ausnahmslos verhaftet und in den meisten Fällen zusammen mit ihren Familien deportiert. Das NKWD verhaftete Priester, Rabbiner, polnische, ukrainische und jüdische Arbeiterführer, Alle politischen Parteien waren verdächtig, einschließlich der kommunistischen Untergrundbewegung. Die Führer aller Parteien wurden festgenommen, und als erste die der polnischen und der jüdischen sozialistischen Bewegungen. Später wurde der Deportierungsbefehl auf die polnischen und ukrainischen Kulaken ausgedehnt.

Die Juden behandelte man als Volksgruppe, und auch sie wurden deportiert, Es waren 600 000 Menschen. Die Rote Armee selbst machte während der kurzen Okkupationskampagne 190 000 Kriegsgefangene. Grob geschätzt, wurden ungefähr zwei Millionen Menschen verhaftet oder aus den neubesetzten Territorien deportiert.

Chruschtschow war dank der Wirksamkeit seiner administrativen Maßnahmen, mit denen er die Deportationen und die Sowjetifizierung der Westukraine ausführte, in Moskau hochgeschätzt; ihm fielen nun auch die Aufgaben zeremonieller Art zu. Sein Stab bereitete die Wahl-listen für die „Volksversammlungen“ vor, die einstimmig den Anschluß an die sowjetische Ukraine beschließen sollten. Die Besetzung der polnischen Ukraine begann am 17. September 1939, und am 22. Oktober stimmten mehr als 92 Prozent der Wähler für Chruschtschows Kandidaten. Am 1. November wurde die „Westukraine“ offiziell der Sowjetunion angegliedert

Am 27. Juni 1940 verlangte die Sowjetunion durch ein Ultimatum von Rumänien die Rückkehr Bessarabiens und der Bukowina. Die Bevölkerung dieser Gebiete war „durch ihre Geschichte, ihre Sprache und die nationale Zusammensetzung“ mit der Ukraine verbunden. Am nächsten Tag begann die Rote Armee mit der Besetzung dieser Territorien. Wieder mußte sich Chruschtschow mit Angliederung und Deportationen befassen. Seine ukrainische Republik wuchs enorm an Bevölkerungszahl und Territorium. In den neueinverleibten Gebieten begann er die Landwirtschaft zu kollektivieren, Industrie und Handel zu sozia-lisieren. Das Land, das er regierte, und das nun beinahe 40 Millionen Einwohner zählte, hatte zur Außenwelt eine lange Grenze. Die Spionageabwehr mußte also besonders verstärkt werden.

Während der drei Jahre von 1938 bis 1940 sammelte er reiche Erfahrungen in der Regierung eines großen Landes. Er experimentierte mit Musterkolchosen, mit dem Anbau von Mais, mit den Problemen der Kartoffelproduktion, zugleich aber war er für das wichtigste Schwerindustriegebiet der Sowjetunion verantwortlich und für die Russifizierung großer nichtrussischer Bevölkerungsteile, für die Einverleibung neuer Völkerschaften, die an „kapitalistische Lebensart“ gewöhnt waren, und für die verstärkten VerteidigungsVorbereitungen. Westliche Kommentatoren, die die Leichtigkeit bewunderten, mit der Chruschtschow, der „Newcomer", die Sowjetunion nach 1956 regierte, wußten offenbar nichts von dem Jahrzehnt, in dem er die Moskauer Provinz und die Ukraine regierte.

Stalin glaubte nicht an deutsche Offensive

Am 22. Juni 1941 griff Hitler die Sowjetunion an. Schon seit April waren im Kreml Warnungen und Berichte eingegangen, doch Stalin schenkte ihnen keinen Glauben und gab sogar ausdrücklich Befehl, daß man Informationen dieser Art nicht überbewerten dürfe. In Chruschtschows Parteidienststelle in Kiew glaubte man den Berichten. Die deutschen Armeen standen an der ukrainischen Grenze. Am Tag des Angriffs konferierte Chruschtschow in Moskau. Sofort eilte er nach Kiew zurück.

In seiner Anti-Stalin-Rede von 1956 sprach er über die ersten Tage des deutsch-sowjetischen Krieges: „Trotz dieser überaus ernsten Warnungen wurden nicht die erforderlichen Vorkehrungen getroffen, das Land auf die Verteidigung vorzubereiten und es vor Überraschungsangriffen zu schützen . . .

Hätte man unsere Industrie rechtzeitig Mobilisiert, damit sie die ArMee Mit dem nötigen Material versorgte, dann wären unsere Kriegs-verluste wesentlidt geringer gewesen . .. Sdton in den ersten Kriegstagen zeigte sich, dafl unsere Armee sddedit bewaffnet war, das] wir nidtt genügend Artillerie, Panzer und Flugzeuge besaßen, um den Feind zurückzuwerfen ...

Bei Ausbrudi des Krieges hatten wir nidtt einmal genügend Gewehre, um die mobilisierten Einheiten zu bewaffnen. Idi erinnere mich daran, daß idi in jenen Tagen den Genossen Malenkow von Kiew aus anrief und ihm sagte: . Die Leute haben sich freiwillig in die neue Armee gemeldet und wollen Waffen. Schidren Sie uns Waffen!'

Malenkow antwortete mir:

, Wir können keine Waffen sdtidten. Wir sdiidten alle unsere Gewehre nach Leningrad. Ihr müßt euch selbst bewaffnen.'

+ In diesem Zusammenhang dürfen wir auch folgende Tatsache nicht vergessen: Kurz vor dem Einfall der Hitler-Armee in die Sowjetunion schrieb Korponos, der Chef des Kiewer Militärdistrikts (er fiel später an der Front), an Stalin, daß die deutschen Armeen am Bug stünden, einen Angriff vorbereiteten und wahrsdteinlidt in sehr naher Zukunft ihre Offensive beginnen würden. Korponos schlug vor, starke Abwehr-maßnahmen zu treffen, 300 000 Menschen aus den Grenzgebieten zu evakuieren, und ... Panzergräben, Unterstände für Soldaten usw. anzulegen.

Moskau antwortete auf diesen Vorsdilag mit der Versicherung, dies stelle eine Provokation dar, es dürften keine vorbereitenden Verteidigungsmaßnahmen an den Grenzen getroffen werden, damit die Deut-sehen keinerlei Vorwand für eine militärische Aktion gegen uns hätten. Deshalb waren unsere Grenzen unzureichend geschützt.

Als die Naziarmeen dann tatsächlich in das sowjetische Territorium eingedrungen waren und die militärischen Operationen begannen, gab Moskau Befehl, das deutsche Feuer nicht zu erwidern. Warum? Weil Stalin trotz aller Beweise glaubte, der Krieg habe noch nicht begonnen, es handle sich nur um eine Provokation seitens einiger undisziplinierter Einheiten der deutschen Armee und unsere Reaktion könne den Deutschen die Handhabe bieten, den Krieg wirklich zu beginnen . . . Alles wurde ignoriert: die Warnungen verschiedener Truppenkowmandeure, die Aussagen von Deserteuren der feindlichen Armee und sogar die offene Feindseligkeit des Gegners ...

Und was waren die Folgen dieses Leichtsinns, dieser Mißachtung offenkundiger Tatsachen? Das Ergebnis war, daß der Feind bereits in den ersten Stunden und Tagen in unseren Grenzgebieten einen großen Teil der Luftstreitkräfte, der Artillerie und anderer Waffen zerstört hatte. Er vernichtete viele unserer Militärkader und rieb unsere militärische Führung auf. Infolgedessen konnten wir den Feind nicht daran hindern, tief in unser Land einzudringen.“

Experte für Evakuierung und Organisator der Partisanenbewegung

Als politisches Oberhaupt der Ukraine, als Mitglied des Politbüros und als einer der Führer des örtlichen Militärrats war Chruschtschow unmittelbar in alle politischen, wirtschaftlichen und militärischen Maßnahmen verwickelt. Er war mit der Mobilisierung der Wirtschaft beauftragt, mit Plänen zur Evakuierung ganzer Industriebetriebe und der Bevölkerung. Er mußte dafür sorgen, daß alle wichtigen industriellen Anlagen rasch abmontiert und nach Osten befördert und zurückgelassene Maschinen zerstört wurden.

Die rasche Verlagerung Hunderter von Fabriken, aller Vorräte und des gesamten Viehbestandes war eine der Sensationen dieser Kriegsphase. Sie wurde von sowjetischen und westlichen Beobachtern gleichermaßen bestaunt, und selbst deutsche Kommentare äußerten ihre Bewunderung. Chruschtschows administrative und organisatorische Talente bewährten sich glänzend.

Er arbeitete Tag und Nacht und kümmerte sich um nichts als um seine Arbeit. Wie die Mehrzahl der Russen war auch er vom Kampf völlig in Anspruch genommen. Seit vielen Jahren war dies das erste Mal, daß die Russen wirklich einig waren. Der Kampf gegen die ver-

Invasoren ging jeden an. Da Chruschtschow in den -haßten unmittel bar gefährdeten Gebieten arbeitete, gab er das geschützte Leben des auf. Sein Leben war ein verzweifelter Kampf Spitzenapparatschiks nun gegen die Zeit und ein einziger Versuch, das Unmögliche zu schaffen.

Als die deutschen Armeen große Teile der Ukraine überrannten, mußte er eine Partisanenarmee hinter den deutschen Linien aufbauen. Ausgewählte Parteiführer, Armee-und NKWD-Offiziere wurden in den von Deutschen besetzten Gebieten zurückgelassen, um Partisanenbewegungen zu organisieren, ihre Operationen zu leiten und Chruschtschow Bericht zu erstatten. Die evakuierte ukrainische Regierung unter Chruschtschows oberster Leitung betrieb in der besetzten Ukraine Propaganda gegen die Deutschen. Die Verbindungsleute der unter Chruschtschows Kommando stehenden Partisanen versuchten, mit unabhängigen und versprengten Partisanengruppen in Fühlung zu kommen. Es bestand die große Gefahr, daß Hunderttausende von Ukrainern auf die deutsche Seite übergingen und daß sich große ukrainische Partisanen-armeen bildeten, die Stalins Regime ebenso feindlich gegenüberstanden wie dem Hitlers.

Chruschtschow war der Chef des ukrainischen Stabes und Mitglied des Generalstabs der Partisanenbewegung, die Stalins Oberkommando unterstand. Zugleich gehörte er dem Militärrat der Südfront an.

Während der Kriegsjahre kümmerte sich Stalin noch weniger als zuvor um die Parteistatuten. Er regierte die Sowjetunion und befehligte die Armeen durch sein Staatsverteidigungskomitee, das anfangs aus Molotow, Woroschilow, Malenkow und Berija bestand. Die beiden letzteren waren noch nicht Mitglieder des Politbüros, doch überragten sie nun an tatsächlicher Macht Kaganowitsch, Mikojan, Chruschtschow und die anderen Politbüromitglieder. Malenkows Aufstieg ergab sich ganz zwangsläufig aus der Tatsache, daß er 1939 in Stalins Sekretariat und das Orgbüro ausgenommen wurde. Auch Berija, der als oberster Chef des NKWD nun bereits seine eigene Truppe, eine Flotte und eine Luftwaffe hatte, war für diese Schlüsselposition auserlesen. Die NKWD-Einheiten spielten bei allen Kriegsoperationen eine bedeutende Rolle. Sie hatten die Aufgabe, Truppen, die sich ohne Befehl vor dem Feind zurückzogen, mit Maschinengewehrfeuer von hinten an der Flucht zu hindern.

Nikita S. Chruschtschow erhielt ebenso wie Shdanow, Bulganin, Schtscherbakow und andere Spitzenfunktionäre einen militärischen Rang. Er wurde Generalleutnant und arbeitete mit den Militärräten von Kursk, Woronesch, Stalingrad und im Ersten Ukrainischen Militärrat. Als bewährter Evakuierungsexperte leitete er die Räumung des Stalingrader Gebietes. Wieder mußte er ganze Fabriken samt der Zivilbevölkerung, allen Vorräten und dem ganzen Viehbestand nach Osten verlagern. Später, während des Winters 1942/43, befehligte er einige Monate lang die Partisanentruppen an der Stalingrad-Front.

Doch während der ganzen Zeit, in der die Ukraine von den Deutschen besetzt war, war es seine Hauptaufgabe, die Partisanenbewegungen und die Untergrundbewegung der Partei in der Ukraine zu leiten. Demian Korotschenko, der schon in der Moskauer Organisation sein nächster Untergebener gewesen war und den er 193 8 mit in die Ukraine genommen hatte, war nun sein Feldkommandeur. Korotschenko besuchte sogar die verschiedenen Partisanenhauptquartiere hinter den deutschen Linien, gab Chruschtschows Befehle an sie weiter und überbrachte ihm Berichte über die Lage.

Und die Lage war alles andere als befriedigend. Große Partisanen-truppen, die gegen die Deutschen kämpften, weigerten sich, mit den sowjetischen Verbindungsoffizieren und den bolschewistisch geführten Partisaneneinheiten zusammenzuarbeiten. In der Westukraine beherrschten rebellische Partisanentruppen große Gebiete.

Während der deutschen Besetzung appellierte die sowjetische Propaganda in der Ukraine an den Nationalismus und Patriotismus der Ukrainer. Als sich im November 1943 das Blatt wendete und Chruschtschow Kiew, seine Hauptstadt, „befreien“ konnte, fand er nicht nur eine verwüstete Stadt vor, sondern er wußte auch, daß er gegen ein neues und starkes Wiederaufleben des ukrainischen Nationalismus angehen mußte.

Vom Juni 1941 bis November 1943 war Chruschtschow vor allem Parteikommissar bei verschiedenen Armeen und Armeeräten. Seine Arbeit als Evakuierungschef der Ukraine und des Stalingrad-Abschnitts und seine Zusammenarbeit mit den Generälen an der Front brachte ihn mit vielen tausend Menschen auch außerhalb des Apparates zusammen. Er hatte dabei reichlich Gelegenheit, sich über die unklugen, willkürlichen Entschlüsse von Stalins Staatsverteidigungskomitee zu ärgern. Seine Abneigung gegen seine Rivalen, die ständig in der Nähe Stalins waren, wuchs an. Er lebte nun in verschiedenen Divisions-und Armee-hauptquartieren, und die Probleme und Sorgen der einzelnen Kommandeure wurden seine eigenen. Es knüpften sich engere Freundschaftsbande zwischen ihm und vielen Generälen an; der tiefe Haß, den die Armee-führer gegen das NKWD hegten, und ihr Zorn über die fortgesetzte Einmischung der politischen Führerschaft in militärische Angelegenheiten waren ihm nun gegenwärtig.

