Die nachstehenden Ausführungen geben in erweiterter Form einen Vortrag wieder, den der Verfasser am 7. Mai 1960 auf einer vom Baden-Württembergischen Kultusministerium in Verbindung mit der EuropaUnion durchgeführten Geschichtslehrertagung in Stuttgart gehalten hat.
Die Sternstunde der Französischen Revolution
Als in Frankreich die absolute Monarchie zusammenbrach und unter der Devise „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" eine ganz neue staats-und völkerrechtliche Denkweise auf den Plan trat, ruhte in dem benachbarten Mitteleuropa die alte Ordnung noch fest in ihren Angeln. Noch immer überwölbte das Heilige Römische Reidt Deutscher Nation das bunte Mosaik der aus einer Vielzahl mittelgroßer, kleiner und kleinster Partikel zusammengesetzten deutschen Staatenwelt. Von Nationalgefühl, Machtpolitik und Prestige war da nicht viel die Rede. Es gab wohl einen Reichspatriotismus, und dies vornehmlich im traditionsgebundenen deutschen Südwesten, wo die politische Krähwinkelei vorherrschte, aber der spiegelte mehr einen weltbürgerlichen Stolz als ein dynamisches Selbstbewußtsein wider; in diesem Idyll der Serenissimi und ihrer allergehorsamsten Untertanen gelüstete niemand nach einem Umsturz der bestehenden Verhältnisse.
Das traf auch auf die beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen zu, denen ja der verschlissene Mantel des altdeutschen Kaisertums längst zu eng geworden war. Noch eben hatten sie, ostwärts gerichtet und in der trügerischen Windstille des sterbenden „ancien regime“, Arm in Arm mit Rußland der Kabinettspolitik alten Stils mit der ersten polnischen Teilung die Krone aufgesetzt, da störte sie der Feuerschein von Westen aus den gewohnten Geleisen auf. Aber als sie sich noch einmal zusammentaten und diesmal marschierten, um den revolutionären Brandherd an der Seine auszutreten, offenbarte sich ihre Schwäche unterwegs: keine Feldschlacht, eine bloße Kanonade und das unwirtliche Herbstwetter bewogen sie zur Umkehr, und der Schlachtenbummler Goethe beim Hauptquartier des deutschen Invasionsheeres notierte in seinem Tagebuch: „Von heute und hier geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus“.
Das war im Jahre 1792, drei Jahre nach dem Zusammentritt der Nationalversammlung in Paris, des ersten Parlaments auf dem europäischen Festland, eine wahrhaft prophetische Erkenntnis weit über das hinaus, was den Zeitgenossen und wohl auch Goethe selbst damals bewußt geworden ist; seine Divination zielte auch weniger auf den roten Faden, den die Jakobiner in die Weltgeschichte einzufädeln sich anschickten, als vielmehr auf die Sternstunde, den Wendepunkt, man möchte sagen: auf den Abschied von der Geschichte.
Wie sehr er damit recht behalten sollte, wissen wir heute. Das Zeitalter der französischen Revolution — ein sehr kurzer Zeitraum von nur 25 Jahren — trennt uns durch einen tiefen und bedeutsamen Einschnitt von den früheren Jahrhunderten. Diese Feststellung ist ganz unabhängig davon, ob wir die französische Revolution als solche anerkennen oder ablehnen und ob wir ihre Folgen als segensreich oder unheilvoll empfinden. Die französische Revolution hat ihre unverrückbare Stelle in der Geschichte der modernen Welt. Sie hat die Politisierung unseres Lebens eingeleitet, sie bedeutet die erstmalige Durchsetzung einer alle Gebiete des Lebens umfassenden theoretischen Einstellung mit den Machtmitteln des Staates, sie hat nicht nur die politischen Institutionen, sondern auch die Beziehungen der Völker zueinander auf eine neue Grundlage gestellt. Man braucht nur die Worte Liberalismus, Demokratie, Nationalstaat zu nennen, um die Tragweite dieser Bewegung sichtbar zu machen.
Aber damit ist auch bereits angedeutet, daß es sich in der französischen Revolution nicht um ein einheitliches Programm und dessen Ausführung handelt. Nur in den ersten Anfängen war das vielleicht der Fall, später sind sehr verschiedene Überzeugungen und vor allem Män-ner sehr verschiedenen Charakters hervorgetreten. Das hat die ursprünglichen Antriebe stark verändert, und zwar um so mehr, je mehr die Theorie sich mit der Praxis vermischte, je mehr die harte Notwendigkeit der Dinge zu sprechen begann. So ist die französische Revolution eine andere in ihren Anfängen und in ihrem Verlauf gewesen, eine andere in ihren Ursachen und ihren Wirkungen, und wenn die Geschichte zuweilen das Bizarre und Paradoxe liebt, so hat sie hier verschwenderischen Gebrauch davon gemacht. Um es mit knappen Worten zu sagen: Die französische Revolution hat den Individualismus in die Politik eingeführt, und sie hat damit die modernen Massenbewegungen ausgelöst. Sie begann mit der Zertrümmerung des Absolutismus und endete in der Militärdespotie Napoleons I. Sie befreite das Individuum von den Fesseln staatlicher Bevormundung und brachte zugleich den starken Staat hervor, den Volksstaat mit der allgemeinen Wehrpflicht, dem Schulzwang und dem bürokratischen Zentralismus in der Verwaltung. Die Anfänge und das Ende stehen also weit voneinander, und sie scheinen sich zu widersprechen. Jedoch im Grunde widersprechen sie sich nicht; es steckt nur etwas von der Ironie der Geschichte darin, die sich überall zeigt, wo der menschliche Geist um neue Formen seiner Selbstdarstellung ringt.
Vom Lande des „esprit classique“ gilt das in besonderem Maße. Die Französische Revolution ist eine spezifische Hervorbringung des französischen Nationalgeistes. Schon Tocqueville hatte darauf hingewiesen, daß sie nicht etwas Zufälliges gewesen sei, sondern die Tendenzen der vorhergehenden Zeit vollstreckt habe, und sein Landsmann Albert Sorel hat ein achtbändiges Werk über Europa und die Französische Revolution geschrieben, um diese These zu erhärten; sie ist heute von den ernst zu nehmenden Forschern allgemein anerkannt. Die Ideen von 1789 traten mit dem Anspruch der Allgemeingültigkeit auf, sie sollten auf alle Völker und alle Zeiten in gleicher Weise anwendbar sein. Das französische Volk berauschte sich in dem Hochgefühl einer europäischen Mission, man wollte die Segnungen der Vernunft und der Menschenrechte auch den anderen Völkern bringen und leitete daraus sogar das Recht zum kriegerischen Einschreiten ab. So trat das neue Frankreich in die Fußstapfen der alten „monarchie conquerante", die Republik tat dasselbe, was schon Richelieu und Ludwig XIV. getan hatten: sie eroberte, sie dehnte die Grenzen Frankreichs aus, sie sprach von den „limites naturelles de 1‘ancienne Gaule“ und meinte damit die Pyrenäen, die Alpen und vor allem den Rhein.
Rationalismus und Aufklärung
Die Wurzel der neuen Auffassung von der Stellung des Menschen gegenüber Gott und innerhalb der Gesellschaft war der Rationalismus, eine gegen die spiritualistische und pessimistische Lebensauffassung des Mittelalters und seine Vorurteile gerichtete europäische Geistesbewegung, zu der alle Nationen ihren Tribut beigesteuert haben; die Namen Descartes, Galilei, Bacon, Leibnitz, Spinoza, Hugo Grotius beweisen es.
Diese neue Philosophie war eine Tochter der Renaissance, sie knüpfte an die antiken Vorstellungen von der Welt an und setzte die Natur wieder in ihre Rechte ein. Durch Beobachtung und Zergliederung suchte man den Erscheinungen auf den Grund zu kommen und alle Veränderungen nach dem natürlichen Gesetz von Ursache und Wirkung zu erklären. Die Materie und die Quantität traten in den Mittelpunkt dieser Betrachtungsweise. Die Natur wurde aufgefaßt als ein System gesetzlich bewegter Massenteile und alles Geschehen dargestellt als mechanische Bewegung, als Zusammensetzung, Verschiebung, Trennung von Körpern und Körperchen bis hinunter zu den Atomen. Ein neues wissenschaftliches Verfahren kam damit auf: das Messen und Rechnen nach der mathematischen Methode. Die Mathematik wurde das Organon dieser Naturerkenntnis, die auf alle Erscheinungen des Lebens ausgedehnt wurde; Spinoza wollte auch die moralische Welt „more geometrico“ begründen und darstellen.
Dieser naturwissenschaftliche Geist zog bald alle Denker und Publizisten in seinen Bann. Voltaire befaßte sich mit der Newtonschen Optik und Astronomie, sein Laboratorium in Cirey enthielt alle bekannten physikalischen und chemischen Apparate der Zeit. Der Staatsmann Montesquieu hielt an der Akademie zu Bordeaux Vorlesungen über den Mechanismus des Echos und über die Funktion der Nieren-drüsen und veröffentlichte neben seinem berühmten Werk über den Geist der Gesetze seine Beobachtungen über Pflanzen und Insekten.
Dasselbe gilt von allen anderen, die zum Kreise der Enzyklopädisten gehören, von Diderot, d’Alembert, Buffon, Condillac, Condorcet, um nur einige zu nennen; sie alle haben der Mathematik und Physik ihren Tribut entrichtet.
Die Anwendung dieser naturwissenschaftlichen Methode auf das geschichtliche und gesellschaftliche Leben mußte auch zu neuen Aspekten der Geschichtsund Staatsphilosophie führen. Nicht mehr wie in der alten scholastischen Philosophie steuerte die Geschichte einem transzendenten Ziele zu, sie erstrebte jetzt eine irdische Wirkung: den Fortschritt des menschlichen Geistes zu immer größerer Vervollkommnung.
Die Geschichte wurde zum Schauplatz der sich entwickelnden Vernunft.
Der Mensch unterscheidet sich zuerst durch nichts von dem wilden Tier, aber mit Hilfe seiner Geisteskräfte reißt er sich von der Natur los, nicht um sogleich die Bahn des Lichtes zu betreten, sondern um den gefährlichen Schwankungen des Intellektes zu verfallen, die tief in das Böse hinabreichen. Nur durch vernünftiges Erkennen und durch Handeln nach den Gesetzen der Vernunft kann dieses irrationale Element gebändigt werden. So strebt die Menschheit in ihrer Gesamtheit, ohne Ansehung der rassischen und nationalen Unterschiede, als Gattung einem gemeinsamen Ziele zu: der Verwirklichung einer allgemeingültigen Rechts-und Friedensordnung, dem Völkerbünde, unter dessen weiser Ägide es keine Kriege mehr geben wird.
Damit sie aber dieses Ziel erreichen, müssen sich die Menschen in den einzelnen Staaten nach Prinzipien der Vernunft organisieren. Nicht schrankenlose Willkür und das Recht des Stärkeren, sondern das Vernunft-oder Naturrecht soll die Beziehungen der Menschen und Völker zueinander regeln, und ganz im Sinne der naturwissenschaftlichen Methode geht dieses Vernunft-oder Naturrecht von den Atomen der Gesellschaft, den Individuen, aus. Ohne Rücksicht auf die Mannigfaltigkeit des historisch Gewordenen baut das Naturrecht eine völlig gleichförmige Gesellschaft aus den einzelnen Individuen auf, und da im Staatsleben der Übergang von den Einzelwesen zum Kollektivum unumgänglich ist, bedient das Naturrecht sich einer Fiktion, der Vertragstheorie, um das Staatsleben auf eine rationale Basis zu stellen. Der Staat, so lehrt das Naturrecht, beruht auf einem Vertrag der um ihr Leben und Eigentum besorgten Individuen, die zu diesem Zwecke durch allgemeinen Beschluß eine Obrigkeit einsetzen. Daraus entwickelte sich nun weiterhin die Lehre von der Volkssouveränität, die in den Kämpfen um religiöse Autonomie schon von den Jesuiten, den Calvinisten und Presbyterianern in Schottland auf die Bahn gebracht worden war: die Lehre nämlich von der Absetzbarkeit des Souveräns, wenn er gegen das Wohl und Seelenheil seiner Untertanen verstößt. Die letzte und schärfste Ausprägung fand diese Lehre im „Contrat social" von Rousseau, der 1762 erschien.
