10. In Erwartung des Sieges des Sozialismus
Engels veröffentlichte 1885 in der Neuausgabe der Marxschen Schrift „Enthüllungen über den Kommunistenprozeß zu Köln" zwei Ansprachen der Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten an den Bund vom März bzw. Juni 1850. In ihnen wurde eine Analyse der politischen Verhältnisse in Deutschland gegeben. Die im „Kommunistischen Manifest" bereits zum Ausdruck gebrachte Erwartung, daß die deutsche liberale Bourgeoisie bald zur Herrschaft komme und ihre neu errungene Macht sofort gegen die Arbeiter kehren würde, wurde wiederholt, die kleinbürgerlich-demokratische Partei in Deutschland mit scharfen Worten verurteilt. Dabei wurde betont, daß die demokratischen Kleinbürger eine Änderung der gesellschaftlichen Zustände anstrebten, um sich die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem zu machen. Marx und Engels forderten die Arbeiter auf, sich mit dem „Landproletariat" zu verbinden. Auch setzten sie sich mit dem Föderalismus auseinander, da nach ihrer Meinung die Demokraten entweder direkt auf die föderative Republik hinarbeiteten oder wenigstens, wenn sie der einen und unteilbaren Republik nicht entgehen könnten, die Zentralregierung durch möglichste Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Gemeinden und Provinzen zu lähmen versuchten; sie sagten dazu: „Die Arbeiter müssen diesem Plan gegenüber nidtt nur auf die eine und unteilbare deutsche Republik, sondern auch in ihr auf die entschiedenste Zentralisation der Gewalt in die Hände der Staatsmacht hinwirken. Sie dürfen sich durch das demokratische Gerede von Freiheit der Gemeinden, von Selbstregierung usw. nicht irre machen lassen. In einem Land wie Deutschland, wo noch so viele Reste des Mittelalters zu beseitigen sind, wo so vieler lokaler und provinzieller Eigensinn zu brechen ist, darf es unter keinen Umständen geduldet werden, daß jedes Dorf, jede Stadt, jede Provinz der revolutionären Tätigkeit, die in ihrer ganzen Kraft nur vom Zentrum ausgehen kann, ein neues Hindernis in den Weg lege.“ Das Ergebnis der Betrachtung war die Feststellung: „Wie in Frankreich 1793 ist heute in Deutschland die Durchführung der strengsten Zentralisation die Aufgabe der wirklich revolutionären Partei.“ Immer wieder schlug die Überzeugung von der führenden und wegbereitenden Aufgabe der deutschen Arbeiter durch. Marx und Engels riefen aus: „Wenn die deutschen Arbeiter nicht zur Herrschaft und Durchführung ihrer eigenen Klasseninteressen kommen können, ohne eine längere revolutionäre Entwicklung ganz durchzumachen, so haben sie diesmal wenigstens die Gewißheit, daß der erste Akt dieses bevorstehenden revolutionären Schauspiels mit dem direkten Siege ihrer eigenen Klasse in Frankreich zusammenfällt und dadurch sehr beschleunigt wird.“ In der zweiten Ansprache wurde die Situation des Bundes der Kommunisten geschildert, wobei ausführlich auf die Lage in Deutschland eingegangen wurde. Es ist für das Verhältnis der kommunistischen Taktik aufschlußreich, daß Marx und Engels in der Anweisung für die weitere Tätigkeit das Wirken in Organisationen empfehlen, die nicht dem Bund der Kommunisten zuzuzählen sind. Sie schrieben: „Es wird von den Lokalverhältnissen abhängen, ob die entsdcieden revolutionären Leute in den Bund ausgenommen werden können. Wo dies nicht möglich isf, muß aus den Leuten, welche revolutionär braucltbar und zuverlässig sind, welche aber noch nicht die kommunistischen Konsequenzen der jetzigen Bewegung verstehen, eine zweite Klasse von weiteren Bundesmitgliedern gebildet werden. Diese zweite Klasse, der die Verbindung als eine bloße lokale oder provinzielle darzustellen ist, muß fortwährend unter der Leitung der eigentlichen Bundesmitglieder und Bundesbehörden bleiben. Mit Hilfe dieser weiteren Verbindung kann der Einfluß namentlich auf die Bauernvereine und Turnvereine sehr fest organisiert werden“
Lenin befaßte sich mit beiden Ansprachen und interpretierte die Gedanken Marx’ in folgender Weise: „Wir deutschen Sozialdemokraten von 1850 sind nicht organisiert, wir haben in der ersten Periode der Revolution eine Niederlage erlitten, wir sind vollständig ins Schlepptau der Bourgeoisie geraten; wir müssen uns selbständig organisieren, auf jeden Fall unbedingt und unter allen Umständen selbständig — sonst werden wir auch bei dem künftigen Sieg der organisatorisch erstarkten und mächtigen kleinbürgerlichen Partei wieder ins Hintertreffen geraten.“ Lenin wies aber darauf hin, daß Marx und Engels im Jahre 1850 den Sozialismus als nahe bevorstehend bezeichnet und deshalb die demokratischen Errungenschaften unterstützt hatten. Er betonte, daß Marx 25 Jahre später, im Jahre 1875, die undemokratische Staatsordnung Deutschlands als einen mit parlamentarischen Formen verbrämten Militärdespotismus genannt und Engels 35 Jahre später, im Jahre 1885, prophezeit hatte, daß bei der nächsten europäischen Erschütterung die kleinbürgerliche Demokratie in Deutschland ans Ruder kommen werde
11. Deutschland zwischen Frankreich und Rußland
In der „Ne w -York Daily Tribune" veröffentlichten Marx und Engels am 19. Mai 1854 eine Betrachtung über die „Preußische Politik", in der sie betonten, daß die herrschende Klasse Preußens, das Militär und das Land stolz sei, sich einen Militärstaat zu nennen. Der preußische „Expansionsdrang" wurde eingehend geschildert und versichert, daß Preußen von Natur aus nicht reich gewesen, durch Fleiß, Tätigkeit und Sparsamkeit jedoch reich geworden sei
„Wir können manches entbehren, das an den Grenzen unseres Gebietes herumhängt und uns in Dinge verwickelt, in die wir uns besser nicht so direkt einmischen. Aber geradeso geht es anderen auch; mögen sie uns das Beispiel der Uneigennützigkeit geben oder schweigen. Das Endresultat aber dieser ganzen Untersuchung ist, daß wir Deutsche einen ganz ausgezeichneten Handel madten würden, wenn wir den Po, den Mincio, die Etsdi und den ganzen italieiüsdien Plunder vertausdten könnten gegen die Einheit, die uns vor einer Wiederholung von Warscha und Bronnzell schützt und die allein uns nach innen und außen stark machen kann. Haben wir diese Einheit, so kann die Defensive aufhören. Wir brauchen dann keinen Mincio mehr; . unser Genie'wird wieder sein, , zu attadderen ; und es gibt noch einige faule Fledte, wo dies nötig genug sein wird“