Die Abschnitte in Chruschtschows Anti-Stalin-Rede von 1956, die sich mit dem Krieg befaßten, verfolgten drei Hauptzwecke: Er wollte die Legende von Stalins Feldherrentum zerstören; er wollte den Kongreß daran erinnern, daß er, Chruschtschow, während des Krieges an der Front war, daß er auf der Seite des Militärs stand und daher gegen Stalins militärische Stümpereien zu kämpfen hatte, daß er während des Krieges kein Stalin-Mann war; und er wollte Malenkow mit Stalin in Verbindung bringen und zeigen, daß Malenkow Stalins zweites Ich gewesen war: „Sehr ernste Folgen, besonders zu Beginn des Krieges, hatte die Liquidierung zahlreicher militärischer Führer und politischer Funktionäre, die in der Zeit von 1937 bis 1941 auf Grund von Stalins Mißtrauen und auf seine verleumderischen Anschuldigungen hin erfolgte. In diesen Jahren wurden Teile des Militärapparats liquidiert, und zwar buchstäblich vom Kompanie-und Bataillonskommandeur bis zu den hödcsten militärischen Stäben. In dieser Zeit wurde der Führungskader, der in Spanien und iw Fernen Osten wilitärische Erfahrungen gesawwelt hatte, fast vollständig beseitigt ... Und wir hatten, wie Sie wissen, vor dem Krieg ausgezeichnete militärisdie Kader, die der Partei und dem Vaterland treu ergeben waren. Es genügt der Hinweis, daß sich auch diejenigen von ihnen, die die schweren Folterungen in den Gefängnissen überlebten, von den ersten Kriegstagen an als wahre Patrioten gezeigt und heldenhaft für den Ruhm des Vaterlandes gekämpft haben . . . Man darf auch nicht vergessen, daß Stalin nach den ersten schweren Niederlagen und Rückschlägen an der Front glaubte, dies sei das Ende. In einer seiner Reden sagte er damals: . Alles, was Lenin geschaffen hat, haben wir für immer verloren.! Damals leitete Stalin lange Zeit keine militärischen Operationen mehr und zog sich in völlige Untätigkeit zurück. Er übernahm die aktive Führung erst wieder, als ihn einige Mitglieder des Politbüros aufsuchten und ihm erklärten, es sei notwendig, sofort Maßnahmen zur Verbesserung der Lage an der Front einzuleiten . . . Selbst nachdem der Krieg begonnen hatte, verursachten Stalins Nervosität und Hysterie unserer Armee ernste Sdtäden, wenn er sich in die militärischen Operationen einmischte.

Ich möchte in diesem Zusammenhang nur ein charakteristisches Beispiel anführen, das illustriert, wie Stalin die Operationen an der Front leitete. Als sich im Gebiet um Charkow eine äußerst ernste Lage entwickelte, entschlossen wir uns, eine Operation abzubrechen, deren Ziel es gewesen war, Charkow einzukreisen, da die damalige Lage unsere Armee schwer gefährdet hätte, wenn die Operation fortgesetzt worden wäre. Entgegen dem gesunden Menschenverstand lehnte Stalin unseren Vorschlag ab und befahl, die Operation durchzuführen, obwohl damals unsere Armeen selbst von der Umzingelung bedroht waren.

Ich telefonierte mit Wassilewsky — er ist hier anwesend — und bat ihn:

Alexander Michailowitsch, nimm eine Landkarte und schildere dem Genossen Stalin die Lage. Zeig es ihm auf der Landkarte. So, wie die Dinge jetzt stehen, können wir das geplante Unternehmen nicht fortsetzen. Der alte Entschluß muß geändert werden.

Wassilewsky antwortete mir, Stalin habe dieses Problem bereits studiert, und er, Wassilewsky, könne Stalin nicht noch einmal in dieser Angelegenheit aufsuchen, da dieser jedes Gespräch über dieses Thema ablehne.

Nach meinem Gespräch mit Wassilewsky rief ich Stalin in seiner Villa an. Malenkow war am Apparat. Ich sagte dem Genossen Malenkow, daß ich von der Front aus anriefe und daß idt mit Stalin selbst sprechen wollte. Stalin ließ mir durch Malenkow ausrichten, daß ich mit Malenkow sprechen solle. Idi bradite zum zweitenmal vor, daß ich Stalin persönlich von der ernsten Lage unterriditen wollte, die sich für uns an der Front ergeben hatte. Dodt Stalin hielt es nicht der Mühe wert, den Hörer in die Hand zu nehmen, und sagte nodt einmal,. idt solle ihm alles durch Malenkow ausrichten lassen, obwohl er nur ein paar Schritte vom Apparat entfernt war. Nachdem sich Stalin auf diese Art unsere Bitten , angehört‘ hatte, sagte er: , Es soll alles so bleiben, wie es ist.'Und was war das Ergebnis? Das Schlimmste, was wir erwartet hatten. Die Deutsdien kesselten unsere Armeen ein, und wir verloren 100 000 unserer Soldaten.

So stand es um Stalins militärisches . Genie', und das, hat es uns gekostet.“

Faschismus „das logische Extrem des Kapitalismus"

Da sich Chruschtschow in den Frontgebieten aufhielt, hat er gewiß auch einiges an Kriegsschrecken erlebt. Er nahm an zahlreichen überstürzten Rückzügen teil, sah, wie Fronten zusammenbrachen, wie Dutzende von Divisionen eingekreist und aufgerieben wurden. Während der massiven deutschen Angriffe gegen den Stalingrad-Abschnitt war er von seinem Hauptquartier in Kalacha am Don aus an vielen der verzweifelten Verteidigungsoperationen beteiligt. Damals fiel sein ältester Sohn Leonid im Kampf um Stalingrad.

Stalingrad gewann für Chruschtschow eine größere Bedeutung als für die meisten anderen Sowjetführer. Er organisierte die Evakuierung der Stadt, er war für die Zivilbevölkerung dicht hinter der Front verantwortlich. Er versuchte, Lebensmittel heranzuschaffen, und mußte dafür sorgen, daß die Bauern und Arbeiter des Gebietes den Streitkräften alle erdenkliche Hilfe leisteten. Und doch schickte Stalin Malenkow als seinen Bevollmächtigten an die Stalingrad-Front. Malenkow koordinierte als Repräsentant des Staatsverteidigungskomitees alle Operationen, obwohl er damals noch nicht einmal Politbüro-Mitglied war.

Aber wie immer Chruschtschow über Stalin dachte, über Malenkow und die anderen, ihr Mißtrauen gegenüber den westlichen Alliierten teilte er. Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion überraschte ihn nicht; dagegen war es eine große Überraschung für ihn, als Churchill am Abend des 22. Juni 1941 Rußland eine brüderliche Allianz im Kampf gegen den gemeinsamen Feind anbot.

In seiner Anti-Stalin-Rede berichtete Chruschtschow wahrheitsgemäß, daß Churchill der erste war, der Stalin von der drohenden Attacke Hitlers unterrichtete. Chruschtschow fügte hinzu: „Selbstverständlich hat Churchill dies keineswegs aus Freundsdtaft für die Sowjetunion getan. Er verfolgte dabei seine eigenen imperialistischen Ziele: Er wollte Deutschland und die Sowjetunion in einen blutigen Krieg verwickeln und dadurch das britische Imperium stärken.“

Chruschtschow konnte sich nicht vorstellen, daß Churchill andere als imperialistische Ziele verfolgte. Er war, genau wie die anderen sowjetischen Führer, davon überzeugt, daß der Faschismus „das logische Extrem des Kapitalismus" sei.

Am Tage des deutschen Angriffs erwarteten die sowjetischen Führer, daß Großbritannien mit Deutschland Frieden schlösse, nun, da das Ziel erreicht war, Hitlers Divisionen gegen den wahren Feind zu schicken. Als Churchill das Gegenteil ankündigte, war man nicht eben erleichtert. Stalin und seine Parteiführer hofften, daß Großbritannien den Krieg wenigstens einige Wochen fortsetzen möge.

Das Verhalten und die Äußerungen der Funktionäre wie Chruschtschow zeigte während der Kriegsjahre deutlich, daß es ihnen das „Parteiwissen“ und ihr leninistisch-stalinistisches Dogma unmöglich machten, Motive und Handlungen der westlichen Alliierten zu verstehen.

Hinter jeder Aktion und jeder Zusicherung suchten sie verstechte „imperialistische Tricks". Nach zwanzig Jahren Spionenfurcht sahen sie in jedem ausländischen Besucher der UdSSR einen Agenten. Die amerikanischen und britischen Militärmissionen, die alliierten Kriegskorrespondenten und Wirtschaftsexperten waren in der Sowjetunion von dichten Netzen aus Mißtrauen und Bürokratie umgeben. Man hielt es noch immer für gefährlich, einen Ausländer aufzusuchen, und sei es selbst auf Befehl der Partei oder der Regierung. Chruschtschow war, wie die meisten Funktionäre, während des ganzen Krieges überzeugt davon, daß die westlichen Alliierten weit weniger materielle Hilfe lieferten, als sie es sich leisten konnten, daß sie vorsätzlich die Errichtung einer zweiten Front aufschoben und hofften, Hitler werde in der Zwischenzeit die Sowjetunion vernichten. Stalin und die ihn umgebenden Zivilisten, sowie die politischen Führer an den verschiedenen Fronten, wie Chruschtschow, wußten wenig vom Seekrieg und vom Transport ganzer Armeen über Meere. Sie konnten nicht verstehen, weshalb es unmöglich sein sollte, Divisionen mit ein paar Geleitzügen zu transportieren. In ihrem Unwissen ahnten sie nicht einmal, daß der Transport von fünf oder sechs Divisionen ein gigantisches Unternehmen ist, zu dem viele hundert große Transportschiffe und ein ungeheurer Geleitschutz aus der Luft erforderlich sind. Alle Bemerkungen und Reden Chruschtschows über die Kriegsperiode zeigen, daß er glaubte und noch heute glaubt, Großbritannien und Amerika hätten während des Krieges nur ein Ziel gekannt: gegen die Sowjetunion zu arbeiten. Da die Sowjetführer die leninistisch-stalinistisch politische Wissenschaft beherrschten, wußten sie, daß Kapitalisten nicht anders handeln können. Die Kriegsjahre stärkten auch seinen Glauben an ein anderes leninistisch-stalinistisches Dogma, das über die Unzuverlässigkeit „des Volkes“, vor allem der Bauern, die leicht mit dem Gift des Kapitalismus infiziert werden können, aber auch der Arbeiter, die „bourgeoise Ideen bekommen, wenn man sie sich selbst überläßt“, über die unzuverlässigen Intellektuellen und die widerspenstigen Patrioten und Nationalisten.

Doch erst als die deutschen Armeen die Ukraine räumten, erkannten die Sowjetführer das ganze Ausmaß des Hasses unter der ukrainischen Bevölkerung gegen das bolschewistische System. Obwohl Millionen vor dem deutschen Angriff evakuiert wurden, und obwohl weitere Millionen in der Roten Armee dienten, gingen über eine Million Ukrainer zu den Deutschen über, während viele hunderttausend andere die Ukraine gegen die Rote Armee verteidigten. Am 1. März 1944 griff Chruschtschow in seinem Bericht vor dem Ukrainischen Obersten Sowjet die ukrainischen „nationalistischen Aufrührer“ an, nannte sie Faschisten und Verräter am ukrainischen Volk und behauptete sogar, die ukrainischen nationalen Partisanenverbände hätten nur gegen die Deutschen gekämpft, um das Volk irrezuführen. Durch ein Amnestieversprechen hoffte er sie schwächen zu können. Man versprach ihnen Straffreiheit, wenn sie sich der Roten Armee ergaben, und den Tod, falls sie ihren Widerstand fortsetzten.

Das Amnestieversprechen und die Aufforderungen, die Waffen niederzulegen, wurden längere Zeit wiederholt. Schließlich wurde der ukrainische Widerstand durch massive Großangriffe der Armeekorps gebrochen, die man in die Partisanengebiete schickte; zugleich durchsetzte man die Partisaneneinheiten mit Agenten. Chruschtschow und sein NKWD schreckten vor keinem Mittel zurück. Das NKWD brachte in allen „befreiten“ Städten und Dörfern Briefkästen für anonyme Denunziationen an.

Deportation von Juden wird verschwiegen

Zwei Jahre deutscher Besetzung und die Hoffnung auf nationale Unabhängigkeit hatten ganze Gebiete der Westukraine und der alten Ukraine infiziert. Wiederum wurden Hunderttausende nach Osten verschleppt. In der gleichen Zeit deportierte man auch ganze Nationen. „Die Sowjetunion wird mit Recht als ein mustergültiger Vielvölkerstaat betrachtet, weil wir die Gleichheit und Freundschaft aller Völker gesichert haben, die in unserem großen Vaterland zusammenleben.

Umso ungeheuerlicher sind die Taten, die auf Veranlassung Stalins geschahen und die schwere Verstöße gegen die fundamentalen leninistischen Grundsätze über die Nationalitätenpolitik des Sowjetstaates sind. Wir meinen damit die Massendeportationen ganzer Völker mitsamt allen Kommunisten und Komsomolzen, ohne jede Ausnahme. Diese Deportationen waren durch keinerlei militärische Überlegungen diktiert.

So wurde bereits Ende 1943,. als sich im Großen Vaterländischen Krieg durch die massiven Durchbrüche unserer Armeen an den Fronten das Blatt zugunsten der Sowjetunion wendete, ein Beschluß über die Deportation sämtlicher Karatschaijer aus ihrem angestammten Land gefaßt und durchgeführt. Zur gleichen Zeit, Ende Dezember 1943, ereilte die gesamte Bevölkerung der Autonomen Kalmückenrepublik dasselbe Schicksal. Im März 1944 wurden alle Tschetschenen und Inguschen deportiert und die Autonome Republik der Tschetschenen und Inguschen aufgelöst.

Im April 1944 wurden sämtliche Balkaren aus dem Gebiet der Autonomen Republik der Kabardiner und Balkaren in entlegene Gebiete verschleppt, und die Autonome Republik selbst wurde in Autonome Kabardinische Republik umbenannt. Die Ukrainer entgingen diesem Schicksal lediglich deshalb, weil sie zu zahlreich sind und kein Raum vorhanden war, wohin man sie hätte deportieren können. Sonst hätte er auch sie deportiert. Nicht nur kein Marxist-Leninist, sondern überhaupt kein vernünftiger Mensch kann verstehen, wie es möglich ist, ganze Völker samt Frauen und Kindern, Alten, Kommunisten und Komsomolzen für feindliche Handlungen verantwortlich zu machen, Massenrepressalien gegen sie anzuwenden und sie wegen feindseliger Akte einzelner oder kleinerer Gruppen der Not und dem Elend auszusetzen. “ (Chruschtschow in seiner Anti-Stalin-Rede.)

Ein typisches Beispiel des vom Dogma verblendeten Denkens. Wenn kollektive Bestrafung verwerflich ist, wenn Frauen, Kinder und Greise nicht für die Verbrechen einiger ihrer Landsleute bestraft werden sollten, wie steht es dann mit den Frauen, Kindern und Alten von „Klassenfeinden“?

Dieser Teil von Chruschtschows Rede ist auch wegen seiner Auslassungen bedeutsam. Er erwähnte nichts von der kollektiven Bestrafung und Massendeportation von Polen, die er selbst geleitet hatte, offensichtlich „von militärischen Überlegungen diktierte“ Deportationen. Aber er erwähnte auch nichts von der Deportation von Ukrainern und Juden aus der Ukraine, nachdem sie wieder von sowjetischen Truppen besetzt war. Ebensowenig sprach Chruschtschow über die Massendeportationen der 250 000 Krimtataren und der 400 000 Wolgadeutschen.