Aus diesen wenigen Bemerkungen über das Naturrecht wird deutlich sichtbar, was für ein gefährlicher Sprengstoff in dieser völlig ungeschichtlichen Denkweise steckte, die zunächst nur auf einen kleinen Kreis Auserwählter beschränkt blieb. Wie aber, wenn sie zum Allgemeingut der gebildeten bürgerlichen Schichten wurde, die mit wachsendem Nachdruck ihre Befreiung von der politischen und wirtschaftlichen Bevormundung erstrebten? Mußte sie dann nicht ein wirksames Kampfmittel gegen die bestehende Staats-und Gesellschaftsordnung werden?
Die Aufklärung hat in der Tat diese Waffe geschmiedet. Sie hat den Rationalismus in kleine Münze umgeprägt und unter das Volk gebracht. Aufklärung, so definierte Kant, ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit; das „sapere aude" der Alten: habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, erhob er zu ihrem Wahlspruch. Daß es hierbei wie bei jeder Popularphilosophie nicht ohne die unvermeidlichen Vergröberungen abging, liegt auf der Hand. Die geistreich witzelnde Gesellschaftskritik Voltaires verband sich mit einem leidenschaftlichen Haß gegen das Christentum und die Kirche, und in derselben Richtung wirkte die Propaganda des Materialismus durch die Enzyklopädisten. Das Freidenkertum und die Grundsätze der religiösen I oieranz waren nicht ursprünglich auf französischem Boden gewachsen, man hatte sie von England und Schottland übernommen, wo sie im Kampf der Volksvertretungen mit dem Absolutismus der Stuarts zum Durchbruch gelangt waren. Auch die Freimaurerlogen, die den Kult des Deismus und der Humanität in Frankreich einführten, waren ja nach englischem Muster gebildet.
Dieser alle autoritären Bande auflösende Individualismus griff, wie auf alle Gebiete, so auch auf die wirtschaftlichen Anschauungen hinüber. Hier vertraten die Physiokraten im Gegensatz zu dem die Industrie begünstigenden Merkantilismus eine Lehre, die das Evangelium der Naturreligion auf die Nationalökonomie übertrug und Befreiung des Bodens, also der Landwirtschaft, von allen hemmenden Abgaben, Einfuhrverboten und Zöllen forderte. Es war das bekannte „laissez-faire, laissezaller', das liberale Prinzip des freien Spiels der Kräfte. Die zahlreichen Akademien des Landes verlassen um die Mitte des Jahrhunderts das Gebiet der Literatur und Rhetorik und wenden sich nun mit Vorliebe den Problemen der praktischen Ökonomie zu; sie erörtern die Ursachen der Kriminalität und des Bevölkerungsrückganges, die Arbeiterfrage, das Wesen des Luxus, die kaufmännische Moral.
Die Propagierung der neuen Ideen
Wie aber haben sich diese Ideen verbreitet, die von den führenden Denkern und Literaten der Nation ausgestreut wurden? Es ist wichtig, diese Frage zu stellen; denn jeglicher Verkehr der Menschen untereinander steckte ja damals, verglichen mit modernen Zuständen, noch in den Kinderschuhen. Politische Zeitungen, wie wir sie heute kennen, waren nicht vorhanden. Im Jahre 1765 gibt es kaum mehr als überhaupt zwanzig Journale, die sich aus Furcht vor der strenggläubigen Obrigkeit nur schüchtern an die Diskussion der philosophischen naturwissenschaftlichen Zeitideen heranwagen; wo es dennoch geschieht, wie in dem ominösen „Journal encyclopedique“, muß die Berichterstattung sich in das erheuchelte Gewand der Mißbilligung kleiden. Diese Zeitungen, besser Zeitschriften genannt, sind auch viel zu teuer; die Zahl ihrer Abonnenten liegt im günstigsten Falle zwischen fünfzehn und zwanzig Tausend. Gewiß, die Zeitungen werden nicht nur von den Abonnenten gelesen, man gibt sie weiter von Hand zu Hand, die Neugierde wird rege, und mit der Neugierde wächst die Aufnahmefähigkeit. Aber diese bleibt doch beschränkt auf die wenigen Menschen, welche wirklich Bildung besitzen. Die unteren Schichten des Volkes waren noch kaum davon berührt. Von den Wählern konnten in der Regel weit über 50 Prozent nicht lesen und schreiben, ja es kam sogar vor, daß Verwaltungsbeamte der Schrift nicht mächtig waren. Auf den Dörfern gab es fast nirgends Volksschulen, die Erziehung der Jugend lag noch ganz in den Händen der Geistlichkeit. Infolgedessen waren die breiten Massen des Volkes, Bauern, Handwerker und das Kleinbürgertum, in dem vor-revolutionären Frankreich von einer tiefen und echten Religiosität erfüllt, die das Freidenkertum gar nicht erreichte. Den Beweis hierfür erbrachte der Kampf der Revolution gegen die Kirche, der, im Anfang durch die Preisgabe des Kirchengutes und politischen Gesinnungsdruck erfolgreich, am Ende doch zu einer des Staates Niederlage geführt hat. Die katholische Kirche ging in Frankreich gestärkt an Macht und Ansehen aus der Revolution hervor. Aulard hat freilich entgegen seiner früher geäußerten Ansicht behauptet, die Revolution hätte bei schärferem Durchgreifen die ins Werk gesetzte Entchristlichung des französischen Volkes mit Erfolg zu Ende führen können, da das Christentum auch bei den Bauern nur noch schwache Wurzeln besaß. Der Anachronismus dieser Auffassung ist mit Händen zu greifen und bedarf keiner ausdrücklichen Widerlegung. „Die Welt", sagt Ranke in bezug auf diese Seite der französischen Revolution, „konnte nicht ertragen, von dem Göttlichen zu veröden. Das 19. Jahrhundert kehrte zu den Lebens-quellen um, an welchen die früheren Zeiten sich genährt hatten."
Die weitverbreitete Ansicht ist also falsch, daß die freidenkerischen Ideen damals von ganz Frankreich Besitz ergriffen hätten. Was übrigens die Bauern betraf, die noch die Mehrzahl der Bevölkerung bildeten, so tritt in den cahiers, den Beschwerdeschriften, die die Wähler den Abgeordneten mitgaben, nirgends eine der Dynastie feindliche Gesinnung an den Tag. Die Beschwerden richten sich vielmehr gegen die den Adel einseitig begünstigenden Bestimmungen über die Ausübung der Jagd und gegen die Weinsteuer, kleine Belästigungen, die aber von den Bauern tagtäglich gefühlt wurden und durch die sich das herrschende System in Mißkredit brachte. Jedoch waren die Bauern weit entfernt, das dem König zur Last zu legen. Sie glaubten, daß, wenn man ihn nur recht unterrichten wollte, er sich ihrer wie ein Vater annehmen würde. Das einfache Landvolk suchte bei dem Königtum Schutz vor den Feudalherren.
Deshalb schreiben die Schriftsteller auch gar nicht für die breiten Massen. Sie tragen fast alle — mit Ausnahme von Rousseau — für das einfältige, unwissende und stumpfsinnige Volk eine souveräne Verachtung zur Schau. Sie halten es nicht reif für die Regierung, und was sie wollen, ist die Reform von oben. Sie wollen das Königtum nicht abschaffen, sie sind von Hause aus keine Republikaner und Demokraten; selbst Rousseau betont im Contrat social ausdrücklich, daß seine republikanischen Grundsätze nicht auf große Staaten, auf Monarchien, anwendbar seien. Auch die Freimaurer waren damals überzeugte Royalisten. Aber überall in der Publizistik wurden doch, in mehr oder weniger sorgsamer Verhüllung, die autoritätsfeindlichen Anschauungen des Deismus und der Naturrechtslehre diskutiert, so daß die Regierenden zeitweilig auf den Gedanken kommen konnten, daß diese zersetzende Propaganda auf dem abgekarteten Plan eines allgemeinen Umsturzes beruhe. Im Jahre 1759 sagt der Generaladvokat Joly de Fleury in einer Anklagerede: „Man kann sich nicht verhehlen, daß ein Plan ersonnen ist, daß eine Gesellschaft sich gebildet hat, um den Materialismus zu stützen, die Religion zu zerstören, um Zügellosigkeit zu verbreiten und die Sittenverderbnis zu fördern.“
Dieser Verdacht konnte sich damals auf eine im Ernst nur kleine Minderheit erstrecken, auf die gut situierte Gesellschaft, auf die literarisch interessierten Kreise des Adels, auf die oberen Schichten des Bürgertums. Jedoch in den siebziger und achtziger Jahren verbreiten sich die atheistischen und liberalen Ideen auch unter den mittleren Volks-klassen. In den Salons vornehmer Damen versammeln sich die Philosophen und ihre Adepten, die sich oft aus kleinbürgerlichen Verhältnissen emporgearbeitet haben, und mehr die belesenen Frauen als die Männer führen bei diesen Debatten über die Toleranz oder den bestmöglichen Staat das große Wort. Die Theater erzielen mit Stücken, die sich gegen die religiösen oder sozialen Vorurteile wenden, in der Hauptstadt wie in der Provinz überfüllte Häuser. In Beaumarchais'„Hochzeit des Figaro" triumphiert der Roturier über den Edelmann, aber er findet bei dem begeisterten Publikum auch den Beifall derer, die im Grunde die Zeche zu bezahlen haben. In den literarischen Gesellschaften, den Logen und den Clubs, die nach englischem Muster wie Pilze aus dem Boden schießen, und noch mehr in den Pariser Kaffeehäusern, deren man 1788, nach einer polizeilichen Erhebung, an die 1800 zählt, werden die neuen Ideen mit unermüdlichem Eifer und nicht ohne zügellose Ausfälle gegen den König und die königliche Familie, den Hof, die Regierung, erörtert und so von Mund zu Mund weitergetragen. Den Zeitungen, die sich besonders in der Provinz seit 1770 rasch vermehren, merkt man es am besten an, wie sehr der Geist der Enzyklopädie sich ausgebreitet hat. Die Namen der berühmten Schriftsteller sind aller zum Zensur Trotz nicht mehr anstößig, und der Kult der schwärmerischen Humanität im Stile Rousseaus gibt überall den Grundton an.
Diese rührselige Naturschwärmerei machte das Eigenrecht des naturwüchsigen genialen Menschen geltend, sie wandte sich gegen die sittlichen Bindungen des bürgerlichen Lebens, weil sie das freie Ausleben des Individuums behinderten, und sie erblickte in der menschlichen Ge-
sellschaft und Zivilisation überhaupt ein Unglück, weil sie den paradiesischen Zustand des unschuldigen Naturmenschen in ein verkehrtes, verschrobenes Wachstum gedrängt hätte. Aus dieser Stimmung heraus entstanden ein neues System der Kindererziehung und die sentimentale Philanthropie, die sich der Zurückgebliebenen, der Kranken und Bedürftigen annahm und Stifte, Wohlfahrtsinstitute und Asyle ins Leben rief. In dieser gefühlsgesättigten Atmosphäre waren aber auch die Schriften Rousseaus entstanden, ja sie hatten diese Atmosphäre selbst mit hervorgerufen und in der ganzen Welt das größte Aufsehen erregt. Zwar gilt dies nicht für das politische Glaubensbekenntnis Rousseaus, für den Contrat social, der wegen seiner abstrakten und rigorosen Formulierung wenig gelesen wurde und zunächst fast unbemerkt vorüberging. Um so mehr entsprach diese radikale Theorie dem, was in der zweiten, der jakobinischen, Phase der Revolution zutage trat und teilweise auch verwirklicht worden ist.