Ein Jahr später, 1860, erschien unter dem Titel „Savoyen, Nizza und der Rhein“ eine weitere anonyme Broschüre Engels’, die sich mit der politischen Entwicklung des vorhergegangenen Jahres auseinandersetzte. Dabei beschäftigte er sich mit der Haltung Rußlands und Frankreichs und betonte, beide hätten ein bleibendes und sich ergänzendes Interesse gegenüber Deutschland. Engels gab zu bedenken: „Zweimal in diesem Jahrhundert hat sidt Rußland mit Frankreich verbündet und jedesmal hatte die Allianz die Teilung Deutschlands zum Zwedk oder zur Basis.“ Zur Begründung dieser Auffassung führte er aus:
„Das erstemal auf dem Floß bei Tilsit. Rußland gab Deutsddand vollständig dem französisdten Imperator preis und nahm sogar, zum Unterpfand dafür, ein Stücke von Preußen an. Dafür erhielt es freie Hand in der Türkei; es beeilte sich, Bessarabien und die Moldau zu erobern und seine Truppen über die Donau zu schicken. Daß Napoleon bald nadther , die türkische Frage studierte'und seine Meinung über den Gegenstand bedeutend veränderte, war für Rußland einer der Hauptgründe zum Kriege von 1812. Das zweitemal 1829. Rußland schloß mit Frankreich einen Vertrag, wonach Frankreich das linke Rheinufer und Rußland dafür wieder freie Hand in der Türkei bekommen sollte. Diesen Vertrag zerriß die Julirevolution; die betreffenden Papiere fand Talleyrand vor, als die Anklage gegen das Ministerium Polignac vorbereitet wurde, und warf sie ins Feuer, um der französischen und russischen Diplomatie den kolossalen Skandal zu ersparen. Dem esoterischen Publikum gegenüber bilden die Diplomatien aller Länder einen Geheimbund und werden sich nie gegenseitig öffentlich kompromittieren.“
Von diesen Erwägungen ausgehend beschrieb er das gemeinsame Interesse Frankreichs und Rußlands, vor allem Österreich zu vernichten. Er stellte die Frage, welche Verpflichtungen Rußland mit Frankreich eingegangen sei und verwies unter Zitierung der historischen Beispiele von 1809 und 1829 darauf, die einzige Kompensation, die Rußland Frankreich bieten könne, sei das linke Rheinufer. Engels fährt fort: „Die Opfer müssen wieder von Deutschland getragen werden. Die nationale wie die traditionelle Politik Rußlands gegenüber Frankreich ist, Frankreich den Besitz des linken Rheinufers zu versprechen oder ihm dazu im gegebenen Falle zu verhelfen gegen die Gestattung und Unterstützung russisdter Forderungen an der Weichsel und der Donau; und dann Deutschland, das zum Dank die russischen Eroberungen anerkennt, in der Wiedereroberung des an Frankreich verlorenen Gebietes zu unterstützen“. Engels benützte die Gelegenheit, um sich eingehend mit der Haltung Rußlands gegenüber Deutschland zu beschäftigen. Er schloß mit einem beschwörenden Appell an die Deutschen:
„Was Rußland uns Deutschen gegenüber für eine Rolle zu spielen gedenkt, das sagt das bekannte Rundschreiben deutlich genug, das Fürst Gortschakow im vorigen Jahre an die deutschen Kleinstaaten richtete. scheu werden es hoffentlich nie vergessen, daß Rußland sich unterfing, ihnen verbieten zu wollen, einetn angegriffenen deutschen Staate zu Hilfe zu kommen. Die Deutschen werden hoffentlich Rußland noch vieles andere nicht vergessen. 1807 im Frieden von Tilsit ließ sich Ruß-land ein Stüde Gebiet seines Bundesgenossen Preußen, den Bezirk Bialystok, abtreten und überlieferte Deutschland an Napoleon. 1814, als sogar Österreich (sielte Castlereaghs Memoiren) die Notwendigkeit eines unabhängigen Polen vertrat, inkorporierte sich Rußland fast das ganze Großherzogtum Warschau (das heißt ehemals österreidtische und preußisdte Provinzen) und nahm dadurch eine Offensivstellung gegen Deutschland ein, die uns so lange bedroht, bis wir es daraus vertrieben haben werden. Die nodt 1831 erbaute Festungsgruppe Modlin, Warschau, Iwangorod erkennt sogar die Russophile Haxthausen als eine direkte Drohung gegen Deutschland an. 1814 bis 1815 hat Rußland alles aufgeboten, um die deutsche Bundesakte in der gegenwärtigen Form zustande zu bringen und dadurch die Ohnmacht Deutschlands nadt außen hin zu verewigen. 1815 bis 1848 stand Deutsdtland unter direkter Hegemonie von Rußland. Wenn Österreich ihm an der Donau opponierte, so führte es auf den Kongressen von Laibach, Troppau, Verona alle Wünsche Rußlands im Westen Europas aus. Diese Hegemonie Rußlands war direktes Resultat der deutschen Bundesakte. Als Preußen sich ihr 1841 und 1842 einen Moment zu entziehen suchte, wurde es sofort in seine frühere Stellung zurückgenötigt. Die Folge war, daß beim Ausbruch der Revolution von 1848 Rußland ein Zirkular erließ, worin die Bewegung in Deutsdtland als eine Revolte in der Kinderstube behandelt wurde. 1829 sdtloß Rußland mit dem Ministerium Polignac den seit 1823 durch Chateaubriand vorbereiteten (und von ihm öffentlich eingestandenen) Vertrag, der das linke Rheinufer an Frankreich verschacherte. 1849 unterstützte Rußland Österreich in Ungarn nur unter der Bedingung, daß Österreich den Bundestag herstelle und den Widerstand Sdtleswig-Holsteins vernichte; das Londoner Protokoll sicherte Rußland die Erbfolge in der ganzen dänischen Monarchie schon in nächster Zeit und gab ihm Aussicht zur Verwirklichung des schon seit Peter dem Großen gehegten Planes, in den Deutschen Bund (früher das Reich) zu kommen. 1850 wurden Preußen und Österreich in Warschau vor den Zaren vorgeladen, der zu Gericht über sie saß. Die Demütigung war nicht geringer für Österreich als für Preußen, obschon in den Augen der Welt die Kannegießerei Preußens sie allein zu tragen hatte. 1853, in der Unterhaltung mit Sir H (amiiton) Seymour, verfügte der Kaiser Nikolaus über Deutschland, als wenn es ihm erbeigentümlich gehöre. Österreich, sagte er, sei ihm sicher. Preußen tat er nicht einmal die Ehre der Erwähnung an. Und endlich 1859, als die Heilige Allianz ganz aufgelöst schien, der Vertrag mit Louis Napoleon, der Angriff Frankreichs auf Österreidt mit russischer Bewilligung und Unterstützung, und das Zirkular Gortschakows, um den Deutschen jede Hilfeleistung an Österreich in der unverschämtesten Weise zu untersagen. Das ist es, was wir seit dem Anfang dieses Jahrhunderts den Russen zu verdanken haben und was wir Deutschen hoffentlich nie vergessen werden“.