Vom Ende des Jahres 1943 an war der Generalleutnant Chruschtschow vor allem anderen wieder Herrscher der Ukraine. Abermals hatte er die Aufgabe, dort einen neuen kommunistischen Parteiapparat aufzubauen, die „Überbleibsel des Feindes in allen Schichten“ zu liquidieren, jene Funktionäre zu verhaften, die sich während der Okkupation als unzuverlässig erwiesen hatten oder die nun, nach den Kriegs-schrecken, zögerten, harte Maßnahmen durchzuführen.

Noch war der Krieg nicht beendet. Die sowjetischen Armeen warfen aber die deutschen Divisionen ständig weiter zurück, und immer noch beseelte das patriotische Gefühl viele Russen. Der Parteiapparat wandte sich wieder seinen normalen Aufgaben zu: Organisation und Säuberung. Die völlig verwüstete Ukraine mußte neu aufgebaut werden. Chruschtschow stand der schwersten Aufgabe seines Lebens gegenüber. Er war verantwortlich für alle politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Probleme eines Landes mit vierzig Millionen Einwohnern. Die politische Entspannung, die während des Krieges eingetreten war, mußte rückgängig gemacht werden. Chruschtschows Gebiet hatte während der Kriegs-jahre am stärksten gelitten, und nun sollte es ein Beispiel des Wiederaufbaus geben. Er erhielt einige zusätzliche Ämter. Im August 1944 wurde er Vorsitzender des Komitees, das die Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener untersuchte, und im Jahre 1945 war er Vorsitzender einer Kommission von Fachleuten, die den Wiederaufbau Warschaus planten. Als Führer der Ukraine war er auch am Aufbau des Nachkriegsregimes Polens beteiligt. Gleichzeitig gehörte er einem Rat für Fragen landwirtschaftlicher Kollektive der gesamten Sowjetunion an. Außerdem behielt er natürlich seine Mitgliedschaft im Politbüro.

Als der Sieg errungen war, ein Sieg von einem Ausmaß, den man sich nicht erträumt hatte, war Chruschtschow weit mächtiger als zu Beginn des Krieges.

Wer wird die kommunistische Welt führen?

Der Machtkampf hinter den Kulissen war keineswegs das Haupt-ergebnis des XX. Parteitages. Vor allem machte sich der Kongreß Chru-schtschows Thesen über den Aufbau des Kommunismus zu eigen, billigte den neuen Siebenjahresplan und stimmte Chruschtschows ideologischem Angriff auf die chinesische Abweichung aus ganzem Herzen zu. Darin offenbarten sich die wahren Pläne der Chruschtschow-Führung für die kommenden Jahre. Ebenso legte der Kongreß auch die tatsächlichen Beweggründe für die sowjetische Friedenspolitik bloß. Chruschtschows Thesen und die theoretischen Grundlagen des neuen Siebenjahresplanes beruhen auf vielen entscheidenden Faktoren. Einer der Hauptfaktoren war die chinesisch-sowjetische ideologische Rivalität.

Der XX. Parteitag hatte es notwendig gemacht, ein neues Parteiprogramm für die zweite Hälfte des Jahrhunderts aufzustellen, als er die Unfehlbarkeit der stalinistischen Dogmen erschütterte. Chruschtschow arbeitete ein solches Programm aber nicht aus, so daß seine „ideologische Flanke“ ungeschützt blieb. Seine Rivalen haben denn auch nicht gezögert, ihm von dieser Linie aus Irrtümer und Unstimmigkeiten im Aufbau von Industrie und Landwirtschaft vorzuwerfen. In Rußland traten Malenkow, Kaganowitsch und Molotow in die ideologische Bresche, im Ausland Mao Tse-tung, Tito und — bis zu einem gewissen Grad Go-mulka. Die Frage lautet nun: „Wer wird der Lenin unserer Zeit, der neue unfehlbare Interpret des Marxismus, der ideologische Führer der kommunistischen Welt?“

Als sich der Gegensatz verstärkte, zeichnete sich die Frontlinie immer klarer ab. Sie lag zwischen der UdSSR und China. Wer würde „den entscheidenden Sprung nach vorwärts“ tun? Wer würde die endgültige Linie der kommunistischen Entwicklung und der wirtschaftlichen Rettung der unterentwickelten Länder ausarbeiten?

Die Tatsache, daß diese Frage überhaupt gestellt werden konnte, zeigt wie wenig die kommunistischen Führer die Situation begriffen, der sie gegenüberstanden. Die Sowjetunion, der es schon nicht gelungen war, Jugoslawien ihren Willen aufzuzwingen, konnte kaum hoffen, die chinesische KP zur Anerkennung ihrer Unfehlbarkeit zu bringen. Es blieb also nichts anderes übrig, als sich auf die mystische ideologische „Rechtgläubigkeit“ zu berufen, die auf einer demagogischen Textauswahl aus den Werken von Marx und Lenin beruhte. In der Praxis vertiefte dies jedoch nur die Mißstimmung, da damit die Streitfragen angeschnitten wurden, die das persönliche Prestige und die Autorität Maos und Chruschtschows betrafen. Nach der marxistischen Theorie entwickelt sich die menschliche Gesellschaft vom Kapitalismus über den Sozialismus zum Kommunismus. Der „Kommunismus“ in diesem Sinn ist die höchstmögliehe Phase der historischen Entwicklung, die Verwirklichung des kommunistischen Jahrtausends. Offiziell befand sich im Sommer 1958 der gesamte chinesisch-sowjetische Block noch in der sozialistischen Phase. Im August verblüffte Mao Tse-tung den roten Teil des Erdballs mit der Ankündigung, China mache „einen großen Sprung voran" und stünde bereits dicht vor dem Kommunismus. Seine theoretische Zeitschrift, die „Rote Fahne“, proklamierte am 30. August: „Durdi das System der Volkskommunen wird der Unterschied zwischen Stadt und Land und zwischen geistiger und körperlicher Arbeit . . . allmählich verschwinden , . . Die Aufgabe des Staates wird sich darauf beschränken, Aggressionen von außen abzuwehren, er wird innenpolitisch nicht in Erscheinung treten . . . Unser Land betritt ein neues Zeitalter. Von der sozialistischen Ära, die auf dem Lohnprinzip Jedem nach seiner Leistung'beruht, geht es über zur kommunistischen Ära, in der das Prinzip Jedem nadt seinen Bedürfnissen gilt.“

Während in China Millionen von Plakaten den Übergang ins kommunistische Zeitalter begrüßten, leugneten in der Sowjetunion die Schlagworte zum Jahrestag der sowjetischen Revolution die chinesischen Ansprüche. (Veröffentlicht am 7. November 1958.) Schlagwort Nummer vier lautete: „Lang lebe der XXL Parteitag der Sowjetischen KP — der Erridtter des Kommunismus!“ Schlagwort Nummer dreizehn: „Brüderliche Grüße dem großen chinesischen Volk, das den Sozialismus aufbaut.“

Während Jugoslawien wegen viel leichterer ideologischer Abweichungen schwer angegriffen wurde, hüllten sich die Sowjetführer und ihre Presse über den chinesischen Führungsanspruch in unheilvolles Schweigen. Chruschtschows erster Sieg war die Resolution des chinesischen Zentralkomitees vom 10. Dezember 195 8, die zugab, „daß jeder übereifrige Versuch, ins kommunistische Zeitalter einzutreten, solange die Voraussetzungen nicht gegeben sind, utopisdi ist und keinen Erfolg haben kann.“ Statt des großen Sprungs vorwärts mußte Mao einige Schritte rückwärts machen. Er trat als Oberhaupt der Republik ab und behielt „nur“ den Vorsitz über die Partei und damit die Verfügungsgewalt über den Parteiapparat.

Vieles deutet auf einen Machtkampf zwischen China und der UdSSR . um die Führungsrolle in Asien und den unterentwickelten Ländern hin. Einige nationale Minderheiten, die an der chinesisch-sowjetisdien Grenze lebten, wurden umgesiedelt und durch zwei Millionen Chinesen ersetzt. In der Äußeren Mongolei wurden zahlreiche prochinesische Partei-und Regierungsbeamte hingerichtet. Nordkoreanische und bulgarische Parteiführer gaben maofreundliche Erklärungen ab. (In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß der chinesisch-sowjetische Pakt vom 31. Mai 1924 die Äußere Mongolei als einen Bestandteil des damals nicht-kommunistischen China anerkannte und die chinesische Oberhoheit über dieses Gebiet ausdrücklich bestätigte.)

Chruschtschow verkündete nach seinem Sieg vom 10. Dezember über Mao Tse-tung einige seiner „Thesen", die er später vor dem XXL Parteitag vortrug. Er proklamierte, daß die nächsten sieben Jahre „einen großen Sprung vorwärts" in der Entwicklung zum Kommunismus hin bedeuten würden und daß die UdSSR nach weiteren acht Jahren die Vereinigten Staaten in der Produktion überrunden und dadurch „die Grundlagen des Kommunismus schaffen" würden. Gleichzeitig soll der Staat in der UdSSR allmählich „absterben".

Chruschtschows theoretische Zeitschrift, der „Kommunist“ (Nr. 12. 1958), bemerkte, daß viele Aufgaben des Staates von „sozialen Organisationen, wie den Gewerksdcaften, übernommen würden, doch hauptsächlich von der Partei“, die nicht „absterben“ werde. Anscheinend will Chruschtschow versuchen, noch mehr Macht in seine Hände zu vereinigen, indem er nach und nach verschiedene staatliche Organe liquidiert und direkt durch seinen Parteiapparat regiert. Nach diesen Präludien erwarteten die Apparatschiks mit Spannung den XXL Parteitag. Es gab viele Gründe dafür, auf diesem Kongreß nur den neuen Siebenjahresplan zu behandeln. Die Säuberungsgegner hatten zu dieser Beschränkung der Tagesordnung alle Veranlassung. Aber auch Chruschtschow hatte seine Gründe. Auf dem XX. Parteikongreß war eine Kommission eingesetzt worden, die ein neues Parteiprogramm ausarbeiten und auf dem XXL Parteitag vorlegen sollte. O. W. Kuusinen, ein Mitglied dieser Kommission, gab jedoch bekannt, daß der Entwurf des Programms erst auf dem XXII. Parteikongreß, der 1962 stattfinden soll, unterbreitet werden könne. Chruschtschow wollte kein neues Parteiprogramm proklamieren, ehe er seiner Stellung nicht absolut sicher war. Die endgültigen Formulierungen des Programms hätten möglicherweise seine Manövrierfreiheit im Kampf gegen die oppositionellen Kräfte in der UdSSR und in der kommunistischen Welt eingeschränkt.

Seine Thesen über den Siebenjahresplan umrissen die Hauptaufgaben der nächsten Jahre: 1. Die Schaffung der materiellen und technischen Grundlagen des Kommunismus. 2. Die Konsolidierung der wirtschaftlichen Potenzen und der Verteidigungskraft der UdSSR.

3. Die volle Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des sowjetischen Volkes. 4. Die Sicherung des Sieges der UdSSR im friedlichen Wirtschafts-Wettkampf mit den kapitalistischen Ländern des Westens.

Der Siebenjahresplan ist daher die wichtigste Kampagne im Kampf des Kremls um die Weltherrschaft. Chruschtschow sagte voraus, daß die UdSSR die wirtschaftliche Kapazität der Vereinigten Staaten im Jahre 1970, fünf Jahre nach dem Ende des Siebenjahresplans, einholen werde:

„Wenn wir die Produktion pro Kopf der Bevölkerung als Maßstab Hehnten, werden nach der Erfüllung des Siebenjahresplans wahrscheinlich weitere fünf Jahre notwendig sein, unt die industrielle Produktion der Vereinigten Staaten einzuholen und zu übertreffen. Doch dann oder vielleicht schon früher wird die Sowjetunion sowohl int absoluten Produktionsvolumen als auch in der Produktion pro Kopf der Bevölkerung an den ersten Platz aufrüdten. Dies wird ein historischer Weltsieg des Sozialismus im friedlichen Wettbewerb mit dem Kapitalismus sein.“ (Chruschtschow in seiner Rede vom 27. Januar 1959.)

Chruschtschow verließ sich nicht allein auf die technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten. Er legte großes Gewicht auf das „wissenschaftliche Gesetz“ von den „unvermeidbaren Krisen“ und auf die Widersprüche des kapitalistisch-imperialistischen Systems. Dieses „Gesetz", das Marx und Engels auf Grund der Erfahrungen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verkündet hatten und das Lenin aus der Welt-situation in den beiden ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts ableitete, ist nach ihm auch in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gültig: „Der Kapitalismus kann sich nicht aus dem Todes-griff seiner eigenen Widersprüche befreien“, meinte er.

Zwei weitere laut Chruschtschow wichtige Faktoren:

1. Der Plan „wird in einem Ausmaß ohnegleichen die Anziehungskraft der kommunistischen Idee vergrößern“, besonders in den unterentwickelten Ländern.

2. Der wirtschaftliche Fortschritt des gesamten sozialistischen Lagers einschließlich Chinas und die Konsolidierung seiner Stärke und Einheit unter sowjetischer Führung.

Der Kongreß wurde auch über die Schwierigkeiten auf dem Weg zum Sieg unterrichtet. A. B. Aristow, Mitglied des ZK-Sekretariats und einer der mächtigsten Funktionäre unter Chruschtschow, sprach über die gewaltigen Anforderungen, die während der nächsten sieben Jahre an die sowjetische Maschinenindustrie gestellt werden müßten. Er versicherte, einige Maschinenfabriken seien durch die Hilfslieferungen an China, Indien und andere Länder bereits überfordert. In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, daß der Planungsexperte Saburow gestanden hatte, daß die parteifeindliche Gruppe gegen allzu große Unterstützung der unterentwickelten Länder opponiert hatte.

Chruschtschow sprach auch über ideologische Gefahren: „Manche unterschätzen das Ausmaß bourgeoiser Einflüsse auf die sowjetische Jugend und glauben, die Bourgeoisie liege uns zu fern, als daß sie unsere Jugend irremachen könnte. Das ist ein Irrtum. Wir können den bourgeoisen Einfluß nidtt ignorieren und müssen gegen die Ausbreitung fremder Ansidtten und Moralgrundsätze im sowjetischen Volk und besonders unter der Jugend angehen.“

Übergang zum Kommunismus erst bei „Überfluß an Gütern*

Im Hinblick auf den Übergang zum Kommunismus („Jedem nach seinen Bedürfnissen“) betonte Chruschtschow, daß dieser Schritt erst vollzogen werden könne, wenn ein „Überfluß an Gütern“ vorhanden sei. Aber die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des Volkes bedeute nicht die Befriedigung von „Launen“ und „Verschwendungssucht" wie in den kapitalistischen Ländern! In seinen Thesen, die sich auf den Übergang zum Kommunismus bezogen, griff er Mao und die chinesische Führerschaft an. Er nannte keinen Namen, aber Mao war unmißverständlich einer der „Genossen", die er beschuldigte, dem Aufbau des Kommunismus geschadet, die kommunistische Sache kompromittiert und Verwirrung gestiftet zu haben. 195 8 verkündeten in China Millionen Plakate in riesigen roten Lettern die „goldenen Worte“ Maos, die nach Chruschtschow den Kommunismus in Mißkredit gebracht hatten. Allein die Studenten der Pekinger Universität fertigten eine halbe Million davon an. Unaufhörlich wurden die Parolen über Lautsprecher in Städten und Dörfern bekanntgemacht.