Rousseaus „Contrat social"
und die Wendung zum starken Staat Rousseau baut den Staat und die Gesellschaft — beides ist bei ihm nicht scharf getrennt — aus dem Naturzustand auf: „L'homme est ne libre, mais partout il est dans les fers“, so die fascinierenden Eingangsworte des berühmten Traktates. Was wollen sie besagen? Der Mensch ist von Natur frei, und er ist unschuldig und gut, erst die Gesellschaft (und damit die Geschichte) hat ihn unfrei gemacht und mit ihrer intellektualistischen Kultur und ihrem Egoismus aus seiner Art gedrängt und verdorben. Also weg von der Geschichte und zurück zur Natur. Aber dieser Rückgriff ist im Grunde ein Appell an die Vernunft, die auch bei Rousseau allein berufen ist, die verworrenen menschlichen Verhältnisse zu ordnen und zu legitimieren. So beantwortete Rousseau die Frage, wie Autorität und Freiheit zusammen bestehen können, mit seinem Gesellschaftsvertrag. Jeder einzelne schließt mit allen, d. h.der Summe der einzelnen, einen Vertrag, durch welchen die „volonte generale“, der Gesamtwille, zum allein gültigen Souverän eingesetzt wird. Mit anderen Worten: die tatsächliche Regierung hat nur einen provisorischen Auftrag und verschwindet in dem Augenblick, wo die Volksgemeinde zur Abstimmung zusammentritt. Das ist die plebiszitäre Demokratie antiken Stils, die Rousseau, der Bürger eines schweizerischen Stadt-kantons, auch nur auf kleinere Verhältnisse angewandt wissen wollte. Übertragen auf einen Großstaat der Neuzeit, mußte diese Lehre revolutionierend wirken, ja die Revolution, wie Gierke einmal bemerkt hat, in Permanenz erklären. Eben das war es, was die Jakobiner wollten und taten:
Wie aber kam es zu der raschen Abkehr von den liberalistischen Ideen des Jahres 1789? Wie konnte die Freiheit so rasch von der Gleichheit verschlungen werden? Wie erwuchs aus der liberalen Anarchie die egalitäre Demokratie, der zentralistische Einheitsstaat, der die staatliche Allmacht viel stärker ausprägen sollte, als es der Absolutismus jemals getan hatte?
Die Nationalversammlung, die 1789 aus den Generalständen hervorgegangen war, stand unter dem überwiegenden Einfluß des dritten Standes. Der war noch zum größten Teile monarchisch gesinnt, aber er wollte ein konstitutionelles, d. h. ein verfassungsmäßig beschränktes Königtum, und er suchte diesen Zweck durch die Teilung der Gewalten, der vollziehenden, der gesetzgebenden und der richterlichen Gewalt, zu erreichen. Aber man verfuhr dabei viel radikaler, als Montesquieu es gelehrt hatte. Die Tendenzen dieser Versammlung waren extrem individualistisch und geschichtsfeindlich.
Das wurde sogleich offenkundig, indem man an die Spitze der Verfassung die Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte stellte. Die Nationalversammlung folgte hierin dem Vorbilde der nordamerikanischen Freistaaten, die diese Prinzipien in ihrem Unabhängigkeitskriege gegen England zur Richtschnur genommen hatten; sie stammten aus der großen englischen Revolution des 17. Jahrhunderts, in der die liberalen Grundsätze der religösen Toleranz zum Durchruch gekommen waren. Die vier „unveräußerlichen und unveränderlichen“ Menschenrechte, das Recht auf Freiheit, das Recht auf Sicherheit, das Recht auf Eigentum und das Recht auf Widerstand gegen Bedrückung, hatten so, wie sie gemeint waren, einen staatsfeindlichen Charakter; sie bedeuteten nichts anderes als die Proklamation des Grundsatzes: erst der Einzelne, dann der Staat. In dem wilden Freiheitstaumel, der die Menschen erfaßt hatte, tat man alles, um die Macht des Staates bis auf den Nullpunkt herabzuwürdigen. Selbst gegen die Nationalversammlung richtete sich der Verdacht, sie könne zu mächtig werden. „Hütet Euch um Gottes willen vor der Erklärung“, schrieb Madame Roland 1789 an einen der Revolutionsführer, „die HafioitalversaMtttluHg könne unwiderruflich die Verfassung festlegen. E) iese utufl, wenn die Versantinlung den Plan entworfen hat, sodann in alle Provinzen geschickt werden, um von den Mandanten angenommen, umgestaltet, gebilligt zu werden.“
Dieser extreme Föderalismus führte zu einer völligen Anarchie der Verwaltung. Das grobe Unverständnis für die Bedeutung und Macht des Herkommens zeigte sich vor allem darin, daß man Frankreich mit Zirkel und Lineal in 8 3 neue Departements einteilte. Noch schlimmer aber war die Aufhebung des kirchlichen Eigentums. Denn damit beging die Nationalversammlung eine Tat, die sich in ihren Folgen gegen ihre eigenen Grundsätze und Absichten richten sollte. Durch den Verkauf des eingezogenen Kirchengutes, wozu dann noch die dem Staate verfallenen Besitzungen der nicht zurückgekehrten Emigranten kamen, wurde eine durchgreifende Umschichtung der Besitzverhältnisse herbeigeführt. Die neuen Besitzer fühlten aber bald das Bedürfnis nach einer straffen Staatsgewalt, die ihnen das Neuerworbene sicherstellte. Das hat dem späteren Terror mit die Wege geebnet.
Die Haupttriebfeder in dieser Entwicklung lag freilich in der Dynamik der revolutionären Ereignisse selbst. Der vornehmste Schauplatz der Revolution, auf dem alle wichtigen Entscheidungen fielen, war die Großstadt Paris, die in Frankreich seit langem in allen Dingen des öffentlichen Lebens den Ton angab, weit mehr als das in irgendeinem anderen Lande der Fall war. Hier gelang es den im Jakobinerclub zusammengeschlossenen radikalen Elementen, das Großstadtproletariat und das käufliche Lumpengesindel, das sich durch Zuzug aus den Provinzen ständig ergänzte, zu organisieren und mit ihrer Hilfe die Volksvertretung zu terrorisieren. Aber was in Paris geschah, geschah auch in den anderen Städten des Landes. Denn der Jakobinerklub hatte dort überall seine Filialen, und nachdem er in Paris die Macht erobert hatte, herrschte er im ganzen Lande durch seine Emissäre und Spitzel und ein hemmungsloses Angebertum.
Ebenso wichtig aber oder vielleicht noch wichtiger für das Hereinbrechen und die Fortdauer der Schreckensherrschaft war ein zweites: die auswärtige Politik der Revolution, die Einmischung des Auslandes zugunsten des bedrängten Königs und schließlich der Krieg, der als nationaler Verteidigungskrieg geführt wurde, in Wirklichkeit aber ein Eroberungskrieg größten Stiles und zugleich eine bewaffnete Propaganda für die neuen in Frankreich zur Herrschaft gekommenen Ideen war.
Die anderen Staaten hatten zunächst gar keine Veranlassung, sich in die inneren Verhältnisse Frankreichs einzumischen; denn die Schwächung Frankreichs durch die Revolution war ihnen ganz willkommen. Sie neigten überhaupt im Hinblick auf das Beispiel Polens zu der Ansicht, daß das republikanische Regime notwendigerweise zum Verfall der Staaten führen müsse. Mit dem republikanischen Regime verbanden sie nicht ohne weiteres die Vorstellung einer Volksregierung und eines völligen LImsturzes aller Dinge, wie er sich in Frankreich vorbereitete. Sehr unsanft sollten sie bald aus dieser Illusion geweckt werden. Denn trotz aller Friedensbeteuerungen und pazifistischen Phrasen, die die Revolutionäre vernehmen ließen, waren ihre Ideen doch von vornherein auf eine weltumspannende Propaganda eingestellt; gerade ihr wortreicher Pazifismus verkündete ja ein völkerrechtliches Programm, das den bestehenden politischen Zuständen in Europa in keiner Weise entsprach.
Im November 1791 fordert eine Adresse der Assemblee den König auf, er möge den deutschen Fürsten sagen: Wenn ihr fortfahrt, die Hetze und kriegerischen Vorkehrungen gegen Frankreich zu begünstigen, so werden wir euch nicht Schwert und Feuer, sondern die Freiheit ins Land tragen. Oder wie es am selben Tage ein Volksbote von der Rednerbühne herab in aufschlußreicher Weise erläuterte: Wir werden die Völker gegen die Tyrannen führen und sie im Namen der Philosophie entthronen. Wie reibungslos gleiten Recht und Macht, Idee und Wirklichkeit hier ineinander! Kaleidoskopartig ändern sich die Begriffe. Man verwechselt die Herrschaft der Vernunft mit der Herrschaft Frankreichs, die Befreiung der Völker mit der Eroberung ihrer Staaten, die europäische Revolution mit der französischen Hegemonie.
Aber der Verlauf der Revolution spitzte sich von innen her zum Kriege zu. Unter der Legislative, die die konstituierende Nationalversammlung ablöste, kamen die Girondisten, der rechte Flügel der Jakobiner, an das Ruder. Diese republikanisch gesinnten Männer erstrebten die Abschaffung des Königtums, aber sie wollten sich auch ihrer Widersacher auf dem linken Flügel ihrer Partei, der noch radikaleren Robespierre, Danton, Marat entledigen, und beide Ziele hofften sie durch den Krieg mit dem Auslande zu erreichen. Das Verhalten der Emigranten im Rheinlande und einige ungeschickte, die Revolution mißbilligende Äußerungen der verbündeten Mächte Österreich und Preußen gaben die Veranlassung zur Kriegserklärung. Aber es kam anders, als die Girondisten es sich vorgestellt hatten. Der Vormarsch der Verbündeten auf Paris löste eine panikartige Stimmung unter der Bevölkerung der Hauptstadt aus, und diese benutzten die linksradikalen Jakobiner dazu, um den König und die girondistische Regierung gewaltsam zu beseitigen.
Damit war aber der Weg zur demokratischen Diktatur frei. Die Demokratie Rousseaus siegte über den Liberalismus von 1789. Die Gleichheit verwirklichte sich im Zeichen der Freiheit. Aber die Freiheit erfüllte sich jetzt mit einem anderen Sinn: sie wurde gleichbedeutend mit der Massenerhebung gegen die Invasion von außen, wie es in der Marseillaise, die damals entstanden ist, zum Ausdruck kam: „Contre nous de la tyrannie Letendard sanglant est leve". Der Kampf gegen das Ausland wurde identisch mit dem Kampf um die Errungenschaften der Revolution.