Am Ende seiner Betrachtung fragte Engels, ob das Rheinland keinen anderen Beruf habe, als vom Krieg überzogen zu werden, damit Ruß-land freie Hand an Donau und Weichsel bekomme. Er erwiderte: „Wir hoffen, daß Deutschland sie bald mit dem Schwert in der Hand beantwortet. Halten wir zusammen, dann werden wir den französischen Prätorianern und den russischen Kapuschtsdiiks schon heimleuchten“. Er verwies darauf, daß Deutschland in seinem Kampf gegen Rußland in den russischen Leibeigenen einen Bundesgenossen bekommen habe: “ Der Kampf, der jetzt in Rußland zwischen der herrschenden und der beherrschten Klasse der Landbevölkerung ausgebrochen ist, untergräbt jetzt schon das ganze System der russischen auswärtigen Politik. Nur solange Rußland keine innere politische Entwiddung hatte, war dies System möglich. Aber diese Zeit ist vorbei. Die von der Regierung und dem Adel in jeder Weise gehobene industrielle und agrikole Entwicklung ist auf einen Grad gediehen, der die bestehenden sozialen Zustände nicht mehr erträgt. Ihre Aufhebung ist eine Notwendigkeit einerseits, eine Unmöglichkeit ohne gewaltsame Veränderung andererseits. Mit dem Rußland, das von Peter dem Großen bei Nikolaus bestand, fällt auch die auswärtige Politik dieses Rußlands. Wie es den Anschein hat, ist es Deutschland vorbehalten, diese Tatsache den Russen nicht nur mit der Feder, sondern auch mit dem Schwert klarzumachen.
Kommt es dahin, so ist das eine Rehabilitation Deutschlands, die Jahrhunderte politischer Schmach aufwiegt“
Marx schrieb in der Zeitschrift „Das Volk“ am 25. Juni 1859 die Betrachtung „Spree und M i n c i o in der er die Zukunft der Revolution in Europa untersuchte. Er erinnerte an Kossuth
und Garibaldi
und betonte, daß, wenn es gelingen sollte, eine orsinische Bombe in Italien zu erlöschen, eine andere in Frankreich, in Deutschland, in Rußland oder wo immer es sein möge, platze. Denn das Bedürfnis und die Notwendigkeit der Revolution sei so allgemein wie die Verzweiflung der niedergetretenen Völker. Dahinter stand die Hoffnung auf den Ausdruck der Revolution, in deren Verwirklichung Preußen eine besondere Rolle zugewiesen war: „Preußens bewaffnete Vermittlung, das heißt seine Allianz mit Österreich, bedeutet die Revolution“
Seinen Artikel „Quid pro Quo“ begann Marx mit einer Reverenz vor — Clausewitz; im übrigen ging er mit dem preußischen Standpunkt scharf ins Gericht. Vor allem mißfiel ihm Preußens Rücksicht auf England und Rußland
Diese Haltung untersuchte Lenin 1915 in einer Auseinandersetzung mit A. Potressow sehr eingehend. Die zur Diskussion gestellte Frage lautete: „Auf welcher Seite ein Sieg am ehesten erwünscht wäre“. Lenin trat der Auffassung Marx“ bei, der von Preußens Einmischung gegen Napoleon einen Anstoß der Volksbewegung in Deutschland erwartete. Auch hier wurde die Vorstellung von der besonderen Aufgabe Deutschlands in der allgemeinen ökonomischen Entwicklung transparent. Nicht ohne gefälliges Selbstbewußtsein stellte Engels in einer Rezension der Veröffentlichung Marx’ „Die Kritik der politischen Ökonomie“ die Anfänge der selbständigen deutschen wissenschaftlichen politischen Ökonomie rühmend heraus. Er gab zunächst einen bemerkenswerten Aufriß der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands: „Auf allen wissenschaftlichen Gebieten haben die Deutschen längst ihre Ebenbürtigkeit, auf den meisten ihre Überlegenheit gegenüber den übrigen zivilisierten Nationen bewiesen. Nur eine Wissenschaft zählte keinen einzigen deutschen Namen unter ihren Koryphäen: die politische Ökonomie. Der Grund liegt auf der Hand. Die politische Ökonomie ist die theoretische Analyse der modernen bürgerlichen Gesellschaft und setzt daher entwichelte bürgerliche Zustände voraus, Zustände, die in Deutschland seit den Reformations-und Bauernkriegen und besonders seit dem Dreißigjährigen Krieg auf Jahrhunderte lang nicht aufkommen konnten. Die Lostrennung Hoflands vom Reich drängte Deutschland vom Welthandel ab und reduzierte seine industrielle Entivicklung von vornherein auf die kleinlichsten Verhältnisse; und während die Deutschen sich so mühsam und langsam von den Verwüstungen der Bürgerkriege erholten, während sie alle ihre bürgerliche Energie, die nie sehr groß war, abarbeiteten im fruchtlosen Kampf gegen die Zollschranken und verrückten Handelsregulationen, die jeder kleine Duodezfürst und Reichsbaron der Industrie seiner Untertanen auflegte, während die Reichsstädte im Zunftkram und Patriziertum verkamen — währenddessen eroberten Holland, England und Frankreich die ersten Plätze im Welthandel, legten Kolonie auf Kolonie an und entwickelten die Manufakturindustrie zur höchsten Blüte, bis endlidt England durch den Dampf, der seinen Kohlen-und Eisenlagern erst Wert gab, an die Spitze der modernen bürgerlichen Entwicklung trat. Solange aber noch der Kampf gegen so lächerlich antiquierte Reste des Mittelalters zu führen war, wie sie bis 1830 die materielle bürgerliche Entivicklung Deutschlands fesselten, solange war keine deutsche politische Ökonomie möglich. Erst mit der Errichtung des Zollvereins kamen die Deutschen in eine Lage, in der sie politische Ökonomie überhaupt nur verstehen konnten“. Nach Kritik an den bürgerlichen Wirtschaftstheorien verwies Engels auf die Entstehung der proletarischen Partei in Deutschland, von der er sagte:
„Ihr ganzes theoretisches Dasein ging hervor aus dem Studium der politischen Ökonomie, und von dem Augenblidt ihres Auftretens datiert auch die wissensdtaftliche, selbständige deutsche Ökonomie. Diese deutsche Ökonomie beruht wesentlich auf der materialistischen Auffassung der Geschichte, deren Grundzüge in der Vorrede des oben zitierten Werks kurz dargelegt sind. Diese Vorrede ist der Hauptsache nach bereits im . Volk'abgedruckt worden, weshalb wir darauf verweisen. Es war nicht nur für die Ökonomie, es war für alle historischen Wissenschaften (und alle Wissenschaften sind historisch, welche nicht Naturwissenschaften sind) eine revolutionierende Entdeckung, dieser Satz: , daß die Produktionsweise des materiellen Lebens den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt bedingt'; daß alle gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse, alle religiösen und Rechtssysteme, alle theoretischen Anschauungen, die in der Geschichte auftaudten, nur dann zu begreifen sind, wenn die materiellen Lebensbedingungen der jedesmaligen entsprechenden Epoche begriffen sind und erstere aus diesen materiellen Bedingungen abgeleitet werden. , Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern (umgekehrt) ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.'Der Satz ist so einfach, daß er für jeden sich von selbst verstehen müßte, der nicht in idealistischen Schwindel festgerannt ist. Aber die Sache hat nicht nur für die Theorie, sondern auch für die Praxis höchst revolutionäre Konsequenzen: , Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwiddungsformen der Produktiv-kräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um . . . Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus'. Die Perspektive auf eine gewaltige auf die gewaltigste Revolution aller Zeiten eröffnet sich uns als sofort bei weiterem Verfolgen unserer materialistischen These und bei ihrer Anwendung auf die Gegenwart"
12. Der ökonomische Charakter des preußischen Verfassungskonfliktes
Bei der Auseinandersetzung mit den Reformisten
In der erstmals 1906 veröffentlichten Broschüre „Der Sieg der Kadetten und die Aufgabe der Arbeiterpartei“ verwies Lenin darauf, daß Marx und Engels zwar die bürgerlich-demokratischen Paktierer in Deutschland im Jahre 1848 gegeißelt, jedoch fünfzehn Jahre später während des preußischen Verfassungskonflikts der Arbeiterpartei geraten hätten, die bürgerlichen Demokraten, die Fortschrittler, zu unterstützen. Lenin erklärte den scheinbaren Widerspruch mit der Feststellung: „Tatsächlich gibt es hier keinerlei Widersprüche: Am heftigsten geißelte Marx in der Periode des revolutionären Kampfes die Verfassungsillusionen und die Verfassungspaktierer. Als alle Kräfte des revolutionären , Wirbelwindes'ausgeschöpft waren, als es keinen Zweifel mehr darüber geben konnte, daß die deutschen Kadetten die Revolution verraten hatten, als der Aufstand gänzlich niedergeschlagen war und eine ökonomische Blütezeit ihre Wiederholung hoffnungslos machte — da, und nur da (Marx und Engels zeichneten sich nicht durch Kleinmut und nicht durch geringen Glauben an den Aufstand nach seiner ersten Niederlage aus), nur da erkannten sie als Hauptform des Kampfes den parlamentarischen Kampf an“
Lenin setzte sich immer wieder mit Ereignissen der deutschen Geschichte auseinander. 1902 fragte er nach dem historischen Verdienst Lassalles um die deutsche Arbeiterbewegung und antwortete darauf: „Darin, daß er diese Bewegung vom Weg des progressistischen Trade-Unionismus und Kooperativismus ablenkte, den sie spontan (unter gütiger Mitwirkung der Sdiultze-Delitzsdr und iUresgleidien) eingesMagen hatte“. Am Ende seiner Betrachtung stellte er fest, daß der Kampf um die Einheit der Arbeiterklasse in Deutschland noch nicht abgeschlossen sei, da diese noch immer in mehrere Ideologien zersplittert sei und betonte, daß die sozialdemokratischen Verbände am größten seien; sie hätten diese Vorherrschaft nur erreichen und würden sie nur aufrecht erhalten können durch unbeugsamen Kampf gegen alle anderen Ideologien Bereits
vorher hatte er über Lassalle erklärt: „In Deutschland bestand das Verdienst Lassalles darin, daß er die Arbeiterklasse aus einem Anhängsel der liberalen Bourgeoisie zu einer selbständigen politischen Partei machte. Der Marxismus hat den ökonomischen und den politischen Kampf der Arbeiterklasse zu einem untrennbaren Ganzen verbunden“
Engels war bereits sehr früh bemüht, die Bedeutung Marx’ für die deutsche Arbeiterbewegung herauszustellen, wobei er sich gegen die Auffassung wandte, Lassalle sei der Urheber der deutschen Arbeiterbewegung. Er behauptete von diesem, weder der ursprüngliche Initiator 'der deutschen Arbeiterbewegung noch ein origineller Denker zu sein. Auch habe er seinen Vorgänger und intellektuellen Vorgesetzten verschwiegen, dieser sei Marx. Er gab von diesem einen kurzen Lebensabriß, den er mit der Bemerkung schloß: „Marx ist lange Jahre unbedingt der , bestverleumdete'deutsche Schriftsteller gewesen, wogegen ihm niemand das Zeugnis verwehren wird, daß er dafür auch tapfer um sich gehauen hat und daß seine Hiebe alle scharf saßen. Aber die Polemik, in der er doch soviel . gemacht'hat, war im Grunde doch nur Sache der Notwehr bei ihm. Sein eigentliches Interesse war schließlich doch immer bei seiner Wissenschaft, die er fünfundzwanzig Jahre mit einer Gewissenhaftigkeit studiert und durdrdacht hat, die ihresgleichen sucht, einer Gewissenhaftigkeit, die ihn verhindert hat, seine Schlußfolgerungen in systematischer Form vor das Publikum zu bringen, ehe sie ihm nach Form und Inhalt selbst genügten, ehe er darüber mit sich klar war, daß er kein Buch ungelesen, keinen Einwurf unerwogen gelassen, daß er jeden Punkt vollständig erschöpft habe. Originelle Denker sind in dieser Zeit der Epigonen sehr rar; wenn aber ein Mann nicht nur ein origineller Denker, sondern auch im Besitz einer in seinem Fache unerreichten Gelehrsamkeit ist, so verdient er doppelte Anerkennung. Außer seinen Studien beschäftigt sich Marx, wie nicht anders zu erwarten, mit der Arbeiterbewegung; er ist einer der Gründer der Internationalen Arbeiterassoziation, welche in letzter Zeit soviel von sich reden machte und bereits an mehr als einem Ort Europas bewiesen hat, daß sie eine Macht ist. Wir glauben nicht zu irren, wenn wir sagen, daß auch in dieser jedenfalls in der Arbeiterbewegung Epoche madtenden Gesellschaft das deutsche Element — dank namentlich Marx’ — die ihm gebührende einflußreiche Stellung einnimmt“