Ob die Verteilung der lebensnotwendigen Güter nach Leistung ein „bourgeoises Konzept“ ist oder nicht, ist für den Westen kein erregendes Problem. Aber für die Chinesen, deren Leben 1958 in ein Orwell-sches Inferno verwandelt wurde, weil Mao diese Frage positiv beantwortet hatte, war es erstaunlich, von Chruschtschow zu erfahren, daß dies ein theoretischer Irrtum gewesen war. Für die Millionen, die um ihr Recht auf acht Stunden Schlaf gekämpft hatten, für die Alten, die in den „Glücksheime" genannten Kasernen Zwangsarbeit verrichteten, für die Familien derer, die gezögert hatten, ihren eigenen persönlichen „Sprung vorwärts" zu machen, und dafür hingerichtet worden waren, für die 140 000 Studenten und Professoren, die man abkommandierte. Dämme zu bauen, da sie Maos Politik anzweifelten — für sie alle war es ein harter Schlag, vom unfehlbaren Chruschtschow zu erfahren, daß ihre Leiden umsonst gewesen waren. Statt die Welt dem kommunistischen Jahrtausend näher zu bringen, hatten sie den Aufbau des Kommunismus gestört.

Der große „Sprung vorwärts“ gründete sich auf Maos Überzeugung, China könne den Kommunismus ausrufen, bevor es eine Industriemacht war. „Die befreiten, vereinigten und organisierten 600 Millionen Menschen bilden die größte schöpferische Kraft der Welt. Im Vergleich dazu sind die Vereinigten Staaten und Großbritannien Zwerge“, schrieb die Pekinger „Volkszeitung“. Doch wenn die Muskelkraft von Millionen das Fehlen einer hochentwickelten modernen Industrie ausgleicht, ist dann nicht auch Rußland im Vergleich dazu ein Zwerg?

Abgesehen von einigen Bemerkungen, daß „die Muskelkraft die unbeholfenste und teuerste Form der Energie ist“, ging Chruschtschow nicht auf dieses Thema ein, bis er in seinem Rechenschaftsbericht vor dem XXL Parteikongreß ausführlich diejenigen Kommunisten kritisierte, die glaubten, die Industrialisierung könne im gleichen Zeitmaß wie der Aufbau des Kommunismus voranschreiten. „Einige Genossen“, so führte er aus: „behaupten, die Grundlagen des Kommunismus sollten schneller geschaffen werden. Aber zur Güterverteilung nach den Bedürfnissen überzugehen, solange die wirtschaftlichen Voraussetzungen noch nidtt gesdtaffen sind, . . . heißt dem Aufbau des Kommunismus schaden.“

Als Mao 1958 die Volkskommunen einführte, wurde sofort eine Kampagne gegen die materiellen Leistungsanreize gestartet. Im Oktober und November forderten offizielle Parteischlagworte die Chinesen auf, „hart zu arbeiten, und zwar für den Kommunismus und nicht für Extra-löhne. Laßt nicht die Banknoten das Kommando übernehmen. Für den großen Sprung vorwärts ist freiwillige Arbeit erforderlich, ohne Rücksicht auf Arbeitsstunden und Entlohnung.“ Millionen Menschen bekamen weniger und weniger zu essen, weil Mao gegen Anreizmittel war. Schließlich erklärte Radio Peking am 17. und 18. November, das Lohn-prinzip „nach Leistung" sei ein „bourgoises Konzept".

Chruschtschow griff diese Theorie mit unmißverständlichen Worten an: „Lenin hat nachdrücklich erklärt, da es ohne das materielle Interesse am Resultat der Arbeit unmöglich ist, die Produktion zu steigern . . , Mandte Theoretiker behaupten nun, die Güterverteilung nach Leistung bedeute die Anwendung eines bourgeoisen Gesetzes in einer sozialistischen Gesellsdiaft . . . Dies ist ein Trugschluß, da die Gleichmacherei zur ungerechten Güterverteilung führen würde . . . Die Gleidtmadterei bedeutet nicht den Übergang zum Kommunismus, sondern eine Diskreditierung.“

Ausführlich erläuterte er, der Übergang zum reinen Kommunismus könne erst in einer fernen Zukunft vollzogen werden, denn selbst 1970, wenn die UdSSR die Vereinigten Staaten eingeholt hätte, sei erst „der halbe Weg“ zum Kommunismus zurückgelegt. Nach der sowjetischen Theorie werden die europäischen sozialistischen Länder unter der Führung der UdSSR „ein in sich abgeschlossenes Wirtschaftsgebiet bilden und als erste den Koumtunismus verwirklichen“. Die „asiatischen sozialistischen Staaten werden eine weitere regionale Zone bilden und ebenfalls get-neinsatn zum Kommunismus übergehen“. (Vgl.den Artikel des führenden Theoretikers T. A. Stepanjan in der „Woprossy Filosofii“ vom Oktober 195 8.)

Chruschtschow verkündete auf dem XXL Parteikongreß, wahrscheinlich als ein Zugeständinis an die Chinesen, die Länder des sozialistischen Blödes würden „mehr oder weniger gleichzeitig“ ins kommunistische Zeitalter eintreten. Dies hörte sich für die asiatischen Kommunisten etwas weniger offensiv an als Stepanjans Formulierung, doch die -Bedeutung dieses Ausspruchs ist dunkel und wurde auch von sowjetischen Theoretikern nie erläutert. Diese Unterlassung überrascht nicht. Wenn Chruschtschow seine These je ernst gemeint haben sollte, dann würde sie eine so ungeheure Wirtschaftshilfe für China voraussetzen, daß der Lebensstandard in der Sowjetunion für viele Jahre sehr niedrig bleiben müßte. Die wahre sowjetische Meinung hat Stepanjan wiedergegeben.

Maos China gehört also der zweitrangigen asiatischen „regionalen Zone“ an und sollte nicht versuchen, als Modellfall für alle unterentwickelten Länder der Welt aufzutreten. Chruschtschow wurde 1959 durch die Entwicklung in China bestätigt. Maos Zentralkomitee gab offiziell zu, daß die 1958 bekanntgegebenen Ergebnisse des „großen Sprungs vorwärts“ recht übertrieben waren und daß von den drei Millionen Tonnen selbsterzeugten Stahls kein einziges Kilo brauchbar war. Die chinesischen Planziffern mußten verringert und industrielle Projekte, die bereits in der Entwicklung waren, aufgegeben werden. Es war die bitterste Erfahrung in den Jahrzehnten der chinesischen Parteigeschichte, da die chinesischen Parteiführer dabei „ihr Gesicht verloren“.

Dennoch haben die chinesischen Kommunistenführer weiterhin den Anspruch erhoben, einen Modellfall für alle unterentwickelten Länder geschaffen zu haben, und sie griffen nach wie vor diejenigen an, die — wie Chruschtschow — die Volkskommunen als Utopie kritisierten.

Ideologische Rivalität zwischen der Sowjetunion und Rotchina

Eine Analyse des chinesisch-sowjetischen Verhältnisses würde einen umfangreichen Band füllen. Die Beziehungen auf Regierungsebene und die interparteilichen Verhältnisse sind in diesem Fall kompliziert genug. Aber wenn man Schritt für Schritt verfolgen wollte, wie die Machtkämpfe in Peking und im Kreml einander beeinflußten, wie verschiedene Fehlkalkulationen der chinesischen Führung die Entwicklung in der Sowjetunion prägten, wie und warum die beiden Parteiführer mit den verschiedenen Fraktionen im Lager der anderen intrigierten, würde dies vor allem eine detaillierte Analyse der fundamentalen Unterschiede zwischen dem chinesischen und dem sowjetischen Kommunismus erfordern.

Die sowjetische Politik ist, um mit Winston Churchill zu sprechen, »ein Mysterium, das in ein Rätsel gehüllt ist“. Aber verglichen mit der chinesischen kommunistischen Politik ist die russische ein leicht zu erklärendes Phänomen. Im Rahmen dieser Chronik können nur einige Grundprobleme der sowjetisch-chinesischen Beziehungen dargelegt wer-werden. 1. China hat erst seit Ende 1949 eine kommunistische Regierung. In vieler Hinsicht befindet sich China in eirem Stadium, das dem Übergang vom Kriegskommunismus zur Periode der großen stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion entspricht. Der Massenterror in China wurde und wird in noch größerem Umfang als im Rußland der Stalin-Ära ausgeübt. Rotchina befindet sich, verglichen mit der UdSSR, in einem „Stadium der Linksabweichung“.

e 2. Die Sowjetunion hat bereits 1917 ein wesentlich höheres industrielles, wirtschaftliches und kulturelles Niveau als das heutige China erreicht. China ist ein unterentwickeltes Land, während die UdSSR eine der führenden Industriemächte ist. 3. Durch die großen Hungersnöte, die der stalinistische Massenterror heraufbeschwor, durch die Deportationen und die Verwüstungen im Zweiten Weltkrieg konnte die Sowjetunion mit der ungeheuren Bevölkerungszunahme in der Welt nicht Schritt halten. Im Jahre 1959 standen in der UdSSR immer noch 95 Millionen Männer 114 Millionen Frauen gegenüber, so daß die Bevölkerungszunahme im nächsten Jahrzehnt weiterhin unter dem Weltdurchschnitt liegen wird. In China dagegen hat die Bevölkerungszunahme ein explosionsartiges Ausmaß angenommen. Wenn die augenblickliche Tendenz anhält, wird es im Jahre 1980 eine Milliarde Chinesen geben und am Ende des Jahrhunderts zwei Milliarden. Da ein derartiger Bevölkerungszuwachs bevorsteht, bereiten die vergleichsweise leeren asiatischen Gebiete der Sowjetunion dem Kreml Sorgen. China kann sich gigantische Menschenopfer leisten, die UdSSR nicht mehr. 4. Die UdSSR ist ein führendes Mitglied der Vereinten Nationen, und sie denkt nicht daran, diese Organisation Rotchina zuliebe zu boykottieren. In diesem Sinn, und natürlich nur in diesem Sinn, gehört die Sowjetunion einem anderen Lager an. 5. Da Rotchina keine anerkannte Weltmacht ist, kann es nur in der kommunistischen Welt und in der sogenannten neutralen Welt eine wesentliche Rolle spielen. Doch in beiden Lagern wird es von der Sowjetunion übertroffen. 6. Mao Tse-tung und seine Genossen versuchen, für die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein gültiges kommunistisches Programm aufzustellen. Die sowjetischen Führer widersprachen ihnen sofort, präsentierten aber kein eigenes Programm. Mao hat immer noch Grund, sich als kommunistischer Theoretiker Chruschtschow überlegen zu fühlen.

Die Ereignisse des Jahres 1959, die tibetische Revolte, die chinesische Reaktion auf Chruschtschows Amerikareise und seine Friedenspolitik, Chruschtschows Weigerung, sich im chinesisch-indischen Grenzkonflikt eindeutig auf die chinesische Seite zu stellen: all dies sind Symptome für Meinungsverschiedenheiten.

Natürlich sind Chruschtschow und Mao nur die Repräsentanten der Moskauer und der Pekinger Führung. Sie gehören ideologisch dem gleichen Lager an, und es liegt in ihrem Interesse, den Anschein einer monolithischen Einheit zu erwecken. Auf vielen anderen Gebieten aber gehören die UdSSR und China verschiedenen Lagern an. Wenn die Sowjetunion das Ziel, die Vereinigten Staaten im Jahre 1970 einzuholen, erreichen will, kann sie dem unterentwickelten China keine weitere Hilfe zukommen lassen. Und je mehr sie ihre Industrialisierung und ihren Lebensstandard dem der Vereinigten Staaten angleicht, um so gewaltiger wird der Kontrast zwischen der UdSSR und China werden.

Als Mao vom Amt des Präsidenten der Republik zurücktrat, erklärte er, sich nun noch stärker der grundlegenden Arbeit auf dem Gebiet der marxistisch-leninistischen Theorie widmen zu wollen. Offensichtlich hat er also einen Anspruch auf die ideologische Führerschaft nicht aufgegeben.

Chruschtschow aber erhielt am 17. April 1959 aus Anlaß seines 65. Geburtstages vom sowjetischen Parteipräsidium die folgende Grußbotschaft: „Lieber Nikita Sergejewitsch, an Deinem 65. Geburtstag grüßen wir Dich aufs wärmste und herzlichste, Dich, unseren älteren Genossen und Freund, den treuen Schüler Lenins, den hervorragenden Führer . . .

Du hast Deine ganze unversiegbare Energie, Deine reiche politische Erfahrung, Deine Weisheit und wagemutige Initiative dem Aufbau des Komwuhis wus in unserem Land gewidmet, der Stärkung des sowjetischen Staates, der Festigung des sozialistisdien Lagers und der internationalen kommunistischen Arbeiterbewegung.

In all Deinen Handlungen bist Du uns Vorbild, in der Lösung großer und kleiner Probleme der Partei und des Apparates, Vorbild im Dienst an der Sadie der Arbeiterklasse, ein Beispiel der untrennbaren Verbun- denheit mit dem Volk und an unerschütterlicher Treue zu den Prinzipien des Marxismus und Leninismus . . .

Alle diese hervorragenden Eigenschaften haben Dir die wohlverdiente Liebe und Achtung des Volkes und der Partei eingetragen. Wir umarmen Dich, lieber Nikita Sergejewitsch, und wünschen Dir von ganzem Herzen Gesundheit und viele, viele Lebensjahre und fruchtbare Arbeit für die Sache des sowjetischen Volkes und für die Sadie des Kommunismus.“

Der Apparat heute

Eines der größten Weltprobleme am Ende der fünfziger Jahre war die Frage, ob Chruschtschow und sein Apparat ernstlich und für längere Zeit Frieden wünschen. Wenn man die Entwicklung bis Ende 1959 und die allgemeine Tendenz seit Stalins Tod untersucht, so lautet die Antwort: Viele Faktoren zwingen den Kreml, die Friedenspolitik fortzusetzen. Und diese Faktoren scheinen im Augenblick stärker zu sein als der sowjetische Imperialismus und die Aggressivität der kommunistischen Lehre. Dieses Buch wäre vergeblich geschrieben, wenn der Leser noch davon überzeugt werden müßte, daß in dieser Hinsicht der augenblickliche Charakter des Parteiapparates wichtiger ist als der Chruschtschows.

Der Parteiapparat des Jahres 1959 unterscheidet sich grundlegend von Stalins Maschine, nicht nur weil er sich zur Hälfte aus neuen Menschen zusammensetzt, sondern weil sich die alten und neuen Apparatschiks seit 1939 und selbst noch seit 1949 gewandelt haben.