Das Massenaufgebot des Konvents stellte dem alten Europa ein Volksheer entgegen, wie man es bisher noch nicht gesehen hatte. Diese Armeen des revolutionären Frankreichs waren ganz erfüllt von den Ideen von 1789, sie kümmerten sich nicht um das, was hinter ihnen in der inneren Politik vor sich ging, sie wollten nur an den Feind geführt werden, um das Vaterland zu befreien und die Tyrannen, d. h. die Könige, überall zu vertreiben. Sie wurden befehligt von jungen, wage-mutigen Generälen, die meist aus dem Unteroffiziersstande hervorgegangen waren, und sie kämpften nicht mehr in den alten geschlossenen Karrees der friderizianischen Zeit, sondern in der aufgelösten Gefechts-ordnung, die an den Mut und die Entschlußkraft des Einzelnen viel größere Anforderungen stellte.
In dieser Verfassung erschienen die französischen Heere dem alten Europa, um mit Sorel zu sprechen, wie der Sturmeswind einer politischen und militärischen Apokalypse, der es zunächst nicht gewachsen war. Und diese Heere machten nicht Eroberungen alten Stiles. Wohin sie kamen, breiteten sie die Revolution und ihre Prinzipien, ihre Institutionen aus; sie zerstörten überall das alte Feudalsystem. Aber damit nicht genug, sie zerstörten auch die alten Grenzen und faßten die Völker nach ihren revolutionären Grundsätzen zu neuen Einheiten zusammen. Diese Nichtachtung der geschichtlichen Mächte, die rigorose Verletzung von fremder Gewohnheit und Sitte weckte den Haß und das Selbstbewußtsein der unterdrückten Völker und bereitete die Erhebung von 1813 vor.
Wie tief Revolution und Bonapartismus auf die staatliche Umgestaltung Deutschlands eingewirkt haben, ist allbekannt. Das römische Reich deutscher Nation hörte auf zu bestehen; es verschied, so verkündete Görres, in Frieden, infolge Altersschwäche am Schlagfluß, versehen mit den heiligen Sterbesakramenten, im 955. Jahre seines Lebens, nachdem es das linke Rheinufer testamentarisch der französischen Republik vermacht hatte. Aber auch auf dem rechten Rheinufer blieben die Gebietsveränderungen, die Napoleon in der Zeit des Rheinbundes vornahm, später in Kraft. Der Deutsche Bund, der auf dem Wiener Kongreß aus der Taufe gehoben wurde, sah die erbärmliche Kleinstaaterei des alten Reiches nicht wieder; in einem neugespannten völkerrechtlichen Rahmen strebte die unfertige deutsche Nation ihrer Vollendung entgegen.
Die Expansion des revolutionären Geistes in Europa
Die Entstehung des deutschen Nationalstaates im 19. Jahrhundert ist nicht unter dem unmittelbaren Einfluß der Ideen von 1789 vor sich gegangen. Ihre Wirkung auf Deutschland war dennoch tief und nachhaltig, aber sie lag nicht auf dem institutionellen Gebiet und ist deshalb auch nicht mit Händen zu greifen. Man muß sie schon in dem subtileren Bereich der Staats-und Geschichtsphilosophie aufspüren. Sie vollzog sich oft auf Umwegen, im krausen Gemisch mit andersartigem Geistesgut und nur anfänglich in der Atmosphäre nacheifernder Sympathie, dann mehr und mehr in einer betonten Abwehrstellung gegenüber dem Nachbarvolk, im Innewerden des Fremden, Nichtgemäßen, im wachsenden Bewußtsein eines eigenen schöpferischen Auftrages. Diese den Ideen von 1789 eigentümliche und nicht abzuweisende Herausforderung, sei es zur Aktion oder zur Reaktion, wird in ihrer vollen Tragweite für Deutschland erst abschätzbar, wenn wir uns ihre Wirkung auf die anderen europäischen Länder kurz vergegenwärtigen.
Auf der Pyrenäen halbinsel lebte die sozial gedrückte und geistig unentwickelte Masse der Bevölkerung in der nie ernstlich gefährdeten Obhut der katholischen Kirche, die dem Eindringen der revolutionären Ideen einen ebenso zähen wie geschmeidigen Widerstand entgegensetzte. So hatte sich Spanien zuerst gegen die napoleonische Fremdherrschaft erhoben, aber der unmittelbar anschließende Kampf gegen die despotische Mißwirtschaft der einheimischen Dynastie spielte mit dem unvermeidlichen Einbruch konstitutioneller Ideen auch radikalere Elemente in den Vordergrund: die Cortesverfassung des Jahres 1812 war ganz nach dem Vorbilde der französischen Verfassung von 1791 gemodelt und schüttete das Kind mit dem Bade aus. Sie konnte sich nicht halten, aber auch die Rückkehr zu den alten Zuständen erwies sich als unmöglich. In den hin-und herwogenden Kämpfen eines nicht ohne fanatische Erbitterung geführten Bürgerkrieges kam hier zum ersten Male der Parteiname der „Liberalen“ auf; ihr endgültiger Sieg scheiterte an der Intervention der legitimistisch gesinnten europäischen Großmächte. In den dreißiger Jahren flammte der Bürgerkrieg erneut auf und wurde schließlich zugunsten der mit den Liberalen verbündeten Cristinos gegen die reaktionären Carlisten entschieden, aber auch die „Konstitutionellen“ blieben, wie das Beispiel eines ihrer repräsentativen Denker Donoso Cortes zeigt, im Banne einer kompromißlosen Katholizität, die sie im unüberbrückbaren Gegensatz zum Naturrecht und den Ideen von 1789 gefangenhielt.
In Rußland hatte schon Peter der Große damit begonnen, die sozial und geistig unentwickelte Bevölkerung seines Riesenreiches mit der fortschrittlichen Zivilisation des Westens in Berührung zu bringen. Seinem Beispiel folgte, auf der Höhe der Bildung ihrer Zeit, Katharina II., eine deutsche Prinzessin; sie hatte mit Voltaire, d’Alem-bert und Diderot in angeregtem Briefwechsel gestanden, aber sie wurde zur erbitterten Gegnerin der französischen Revolution, je mehr in Paris die Jakobiner die Oberhand gewannen. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Paris und Petersburg schliefen ein, die französische Kolonie in Petersburg, die immerhin 10 000 Seelen zählte, wurde unter Polizeiaufsicht gestellt. Aber die Zarin konnte nicht verhindern, daß sich die liberalen Anschauungen ihrem Enkel und späteren Nachfolger Alexander durch dessen Erzieher, den Schweizer Republikaner La Harpe, tief einprägten. Der Rückschlag erfolgte durch die napoleonische Invasion des Jahres 1812, die Alex'ander in die Arme der Heiligen Allianz führte.
Die vom deutschen Adel in den Ostseeprovinzen ins Rollen gebrachte Bauernbefreiung fand keine Nachfolge im eigentlichen Rußland; der Entwurf einer „konstitutionellen Charte des russischen Reiches“ vom Jahre 1819, dem der Zar im Prinzip zugestimmt hatte, blieb unter der Einwirkung der Ereignisse in Spanien unausgeführt; 1822 wurde die Freimaurerloge als Keimzelle der revolutionären Propaganda geschlossen. Trotzdem machten sich die Einflüsse der französischen Literatur, vermischt mit denen der deutschen idealistischen Philosophie, in der russischen Oberschicht geltend. Um die Jahrhundertmitte schreibt der berühmte Publizist Wissarion Bjelinski, eine wilde, tolle, fanatische Liebe zur Freiheit und Unabhängigkeit der menschlichen Persönlichkeit habe ihn ergriffen und er könne wie Marat, um nur den kleinsten Teil der Menschheit glücklich zu machen, alle übrigen mit Feuer und Schwert vernichten. Dieser Fanatismus sollte sich dann dem Panslawismus mitteilen, der auf dem Boden östlich-religiöser Heilsvorstellungen erwuchs, aber unter dem Einfluß des Westens ein unverkennbar demokratisch-nationalistisches Gepräge erhielt. Die Zaren haben sich immer wieder gegen diesen gefährlichen französischen Einfluß, der ja nicht zuletzt auch ihre Herrschaft in Polen bedrohte, zur Wehr gesetzt und sind einer politischen Verbindung mit Frankreich lange Zeit aus dem Wege gegangen. Erst nach dem Sturz Bismarcks ist diese Verbindung zustande gekommen, das Bündnis zwischen Kosakentum und Demokratie, das die eigentliche Ursache des ersten Weltkrieges gewesen ist und dem alten monarchischen Europa den Todesstoß versetzt hat.
In Italien lagen die Dinge ähnlich wie in Deutschland. Das Land war politisch ebenso zersplittert, der Name Italien nur ein geographischer Begriff. Aber die Aufklärung hatte hier durch eine Reihe hervorragender Schriftsteller ihren Samen ausgestreut, und bis in die Kreise der Regierenden hinein wurde die Revolution als ein verheißungsvolles Ereignis begrüßt; man meinte wohl, ein Lichtbogen wölbe sich von Paris nach Italien hinüber. Als dann freilich die Lichtbringer in Gestalt der revolutionären Armeen auf italienischem Boden erschienen, schlug die Begeisterung rasch in ihr Gegenteil um; die Parthenopäische Republik im Süden der Halbinsel endete nach kurzem Bestehen in einem blutigen Strafgericht. Das nördliche Italien aber, Savoyen und Piemont, wohin das revolutionäre Frankreich schon 1792 siegreich eingebrochen war, wurde die Wiege des europäischen Legitimismus; hier stellte Joseph de Maistre der geschichts-und gottlosen demokratischen Ideologie einen von tiefer religiöser Inbrunst getragenen mystischen Royalismus entgegen, der die Restauration weithin beeinflussen sollte. Aber von hier ging auch fünfzig Jahre später das Werk der italienischen Einigung aus. Cavour huldigte einem aristokratischen Liberalismus, aber er verschmähte das Bündnis mit Napoleon III. nicht und zwang die wirklichkeitsfremde demokratische Bewegung des Risorgimteno mit überlegener Staatskunst auf den Boden der Tatsachen herab.
In den Ländern der habsburgischen Monarchie hatte Kaiser Joseph II. im Sinne des aufgeklärten Absolutismus mit einem großzügigen Reformwerk begonnen, aber nicht nur die bevorrechteten Stände, sondern auch die kirchlich gesinnte Bevölkerung zu heftigem Widerspruch gereizt. Sein Nachfolger Leopold suchte einen mittleren Weg, wurde aber durch die Ereignisse in Frankreich an die Seite der entschiedenen Revolutionsgegner getrieben. Am stärksten war der Eindruck der französischen Revolution in Ungarn, wo der Adel ihre Ideen aufgriff, um sie mit der Forderung der Selbstregierung und Wiederherstellung der alten ungarischen Freiheiten zu verknüpfen. Die plumpe Maschine der Reaktion, die der geistlose Kaiser Franz mit größter Rücksichtslosigkeit spielen ließ, wurde in den Händen des Fürsten Metternich zu einem feingeschliffenen Instrument europäischer Interventionspolitik. Metternich gehörte weder zur Richtung der französischen Restauration im Stile de Maistres noch zur deutschen politischen Romantik. Sein sozialkonservatives Programm knüpfte wieder an das 18. Jahrhundert an und bekämpfte das Prinzip der Volkssouveränität auf der ganzen Linie; in der Tat bedeutete diese Lehre die Axt an der Wurzel des österreichischen Völkerstaates. Vom Wiener Kongreß bis zur Revolution von 1848 hat Metternich mit Erfolg die Ideen der französischen Revolution von der Mitte des Kontinents ferngehalten.
Jedoch viel wichtiger für die unmittelbare Gestaltung der europäischen Schicksale war der Eindruck, den die französische Revolution in den neben Frankreich am meisten zivilisierten Ländern hervorrief, in England und Deutschland. Man sollte annehmen, daß die französische Revolution in England, dem eigentlichen Geburtslande des Parlamentarismus, mit allgemeiner Sympathie begrüßt worden wäre. Aber das Gegenteil war der Fall. Auf der Insel gab es eine große liberale Partei, und auch sie hatte ihre Theorie und ihre Prinzipien, aber diese standen nicht im Widerspruch, sondern im Einklang mit der politischen Wirklichkeit, sie schienen danach geformt und paßten sich den nationalen Bedürfnissen an.