In der zweiten Auflage seines Bauernkrieges, geschrieben 1870, gab Engels eine Skizze der industriellen Entwicklung Deutschlands. Er ging von dem verspäteten Eintritt Deutschlands in den Kreis der Industrie-völker aus und versicherte: „Mit dem Aufschwung der Industrie seit IS 48 hat Schritt gehalten die soziale und politische Aktion des Proletariats. Die Rolle, die die deutschen Arbeiter heute in ihren Gewerkvereinen, Genossenschaften, politischen Vereinen und Versammlungen, bei den Wahlen und im sogenannten Reichstag spielen, beweist allein, welche Umwälzung Deutschland in den letzten zwanzig Jahren unvermerkt erlitten hat. Es gereidit den deutschen Arbeitern zur höchsten Ehre, daß sie allein es durdcgesetzt haben, Arbeiter und Vertreter ins Parlament zu schicken, während weder Franzosen noch Engländer dies bis jetzt fertigbrachten“
Lenin warnte in seinem Brief vom 16. Dezember 1909 an I. I. Skwor-zow-Stepanow vor dem Fehler einer (mechanischen) Übertragung des in vielem richtigen und in jeder Hinsicht äußerst wertvollen deutschen Musters auf Rußland, stellte die Entwicklung in Rußland von 1905 bis 19?? und die Spanne Deutscher Geschichte von 1848 bis 1871 auf die gleiche ideologische Stufe und betonte: „Unsere Epoche der Jahre 1905 bis ?? ist die Epoche des revolutionären und konterrevolutionären Kampfes um diese Wege, ähnlidt wie die Jahre 1848 bis 1871 in Deutsddand die Epoche des revolutionären und konterrevolutionären Kampfes der zwei Wege zur Vereinigung (= Lösung des nationalen Problems der bürgerlichen Entwiddung Deutsddands), des Weges über die großdeutsdce Republik und des Weges über die preußisdce Monardiie, waren. Erst 1871 hatte der zweite Weg endgültig (hierauf bezieht sidi mein . vollauf) gesiegt. Und damals gab Liebknedtt den Boykott des Parlaments auf. Und damals erstarb der Streit der Lassalleaner mit den Eisenachern. Und damals erstarb die Frage der allgemein-demokratischen Revolution in Deutschland — die Naumann, David und Konsorten aber haben in den neunziger Jahren (zwanzig Jahre später!) einen Leichnam zum Leben erwecken wollen“
13. Der Deutsch-Französische Krieg in der Wertung von Marx, Engels und Lenin
Am Vorabend des Krieges 1870/71 befaßte sich Engels in einem Brief an den Braunschweiger Verleger Bracke mit der Lage in Deutschland. Er wies die Behauptung, die deutschen Arbeiter seien stumpf, zurück und versicherte, er finde, daß die Sache in Deutschland unverhofft flott vorangehe. Die einzelnen Erfolge mußten natürlich mühsam erkämpft werden. Bei einem Vergleich zwischen 1860 und 1870 sei der Vorsprung, den die Arbeiterbewegung Deutschlands vor der Frankreichs und Englands erreicht habe, zu erkennen. Engels fügte an: „Die deutschen Arbeiter haben über ein halbes Dutzend Leute in das Parlament gebracht, die Franzosen und Engländer keinen einzigen. Darf ich mir dabei die Bemerkung erlauben, daß wir alle es hier für höchst wichtig halten, daß bei den Neuwahlen soviel Arbeiterkandidaten aufgestellt werden, wie möglich und soviel durchgebracht werden wie möglich“
Nadi Ausbruch des deutsch-französischen Krieges korrespondierte Engels mit Marx über die europäische Situation. Engels vertrat dabei die Ansicht, Deutschland sei durch „Badinquet"
Marx verfaßte auch zwei Adressen des „Generalrates der internationalen Arbeiterassoziation" über den Deutsch-Französischen Krieg. In der ersten machte er Louis Bonaparte für die Entwicklung zum Krieg und für dessen Ausbruch verantwortlich. Er sprach davon, daß die Totenglocke des zweiten Kaiserreichs in Paris bereits geläutet habe und dieses enden werde, wie es begonnen habe, mit einer Parodie. Leidenschaftlich ergriffen fuhr er fort: „Aber vergessen wir nidit, daß es die Regierungen und die herrsdienden Klassen Europas waren, die es Louis Bonaparte ermöglid-iten, achtzehn Jahre lang die grausame Posse der Restauration des Königsreidtes zu spielen.“ Im Anschluß daran würdigte er die deutsche Situation: „Von deutscher Seite ist der Krieg ein Verteidigungskrieg. Aber wer brachte Deutschland in den Zwang, sich verteidigen zu müssen? Wer ermöglichte Louis Bonaparte, den Krieg gegen Deutschland zu führen? Preußen! Bismarck war es, der mit demselben Louis Bonaparte konspirierte, um eine volkstümliche Opposition zu Hause niederzusdtlagen und Deutsdiland an die Hohenzollern-dynastie zu annexieren. Wäre die Schladts bei Sadowa