Die terrorisierten, entpersönlichten, mit Schlagworten jonglierenden Funktionäre jener Zeit mußten ständig mit Verhaftung und Exekution rechnen. Nun konnten sie seit Jahren ohne diese Furcht leben. Man braucht keine tiefgründige psychologische Analyse anzustellen, um zu sehen, welch ungeheuren Wandel dies bedeutet.

Während der Stalin-Ära mußten sie eine starre Parteipolitik repräsentieren. Änderte Stalin den Kurs, dann wurde die neue Linie sofort zusammen mit allen obligatorischen Schlagworten verkündet. Von ihnen abzuweichen war lebensgefährlich. Heute gibt es keinen festgelegten Kurs. Seit Stalins Tod wurde kein neues Parteiprogramm verkündet. Die alte Stalinsche Parteigeschichte von 193 8 wurde zurückgezogen, und die neue Chruschtschowsche „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion“, die im Sommer 1959 veröffentlicht wurde, ist zum größten Teil vage und inkonsequent. Die stalinistischen Parteibücher schrieben den Funktionären vor, wie sie sich über fast alle Ereignisse der Vergangenheit und über fast jede mögliche Entwicklung der augenblicklichen Lage zu äußern hatten. Das Chruschtschowsche Lehrbuch, das zu einer Zeit verfaßt wurde, da der Machtkampf noch nicht entschieden war, läßt viele wichtige ideologische und historische Fragen offen. Dies gibt den Apparatschiks viel größere Freiheit in der Formulierung und die Möglichkeit, endgültige Aussagen über gewisse Fragen zu meiden.

Natürlich ist die Furcht aus dem Leben der Funktionäre nicht ganz verschwunden. Aber es ist nicht mehr die Todesangst, sondern nur die Furcht vor der Entlassung, vor Versetzung in entlegene Gebiete. Auch die Lüge ist aus ihrem Leben nicht verschwunden. Die neue Chruschtschowsche Parteigeschichte und Telpuchowskis Buch „Der Große Vaterländische Krieg der Sowjetunion, 1941 bis 1945“, das am 13. März 1959 in Druck gegeben wurde, sind eine Mischung aus Geschichtsfälschung und Wahrheit. Aber auch hier zeichnet sich eine Tendenz ab, die von der völligen Geschichtsklitterung wegstrebt und sich einer Darstellung nähert, die, wenn auch bis jetzt nur von weitem, einer normalen Geschichtsschreibung ähnelt. Allerdings bildet Chruschtschows Vergangenheit dabei eine Ausnahme. Sie wird stets glorifiziert. Ein Beispiel dafür findet sich im Anhang: „Chruschtschow wird ein großer Feldherr“.

Das intellektuelle Tauwetter beeinflußt jeden einzelnen Bewohner der Sowjetunion. Die Enthüllungen über Stalins Verbrechen, die Lektionen aus den Revolutionen in Polen und Ungarn sind nicht vergessen. Nun, da der Terror der Sicherheitspolizei nachgelassen hat, können die Apparatschiks ihr Leben verteidigen, indem sie jedem Versuch einer Rückkehr zu blutigen Säuberungen Widerstand entgegensetzen.

Aber dies sind keineswegs die wichtigsten und bedeutungsvollsten Änderungen. Chruschtschow arbeitet intensiv an der „Entspezialisie-rung“ des Apparates. Mit Ausnahme Mikojans wurden alle Fachleute aus der obersten Führung ausgebootet. Molotow war während seiner langjährigen Tätigkeit als sowjetischer Außenminister Fachmann in außenpolitischen Fragen geworden. Kaganowitsch leitete jahrelang verschiedene Industriezweige. Malenkow war während des Krieges für die Flugzeugproduktion verantwortlich. General Serow hatte den größten Teil seines Lebens in der Sicherheitspolizei verbracht. Er wurde durch Schelepin, einen Apparatschik aus dem Komsomol, ersetzt. Die Planungsexperten Saburow und Perwuchin und selbst einige ihrer Nachfolger, die Halbexperten waren, wurden von Apparatschiks abgelöst. Die Armee wurde aus dem Präsidium verdrängt. Alle diese Ab-und Umbesetzungen an der Spitze brachten die Ab-und Umbesetzung ähnlicher Fachapparatschiks auf allen Ebenen des Parteiapparates mit sich. Aber diese nun ausgebooteten Fachleute wurden nicht umgebracht. Sie sind in untergeordneten Stellungen im Apparat oder in Regierungsämtern tätig oder leiten Fabriken, und sie behielten ihre Parteimitgliedschaft. Sie und ihre Auffassungen bestehen weiter, und sie haben die Möglichkeit, sich wieder in den Vordergrund zu schieben.

Die „Entspezialisierung“ des Apparates führte zu einer Entwicklung, die Chruschtschows Plänen zuwiderlief. Die Nichtspezialisten werden in ihren neuen Positionenals Planungschefs und Leiter verschiedener ökonomischer, industrieller und landwirtschaftlicher Ministerien vom „Spezialistentum“ infiziert. Sie sind nun dafür verantwortlich, daß Pläne erfüllt und Produktionsziele erreicht werden. Durch ihren täglichen Umgang mit Ingenieuren, Statistikern, Volkswirtschaftlern, Fabrik-und Trustverwaltern werden sie von der technokratischen Elite beeinflußt. Sie lernen Tatsachen und Zahlen kennen. Sie gewöhnen sich an die Realitäten. Nikita Chruschtschow kann „parteifeindliche“ Verbrecher abschieben, die seine überoptimistischen und oft unvernünftigen Pläne mißbilligen, aber er kann die Tatsachen nicht ändern. Die neuen Nichtfach-Apparatschiks werden in ihren neuen Stellungen zwangsläufig zu Fachleuten und daher oft oppositionell. Wenn sie zu laut werden, kann man sie zwar versetzen, doch dadurch infiziert man nur eine weitere Garnitur mit „Spezialistentum und Oppositionismus“.

Zweifellos sind die zahlreichen neuerlichen Absetzungen von Chruschtschowleuten, die in hohe Partei-und Staatsämter aufgestiegen waren, nachdem im Juni/Juli 1957 die Malenkow-Gruppe abgeschoben war, auf mehrerlei Faktoren zurückzuführen: Chruschtschow möchte die Staats-und Parteiführung verjüngen: er möchte dadurch seine Herrschaft festigen, daß er die Zusammensetzung des Zentralkomitees und des Präsidiums (und sogar des Sekretariats) fortgesetzt ändert und die Mitgliederzahl erhöht; schließlich sind die Führer des Moskauer, Leningrader, Ukrainischen Apparats in einem fortgesetzten Machtkampf verstrickt und tun ihr Bestes, einander auszubooten. Wenn man jedoch die neuesten Veränderungen in der Partei-und Staatshierarchie näher betrachtet (von Juni 1957 bis Februar 1960), so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß ein Großteil all dieser Neu-und Umbeset-zungen auf den oben erwähnten Widerspruch zwischen Chruschtschows überoptimistischen und nicht ganz fundierten industriellen und landwirtschaftlichen Plänen einerseits und den Realitäten und Gegebenheiten der sowjetischen Situation andererseits zurüdezuführen ist.

Viele Landwirtschafts-und Industriemanager und loyale Spitzenapparatschiks, die Chruschtschow in führende Positionen gebracht hatte, wurden später von ihm abgeschoben. Im Hintergrund jeder „mysteriösen und unerklärlichen Absetzung“ stand entweder eine Meinungsverschiedenheit über konkrete Fragen der Industrie-oder Agrarpolitik, oder eine Panne in der Neulandgewinnung, bei der Reorganisierung der Industrie oder einem anderen wichtigen Projekt. In vielen Fällen können wir die Mißstimmung zwischen loyalen Chruschtschowleuten und ihrem Chef ebensogut belegen wie die Tatsache, daß zuverlässige Chru-schtschowisten einfach nicht in der Lage waren, die unrealistischen Pläne ihres Gebieters in die Tat umzusetzen.

Die Absetzung der beiden hervorragenden Planungsexperten Saburow und Perwuchin haben wir bereits erwähnt. Im Mai 1957 wurde der Gosplan-Chef Bajbakow seines Postens enthoben. Sein Nachfolger, I. Kusmin, wurde im März 1959 von Alexej Kossygin in seinem Amt abgelöst. Sie alle mußten gehen, weil ihre Meinungen über praktische Fragen mit denen Chruschtschows nicht übereinstimmten. Sie legten ihrem Chef die Realitäten vor, und Chruschtschow schob sie ab, weil sie sich mehr nach den Gegebenheiten als nach den „Zielen der Partei" richteten.

Im Januar 1960 wurde die überraschende Nachricht von der Absetzung der beiden loyalsten und überzeugtesten Chruschtschow-Anhänger kund: Nikolai Beljajews und Alexej Kiritschenkos. Ihre Fälle sind die besten Beispiele für den Zusammenprall der Realität mit Chruschtschows unrealistischen Plänen und für den konstanten Prozeß, durch den die Spitzenfunktionäre mit „Experten und Oppositionismus“ infiziert werden.

Neulandgewinnungskampagne ein Fehlschlag

Nikolai Beljajew wurde im Jahre 1950 als „Chruschtschow-Mann" Erster Sekretär des Oblast Altai. Von 1954 bis 195 5 war er Chruschtschows Haupthelfer bei der Neulandgewinnungskampagne. 1955 wurde er Mitglied des ZK-Sekretariats und 1957 des Parteipräsidiums. Als Chruschtschows zuverlässigster Landwirtschaftsexperte war er außerdem Erster Sekretär von Kasachstan. Im Januar 1960 wurde er unvermittelt auf den Posten des Sekretärs der Region Stawropol abgeschoben, begleitet von einigen unfreundlichen Worten Chruschtschows, daß die Freundschaft ein Ende habe, wenn jemand nicht fähig sei, seine Arbeit zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Aber war es wirklich Beljajew, der versagt hatte, oder nicht vielmehr Chruschtschows Neulandgewinnungsplan? 1959 war für die »Neulandrepublik" Kasachstan ein Krisenjahr. Es wurden nicht nur 94 Millionen Pud (1 Pud = 16, 38 Kilogramm) Getreide unter dem Soll abgeliefert (der Plan hatte 794 Millionen Pud vorgesehen), sondern diese Zahl lag auch um 250 Millionen Pud unter dem Rekordergebnis von 1958. Beljajews Nachfolger Kunajew gab offiziell zu, daß in den Jahren 195 8 und 1959 mindestens 140 900 Menshen, darunter erfahrene Techniker, das Gebiet wegen der unerträglichen Lebensbedingungen verlassen hatten. Im August und September 1959 brachen im Distrikt Karaganda ernste Streiks und Unruhen aus. Worauf war diese Krise zurüdezuführen? Hauptsächlich auf Chruschtschows Unzugänglichkeit für nüchterne, realistische Argumente. Er geriet selbst dann in Rage, wenn jemand nur seinen Optimismus nicht mit ihm teilte.

Am 8. November 1956 hatte Chruschtschow in Moskau vor einer Jugendversammlung über die Neulandgewinnung gesprochen: „Idi habe einmal von Alma Ata aus mit Anastas Mikojan telefoniert. Wir tauschten dabei unsere Ansichten über die Getreideversorgung des Landes aus. Als idt ihm sagte, dafl Kasachstan in diesem Jahr eine Milliarde Pud Körn produzieren würde, sagte er nichts. Ich habe ihn gefragt: . Warum sagst du nichts?'Und er hat geantwortet: , Ich möchte nicht streiten, aber an die Milliarde glaube idt nicht redet. Vielleicht 750 Millionen, statt den 650 Millionen des Plans. Aber eine Milliarde?'“ Nach diesen Worten wandte sich Chruschtschow an Mikojan, der bei der Versammlung anwesend war: „Erinnerst du didt an das Gespräch, Anastas Iwanowitsdt? Hast du das gesagt?“ Mikojan: „Ja.“

Chruschtschow: „Und wie hat Kasachstan darauf geantwortet?“ Mikojan: „Es hat eine Milliarde produziert.“

Mikojan sagte nicht: „Ja, aber unter was für einem Verschleiß an Mensdten und Masdtinenl Und unter völliger Mißadttung der Zukunft!“ Chruschtschow war und ist nicht gewillt, sich fundierte Einwände anzuhören.

Im Jahre 1959 aber lieferte Kasachstan nicht mehr eine Milliarde, sondern nur noch 700 Millionen Pud Getreide.

Als Beljajew den Sündenbock für die Kasachstankrise abgab und entlassen wurde, sagte Chruschtschow, daß im Jahre 1959 in Kasachstan 18 000 Traktoren nicht für die Frühjahrssaat überholt worden waren. 32 000 Mähdrescher, 21 000 Mähmaschinen und 11 000 Mähund Bindemaschinen konnten nicht eingesetzt werden. Chruschtschow meinte, wenn man Moskau rechtzeitig um Hilfe gebeten hätte, wäre es ein leichtes gewesen, 30 000 oder 50 000 der besten Mähdrescher aus der Ukraine und dem Nordkaukasus heranzuschaffen, und aus der ganzen Sowjetunion hätte man Ersatzteile zur Verfügung gestellt, damit die Maschinen repariert werden konnten. Chruschtschow beklagte sich darüber, Beljajew habe ihn von den Mißständen in Kasachstan nicht unterrichtet. Doch wir können aus der Moskauer • und kasachischen Presse das Gegenteil belegen. Die »Komsomolskaja Prawda" veröffentlichte zahlreiche Artikel über die Schwierigkeiten Zehntausender junger Menschen beiderlei Geschlechts, die man nach Kasachstan geschickt hatte. Die »Kasachstanskaja Prawda" klagte oft über das Fehlen von Ersatzteilen, über mangelnde Lagerungsmöglichkeiten und hauptsächlich über die Knappheit an geschulten Technikern. Als in Kasachstan die Erntezeit näherrückte, klagte die Presse laut über den dringenden Bedarf an Ersatzteilen für den Traktorenpark. Der letzte Appell erschien am 29. Juli 1959 in der „Komsomolskaja Prawda". Er besagte, daß 22 000 Mähdrescher reparaturbedürftig seien. Chruschtschow aber erwartete im Ernst, daß man ihm glaubte, Beljajew habe ihn nicht über die Situation in Kasachstan informiert, während die sowjetische Presse alarmierende Berichte veröffentlichte.

Während des ganzen Jahres 1959 berichtete die sowjetische Presse über die Abwanderung von Arbeitskräften aus den neuerschlossenen Ländereien. Der Mangel an Konsumgütern, vor allem an Winterkleidung, und die unhaltbaren Lebensbedingungen wurden als Hauptgründe genannt. Die „Iswestija" gab im April und Juni 1959 zu, daß ungefähr die Hälfte der Männer, die im Jahre 195 8 auf bestimmte Staatsfarmen abkommandiert wurden, ein Jahr später wegen des Frauenmangels in den betreffenden Gebieten nach Hause zurückgekehrt sind. Am 29. Juli berichtete die „Komsomolskaja Prawda“, daß bereits 30 000 Mädchen in der Republik eingetroffen waren, um dem abzuhelfen. Viele davon flohen jedoch bald wegen der primitiven Lebensbedingungen. Das gleiche Blatt berichtete am 10. und 15. Mai, daß eine Gruppe ukrainischer Jugendlicher, die in Temir-tau in den im Bau befindlichen Metallwerken eingesetzt waren, unter den jetzigen Bedingungen die Arbeit verweigert hat. 20 000 Jugendliche in Temir-tau konnten nirgendwo ihre Wäsche trocknen. Selbst in der größten Ansiedlung gab es nur ein einziges Bad, vor dem endlose Schlangen standen. Die sanitären Verhältnisse waren unzulänglich, die Ernährung dürftig.