Besonders die Kirche und die religösen Sekten waren in England das Zentrum des Widerstandes gegen die von dem neuen Frankreich propagierten Ideen, denen übrigens auch König Georg III. mit ticfer Abneigung begegnete. Vergebens bemühte sich der alte Liberale Fox um die Führung des Staates in diesen entscheidenden Jahren; es zeigte sich nur zu bald, daß er die machtpolitischen Tendenzen der französischen Ereignisse ganz falsch beurteilte. Seine Partei verlor immer mehr an Boden, zumal seitdem Edmund Burke sich von ihr getrennt hatte und in seinen „Betrachtungen über die Französische Revolution“, die 1790 erschienen, den glühenden Haß des eingefleischten Engländers gegen die französischen Umstürzler predigte. Jeder, der ein gutes Dach über dem Kopf und einen anständigen Rock auf dem Leibe hatte, sagt Macauly, wurde zum Feind der Jakobiner. Am meisten wirkte aber, daß die schlimmen Prophezeiungen Burkes der Reihe nach in Erfüllung gingen. So sahen sich die Engländer je länger, je mehr im flagranten Gegensatz zu den Tendenzen der französischen Revolution, die nicht nur Frankreich, sondern ganz Europa neu formen wollte. Aber sie allein hatten auch den französischen Ideen eine gleichwertige politische Wirklichkeit entgegenzusetzen, und das gab ihrem Abwehrkampf gegen die Revolution und Napoleon diese gewaltige und anhaltende Stoßkraft, der das außenpolitische System des revolutionären Frankreich schließlich erliegen sollte.
Erster Widerhall in Deutschland
Wie aber stand es mit Deutschland? Die Mitte des Kontinents war der französischen Invasion am ehesten ausgesetzt, aber nur von hier aus konnte Frankreich auch niedergeworfen werden, und so ist es geschehen. Früh drang von den britischen Inseln die warnende Stimme Edmund Burkes herüber, der sich mit so hinreißender Beredsamkeit den revolutionären Ideen entgegenwarf und bald ein mächtiges Echo weckte. Zunächst aber war die Sympathie mit der Revolution bei dem gebildeten deutschen Bürgertum weit verbreitet und echt, in überschwenglichen Tönen feierten Dichter und Denker das große Ereignis. Klop-stock pries sich glücklich, daß er „die neue, labende, selbst nicht geträumte Sonne“, den Morgenaufgang von Westen mit seinen Sechzigern noch erlebt habe. Auf seinen Wunsch hin wurde ihm das französische Bürgerrecht verliehen, das auch Schiller als Anerkennung für seine »Räuber“ zuteil wurde, die den Franzosen allerdings nur in einer jakobinischen Verballhornung bekannt geworden waren. Hölderlin begrüßte 1790 in einer schwungvollen »Hymne an die Freiheit“ die französische Revolution begeistert als Beginn einer neuen Schöpfungsstunde in majestätischer Feme. Ähnlich bewegt zeigten sich Wieland und Herder.
Wieland hatte schon 1772 in seinem Staatsroman „Der goldene Spiegel“ dem aufgeklärten Absolutismus im Sinne Friedrichs des Großen das Wort geredet und wurde nun durch die Ereignisse in Paris über diese Schranke hinweggetragen: er war sich sofort klar darüber, Zuschauer eines welthistorischen Dramas zu sein. Aber bald weckte die zunehmende Radikalisierung der Revolution einen Zweifel in ihm, ob „die gute Sache der Menschheit“ sich mit diesen Vorgängen decke; der brodelnde Hexenkessel der Anarchie schien ihm nicht das rechte Vorbild für eine Reform der politischen Gebrechen des eigenen Vater-landes.
Herder hatte ein Dezennium vor dem Ausbruch der Revolution in einer Preisschrift der Berliner Akademie der Wissenschaften die Wechselwirkung zwischen Regierung und Wissenschaften untersucht und darin die »Freistaaten" gelobt, in denen die Wissenschaften und Künste nach dem Vorbilde der griechischen Demokratie »Töchter ihrer Gesetzgebung", d. h. das Ergebnis eines allgemeinen Strebens und Miteifers zum gemeinen Besten gewesen seien. Das Föderationsfest von 1790 auf dem Marsfelde in Paris sah er nicht im Lichte einer politischen Demonstration. sondern als »göttliches, heiliges Fest“ der Menschheitsverbrüde-
rung. und die Hinrichtung Ludwigs XVI. machte ihn keineswegs irre in seinem Glauben an Rousseau und die Volkssouveränität, die konsequenterweise nur mit einer Republik verträglich sei. Goethe hatte nach seiner Rüdekehr aus der Champagne für diesen Überschwang kein rechtes Verständnis, er sagte zu Herder: „Vergessen Sie nicht, Gott zu preisen, daß er Sie und Ihre Freunde außer Stand gesetzt hat, Torheiten ins Große zu begehen".
Schiller hatte sein Erstlingsdrama mit dem Motto „In tyrannos“ versehen und dem Despotismus im „Don Carlos" und im „Abfall der Niederlande“ eine entschiedene Absage erteilt. In seiner Jenenser Antrittsrede vom Mai 1789 bekannte er sich gehobenen Herzens zu seinem weltbürgerlichen Jahrhundert der Aufklärung, in dem „der Mettsdt die Freiheit des Raubtieres hiugegeben, um die edlere Freiheit des Mensdien zu retten“. Unter solchen Auspizien schien ihm die euro-pische Staatengesellschaft in eine große Familie verwandelt, in der . die Hausgenossen einander wohl anfeinden, aber hoffentlich nicht mehr zerfleischen können“. Jedoch der turbulente Fortgang der Revolution in Frankreich dämpfte diesen Optimismus bald. Von der Nationalversammlung hielt er nicht viel: eine Gesellschaft von 600 Menschen könne unmöglich etwas Vernünftiges beschließen. Vollends das Schicksal Ludwigs XVI. bestärkte ihn in der Ansicht, daß das »herrlichste aller Kunstwerke“, die Monarchie der Vernunft, noch in weiter Ferne sei, daß „der Versuch des französischen Volkes, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen und eine politische Freiheit zu erringen, nicht nur dieses unglückliche Volk, sondern mit ihm auch einen beträchtlichen Teil Europens und ein ganzes Jahrhundert in Barbarei und Knechtschaft zurückgeschleudert“ habe. Daraus zog er den Schluß, daß man umgekehrt verfahren, daß man erst Bürger für die Verfassung erschaffen müsse, bevor man den Bürgern eine Verfassung geben könne. Politische und bürgerliche Freiheit blieb ihm auch dann . das heiligste aller Güter, das würdigste Ziel aller Anstrengungen und das große Zentrum aller Kultur“, aber er wollte . diesen herrlichen Bau“ nur auf dem festen Grunde eines durch ästhetische Erziehung veredelten Charakters aufführen.
So ließ sich Schiller von den Schreckenstaten der Terroristen in Paris nicht entmutigen, im Gegenteil, diese unrühmliche Kehrseite der Revolution weckte in ihm das Bewußtsein eigener nationaler Größe, einen Nationalstolz, der freilich im Gegensatz zu dem der französischen Nachbarn keinen politischen Akzent hatte. »Die Majestät des Deut-sehen", so heißt es in einem Gedichtentwurf aus dem Jahre 1801, unmittelbar nach dem demütigenden Frieden von LuneviHe, »ruhte nie auf dem Haupte seiner Fürsten".
Stürzte audt in Kriegesflammen Deutsches Kaiserreich zusammen, Deutsche Größe bleibt bestehn. Und er sah diese Größe in „der Kultur und im Charakter der Nation, die von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist“. Der Weltgeist habe den Deutschen offenbar dazu erwählt, „während des Zeitkampfs an dem ewigen Bau der Menschenbildung zu arbeiten". Ebenso sprach ja der Dichter des „Hyperion“ von seinem Vaterlande als dem heiligen Herz der Völker: „Allduldend gleich der schweigenden Mutter Erd'und allverkannt, wenn schon aus deiner Tiefe die Fremden ihr Bestes haben“.
Schiller hatte noch gegen Ende des Jahres 1789 aus dem Munde des deutschen Reiseschriftstellers J. C. F. Schulz einen Augenzeugenbericht über die Vorgänge in Paris gehört, nicht ohne Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit zu äußern, aber die lebhafte publizistische Tätigkeit Schulzens zu Gunsten der neuen Ideen fanden in Deutschland ein breites Echo. Nicht wenige deutsche Enthusiasten, unter ihnen prominente Männer oder solche, die es werden wollten, begaben sich nach Paris, um dem sensationellen Geschehen persönlich nahe zu sein oder gar aktiv an der Revolution teilzunehmen wie der Mainzer Georg’ Forster, der in seiner weltbürgerlichen Verblendung, obwohl Träger eines berühmten Namens, so weit ging, der französischen Republik die linksrheinischen deutschen Gebiete zwischen Landau und Bingen anzubieten, und dafür als Sprecher einer Delegation vor dem Konvent den Bruderkuß des Präsidenten empfing. Ohne diesen peinlichen Beisatz des Landesverrats, aber nicht minder unkritisch äußerte sich die Begeisterung des bekannten Pädagogen Joachim Heinrich Campe, Inhaber der „Braunschweigischen Schulbuchhandlung“, der Ende August 1789 Paris mit den Worten verließ: Zuvörderst werden nun alle Völker der Erde ein Muster von einer Staatsverfassung bekommen . . . welch ein elektrischer Lichtstrom von Begriffen und Einsichten wird sich nunmehr von hier aus über alle Nationen der Erde ergießen!"
In der Begleitung Campes befand sich damals der junge Wilhelm von Humboldt. Er sah das alles viel nüchterner und weniger gefühlsbetont. Was ihn in Paris befremdete und abstieß, war das nach seiner Auffassung unmögliche Beginnen, eine Staatsverfassung rein nach Grundsätzen der Vernunft zu entwerfen, nur zu deutlich erkannte er den verführerischen Bodensatz der Macht in allen diesen Bemühungen, und auch die Nation, die volonte generale, konnte ja zum Despoten werden. Aug'in Auge mit den blutbefleckten Gewalttaten der Revolution empfand er dankbar die edlere weltbürgerliche Geistigkeit des deutschen Nationalcharakters; ihm lag vor allem die freie Ausbildung der menschlichen Persönlichkeit am Herzen, und deshalb wollte er den Staat nicht so stark, sondern so schwach wie möglich. So blieb Humboldt gegenüber der metallenen Härte des jakobinischen Nationalstaatsbegriffs bei dem liberalistischen Föderalismus der Ideen von 1789 stehen; das Bild der Nachtwächterrolle, die er dem Staate zuwies, ist aus der Vorstellungswelt des deutschen Liberalismus nie ganz verschwunden. Erst die Befreiungskriege weckten in Humboldt die Erkenntnis, daß es nicht nur auf den einzelnen ankomme, sondern daß auch eine Nation als Ganzes frei und stark im Geiste sein müsse, um sich in der Welt behaupten zu können.