In der zweiten Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiter-assoziation setzte sich Marx vor allem mit der deutschen Forderung nach Elsaß-Lothringen auseinander. Er polemisierte gegen den Gedanken, die alte Karte von Europa nach dem historischen Recht umzuarbeiten. Wenn solches geschehe, dürfe nicht vergessen werden, daß der Kurfürst von Brandenburg seinerzeit für seine preußischen Besitzungen der Vasall der polnischen Republik war. Auch die militärischen Argumente, mit denen die Forderung nach Elsaß-Lothringen begründet wurde, ließ er nicht gelten. „Denn“, so fuhr er fort, „wenn die Grenzen durch militärische Interessen bestimmt werden sollen, werden die Ansprüche nie ein Ende nehmen, weil jede militärische Linie notwendig fehlerhaft ist und durch Annexion von weiterem Gebiet verbessert werden kann.“ Marx kritisierte heftig den deutsch-tümlichen Patriotismus und wandte die Aufmerksamkeit erneut auf die Gefahr aus dem Osten. So wie Louis Napoleon sich 1866 geschmeichelt habe, der Krieg zwischen Österreich und Preußen werde ihn zum obersten Schiedsrichter über Deutschland machen, so schmeichle sich Alexander, der Krieg von 1870 werde ihn durch gegenseitige Erschöpfung Deutschlands und Frankreichs zum obersten Schiedsrichter des europäischen Westens erheben. Zur Begründung seiner These führte Marx aus: „Das ist das Gesetz des alten politischen Systems. Innerhalb seines Bereichs ist der Gewinn des einen der Verlust des anderen. Des Zaren überwiegender Einfluß auf Europa wurzelt in seiner traditionellen Oberherrlichkeit über Deutschland. Im Augenblick, wo vulkanische soziale Kräfte in Rußland selbst die tiefsten Grundlagen der Selbstherrschaft zu erschüttern drohen, kann sidt da der Zar eine Schwächung seiner Stellung gegenüber dem Ausland gefallen lassen? Schon wiederholen die Moskauer Blätter dieselbe Sprache wie die bonapartistischen Zeitungen nach dem Kriege von 1866. Glauben die Deutschtümler wirklich, daß Freiheit und Frieden Deutschlands gesichert sei, wenn sie Frankreich in die Arme Rußlands hineinzwingen? Wenn das Glück der Waffen, der Übermut des Erfolgs und dynastische Intrigen Deutschland zu einem Raub an französischem Gebiet verleiten, bleiben ihm nur zwei Wege offen. Entweder muß es, was auch immer daraus folgt, der offenkundige Knecht russischer Vergrößerung werden, oder aber es muß sich nach kurzer Rast für einen neuen , defensiven Krieg rüsten, nicht für einen jener neugebackenen . lokalisierten Kriege, sondern zu einem Rassenkrieg gegen die verbündeten Rassen der Slawen und Romanen.“ Im übrigen entbot Marx der französischen Republik seinen Gruß. Er ließ zwar keine Zweifel, daß die französische Arbeiterklasse in äußerst schwierige Umstände versetzt sei, war jedoch der Überzeugung, daß dieser neue herkulische Kräfte zuwüchsen für die Wiedergeburt Frankreichs und für die gemeinsame Aufgabe — die Befreiung des Proletariats
Auch Engels befaßte sich ausführlich mit dem deutsch-französischen Krieg. Er untersuchte seine politischen und geschichtlichen Ursachen, verlangte die Entfaltung der vollen nationalen Kraft für die Verteidigung und wünschte eine allgemeine Wehrpflicht, von der er sich militärische und politische Wirkung erhoffte: „Wie das preußische Landwehrsystem ein Fortschritt war, verglichen mit dem französischen Kader-system, weil es die Dienstzeit herabsetzte und die Zahl der Männer, die ihr Land zu verteidigen fähig sind, erhöhte, so wird dieses neue System der wirklichen allgemeinen Wehrpflicht wieder ein Fortschritt über das preußische System sein. Die Rüstungen für einen Krieg werden immer größer, aber die Friedensarmeen immer kleiner werden. Jeder einzelne Bürger eines Landes wird die Streitigkeiten seiner Regierung persönlich auskämpfen müssen und nicht mehr einen Ersatzmann stellen können. Die Verteidigung wird stärker und der Angriff schwieriger werden, und der große Umfang der Armeen wird schließlich in eine Verminderung der Ausgaben und eine Garantie für den Frieden umschlagen“
Engels griff immer wieder die Annexion Elsaß-Lothringens auf, in der er ein Verbrechen nicht nur gegen Deutschland, sondern gegenüber Europa sah. Durch diese Maßnahme, die in Frankreich eine tiefe, nie verheilende Wunde geschlagen habe, werde dieses in die Arme des zaristischen Rußlands getrieben. Engels benützte auch diese Gelegenheit, seine These vom Zuwarten Rußlands auf die Erschöpfung der westlichen Mächte Europas vorzutragen: „Der Krieg 1859 hatte auch Preußen aufgeschreckt. Es hatte seine Armee fast verdoppelt und einen Mann ans Ruder gestellt, der es mit der russischen Diplomatie wenigstens in einem Punkt aufnehmen konnte: in der Rücksichtslosigkeit in betreff der anzuwendenden Mittel. Dieser Mann war Bismarck. Während des polnischen AufStandes 1863 nahm er, gegenüber Österreich, Frankreich und England, in theatralischer Weise Partei für Rußland und tat alles, um diesem den Sieg zu verschaffen. Das sicherte ihm den Abfall des Zaren von seiner gewohnten Politik in der schleswig-holsteinischen Frage; die Herzogtümer wurden 1864 mit zarischer Erlaubnis von Dänemark losgerissen. Dann kam der preußisch-österreichische Krieg 1866; hier freute sich der Zar wieder über die erneute Züchtigung Österreichs und die wachsende Macht Preußens, des allein treuen — selbst nach den Fußtritten von 1849/50 noch treuen Vasallen. Der Krieg von 1866 zog den Deutsch-Französischen Krieg 1870 nach sich, und wieder trat der Zar auf die Seite seines preußischen , Dja-dja Molodez'; er hielt Österreich direkt im Schach und beraubte so Frankreich des einzigen Bundesgenossen, der es vor vollständiger Niederlage retten konnte. Aber wie Louis Bonaparte 1866, so wurde Alexander 1870 geprellt dureh die raschen Erfolge der deutschen Waffen. Statt eines langwierigen, beide Kämpfer auf den Tod erschöpfenden Krieges erfolgten die raschen Schläge, die in fünf Wochen das bonapartistische Kaiserreich stürzten und seine Armeen nach Deutschland gefangenführten."