Im August und September führten diese Umstände und die schlechte Behandlung der bulgarischen Arbeiter, die man in diese Gebiete verschickt hatte, zu Unruhen, die von der Miliz und der Armee niedergeschlagen wurden. Um Mißständen abzuhelfen, ernannte man den frühe-ren stellvertretenden Vorsitzenden des KGB (Staatssicherheitskomitees der UdSSR), General K. P. Lunjew, zum Vorsitzenden des kasachischen KGB (und wurde schon am 20. März 1960 wieder abgelöst!). Lunjew hatte eine führende Rolle bei der Verurteilung Berijas gespielt. Der kasachische MWD-Minister, der Erste Sekretär des Oblast Karaganda und eine Anzahl weiterer Spitzenfunktionäre wurden abgelöst, hauptsächlich von neuen Männern aus der Hauptstadt. Am 21. Oktober hielt das Parteikomitee des Oblast Karaganda eine Plenarsitzung ab, an der bereits I. G. Kowalj teilnahm, ein vom sowjetischen ZK geschickter Sonderinspektor. Die „Kasachstanskaja Prawda“ kommentierte in ihrem Leitartikel vom 28. Oktober: „Vor dem Pleituw wurden Beispiele angeführt für die unverantwortlidie Gleichgültigkeit gegenüber den dringendsten Bedürfnissen der Arbeiter und für die Vernachlässigung der politischen Massenschulung und der kulturellen Einrichtungen.“ Der Leitartikel kritisierte ferner die Handels-, Verkehrs-und Kultusminister der kasachischen Republik, weil sie die Lebensbedingungen der Landwirtschafts-und Industriearbeiter nicht verbessert hatten.

Am 22. Januar 1960 gab Kunajew, der Nachfolger Beljajews als Erster Sekretär, vor einer Parteiversammlung die Maßnahmen bekannt, die gewährleisten sollten, daß Kasachstan künftig bessere Ergebnisse erzielte. Er erklärte, daß auf Chruschtschows Vorschlag in einer der Städte im neuerschlossenen Land ein Ministerium eingerichtet würde, das die Staatsfarmen kontrollieren sollte. Außerdem würde ein besonderes Parteibüro für Angelegenheiten der Neulandgewinnung gegründet werden. Kunajew forderte die Ausbildung von 60 000 Traktorfahrem und 150 000 Mechanikern, damit Unterbrechungen im Reparaturdienst vermieden würden. Er erinnerte die Partei noch einmal daran, daß unter den 140 000 Menschen, die in den beiden vorangegangenen Jahren die Neulandgebiete verlassen hatten, Tausende erfahrene Techniker gewesen waren.

Dies beweist, daß Beljajew nicht das notwendige Menschenmaterial, zu wenig Maschinen, Unterkünfte, Lebensmittel, sanitäre Anlagen und so weiter für das Neulandgewinnungsprojekt zur Verfügung hatte. Der Mangel auf allen Gebieten, die Bürokratie, die ungünstigen Witterungsverhältnisse (Trockenheit während der Reifezeit und früher Schneefall nach der Ernte) führte zur Verminderung der Getreideproduktion und zur allgemeinen Krise. Chruschtschows Opponenten, die „parteifeindlichen“ Verschwörer und Landwirtschaftsexperten, hatten von allem Anfang an gefürchtet, daß der Neulandgewinnungsplan an diesen Mängeln scheitern würde.

Hätte man rasch Mähdrescher aus der Ukraine nach Kasachstan transportiert, wie Chruschtschow vorgeschlagen hatte, so wären damit die Schwierigkeiten nur von einer Republik in die andere verlegt worden.

Eine weitere Lehre war die, daß die jungfräuliche Erde nach den ersten Rekordernten erschöpft war. Nach fünfjährigem Komanbau braucht der Boden Düngemittel. Sowohl die Vorräte an natürlichem als auch an künstlichem Dünger waren und sind jedoch unzureichend. Deshalb muß die Neulandgewinnungskampagne immer weiter ausgedehnt werden, mit allen Schwierigkeiten, den langen Transportwegen und primitiven Ansiedlungen, ganz zu schweigen vom Mangel an Unterkünften, Vorräten und kulturellen Einrichtungen für die neuen Siedler.

Da die kasachische Presse unter Beljajews Kontrolle stand, bis er abgesetzt wurde, ist es offensichtlich, daß er durch die verzweifelten und ausführlichen Presseberichte über die Gefahren und Schwierigkeiten seinen vertraulichen Berichten an Chruschtschow Nachdrude verleihen wollte. Chruschtschow aber ignorierte sie, und als sie sich als wahr erwiesen, machte er Beljajew zum Sündenbock.

Wechsel in der Führungsgarnitur

Der Januar 1960 brachte auch die Absetzung Alexej Kiritschenkos, der bis dahin als einer der wahrscheinlichsten Nachfolger Chruschtschows gegolten hatte. Er wird in diesem Buch oft als Chruschtschows intimster Gefährte genannt, der dem Diktator bedingungslos ergeben war. Vor und während dem XX. Parteikongreß, beim Kampf gegen die Malenkow-Gruppe im Jahre 1957 und während des XXL Parteikongresses zeigte er sich als der extremste Chruschtschowist. Er trat 1938 in Chruschtschows ukrainischen Apparat ein und spezialisierte sich auf Landwirtschaft und Transportwesen. Im Krieg diente er mit Chruschtschow in den Militärräten der ukrainischen Front und erhielt den Rang eines Generalmajors. 195 5 wurde er Vollmitglied des Präsidiums und 1957 einer der Sekretäre des ZK. Im Februar 195 8 erhielt er zu seinem 50. Geburtstag den Leninorden und sehr schmeichelhafte Glückwünsche von Partei und Staat. Im ZK-Sekretariat war Kiritschenko der oberste „Kaderchef" und für die letzten Entscheidungen über alle Ernennungen und Personalfragen verantwortlich. Als Chruschtschows rechte Hand sollte er den Partei-und Staatsapparat auffrischen, fähige junge Männer befördern und unzuverlässige ältere Funktionäre pensionieren. Chruschtschow, der Phraseokrat, ist fest davon überzeugt, daß die meisten Schwierigkeiten durch fanatische, unermüdliche Führungsarbeit zu überwinden sind.

Kiritschenko hatte die Aufgabe, jüngere Männer zu finden, die die bürokratische Elefantiasis kurieren konnten (die dem System der vielfachen Kontrollen angeboren ist) und die halbamtliche Korruption, die versucht, durch die Beschäftigung von . Kontaktmännern" (tolkach) die Labyrinthe der Bürokratie zu umgehen. Diese Kontaktmänner machen die extrem langsamen und komplizierten Amtswege überflüssig, denn sie beschaffen Waren durch Bestechung und Tauschhandel zwischen den Staatsfarmen, Fabriken usw. Sie verhelfen ihren Arbeitgebern zu raschen Resultaten. Aber ihre Tätigkeit hat das unangenehme Ergebnis, daß ein beträchtlicher Teil des sowjetischen Wirtschaftslebens ohne die Kontrolle und das Wissen der zentralen und örtlichen Planungschefs, Ministerien und Parteikontrollposten vor sich geht. Chruschtschow, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Bürokratie und das System der Kontaktmänner zu bekämpfen, vergrößerte durch seine fortgesetzten Re-organisierungs-und Rereorganisierungspläne nur das bürokratische Labyrinth und damit die Bedeutung der Kontaktmänner. (Kasachstan hatte offensichtlich zu große Versorgungsschwierigkeiten, als daß sie durch die Dienste der Kontaktmänner gelöst werden konnten.)

Kiritschenko wurde als einer der Exekutivfunktionäre und Haupt-verfechter von Chruschtschows Neulandgewinnung und Industrie-Reorganisierungsplänen von den Opponenten dieser Projekte und Pläne oft kritisiert. Seine Absetzung war vielleicht teilweise eine Folge dieser Kritik. Chruschtschow besänftigte seine Kritiker, indem er einen Teil der Schuld Kiritschenko in die Schuhe schob. Er selbst hatte allen Grund, unzufrieden zu sein. 1959 hatten alle Zweige der sowjetischen Wirtschaft, der Industrie und Landwirtschaft mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Manche hochgesteckten Pläne blieben Theorie. Viele der von Kiritschenko Neuernannten erwiesen sich als vom „Experten-Oppositionis-mus" infiziert, wenn sie um größere materielle Hilfe baten oder die Zurückstellung bestimmter Pläne forderten. Kiritschenko hatte auch gezögert, fähige Funktionäre, die erst knapp über fünfzig Jahre alt waren, als Prügelknaben für verschiedene Fehlschläge aufs tote Geleis zu schieben. (Kiritschenko selbst war genau zweiundfünfzig Jahre alt, als er abgesetzt wurde.) Chruschtschow ließ angesichts von Schwierigkeiten seinen Freund und loyalsten Mitarbeiter fallen Kiritschenko und die von ihm Ernannten konnten Chruschtschow nicht rasch genug Resultate vorweisen. Deshalb mußte Kiritschenkow gehen, und sei es nur für den Augenblick. Nachdem Chruschtschow seinen großen Plan, die USA zu überrunden, kundgetan hat, kann er nicht dulden, wenn die Weisheit seiner Pläne und Versprechungen angezweifelt wird. Nun versucht er es mit einer neuen Garnitur führender Funktionäre, die ihm auch unter dem Diktat der Wirklichkeit Resultate bringen. Solange Chruschtschow die Technik seiner Diktatur nicht grundlegend ändert, werden solche Absetzungen und unblutigen Säuberungen weitergehen.

Das Ziel, in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts die USA wirtschaftlich einzuholen, zwingt Chruschtschow, das Bildungsniveau seines Apparates zu heben. Es werden keine Zahlen veröffentlicht, aber in den dreißiger Jahren gab es ganze Parteikomitees ohne einen einzigen Akademiker und mit einem verschwindenden Anteil von Oberschulabsol- Heute hat fast jedes Mitglied des Apparats die Oberschule absolviert und ein wachsender Prozentsatz die Universität besucht. Wer zu Stalins Zeit Karriere machen wollte, mußte sich als einfacher Arbeiter mit Arbeitermütze und allem Drum und Dran geben. Dagegen studierten 1959 die Karrieremacher eifrig in Abendkursen, wenn sie nicht bereits ein Diplom besaßen. Das Universitätsdiplom ist heute wichtiger als ein großer Wagen, ein großes Sekretariat, ein Wochenendhaus auf dem Lande und ein Ferienhaus auf der Krim.

Wissenschaftler nehmen eine Sonderstellung ein

Der Wissenschaftler, der Intellektuelle, der Schriftsteller und der Künstler nehmen in der heutigen sowjetischen Gesellschaft eine Ausnahmestellung ein. Ihr Lebensstandard lag schon immer weit über dem Durchschnitt und kam dem eines Parteifunktionärs nahe. Darüber hinaus sind die Geistesarbeiter der bürokratischen Kontrolle weniger ausgesetzt als die übrige Bevölkerung und stehen gesellschaftlich auf der gleichen Stufe wie die Funktionäre. In unserem Zeitalter tritt die Macht des Geistes, die in der Menschheitsgeschichte schließlich immer den Ausschlag gab, in den Vordergrund und manifestiert sich unmittelbar.

Atomgeschosse, die Verteidigungs-und Angriffsmaschinerie des Atomkriegs werden von Elektronengehirnen gelenkt; ebenso die vollautomatisierten Fabriken. Eine der Schlüsselfiguren dieses Zeitalters ist der Wissenschaftler, der die Elektronengehirne beherrscht und „programmiert“. Daß Explorer, Sputniks und Luniks in den Raum geschickt werden, ist nicht das Verdienst des sowjetischen, amerikanischen oder britischen politischen Systems, sondern das von Wissenschaftlern, denen man die Mittel gab, die Probleme zu bewältigen. Sie und die anderen Spezialisten sind Aktiva des Staates. Es dauert zehn bis zwanzig Jahre, bis aus einem begabten Menschen ein Fachmann geworden ist. Schon dies allein verschafft den Experten eine Art Immunität.

In der Sowjetunion wurden nach Stalins Tod eine Handvoll Atomwissenschaftler gänzlich immun. Ihre Existenz war für Chruschtschow eine erste Belehrung darüber, daß man nicht alle Menschen liquidieren kann. Und dies machte in mancherlei Hinsicht jeden einzelnen Bürger bis hinab zum ungebildeten Bauern sicherer vor willkürlicher Verhaftung. Immer mehr aus der Schicht der Apparatschiks erkennen, daß die kompliziertesten globalen und regionalen Probleme nicht ohne die aktive, schöpferische Mitarbeit von Fachleuten gelöst werden können. Ohne Menschen, die in der Lage sind, hochkomplizierte Probleme zu meistern, ist ein Staatsmann heute so hilflos wie ein Pferdekutscher im Führersitz eines Düsenflugzeugs.

Die jüngeren Funktionäre tehen eindeutig auf der Seite der Experten. Wenn sie im Laufe der Jahre führende Stellungen einnehmen, werden sie ihren Einfluß in dieser Richtung geltend machen.

Auch von der Außenwelt wird der Apparat beeinflußt. Zu Stalins Zeit war die überwältigende Mehrheit der Apparatschiks vom Westen völlig isoliert. Selbst ausländische Publikationen zu lesen war für sie äußerst gefährlich. Zu Stalins Zeit wurden Wissenschaftler liquidiert, wenn sie in ihren Büchern zu viele ausländische Werke zitierten. Seit 1945, und in noch stärkerem Maß seit 1953, nimmt die Sowjetunion intensiv an den politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten der Außenwelt teil. Der Prozentsatz der Funktionäre, die Fremdsprachen lernen und im Ausland gewesen sind, ist höher als zu Stalins Lebzeiten. Für Apparatschiks, die vom „Spezialistentum infiziert sind, wird es immer schwieriger, an die immer noch propagierte Lehre von der „Ausbeutung der amerikanischen und britischen Arbeiter zu glauben, an den „sterbenden Kapitalismus“, an die „westlichen Monopolkapitalisten, die ihre Arbeiterklasse skrupellos in bitterer Armut halten“.