Fichte und Kant
Publizistisch wirksamer, weil radikaler in seiner Kritik an den bestehenden Zuständen, nahm Johann Gottlieb Fichte 1793 in zwei anonymen Jugendschriften Stellung zu den umwälzenden Ereignissen in Frankreich. Schon die Titel: „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bisher unterdrückten“ und „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution“ verrieten die Tendenz einer entschiedenen Parteinahme für die Revolution; gegen die Fürsten, den Adel, die Privilegien und für die unabdingbaren Rechte der freien autonomen Persönlichkeit: die Aufgabe der Fürsten bestehe nicht darin, für die Glückseligkeit ihrer Untertanen, sondern für die Gerechtigkeit zu sorgen, und das tun die Menshen am besten allein, ohne Könige und Fürsten. Fichte war armer Leute Kind und hat das niemals vergessen, er blieb zeitlebens im Grunde seines Herzens Republikaner. Als er 1799 seinen Lehrstuhl in Jena aufgab. wollte er nach Frankreich übersiedeln, in das „Vaterland des redttsdtaffenen Mannes“, an dessen Sieg er die teuersten Hoffnungen der Menschheit geknüpft sah. „Wenn nicht die Franzosen die ungeheuerhchste Übermacht erringen“, schrieb er damals, „und in Deutschland, wenigstens in einem beträchtlichen Teil desselben, eine Veränderung durchsetzen, wird in einigen Jahren in Deutschland kein Mensch mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden“.
Jedoch das Schicksal führte ihn nicht nach Paris, sondern nach Berlin, und hier erst wurde er mit der Wirklichkeit eines in der Sphäre der Macht lebenden Staates vertraut; der selbstverschuldete Zusammenbruch Preußens 1806 vertiefte seine staatspolitischen Ansichten, gab ihnen aber auch ein schärferes Profil. Fichte sah jetzt, daß man zuerst das Böse in den Menschen bezwingen müsse, um das Gute hervorzubringen, und daß der Staat als Zwangseinrichtung hierin seine moralische Begründung finde. Er stimmte jetzt mit Machiavelli darin überein, daß der Fürst um des Volkes und der nationalen Selbsterhaltung willen über die Gebote der individuellen Moral hinausgehoben sei. So schaltete er in seinen „Reden an die deutsche Nation“ zwischen den einzelnen und den Staat die Nation ein ah Trägerin eines allgemein-menschlichen Erziehungsideals; um dieses Ziel zu erreichen, muß die Nation selbständig sein, und dazu braucht sie den starken Arm des Staates, aber sie braucht ihn nicht um ihrer selbst willen, sondern im Dienste einer höheren menschheitlichen Aufgabe: „Der Geiss allein, rein und ausgezogen von allen sinnlichen Antrieben, mu^ an das Ruder der menschlichen Angelegenheiten treten.“ Nicht nur die Könige sollen Philosophen, sondern die Philosophen Könige sein. Hatte die französische Revolution die weltbürgerlichen Forderungen der Aufklärung in ein politisches Gewand gekleidet, so warfen die deutschen Denker und Dichter diesem Gewand wieder ihren weltbürgerlichen Mantel über. Eine Ausnahme machte der Rheinländer Joseph Görres. Er hatte als Jakobiner in Mainz begonnen, war dann tief enttäuscht aus Paris zurückgekehrt und wurde durch den Aufstieg Napoleons auf die Bahn des nationalen Widerstandes geworfen, dem kein Kosmopolitismus mehr beigemischt war. Der französische Imperator stand nicht an, den von Görres mit glänzendem journalistischen Geschick geleiteten „Rheinischen Merkur“ als die fünfte feindliche Großmacht zu bezeichnen.
Vom Schauplatz der Revolution räumlich am weitesten entfernt lebte ihr treuester Anwalt in Deutschland: Immanuel Kant, der Alte vom Königsberge, wie Goethe ihn scherzhaft, aber mit respektvoller Distanz anredete. Er hatte das 60. Lebensjahr überschritten und mit den drei Vernunftskritiken seine Hauptarbeit geleistet, als die revolutionären Ereignisse in Frankreich ibn veranlaßten, seine schriftstellerische Tätigkeit der Politik zuzuwenden, d. b.der Frage, welche rechts-und geschichtsphilosophischen Folgerungen für das Ganze seines Systems sich daraus ergaben. Kein Zweifel: seine zahlreichen Anspielungen auf die französische Revolution atmen warme Sympathie, und selbst ihre Schreckenstaten vermochten ihn nicht von der Meinung abzubringen, daß die Revolution eine allgemeine, notwendige und von der Vorsehung gewollte Wirkung auf die „moralische Anlage im Menschen-geschlecht“ bezwecke und darstelle. Kant erblickte also in der französischen Revolution weit mehr als ein sensationelles politisches Geschehen, sie war für ihn auch nicht ein bloßes epochemachendes Ereignis der empirischen Geschichte, sondern geradezu eine Bestätigung seiner liberalen, fortschrittlichen Geschichtsphilosophie, als deren. Endziel er „eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung“ bezeichnet hatte.
Denn wo sollte der Sinn der Geschichte sonst gesucht werden, wenn man sie nicht als ein bloßes Durcheinanderstürmen der Völker und Staaten auffassen wollte? Dem kritischen Philosophen bot sie sich dar als Fortschritt der Menschheit von selbstverschuldeter Unmüdigkeit zu moralischer Verantwortung, als Darstellung des Rechtes im Bewußtsein der Freiheit. Mußte ihm da die französische Revolution nicht wie ein erster verheißungsvoller Durchbruch zum Lichte erscheinen? Würden alle Staaten sich nach Prinzipien des Rechtes einrichten, so müßte das von selbst zu einem allgemeinen weltbürgerlichen Zustande führen, zu einem ethischen Gemeinwesen, einer Republik unter Tugendgesetzen. Als nächste Etappe auf diesem Wege stellte Kant die Idee des Völkerbundes getrosten Mutes mitten in die politische Wirklichkeit, die sich soeben anschidkte, Europa in einen 20jährigen Krieg zu stürzen. Dennoch war es kein utopischer Pazifismus, dem er in seinem Traktat vom ewigen Frieden huldigte; er wußte, daß die Hochziele der Menschheit nur unter Opfern und auf Umwegen, durch den Antagonismus der Leidenschaften — Hegel wird später sagen: die List der Vernunft --erreicht werden. Seine kühle und lautere Männlichkeit, weltoffen wie sie war, hielt sich fern von aller Sentimentalität.
So wirkte Kant aus der Tiefe und Weite seines Geistes im Dienste der ewigen, unverlierbaren Menschenrechte auf seine Zeit, und diese Wirkung war unermeßlich. „Wenn die Königsberger Post uwwirft, sitzt jeder auf dem Trockenen“, schreibt der junge Friedrich Schlegel, und Fichte hat in ergreifenden Worten selbst geschildert, wie die Lektüre Kants ihn völlig umgewandelt, ihm den Glauben an die Freiheit fest in das Herz gepflanzt habe. Schiller, Hegel, Schelling, die romantische Schule und von den Männern der konservativen Praxis Möser, Rehberg und Friedrich Gentz — sie alle haben in Zustimmung oder Widerspruch seinen Einfluß gespürt. Noch 1842 hat der junge Karl Marx die Staatslehre Kants auf die knappe Formel gebracht, sie sei die deutsche Theorie der französischen Revolution.
Goethe und die Romantik
Zwischen der älteren und der jüngeren Generation eine Geistesmacht für sich, erlebte Goethe auf der Gipfelhöhe seines Lebens die Revolution. Wie hätte er ihren geistigen Elan nicht freudig mitfühlen, wie ihren Überschwang und ihre gärende Gewaltsamkeit nich mißbilligen sollen?
Denn wer leugnet es wohl, daß hoch sich das Herz ihm erhoben, Ihm die freiere Brust mit reineren Pulsen geschlagen, Als sich der erste Glanz der neuen Sonne heranhob, Als man hörte vom Rechte der Menschen, das allen gemein sei, Von der begeisternden Freiheit und von der löblidten Gleichheit!
So schilderte er 1797 in „Hermann und Dorothea" rückschauend das allgemeine Hochgefühl in der Geburtsstunde der Revolution. Was danach kam: Enttäuschung, Beschämung, Erbitterung lesen wir in den »Venetianischen Epigrammen“ von 1790:
Frankreichs traurig Geschick die Großen mögens bedenken, Aber bedenken fürwahr sollen es kleine noch mehr! Große gingen zu Grunde; doch wer beschützte die Menge Gegen die Menge? Da war Menge der Menge Tyrann.
Dieser unerbittliche Blick für die Realitäten verdunkelte ihm die Freude an den Idealen, die sie überwölbten; er vermochte nicht wie Kant die hochgemute geschichtsphilosophische Brücke zwischen ihnen zu schlagen. Gegen das „wunderliche, unsichere Wesen der Geschidtte“
hegte er die unüberwindliche Abneigung des Naturforschers; das Willkürliche, Zufällige, Unberechenbare, mit dem sie behaftet schien, flößte ihm Unbehagen und Mißtrauen ein — wieviel mehr die Politik mit dem ständig drohenden Aufbruch der chaotischen Mächte aus der Tiefe! Denn Goethe war und blieb der Mann der Ordnung, der Gesetzlichkeit und des Maßes. „Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen“, sagte er 1792 bei der Belagerung von Mainz, „als Unordnung ertragen". Daher seine Abkehr von der Revolution und seine Bewunderung für ihren Bändiger Napoleon. Die jüngere Generation konnte das njcht verstehen. Denn bei Goethe lag das Politische in einer ganz anderen Erlebnisschicht als bei den Männern, die an den Freiheitskriegen mit jugendlich erregtem Herzen teilnahmen. Für ihn war die Politik nicht das Schicksal schlechthin wie für die später Geborenen, die unter den Fittichen des Nationalismus ein bewegtes, aber auch stets umdrohtes Dasein führten. Er gehörte mit seinem universalen Bildungsstreben noch ganz dem 18. Jahrhundert an. Noch nach der Völkerschlacht von Leipzig ist Wilhelm von Humboldt ganz entsetzt über seine Gleichgültigkeit für alles Politische und Deutsche, und später haben ihn die Liberalen, Männer wie Gervinus und Börne, bitter getadelt, weil er das handelnde Leben vernachläßigt habe, weil er unpolitisch und unnational gewesen sei. In solchen ungerechten Urteilen spiegelt sich der Wandel der Zeiten. Goethe selbst hat sich getrost neben Blücher gestellt und auch einen Befreier genannt, freilich nicht von politischen, sondern von geistigen Banden, von „Philisternetzen“. Das mit den Freiheitskriegen emporsteigende Zeitalter des politischen Liberalismus konnte diesen Horizont nicht erweitern, sondern allenfalls verengen und die Menschen dann auch wieder zu Philistern machen.
Im Grunde war Goethe genau wie die Liberalen kein Freund eines in die individuelle Sphäre eingreifenden staatlichen Gesamtwillens. Kaiser und Reich machten sich ja auch nicht als eine solche einschränkende Autorität geltend, und im Deutschen Bunde der Ära Metternich, der an der föderativen Struktur des alten Reiches noch immer festhielt, erblickte Goethe, ohne je „reaktionär“ zu sein, eine von ungewissen Experimenten sich fernhaltende Friedensordnung, eine Bürgerschaft für ungestörte kulturelle Expansion.
Klein ist unter den Fürsten Germaniens freilich der meine, Kurz und sdtmal ist sein Land, mäßig nur, was er vermag. Aber so wende nach innen, so wende nach außen die Kräfte Jeder: da wär’ es ein Fest, Deutsdier mit Deutschen zu sein.