Engels sah durch den Krieg 1870/71 das deutsch-russische Verhältnis verändert. Die Deutschland erwachsende Gefahr beschrieb er mit der Feststellung: „Das neue Deutsche Reich tat Rußland den Gefallen, Elsaß-Lothringen von Frankreich loszureißen und damit in der Tat Frankreich in die Arme Rußlands zu jagen. Die zarische Diplomatie war nun in der beneidenswerten Lage, die beiden durch diese Losreißung auf den Tod verfeindeten Länder, Frankreich wie Deutschland, von Ruß-land abhängig zu wissen“
Durch Marx und Engels nachdrücklich auf den deutsch-französischen Krieg aufmerksam gemacht, untersuchte Lenin unter dem Eindruck des Weltkrieges 1915 dessen Charakter. Er begann seine Betrachtung mit der Feststellung, die große französische Revolution habe eine neue Epoche in der Geschichte der Menschheit eröffnet. Von dieser Zeit bis zur Pariser Kommune, von 1789 bis 1871 hätten die bürgerlich-fortschrittlichen nationalen Befreiungskriege einen besonderen Typus von Kriegen dargestellt. Er versicherte, daß im Deutsch-Französischen Krieg Frankreich durch Deutschland beraubt worden sei, betonte jedoch, daß dieser Umstand nichts an der grundlegenden historischen Bedeutung dieses Krieges ändere, der Dutzende Millionen Deutsche von feudaler Zersplitterung und von der Unterdrückung durch zwei Despoten, durch den russischen Zaren und Napoleon III., befreite. Unter Zurückweisung der Ansichten der russischen Sozialchauvinisten bemerkte er, daß Marx und Engels den Krieg in dem Augenblick entschieden verurteilt hätten, in dem sich dieser zur Beraubung Frankreichs ausgewachsen habe. Mit dieser Argumentation versuchte Lenin der 1915 weit verbreiteten Ansicht das Recht auf die „Berufung von Marx und Engels“ zu entziehen, die deutschen Sozialisten hätten im Falle eines Krieges mit Rußland und Frankreich zugleich ihr Vaterland zu verteidigen. Lenin erinnerte an Marx'Wort, daß „die Arbeiter kein Vaterland haben“, und verurteilte alle, die Marx verfälschten und die sozialistische Auffassung vom Kriege durch die bürgerlichen Anschauungen ersetzten
Lenin hatte eine große Vorliebe für das Zeitalter Bismarcks. Er gestand letzterem zu, in seiner Art, auf junkerliche Weise, eine historisch fortschrittliche Sache vollbracht zu haben und betonte: „Aber der wäre ein schöner . Marxist', der auf Grund dessen, die Unterstützung Biswarcks durch Sozialisten zu rechtfertigen gedächte. Dabei förderte Bismarc die ökonomische Entwicklung, indem er das zersplitterte Deutschland, das von fremden Nationen unterdrückt wurde, vereinigte. Der ökonomische Aufschwung und die rasche Entwicklung Groflrußlands aber erfordern die Befreiung des Landes von der Vergewaltigung anderer Nationen durdt die Großrussen“
„In ihrem schonungslosen, unerhört scharfen und ein allgemeines Geheul der Liberalen ... hervorrufenden Kampf gegen die Liberalen von 1848 waren Marx und die Marxisten bei weitem keine Menschen der , Schimäre', wenn sie den . Plan'eines großdeutschen dewokratisdten Staates verteidigten. Im Gegenteil, indem sie diesen . Plan'verteidigten und unentwegt propagierten, indem sie die Liberalen und Demokraten geißelten, die diesen Plan verraten hatten, erzogen Marx und die Marxisten eben jene Klasse, in der die lebendigen Kräfte des , neuen Deutschlands'liegen und die jetzt — dank der konsequenten, aufopferungsvollen und entschiedenen Propaganda von Marx — für ihre historische Rolle des Totengräbers nicht nur der Biswarckschen Bourgeoisie, sondern der Bourgeoisie überhaupt wohlgerüstet und geschult ist“
Lenin stieß in der Beschäftigung mit dem Bismarckschen Reich auch zu dessen Verfassung vor, über die er in seinen im Juli 1913 geschriebenen „Lehrreichen Reden“ sagte: „Noch einige Worte über eine rein geschichtliche Frage. Warum wurde in Deutschland gerade eine soldte Verfassung . möglich', die dem konterrevolutionären Liberalismus noch mehr als die französische gefällt? Nur deshalb — erzürnter, aber wenig einfallsreicher Herr Isgojew —, weil diese Verfassung den Bestrebungen Bismardis und der Liberalen entsprach, die Furcht hatten vor Freiheiten der Arbeiter, die Furcht hatten vor dem Streben der Arbeiter in den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren nach weitestgehender Demokratisierung Deutschlands. Die Arbeiter Deutschlands erwiesen sich damals als schwach. Daher konnten Bismarck und die preußischen Liberalen zur Hälfte siegen. Wären die Arbeiter Deutsdrlands stärker gewesen, hätte Bismarck zu einem Viertel gesiegt. Wären sie noch stärker gewesen, hätte Bismarck überhaupt nicht gesiegt. Deutschland hat Freiheiten erhalten, trotz Bismarcks, trotz der preußischen Liberalen, nur dank dem nachdrüddichen und hartnäckigen Streben der Arbeiterklasse (teilweise, aber zu sehr geringem Teil, der dewokratisdten Kleinbourgeoisie) nach weitestgehender Demokratisierung“
Auch auf Bismarcks Kulturkampf und seine Folgen ging Lenin in der Beschäftigung mit der zeitgenössischen Entwicklung Deutschlands ein. Er folgte dabei den Ansichten und der Argumentation Engels', der sich sowohl gegen die Zugeständnisse an den Idealismus, als auch gegen ein Verbot der Religion durch die sozialistische Gesellschaft ausgesprochen hatte. Lenin interpretierte dessen Auslassungen mit der Feststellung: „Engels verurteilte wiederholt die Versuche von Leuten, die , linker'oder . revolutionärer'sein wollten als die Sozialdemokratie, in das Programm der Arbeiterpartei ein direktes Bekenntnis zum Atheismus im Sinne einer Kriegserklärung an die Religion hineinzubringen. Im Jahre 1874, bei der Besprechung des berühmten Manisests der blanquistischen Kommune-Flüdttlinge, die als Emigranten in London lebten, behandelt Engels ihre lärmende Kriegserklärung an die Religion als eine Dummheit und erklärt, eine solche Kriegsansage sei das beste Mittel, das Interesse für die Religion zu beleben und das wirkliche Absterben der Religion zu erschweren. Engels wirft den Blanquisten vor, sie vermöchten nicht zu begreifen, daß nur der Klassenkampf der Arbeitermassen, der die breitesten Schichten des Proletariats allseitig in die bewußte und revolutionäre gesellschaftliche Praxis hineinzieht, imstande sei, tatsächlich die unterdrückten Massen vom Joch der Religion zu befreien,
14. Situation und Funktion der Arbeiterklasse im Zeitalter Bismarcks