Natürlich ist es nicht unbedingt gesagt, daß man tatsächlich an die Lehre glaubt, wenn man, falls nötig, die alten und immer noch obliventen. gatorischen Schlagworte wiederholt. Aber wir wollen einen Absatz aus Chruschtschows Rechenschaftsbericht vor dem XX. Parteitag 1956 prüfen. Er gibt den immer noch offiziellen Standpunkt der Kremlführer-

schaft wieder. Als Chruschtschow über die Errichtung des Kommunismus durch friedliche, nichtrevolutionäre Mittel sprach, sagte er im Hinblick auf die nichtkommunistische Welt: „Wenn die Arbeiterklasse die Masse der werktätigen Bauern, die Intelligenz, alle patriotisch gesinnten Kräfte um sich schart, ... kann sie die reaktionären Kräfte besiegen ... eine stabile Mehrheit in den Parlamenten erobern und sie aus Organen der bürgerlichen Demokratie in Instrumente des wirklichen Volkswillens umwandeln.“

Dies basiert natürlich auf der marxistischen Analyse der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Damals bildete beispielsweise die „Farmerklasse“ (die Masse der „werktätigen Bauernschaft“) die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beträgt der Anteil der Bauern in Westeuropa und Amerika nicht einmal mehr fünfzehn Prozent, in manchen Ländern sogar kaum zehn Prozent der Bevölkerung. Darüber hinaus gehört ein großer Teil dieser Bauern nach Lebensweise, Bildung und Einkommen der Mittelschicht an. Es ist lächerlich, in der Mitte des 20. Jahrhunderts von „der Masse der werktätigen Bauern“ zu sprechen, die „nichts zu verlieren haben als ihre Ketten.“

Die weitgereisten und belesenen Apparatschiks kennen natürlich diese Tatsachen. Sie wissen von der Mittelschicht in den westlichen . Wohlfahrtsstaaten und vom Entstehen einer neuen Kategorie, die in keine der marxistischen „Klassen“ einzuordnen ist. Zu welcher Klasse gehören beispielsweise die Besitzer von Tankstellen, die einerseits selbständige Geschäftsleute, andererseits aber Angestellte der großen Ölgesellschaften sind? Oder die Kontraktfarmer, die man mit dem gleichen Recht als Kapitalisten, als Angestellte und als Bauern bezeichnen kann?

All dies sind im Westen keine Probleme. In der kommunistischen Welt aber kommt diesen Tatsachen große Bedeutung zu. Es gibt viele Anzeichen dafür, daß die ungeheuren Veränderungen in der Welt in kommunistischen Parteizirkeln und privatim lebhaft diskutiert werden. Während der verschiedenen Tauwetterperioden drangen einige dieser Auseinandersetzungen sogar in die Öffentlichkeit.

Unter den sowjetischen Funktionären, Parteitheoretikern, marxistischen Intellektuellen und Studenten macht sich immer mehr die Neigung bemerkbar, Theorie, Politik und praktische Maßnahmen nach der Weltlage auszurichten und nicht nach dogmatischen Verallgemeinerungen, die auf den Verhältnissen des vergangenen Jahrhunderts beruhen. Chruschtschow, Mao und die anderen Spitzenfunktionäre müssen deshalb gegen den „Revisionismus“ so verbissen ankämpfen, weil er im Augenblick die stärkste Tendenz ist. Den Wissenschaftlern, Volkswirt-schaftlern, Ingenieuren geht es nicht um die Theorie. Sie kämpfen nur gegen Situationen, in denen ihnen ein reaktionäres Festhalten an der ideologischen Fassade die Arbeit erschwert.

Dieser veränderte Apparat beeinflußt Chruschtschow, so daß er allmählich eine realistischere und klügere Politik verfolgt und sich nicht auf gefährliche Abenteuer in der Außenpolitik einläßt.

Will die Sowjetregierung tatsächlich Frieden?

Dies führt uns wieder zur Ausgangsfrage dieses Kapitels: Will die Sowjetregierung tatsächlich Frieden? Die Apparatschiks müssen, wenn es irgend geht, einen Krieg vermeiden. Nicht, weil sie etwa besonders friedliebende Menschen wären, sondern weil es mächtige Abschreckungsmittel gibt. Ein Atomkrieg wäre für Chruschtschows Stellung und die des Apparates äußerst gefährlich. Die Funktionäre verkörpern das Regime, und sie haben allen Grund, zu fürchten, daß das Regime in seiner gegenwärtigen Form einen dritten Krieg nicht überleben würde. Die Gründe sind folgende: 1. Die atomare Schlagkraft der Vereinigten Staaten und das Rüstungspotential der Natomächte sind noch immer die stärksten Abschreckungsmittel. Dies war der Hauptgrund, weshalb die UdSSR seit Stalins Tod hunderfünfzig bis hundertfünfundsiebzig Divisionen unter Waffen hielt. 2. Die Kriegsführung mit nuklearen Waffen ist für Diktatoren äußerst gefährlich. Wenn A-oder H-Bomben auf die Hauptstädte des sowjetischen Imperiums und der Satelliten fielen und die zentrale Leitung der Unterdrückungsorgane, des MWD, des KGB, der Polizei usw., vernichteten, würden sich überall Volksaufstände erheben. Alle Erfahrungen seit Stalins Tod beweisen Chruschtschow und dem Apparat, daß Nationen, Armeen, Studenten, Arbeiter, selbst Kommunisten nicht zuverlässig sind. Wo auch immer das System geschwächt schien, wurde aufbegehrt. Die Serie der Revolten in China, in Sibirien und in den europäischen Satelliten zeigt, daß auch den Armeen und der Polizei nicht zu trauen ist. Die „Schulung der Jugend“ mißlang. Zuweilen betrugen sich die chinesischen und nordvietnamesischen Universitätsstudenten genau wie die rebellierenden polnischen und ungarischen, deutschen und russischen Studenten. Die allgemeine Unordnung und Desorganisierung nach einem Atomangriff würde die britische oder amerikanische Bevölkerung nicht veranlassen, gegen ihre Regierungen aufzustehen. Ein nuklearer Krieg würde für die freie Welt viele Gefahren mit sich bringen, nicht aber die Gefahr von Revolutionen gegen das eigene „System“. In Sowjetrußland wäre das System in größter Gefahr. Ein Regime, das vom Parteiapparat abhängt (das heißt von weniger als einem halben Prozent der Bevölkerung) und von seiner Geheimpolizei, kann keine Beeinträchtigung der „monolithischen Einheit“ und der gesamten Unterdrückungsmaschinerie wagen. In dieser Hinsicht gehören auch der deutsche Aufstand, die Posener Unruhen, die Revolutionen in Ungarn und Tibet zu den Abschreckungsmitteln. 3. Das Übergewicht der Sowjetunion und des Satelliten-Imperiums, was das Menschenpotential anbelangt, ist vom militärischen Standpunkt aus gesehen kein Aktivposten, sondern eher eine zusätzliche Gefahrenquelle. Die Nationen und Nationalitäten innerhalb der UdSSR, Ukrainer, Letten, Litauer und Estländer und die Völker der asiatischen Sowjetrepubliken und der Satellitenstaaten hassen den bürokratischen Despotismus ebenso wie die Russen. Der Kreml kann sich auf diese Völker nicht verlassen. Im Ernstfall müßten sie durch zusätzliche Divisionen niedergehalten werden. Die Unordnung und das Chaos könnten ihnen sogar die Möglichkeit geben, sowjetische Truppen zu bekämpfen.

Chruschtschow braucht viele unblutige innen-und außenpolitische Erfolge. Er muß für einen wesentlich höheren Lebensstandard und ein weit sicheres politisches Klima sorgen, ehe die Bevölkerung für das Regime keine Gefahr mehr bedeutet.

4. Die Volkszählung in der UdSSR von 1959 hat gezeigt, daß das Land die Auswirkung der Stalin-Ära und des Zweiten Weltkriegs noch nicht überwunden hat. Ein dritter Krieg könnte innerhalb der UdSSR den Bevölkerungsanteil der Russen so dezimieren, daß die nichtrussischen Einwohner in der Mehrzahl wären, und er würd? die Bevölkerung der gesamten UdSSR gefährlich reduzieren gegenüber der rapide zunehmenden Bevölkerung Chinas und anderer asiatischer Staaten.

5. Die sowjetische Armee, die nach dem Zweiten Weltkrieg und ach Stalins Tod ungeheuer an Prestige und Einfluß gewonnen hatte, wurde wieder dem Parteiapparat unterstellt. Nach Schukows Absetzung wurden Tausende von Offizieren auf kleinere Posten versetzt, was ihrer Degradierung gleichkam. Die Opposition der Armee gegen die Kontrolle des Apparates und der Haß auf die Sicherheitspolizei machten sich oft bemerkbar. Im Kriegsfall würde diese Armee wieder an Macht gewinnen. Und es ist fraglich, ob die Armee es noch einmal zuließe, daß sich Nichtexperten als Kriegsherren aufspielen und unnötige Niederlagen und Millionenverluste verursachen. Ebenso fraglich ist es, ob die Armee nach einem solchen Krieg bereit wäre, sich abermals vom Apparat unterdrücken zu lassen. Im Kriegsfall wäre die jetzige Armee eine potentielle Gefahrenquelle für das Regime.

6. Auch die Schwäche des chinesischen Regimes ist ein Abschreckungsmittel. Eine Reihe ausgedehnter Revolten in China in den fünfziger Jahren, über die in der westlichen Presse nichts berichtet wurde, die aber den Kremlführern bekannt sind, zeigte, wie die chinesische Bevölkerung denkt. Im Krieg könnte sich das chinesische Regime durch das Chaos auflösen. Die UdSSR wäre dann nicht nur von Revolten in ihren eigenen asiatischen Republiken bedroht, sondern auch von Angriffen aus dem Osten. 7. Viele Funktionäre bezweifeln, daß die Sowjetunion die Vereinigten Staaten selbst unter friedlichen Bedingungen 1970 wirtschaftlich einholt. Sie wissen, daß die sowjetische Produktion pro Arbeiter wegen der unzähligen Kontrollen weit niedriger ist als die der USA. Während der Stalin-Ära bezahlte die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung dafür mit einem extrem niedrigen Lebensstandard. Aber nun, da der Motor der Produktion nicht mehr der Terror, sondern der Leistungsanreiz ist, müssen die Anreizmittel entweder radikal vergrößert oder die Kontrollen nach und nach abgeschafft werden. Für beide Alternativen ist der andauernde Friede die erste Voraussetzung.

Der beste Weg, den Siebenjahresplan zu erfüllen und den Westen einzuholen, wäre eine weitgehende Reduzierung der Rüstungausgaben und der Rüstungsproduktion.

Chruschtschow heute

Wie haben die Jahre, die Chruschtschow an der Macht ist, ihn verändert? Was für ein Mann ist aus ihm geworden? Welches sind seine Ziele? Wie groß ist seine Macht?

Um dies zu beurteilen, müssen wir zunächst Stalins Erfolge mit denen Chruschtschows vergleichen. Stalin griff nach Lenins Tod zunächst zu Intrigen und Machenschaften im Apparat, um die Mehrheit im Zentralkomitee und im Politbüro zu erlangen (1923— 1926). Von 1926 bis 1930 entledigte er sich aller seiner Gegner und begann erst dann, sie zu beseitigen. Stalin erreichte dieses Stadium nach siebenjährigem Machtkampf. Chruschtschow hat 1959 noch nicht einmal das zweite Stadium erreicht. Mikojan, Suslow und Woroschilow sind keineswegs „Chruschtschow-Männer“. Die Entspezialisierung und der anschließende Gegenkurs zeugen fortwährend neue Widersacher.

Obwohl es in der heutigen Situation unwahrscheinlich aussehen mag, so besteht dennoch die Möglichkeit, daß chruschtschowfeindliche Fraktionen entstehen, eine taktische Koalition bilden und ihn zu verdrängen versuchen. Dann aber könnten seine ausgebooteten und nicht ausgebooteten Gegner eine bedeutungsvolle Rolle spielen.

Nachdem Malenkow, Molotow, Bulganin und Kaganowitsch Jahrzehnte im innersten Heiligtum der kommunistischen Diktatur verbracht hatten, leben sie nun seit 1957 in erzwungener Isolierung und politischer Untätigkeit. Sie haben Zeit, über ihre Vergangenheit nachzudenken. Sie haben Gelegenheit, sich zu klardenkenden, scharfsinnigeren kommunistischen Führern zu entwickeln und zu weit gefährlicheren Rivalen.

Im Anhang des Buches findet der Leser Malenkows offizielle, detaillierte Biographie, zusammen mit der Version, die Chruschtschow herausgegeben hat. In der Biographie wird jedoch nicht erwähnt, daß Malenkow, obwohl auch er ein Produkt des Apparates ist, sich schon vor zwanzig Jahren offen gegen ihn wandte. Da er jahrelang neben General Poskre-byschew Stalins engster und intimster Mitarbeiter war, half er Stalin in der Leitung des Apparats. Er stand nicht im Apparat, sondern darüber. Und er gelangte zu der Überzeugung, daß der Apparat ein wenig wirksames Instrument der sowjetischen Diktatur ist. Auf dem XVIII. Parteikongreß im Jahre 1939 schockierte er die Apparatschiks mit der Behauptung, es gäbe „außerhalb der Partei viele bessere Bolschewiken als in ihr“. Nach Stalins Tod versuchte er, die Macht in der sowjetischen Regierung zu konzentrieren. In dieser Hinsicht war er unorthodox, und er wurde von Chruschtschows traditionsgebundenen Machenschaften im Apparat geschlagen. Solange er lebt, ist er ein gefährlicher potentieller Rivale Chruschtschows. Seine Vorteile sind: 1. Er ist acht Jahre jünger als Chruschtschow.

2. Er wurde allgemein als der Favorit der apparatfeindlichen Experten und Intellektuellen betrachtet und als ein Politiker, der für das Wohl des Volkes sorgt. 3. Nach Chruschtschow würde in einem Atomkrieg die „kapitalisti-she Welt" zerstört. Malenkow vertrat dagegen die Ansicht, daß ein dritter Krieg die ganze Welt, die Sowjetunion eingeschlossen, vernichten würde. Er gilt deshalb als ein ehrlicher Vertreter der Friedenspolitik.

Der rätselhafteste und gefährlichste von allen anderen potentiellen Rivalen Chruschtschows ist Mikojan. Wie Kaganowitsch und Bulganin war und ist er ein sowjetischer Geschäftsmagnat und einer der obersten Leiter der sowjetischen Wirtschaft. Aber im Gegensatz zu Bulganin und Kaganowitsch war Mikojan keineswegs ein Ja-Sager. Während seiner ganzen, äußerst gefährdeten Karriere erwies er sich als geschmeidiger Nein-Sager und verkaufte seine Ja‘s teuer. Er entstammt dem armenischen Proletariat, war während der zwanziger Jahre einer der intimen Gefolgsleute Stalins und hielt sich sowohl unter Stalin als auch unter Chruschtschow als Diktator des Handels. Nach Stalins Tod ist er oft in aller Öffentlichkeit gegen Chruschtschow aufgetreten, und er stellte sich im weiteren Verlauf als der einzige beharrliche Anti-Stalinist in der jetzigen Führerschaft heraus. Er ist berühmt für sein brillierendes Wesen, seine Schlauheit und seinen Humor. Er ist der geheimnisvolle Mann des Kremls. Wie und warum er trotz seines individuellen politischen Verhaltens überleben konnte, ist schwer zu beantworten.