So klingt es mit ungebrochener Zuversicht, wenn auch sehr unpolitisch, aus den Venetianischen Epigrammen. Unpatriotisch wollte Goethe nicht sein. „Glauben Sie ja nicht“, sagte er zu dem Jenenser Historiker Luden, „daß idt gleidtgültig wäre gegen die großen Ideen Freiheit, Volk, Vaterland. Nein, diese Ideen sind in uns, sie sind ein Teil unseres Wesens, und niemand vermag sie von sich zu werfen.“ Goethes Patriotismus war eben kein Nationalismus, er nährte sich nicht vom Haß und hatte nichts Ausschließendes. Die französische Besetzung von 1813 lastete auf ihm mehr in der Form des Unbehagens angesichts eines gesetzlosen Zustandes, er schlug die Gefahr, die vom Westen drohte, geringer an, als die östliche. Denn vom Westen kam die Zivilisation, vom Osten aber die Barbarei, die Gewalt und das Ungewisse. „Wir sehen endlich wieder Kosaken“, heißt es in einem Gedicht, „die haben uns vom Tyrannen befreit, sie befreien uns wohl auch von der Freiheit.“
Hier haben wir ein erstes frühes Wetterleuchten jener weltanschaulichen Antithese, die sich im Zeichen der Freiheit räumlich zu fixieren beginnt und ihre Grenze langsam, aber ständig von Osten nach Westen vorgeschoben hat. Goethe konnte sich darüber hinwegtrösten, da ihm noch unwandelbare Sterne leuchteten: „Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident: nord-und südliches Gelände ruht im Frieden seiner Hände.“
Die Romantik sammelte sich um den Namen Goethes, als sie zwischen 1789 und 1813 von Jena und Berlin aus den breit angelegten Versuch unternahm, dem französischen „esprit classique" und der Aufklärung ein eigenes deutsches Weltbild von universaler Prägung gegenüberzustellen. Sie begann durchaus nicht revolutionsfeindlich. Friedrich Schlegel bezeichnet in einem Lyceumsfragment von 1799 die französische Revolution, Goethes „Wilhelm Meister“ und Fichtes Wissenschaftslehre als die drei größten Tendenzen des Zeitalters. Und hatte nicht Caroline Schlegel, die spätere Gattin Schellings, in der Anregung wie im Angriff eine der führenden Gestalten des frühromantischen Kreises, 1792 in Mainz an der Seite Georg Forsters Partei für die Jakobiner ergriffen? Eine mehrmonatige Haft auf der Festung König-stein war die Folge dieses galanten politischen Abenteuers gewesen. Spießbürgerlich konnte man die Mitglieder dieses Kreises bei Gott nicht nennen. „Über ein Gedicht von Schiller", schreibt Caroline 1799 an ihre Tochter, „das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen." Die ansteckende Boheme der Revolution pflanzte sich vom Rhein in das Innere Deutschlands fort.
Aber hier herrscht noch eine völlige politische Windstille. Die einzige Möglichkeit, politisch zum Volke zu reden, bot sich in Deutschland auf dem Theater, seit Lessing ein bürgerliches Drama geschaffen hatte. Seine Absicht war dabei gewesen, das deutsche Theater von dem beherrschenden französischen Einfluß zu befreien, aber gerade das bürgerliche Trauerspiel, das er von England nach Deutschland verpflanzte, wurde wieder — man denke nur an das Beispiel Schillers — eines der hauptsächlichen Mittel, den neuen französischen Ideen Eingang in Deutschland zu verschaffen.
Wie dem auch sei: das neue Lebensgefühl, dem Rousseau zuerst Ausdruck verliehen hatte, konnte in Deutschland nur in der schönen Literatur, in der Wissenschaft und in der Philosophie zur Geltung gelangen. Wer in Deutschland das breite Publikum erreichen wollte, durfte nicht politisch reden, da er mit jedem Wort auf die Zensur und mit jedem Schritt auf einen Grenzpfahl stieß. So hat damals Friedrich Schlegel seinem Freunde Hardenberg warnend zugerufen: „Nicht in die politische Welt verschleudere du Glauben und Liebe, aber in der göttlichen Welt der Wissenschaft und Kunst opfere dein Innerstes in den heiligen Feuerstrom ewiger Bildung." Und Novalis antwortete: „Idi folge diesem Worte, teurer Freund.“ Wenn Fichte in Jena seine Zuhörer zum Handeln aufforderte, so wirkt das beinahe komisch angesichts der Tatsache, daß ein Schauplatz zum Handeln nicht vorhanden war. Aber man wußte sich zu helfen und machte das Handeln zu einem intensiven Betrachten, man nannte es intellektuelle Anschauung und verlegte sich darauf, die Welt aus dem Ich herauszuspinnen. „Wo gehen wir denn hin?“ fragt Novalis, und er antwortet: „Intnter nach Hause . . . nadt innen geht der geheimnisvolle Weg.“ Das war der äußerste Gegensatz zu dem, was in Paris auf der politischen Bühne vor sich ging. Dort wollte man eine neue Welt ins Leben rufen. Novalis schob das mit-freundlicher Gelassenheit beiseite:
Welten bauen genügt dem tiefer dringenden Sinn nicht, Aber ein liebendes Herz sättigt den strebenden Geist.
Leben, lieben und vergeistigen bedeuten den Romantikern ein und dasselbe. Sie erleben die Welt als Bewegung, aber als Bewegung des Geistes im Gemüt. Reduktion der Naturgesetze auf Gemüt, Geist und Willen ist das kühne Streben der romantischen Naturphilosophie. Der Mensch wird definiert als „schaffender Rückblick der Natur auf sich selbst“, die Welt als Makroanthropos oder als Universaltropus des Geistes. Der Angelpunkt der Welt liegt im Gemüt, und ohne Zutun und Beisein des Gemüts gibt es nichts Reales.
Goethe konnte diesen schwindelerregenden Gedankenspielen nur mit Kopfschütteln zusehen, er sagte kurz und bündig: Das Klassische ist das Gesunde und das Romantische das Kranke. Mit letzterem meinte er das ihm unsympathische Übermaß von Subjektivität. Aber die Romantiker empfanden es nicht so. Sie waren keine Hypochonder. Sie gehörten nicht zu dem Menschen, die sich der Einsamkeit ergeben. In geselligen Zirkeln kamen sie zusammen und schmiedeten sie gemeinsam ihre Fragmente, Satiren, Sonette und ihre Philosophie. Friedrich Schlegel ergänzte den kategorischen Imperativ Kants nach der politischen Seite durch den Satz: „Gemeinschaft der Menschen soll sein oder das Ich sollwerden.“ Das Spiel der Mitteilung und Annäherung sei das Geschäft und die Kraft des Lebens, Vermitteln und Vermitteltwerden das ganze höhere Leben des Menschen. Novalis übertrumpfte ihn noch mit dem Geständnis, das Leben des Universums erscheine ihm wie ein ewiges tausendstimmiges Gespräch: „Einst soll keine Natur mehr sein, in eine Geisterwelt soll sie allmählidt übergehn.“
Von solchen und ähnlichen Expektorationen mußte sich Goethe abgestoßen, ja geradezu herausgefordert fühlen. Denn hier wurde der Natur die Geschichte als das Interessantere, das Wissenswerte, als das eigentliche Element des forschenden Menschengeistes gegenübergestellt.
Friedrich von Hardenberg, der aus der Verwaltung und dem Bergfach kam, übertrug naturwissenschaftliche Begriffe mit größter Unbefangenheit auf die Geschichte, so nannte er die Epochen Kristallisationen des historischen Stoffes. Ihm war die Geschichte nicht wie den Aufklärern das Reich einer sich ständig ausbreitenden Verstandeskultur, sondern ein Abyssus von Individualität: wie in einem lebendigen Organismus kreisen darin die treibenden Kräfte und lösen sich im Wechsel entgegengesetzter Bewegungen ab. Als das Wesentliche der Geschichte erschien den Romantikern nicht ihr tatsächlicher Inhalt und ihr pragmatischer Ablauf, sondern der innere Gang und Geist der Begebenheit; nicht Ursachen und Wirkungen, sondern herrschende und leitende Ideen, entscheidende Momente, kritische Wendepunkte. Hierin erblickten sie den Ewigkeitscharakter der Geschichte, deren Sinn sich an jeder Stelle verwirklichen muß; alle positiven Formen rückten dabei in das Zwielicht der Relativität.
Wir nennen diese Anschauungsweise mit einem modernen Wort „Historismus“. Mit der Romantik tritt der Historismus zum ersten Mal als universale Bildungsmacht in das abendländische Bewußtsein, und darin liegt ihre eigentliche Bedeutung. Ernst Troeltsch hat sie als eine volle und wirkliche Revolution, als ein Unendlich-und Progressiv-werden der Klassik bezeichnet. Dem Universalismus der Vernunft setzte sie die Universalität des Mitgefühls entgegen, der aufdringlichen Allgegenwart des Staates das göttliche Geheimnis des persönlichen Lebens. Man sah die Zukunft durch die Brille der Vergangenheit, man lebte in der Gegenwart, als hätte man sie nicht, und Friedrich Schlegel, der nie verlegen war, wenn es galt, eine neue Erkenntnis auf eine paradoxe Formel zu bringen, erhob sich zu dem erstaunlichen Satze, der Historiker sei ein rückwärts gekehrter Prophet.
Der Historismus in Deutschland: Ranke
Was für eine tiefe Wahrheit darin steckte, wurde erst offenbar, als dieser Prophet wirklich erschien. Es war niemand anders als unser größter Historiker Leopold von Ranke. Sein Bekenntnis: „Ich möchte mein Selbst gleichsam auslöschen, um nur die Dinge reden zu lassen" bezeugt eine schlichte christliche Demut im Dienste der Wahrheit. Diesen transzendenten Beziehungspunkt hatte Ranke mit der Romantik gemein, aber auch die räumliche Abgrenzung seines universal-historischen Blickfeldes, das er auf die romanisch-germanischen Völker beschränkte: er ließ die Slawen und vor allem Rußland außer Betracht. Es war jene von göttlichem Anhauch berührte Schicksalsgemeinschaft, die er in seinem Erstlingswerk von 1824 fast mit den Worten von Novalis als einen „geheiligten Verein" vorstellte. Der lebt zwar in fortwährenden inneren Spannungen und Entzweiungen, aber immer wieder entbinden sich daraus gemeinsame Ideen, Prinzipien, Tendenzen, die verhindern, daß dieser lebendige Organismus auseinanderbricht. So sagt Ranke in seiner „Französischen Geschichte“ über die absolute Monarchie Ludwigs XL und das von den Ständen reklamierte Steuerbewilligungsrecht: „Eben dies sind die Gegensätze, die in den romanisch-germanischen Staaten ewig einander widerstreben. Von dem Begriff der erblichen Monarchie und der absoluten Gewalt des Staates aus würde man zur allgemeinen Knechtschaft, von dem Begriff des ständischen Wesens und der individuellen Freiheit aus zur Republik oder zur Wahl-monarchie kommen. Auf der Gegenwirkung beider Prinzipien und ihrer gegenseitigen Einschränkung beruhen unsere Staaten.“
Hier stoßen wir auf ein zentrales Anliegen dieser vom Streben nach strenger Objektivität geleiteten Geschichtsschreibung. Sie war keineswegs voraussetzungslos, aber sie holte sich ihren Wahrheitsbegriff aus der Geschichte selbst „wie sie eigentlich gewesen“. Von dieser kritischphilologisch erforschten Geschichte glaubte Ranke eine Bestätigung da-mitgeteilt für zu empfangen, daß das revolutionäre Prinzip niemals allein den Kampfplatz behaupten werde. Hier wurde er zum rückwärts gekehrten Propheten; denn die Geschichte stellt solche Bestätigungen nicht aus.