Am 18. November 1956 prahlte Chruschtschow in Moskau bei einem Empfang der polnischen Botschaft in Anwesenheit sowjetischer Beamter und westlicher Diplomaten und Journalisten: „Wir Bolschewiken ... halten uns strikt an die leninistische Regel: Sei nicht stur, wenn du siehst, daß du unrecht hast, aber gib nicht nach, wenn du im Recht bist . . .“ Hier unterbrach ihn Mikojan: „Wann hast du je recht?“ ... Es entstand betretenes Schweigen, dann wechselte Chruschtschow das Thema. Daraus kann man schließen, wie Mikojan im engeren Kreise spricht. Und obwohl Chruschtschow immer den Anschein erweckt, als sei er von der Liebe überzeugt, die er allenthalben genießt, deutete er mehrmals öffentlich Zweifel über Mikojans Zuverlässigkeit an. Wenn Chruschtschow die zweite Stufe zur unbegrenzten Macht erreichen will, wird er versuchen, Mikojan auszubooten.

Chruschtschow ist insofern Diktator, als er nicht demokratisch gewählt wurde und es kein demokratisches Verfahren gibt, durch das er entfernt werden kann. Aber seine Macht ist durch die grauenhafte Lektion begrenzt, die Stalin dem sowjetischen Volk erteilte. Alle Ereignisse der Jahre 1953 bis 1959 deuten darauf hin, daß Chruschtschow einer starken Opposition gegenüberstünde, wenn er versuchen wollte, die stalinschen Säuberungen Wiederaufleben zu lassen. Er stößt auf Widerstand, wenn er in innen-oder außenpolitischen Angelegenheiten mit zu abenteuerlichen oder überoptimistischen Plänen experimentiert.

Seine Handlungsfreiheit ist durch viele Faktoren eingeschränkt. Seine wahren Ziele, seine wahren Überzeugungen, seine wahre politische Persönlichkeit können sich erst dann zeigen, wenn er sich völlig frei von Rivalen fühlt. Bis dahin besteht immer die Möglichkeit, daß er einen bestimmten theoretischen oder praktischen Kurs nicht etwa deshalb einschlägt, weil er ihn für den besten hält, sondern weil er durch ihn seine Position stärken oder seine wirklichen oder möglichen Rivalen innerhalb und außerhalb der UdSSR verletzen, schwächen, demütigen, besiegen zu können glaubt. Er hat dies in der Vergangenheit oft getan, wie aus dieser Chronik hervorgeht, und er wird es auch weiterhin tun müssen, wenn die jetzige Tendenz anhält. Deshalb wird er nie völlig seinen Neigungen und Träumen folgen können.

Aber er ist noch in einer anderen und viel wichtigeren Hinsicht gebunden — nämlich an das Dogma. Es ist schwer zu beurteilen, was er von den marxistisch-leninistischen Schlagworten wirklich hält, von den „wissenschaftlichen Gesetzen“ und „unvermeidlichen Prozessen“, die er in seinen Reden und Berichten immer wieder predigt. Seine Handlungen deuten darauf hin, daß er stärker an das Dogma gebunden ist als Molotow, Kaganowitsch auf der einen und Malenkow und Mikojan auf der anderen Seite. Obwohl sie sich alle bis zu einem gewissen Grad der leninistisch-stalinistischen Terminologie bedienen und einige zeremonielle Behauptungen nachbeten müssen, beweisen viele ihrer Handlungen, daß sie die wahre Situation realistischer sehen als Chruschtschow. Der Chefapparatschik erweckt oft den Eindruck, als akzeptiere er den Marxismus so wie ein einfacher, nicht sehr frommer Christ die Bibel. Er gerät nur dann in Zorn, wenn ein fundamentaler Lehrsatz angegriffen wird. Da er gelernt hat, daß die Wissenschaft lehrt (und selbstverständ-lieh ist alle Wissenschaft marxistisch), die höchste Gesellschaftsform sei der Kommunismus, zu dem die unvermeidlichen Prozesse der Geschichte und alle Gesetze der Wirtschaft und Soziologie die Menschheit hinführen, ist es immer noch fast unmöglich, mit ihm vernünftig über freie Wahlen, Gewerkschaften oder nationale Unabhängigkeit zu diskutieren. Die Möglichkeit zu erwägen, daß sich Marx, Engels, Lenin in ihren Zukunftsbildern irrten, zu untersuchen, inwieweit der heutige Sowjet-staat im Interesse der Arbeiter regiert wird, sich zu vergegenwärtigen, daß sich der heutige „Kapitalismus“ der westlichen Länder von dem unterscheidet, den Marx oder selbst noch Lenin sahen und beschrieben — scheint ihm Zeitvergeudung zu sein. Wenn diese Themen angeschnitten werden, reagiert er gewöhnlich emotional. Wenn man die vielen Gespräche studiert, die er mit westlichen Politikern und Journalisten führte, seine Debatten und Diskussionen im Ausland und während seiner Amerikareise, dann erkennt man, daß die fundamentalen Lehrsätze, die er Kommunismus nennt, für ihn jenseits des durch die Vernunft ergründbaren Bereiches liegen. In dieser Hinsicht ist er noch immer ein „Käfiggeist", weit mehr als die meisten anderen Spitzenfunktionäre oder die jüngeren Mitglieder des Apparats.

Durch sein im allgemeinen undoktrinäres pragmatisches Vorgehen gleicht er dies jedoch aus. In Detailfragen der marxistischen Theorie ist er nicht kleinlich. Meist kennt er sie nicht einmal. Seine weniger ans Dogma gebundenen Ratgeber können viel bei ihm erreichen. Sie können ihn beeinflussen, da sie mit ihm in der marxistischen Terminologie sprechen, die er gewöhnt ist. Einigen westlichen Gesprächspartnern gelang es in Diskussionen verhältnismäßig leicht, Chruschtschow in manchen Punkten zu überzeugen, wenn sie sich der marxistischen Terminologie bedienten.

Chruschtschow will natürlich noch zu Lebzeiten sein großes Ziel erreichen und die UdSSR zur Weltmacht führen. Doch dazu braucht er Frieden, ein wesentliches Nachlassen der internationalen Spannungen und wenigstens eine teilweise Abrüstung. Ein Krieg könnte verloren werden. Ein Krieg könnte zur Revolution und zur Änderung des Regimes führen. Aber Friede allein ist nicht genug. Chruschtschow hat oft betont, daß der friedliche Sieg des Jahres 1970 nur durch eine Reihe siegreicher Produktionssthlachten errungen werden kann. Er muß die UdSSR umformen, muß das Produktionspotential steigern, muß die Schlacht gegen den Bürokratismus gewinnen. Er braucht eine begeisterungsfähige Bevölkerung. Alle diese Voraussetzungen führen ihn zwangsläufig zur Abkehr vom bedingungslosen Despotismus. Gefühlsmäßig steht er zwar auf der Seite des Dogmas, aber seine Pläne und Ambitionen binden ihn an die Wirklichkeit. Er hat nicht mehr viel Zeit. 1959 war er 65 Jahre alt, und er muß sich beeilen, wenn er noch Resultate sehen will. Es besteht die schwache Hoffnung, daß er sich im Laufe der Jahre immer mehr vom Dogma löst. Im Kampf um das Ziel hat er die Rückendeckung des Apparats und in gewisser Weise sogar die der Bevölkerung.

Marxismus-Leninismus eine aggressive und intolerante Lehre

Dies alles bedeutet nicht, daß es in der UdSSR, im sowjetischen Parteiapparat und in Chruschtschows Charakter keine aggressiven Faktoren und Tendenzen gäbe. Der Marxismus-Leninismus ist eine äußerst aggressive und intolerante Lehre. Weitere Fortschritte in der Kriegstechnik werden vielleicht — zu Recht oder Unrecht, das sei dahingestellt — Chruschtschow und die Machtgruppe im Kreml glauben lassen, das Kräfte'Verhältnis stehe zu ihren Gunsten, und der Krieg wäre daher das beste Mittel, ihren globalen Traum zu verwirklichen.

Das Abschreckungsmittel wäre hier eine vereinte Front der westlichen Welt, eine klare Kundgebung, daß es außer den „fundamentalen Widersprüchen“ des demokratischen Systems auch eine fundamentale Einheit gibt, wenn die freie Welt vor die Wahl zwischen der humanen, demokratischen Gesellschaft und der inhumanen, totalitären Gesellschaft gestellt wird.

Diese Chronik versuchte zu zeigen, daß Chruschtschow im sowjetischen Sinne nicht liberal ist. Die Anti-Stalin-Rede und die „liberale“ Entschließung des XX. Parteikongresses wurden ihm mehr oder weniger aufgezwungen. Er tat alles, um die Wirkung der Anti-Stalin-Rede abzuschwächen, und unterband alle Versuche, die liberal-revisionistische Entschließung in die Tat umzusetzen. Sein augenblicklicher Kurs ist das Ergebnis der widerstreitenden Tendenzen innerhalb der Führungsgruppe und des Apparats.

In diesem Zusammenhang ist auch der neue Parteikurs interessant, der auf dem XX. Parteikongreß verkündet wurde und demzufolge ein Krieg nicht unvermeidlich ist. Jeder Kommunist kennt die beiden ganz anders lautenden Lenin-Zitate auswendig: „Iw Kapitalismus und besonders in seinem imperialistischen Stadium sind Kriege unvermeidlich.“ (Lenin: Werke, 4. russische Edition, Band XXI, Seite 141.) „Über einen längeren Zeitraum hinweg ist die Existenz der Sowjetrepublik Seite an Seite mit imperialistischen Staaten undenkbar. Der eine oder der andere muß am Ende triumphieren. Und vor diesem Ende ist eine Reihe von Zusammenstößen zwischen der Sowjetrepublik und den bourgeoisen Staaten unvermeidlich.“ (Lenin: Werke, 4. russische Edition, Band XXIX, Seite 133.)

In der Plenarsitzung des XX. Parteitages sagte Chruschtschow, daß diese Thesen zu Lenins Zeit absolut richtig waren: „Heute aber hat sidi die Situation grundlegend gewandelt. Das Weltlager des Sozialismus ist zu einer Macht geworden . .. Die Bewegung der friedliebenden Kräfte ist entstanden und hat sich zu einem wäditigen Faktor entwickelt. Unter diesen Umständen behält natürlich die leninsdie Lehre ihre Gültigkeit, daß, solange der Imperialismus existiert, audt die wirtschaftlichen Verhältnisse bestehenbleiben, die zu Kriegen führen . .. Aber der Krieg ist keine schicksalsbedingte Notwendigkeit. Heute gibt es mächtige soziale und politisdie Kräfte, die über geeignete Mittel verfügen, um die Imperialisten daran zu hindern, einen Krieg zu entfesseln, und, sollten sie tatsächlich versudten, einen Krieg anzuzetteln, den Aggressoren eine vernichtende Abfuhr zu erteilen und ihre Abenteuerpläne zu durchkreuzen. Dazu müssen alle Kräfte, die gegen den Krieg auftreten, wadhsam und kampfbereit sein. Sie müssen eine gemeinsame Front bilden und dürfen mit ihren Bemühungen in der Schlacht für den Frieden nicht nachlassen.“

Auf gut deutsch heißt das: die These von der Unvermeidlichkeit von Kriegen verliert nur dann ihre Gültigkeit, wenn die Situation in der nichtkommunistischen Welt zugunsten des Kommunismus steht. Krieg ist nicht unvermeidlich, wenn wachsame und kampfbereite „Friedensfronten“ in die westlichen Länder eindringen, wenn die freie Welt durch die sowjetische Politik und Propaganda wirksam geschwächt, verwirrt und gespalten wird.

Die leninsche Lehre von der unvermeidlichen Fäulnis und dem Zusammenbruch aller nichtkommunistischen Systeme einschließlich des Kapitalismus wurde nicht widerrufen, ebensowenig folgendes Lenin-Zitat: „ . .. aber sobald wir stark genug sind, um den Kapitalismus als Ganzes zu schlagen, packen wir ihn sofort an der Kehle.“ (Lenin: Werke, 3. russische Edition, 1935, Band XXV. Seite 500.)

Darüber hinaus forderte Chruschtschow in seinem Rechenschaftsbericht vor dem XX. Parteikongreß, daß der Propagandakrieg intensiviert werde: „In diesem Zusammenhang darf nicht versdtwiegen werden, daß einzelne Funktionäre versuchen, die absolut richtige These von der Möglidikeit einer friedlidten Koexistenz von Ländern mit verschiedenen sozialen und politischen Systemen auf das ideologische Gebiet zu übertragen. Das ist eine schädlidte Verirrung. Aus der Tatsadte, daß wir für friedliche Koexistenz und wirtsdcaftltdren Wettbewerb mit dem Kapitalismus eintreten, darf man keineswegs folgern, daß der Kampf gegen die bourgeoise Ideologie, gegen die Überreste des Kapitalismus nadtlassen wird. Es ist unsere Aufgabe, unermüdlich die bürgerliche Ideologie zu entlarven und zu enthüllen, wie verderblidi sie für die Völker ist.“ Liest man für „Kapitalismus" freie demokratische Gesellschaft, Toleranz, Individualismus, Glaube an die Menschenrechte, Glaube an absolute Moralgrundsätze, das Recht, zu streiken, das Recht, eine eigene Meinung zu äußern, dann ist der geistige Krieg erklärt. Chruschtschow kann nichts dagegen haben, wenn dieser „'friedliche, ideologische Krieg" auf beiden Seiten geführt wird. Dieser Krieg kann sogar Chruschtschow selbst beeinflussen, wenn er auf beiden Seiten geführt wird. Nikita Sergejewitsch Chruschtschow steht am Scheideweg. Emporgekommen aus dem blutigroten Chaos der Revolution, hat er die Alpdruckjahrzehnte der Stalin-Ära überlebt, hat intrigiert, manövriert, seinen Weg an die Spitze erkämpft. Ans Dogma gebunden, wird er von der Versteinerung des Marxschen Zornes über die sozialen Verhältnisse des letzten Jahrhunderts geleitet. Diese Emotionen blieben durch eine Art kollektiver Selbsthypnose der kommunistischen Führung bis heute erhalten. Sie versuchen, die Tyrannei und den Haß auf die Freiheit und den Individualismus zu rechtfertigen, indem sie die freie Welt mit den Geistern vergangener Zeitalter bevölkern. Sein Bauernverstand und sein Pragmatismus führen ihn zur heutigen Wirklichkeit hin. Seine großen Ambitionen und Träume aber führen ihn zu visionären Zielen. Mehr vermag der Chronist nicht zu sagen.

POLITIK UND ZEITGESCHICHTE

AUS DEM INHALT DERNÄCHSTEN BEILAGEN:

Ludwig Dehio: „Preußisch-Deutsche Geschichte 1640— 1945"

Philipp Fabry: „Die deutsch-russischen Beziehungen 1939— 1941"

Jens Hacker: „Die Osteuropaforschung in der Bundesrepublik Deutschland"

Klaus Hornung: „Die Etappen der politischen Pädagogik von Bismarck bis heute"

W. Jaide: „Die Einstellung heutiger Jugendlicher zur Politik"

Walter Kolarz: „Das Judentum in der Sowjetunion"

Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"

Stephan G. Thomas: „Totalitäre Machtstruktur und sowjetische Außenpolitik"

Walter Wehe: „Die wirtschaftspolitische Entwicklung Europas seit dem Marshallplan"

Fussnoten

Weitere Inhalte