Ranke hat als Historiker niemals eines schiedsrichterlichen Amtes walten wollen, er hat sich auch nie auf den Standpunkt der Vorsehung gestellt, obwohl er glaubte, daß Gott in aller Geschichte wohne, lebe und zu erkennen sei. Aber er hatte von Hause aus eine persönliche Hinneigung zur erblichen Monarchie von Gottes Gnaden, wie er sie in klassischer Vollendung in Ludwig XIV. von Frankreich und in der romantischen Abwandlung in Friedrich Wilhelm IV. von Preußen verkörpert sah, in dessen nächster Umgebung er lebte. Das revolutionäre Frankreich, das sich an die Stelle des Königtums gesetzt hatte und die ganze Welt einnehmen wollte, flößte ihm Furcht und Widerwillen ein. So rief ihn die Juli-Revolution auf den Plan; in der von ihm herausgegebenen „Historisch-politischen Zeitschrift" zeigte sich seine irenische, auf den Ausgleich und die Vermittlung gerichtete historische Muse von einer militanten Seite. Nicht im Sinne der preußischen Ultrakonservativen; für die konstitutionelle Monarchie wollte er eine Lanze brechen, für das erbliche, aber verfassungsmäßig beschränkte Königtum. Er wollte das Prinzip der Volkssouveränität nicht völlig ausschließen, aber „mit dem revolutionären Geist allein“, sagt er, „kann kein Staat haushalten“. Und das trieb ihn in eine entschiedene, auch national begründete Abwehrstellung gegen das Nachbarvolk. „Alle geistigen Bestrebungen unserer guten Zeit, alle wissenschaftlichen Erwerbungen unserer großen Männer, alles was den Deutschen einen Namen machte, es ist im Gegensatz gegen Frankreich gelungen.“ Härter konnte man es kaum ausdrücken. Die Nachahmung des französischen Beispiels dünkte ihn schon eine Art von Knechtschaft: „Eine uns eigene, große, deutsche Aufgabt haben wir zu lösen, den echt-deutschen Staat haben wir auszubilden, wie er deut Genius der Nation entspridtt.“
Zwei Dezennien später, in den privaten Vorlesungen für König Max von Bayern, sieht Ranke zwar die Auseinandersetzung der beiden feindlichen Prinzipien, der Monarchie und der Volkssouveränität, noch immer als eine der leitenden Tendenzen der Zeit an, aber er stellt jetzt, mitten im Krimkrieg, die Notwendigkeit des Nationalitätsprinzips zur Konstituierung von Nationalstaaten in Abrede: dies eine deutliche Kritik an der deutschen Revolution von 1848 vom Standpunkt des Primats der auswärtigen Politik, den Ranke mit Bismarck teilte. Die Reichsgründung veranlaßte ihn 1875, in seinem 80. Jahre, dem Ursprung der Revolu-tionskriege von 1791/92 eine besondere Untersuchung zu widmen. Es war gleichzeitig eine kritische Auseinandersetzung mit der Auffassung Heinrich von Sybels, der in seiner Revolutionsgeschichte die Schuld an dem Kriegsausbruch eindeutig den Girondisten zugeschoben hatte. Ranke sah die Dinge im Lichte eines unabwendbaren, tragisch-historischen Konfliktes, dessen eigentliche Triebkräfte nicht die Menschen, sondern die Prinzipien waren: „Die Politik suchte den Frieden; die universalen Gegensätze stellten den Krieg in Aussicht.“
Weitere zehn Jahre später, an seinem 90. Geburtstage, zog Ranke in einer improvisierten Dankrede an die versammelten Gratulanten ein in seiner geistigen Prägnanz und Frische bewundernswertes Fazit seines langen Lebens, und wiederum stellte er Franzosen und Deutsche in den Mittelpunkt seiner Betrachtung: „Das sind die beiden Nationen, auf deren gegenseitiger Einwirkung die Weltgeschichte gro/lenteils beruht.“
Als Jüngling hatte er das scheinbar unaufhaltsame Vordringen der revolutionären Kräfte unter einer genialen Kriegführung tief nach Deutschland hinein erlebt, den Fall Preußens und seine Wiedererhebung. „Napoleon", so fährt er fort, „verschwand, der revolutionäre Gedanke blieb, die erste Restauration wurde untgeworfen, eine neue Revolution vollzog sich; audt diese konnte sich nicht behaupten; eine Republik entstand, ein neuer Napoleon trat auf.“ Da wurde die Versuchung noch einmal mächtig, die Revolutionskriege zu erneuern, und wieder richtete sich der Stoß gegen Preußen, das eben bei der Bildung des deutschen Nationalstaates begriffen war: es nahm die Herausforderung an und überwältigte mit seinen deutschen Verbündeten den revolutionären Cäsarismus — ein für alle Mal, wie Ranke glaubt. Die Stimme versagt ihm: „Hier möchte ich weinen, das kleine Brandenburg und das große Frankreich! Mödtte nun aber zwisdten beiden Nationen Wetteifer, nicht Feindseligkeit herrschen!“
Das Ganze klingt in einem persönlichen Bekenntnis aus, mit dem Ranke den Kreis schließt. Der große Prinzipienkampf zwischen Monarchismus und Republikanismus hat in einer Gleichgewichtslage geendet; keines der beiden Prinzipien konnte das andere überwältigen. Darauf aber beruhte der ungeahnte Aufstieg der Wissenschaften in Deutschland. Für die Historie im besonderen bedeutete die Niederlage der revolutionären Kräfte die Sicherstellung eines objektiven Geschichtsbildes, die Möglichkeit eines unparteiischen Rückblicks auf die früheren Jahrhunderte.
Der Durchbruch zur europäischen Integration
Mit dieser rückwärts gekehrten Prophetie verabschiedete sich Ranke von seinen Zeitgenossen. Sie enthielt als historische Feststellung nichts Unrichtiges; als Prophetie wurde sie von der Geschichte widerlegt, weil man aus der Geschichte nicht weissagen kann. Die konstitutionelle Monarchie des 19. Jahrhunderts, über welche hinaus sich Ranke keine höhere Stufe chrintlich-abendländischer Gesittung vorstellen konnte, war nicht das letzte Wort der europäischen Geschichte. Aber darin sollte er Recht behalten, daß jeder Schritt aus der halkyonischen Windstille heraus, in der er lebte, nur auf der schiefen Ebene vollziehbar war, in der Richtung der Barbarei und der Bestialität, wie es Grillparzer schon 50 Jahre früher gesehen hatte. Im ersten Weltkrieg stürzte die Monarchie, aber der Triumph der Volkssouveränität war nur von kurzer Dauer; denn er war mit Nationalismus durchsetzt und warf die Mitte Europas aus ihrem Gleichgewicht. So hob er sich selber auf und öffnete damit einem neuen Weltkrieg die Tore, den die klassische Demokratie, ihres unbestrittenen Ansehens beraubt, nicht mehr als alleinige Siegerin zu beenden vermochte. Kein geringerer als Winston Churchill hat diesen Ausgang als Pyrrhussieg empfunden, als Tragödie des Sieges, die einfach darin besteht, daß sich aus der Agonie dieses beispiellosen Völkerringens von Osten her eine neue antithetische Situation aufzubauen begann: der Gegensatz zweier Gesellschaftsund Herrschaftsformen, die jede für sich die Welt einzunehmen gedenken. Wo hier die Grenzen verlaufen, ist nicht immer deutlich zu sehen, aber wo man sie sieht, durchschneiden und trennen sie geschlossene Volkskörper, bilden sie gefährliche Reibungsflächen, die jeden Augenblick in offenem Brande emporlodern können.
Beide Weltkriege hatten eine gemeinsame Wurzel: die in keinen haltbaren Bindungen mehr ruhende, vom Nationalismus beflügelte Macht-und Prestigepolitik der großen Mächte, die sich über ungelösten Territorial-und Kolonialfragen in Mitteleuropa, im Nahen und Fernen Osten und in Afrika immer wieder veruneinigten. Dazu kam die prekäre, der Gefahr des Zweifrontenkrieges ausgesetzte Mittellage des jungen Deutschen Reiches, das sich von der demokratischen Ideologie des Westens durch seine aus den polnischen Teilungen stammenden Ostgebiete getrennt sah und auf seinen alten Bundesgenossen Rußland nicht mehr verlassen konnte; denn Panslawismus und später Bolschewismus drängten immer stärker gegen Mitteleuropa vor.
Für Deutschland war und blieb dabei sein Verhältnis zu Frankreich von entscheidender Bedeutung. Das hatte Ranke völlig richtig gesehen. Aber gerade hier wirkte der durch den Versailler Vertrag von 1919 neu entfachte Antagonismus hemmend, störend, vergiftend. Kurz nach dem nrsten Weltkrieg zog der Tübinger Historiker Johannes Haller in einem glänzend geschriebenen und viel gelesenen Buch die Bilanz von tausend Jahren deutsch-französischer Beziehungen. Das Ergebnis war niederschmetternd für beide Teile: auf deutscher Seite viel guter Wille zur Verständigung, aber politisches Unvermögen und diplomatisches Ungeschick, auf französischer Seite kein echter Wille zur Verständigung, aber eine hervorragende Diplomatie immer auf der Suche nach neuen Eroberungen und nie verlegen um eine Rechtfertigung dafür. Haller zitiert Tocqueville, der in den fünfziger Jahren angesichts der Spuren, die das erste Kaiserreich in Deutschland hinterlassen, in die Klage ausbricht: „Aus unseren natürlidten Bundesgenossen haben wir unsere schlimmsten Feinde gemacht.“ Der zweimaligen Herausforderung des Bonapartismus folgte die deutsche Antwort auf dem Fuße; was blieb, war eine Wand des Mißtrauens, ja des Hasses, unübersteiglich, wider alle Vernunft. So trifft sich Haller mit seinem französischen Kollegen Ernest Lavisse in der bitteren Erkenntnis: Zu spät — zwischen diesen beiden Völkern gibt es keine Versöhnung mehr, zum Unglück für sie selbst und für die ganze Welt.
Aber auch diese pessimistische Prognose ist so wenig wie die optimistische Rankes von 18 85 durch die Geschichte bestätigt worden. Allerdings gehörte ein zweiter Weltkrieg und der Zusammenbruch des Deutschen Reiches dazu, um die chinesische Mauer des Argwohns zwischen den beiden Völkern endlich zu durchbrechen. Heute stehen weder die französische Revolution und Napoleon noch die Romantik, Bismarck oder welche Reaktion immer trennend zwischen Deutschland und Frankreich. Im Jahre 1950 haben auf einem Treffen deutscher und französischer Historiker in Speyer die französischen Germanisten Edmond V e r m e i 1 und Jacques Droz die Voraussetzungen und Möglichkeiten einer deutsch-französischen Verständigung einer kritischen Prüfung unterzogen. Ihre Analyse war um so bemerkenswerter, als sie erkennen ließ, wie wenig Übereinstimmung allein in den entscheidenden Grundbegriffen besteht. So wendet Vermeil die Wörter „konservativ“ und „revolutionär auf Tatbestände an, die wir genau entgegengesetzt beurteilen. Er nennt den Humanismus der klassischen französischen Epoche konservativ, obwohl die Revolution daraus hervorging, und die Individualitätsphilosophie der deutschen Romantik revolutionär, obwohl sich die Reaktion in Deutschland auf sie stützte. In ihrem universalistischen Rang stellt er beide Bewegungen einander gleich, und er betrachtet sie ihrer Natur nach als komplementär, ohne freilich das tertium comparationis angeben zu können. Droz kommt darin einen Schritt weiter, weil er die Verschiedenheit der Ausgangspunkte an dem Begriff der „nation erläutert, wo man sie in der Tat klar erfassen kann: Die französische Auffassung hat von allem Anfang einen politischen Ein-