In der 1872/73 erschienenen Broschüre „Zur Wohnungsfrage“ entwarf Engels ein Bild der ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnisse Deutschlands nach der Reichsgründung. Er sprach vom „Übergang Preußens zum Bonapartismus“, verursacht durch die Gleichgewichte zwischen Bourgeoisie und Proletariat, verneinte die Fähigkeit Preußens, die soziale oder auch nur eine Wohnungsfrage zu lösen und versicherte unter Hinweis auf die Verwendung der französischen Kriegsreparationszahlungen, daß die Arbeiter vom preußischen Staat nichts zu erwarten hätten. „Ist auch nur ein Taler dieser Milliarden verwendet worden“, fragt Engels, „um die auf die Straße geworfenen Berliner Arbeiterfamilien unter Dach zu bringen? Im Gegenteil. Als der Herbst herangekommen, ließ der Staat selbst die paar elenden Baracken einreißen, die ihnen im Sommer als Notdach gedient hatten. Die fünf Milliarden gehen flott den Weg alles Fleisches, in Festungen, Kanonen und Soldaten“
Marx hatte sich bereits auf der im September 1871 vor der Internationalen Arbeiterassoziation gehaltenen Rede mit der Situation der Arbeiterklasse in Deutschland befaßt. Er betonte, daß während des Krieges 1870/71 die Haltung der deutschen Arbeiter über alles Lob erhaben gewesen sei. Er erinnerte daran, daß das ganze Braunschweiger Arbeiterkomitee verhaftet und auf eine Festung nahe der russischen Grenze gebracht worden sei. Auch gab er zu bedenken, daß die Arbeiter während der „Kommune" in Versammlungen ihre Solidarität mit den Pariser Revolutionären bekundet hätten. Beim feierlichen Siegeseinzug Kaiser Wilhelms und seines Heeres in Berlin, sei der Ruf „Es lebe die Kommune“ erklungen
In der mit dem 1. Juli 1874 datierten Vorbemerkung zur dritten Auflage seines „Deutschen Bauernkrieges" erläuterte Engels die Aufgabe der deutschen Arbeiter. Er beschrieb die durch die Entscheidungen von Königgrätz-Sadowa und Versailles ausgelösten wirtschaftlichen Entwicklungen: „Für den zukünftigen Geschichtsschreiber wird in der Geschickte Deutschlands von 1869 bis 1874 der Schlachtendonner von Spichern, Mars-la-Tour und Sedan, und was daranhängt, weit weniger Bedeutung haben als die anspruchslose, ruhig, aber stetig fortschreitende Entwicklung des deutschen Proletariats. Gleich 1870 trat eine schwere Prüfung an die deutschen Arbeiter heran: die bonapartistische Kriegsprovokation und ihre natürliche Wirkung: der allgemeine nationale Enthusiasmus in Deutschland. Die deutschen sozialistischen Arbeiter ließen sich keinen Augenblick irremachen. Nicht eine Regung von nationalem Chauvinismus trat bei ihnen hervor. Mitten im tollsten Siegestaumel blieben sie kalt, verlangten , einen billigen Frieden mit der französischen Republik und keine Annexionen , und selbst der Belagerungszustand konnte sie nicht zum Schweigen bringen. Kein Schlachtenruhm, kein Gerede von deutscher , Reichsherrlichkeit‘ zog bei ihnen; ihr einziges Ziel blieb die Befreiung des gesamten europäischen Proletariats. Man darf wohl sagen: einer so sdtweren, so glänzend bestandenen Probe sind die Arbeiter keines andern Landes bisher unterworfen worden.“ Mit sichtlichem Stolz berichtete er über die Verfolgung der deutschen Arbeiterbewegung im und vor allem nach dem Kriege 1870/71. Er freute sich darüber, daß die deutschen Arbeiter den Kampf vorwiegend mit Humor führten, da dieser dem Westen Beweis sei, wie sehr sie ihrer Sache sicher und ihrer Überlegenheit sich bewußt seien. In den Wahlen zum Reichstag vom Januar 1874 sah Engels eine Bestätigung seiner hochgespannten Erwartungen, die sich unvermindert auf die deutsche Arbeiterbewegung richteten. Unter den zahlreichen Auslassungen, die er über die wegbahnende Aufgabe des deutschen Proletariats machte, nehmen seine anschließend gemachten Feststellungen einen überragenden Platz ein: „Die deutschen Arbeiter haben vor denen des übrigen Europas zwei wesentliche Vorteile voraus. Erstens, daß sie dem theoretischsten Volk Europas angehören und daß sie sich den theoretischen Sinn bewahrt haben, der den sogenannten , Gebildeten Deutschlands so gänzlich abhanden gekommen ist. Ohne Vorausgang der deutschen Philosophie, namentlich Hegels, wäre der deutsche wissenschaftliche Sozialismus — der einzige wissenschaftliche Sozialismus, der je existiert hat — nie zustande gekommen. Ohne theoretischen Sinn unter den Arbeitern wäre dieser wissenschaftliche Sozialismus nie so sehr in ihr Fleisch und Blut übergegangen, wie dies der Fall ist. Und welch ein unermeßlicher Vorzug dies ist, zeigt sich einerseits an der Gleichgültigkeit gegen alle Theorie, die eine der Hauptursachen ist, weshalb die englische Arbeiterbewegung, trotz aller ausgezeichneten Organisation der einzelnen Gewerke, so langsam vom Flecke kommt, und andererseits an dem Unfug und der Verwirrung, die der Proudhonismus in seiner ursprünglichen Gestalt bei Franzosen und Belgiern, in seiner durch Bakunin weiter karikierten Form bei Spaniern und Italienern angerichtet hat. Der zweite Vorteil ist der, daß die Deutschen in der Arbeiterbewegung der Zeit nach ziemlich zuletzt gekommen sind. Wie der deutsdie theoretische Sozialismus nie vergessen wird, daß er auf den Schultern Saint-Simons, Fouriers und Owens steht, dreier Männer, die bei aller Phantasterei und bei allem Utopismus zu den bedeutendsten Köpfen aller Zeiten gehören und zahllose Dinge genial antizipierten, deren Richtigkeit wir jetzt wissenschaftlid-t nachweisen — so darf die deutsche praktische Arbeiterbewegung nie vergessen, daß sie auf den Schultern der englischen und französischen Bewegung sich entwickelt hat, ihre teuer erkauften Erfahrungen sich einfach zunutze machen, ihre damals meist unvermeidlichen Fehler jetzt vermeiden konnte. Ohne den Vorgang der englischen Trade-Unions und der französischen politisdten Arbeiterkämpfe, ohne den riesenhaften Anstoß, den namentlich die Pariser Kommune gegeben, wo wären wir jetzt?“. Engels sprach am Ende der siegesgestimmten Betrachtung den Wunsch aus, daß die deutsche Arbeiterklasse nicht nur einen Wahlkreis nach dem andern dem Feind entreiße, sondern auch den echt internationalen Sinn bewahre, der keinen patriotischen Chauvinismus aufkommen lasse und der jeden neuen Schritt in der proletarischen Bewegung mit Freuden begrüße, einerlei von welcher Nation er ausgehe. Er erklärte: „Wenn die deutsdien Arbeiter so vorangehen, so werden sie nidit gerade an der Spitze der Bewegung marschieren — es ist gar nicht im Interesse dieser Bewegung, daß die Arbeiter irgendeiner einzelnen Nation an ihrer Spitze marschieren —, aber doch einen ehrenvollen Platz in der Schlachtlinie einnehmen; und sie werden gerüstet dastehen, wenn entweder unerwartet schwere Prüfungen oder gewaltige Ereignisse von ihnen erhöhten Mut, erhöhte Entschlossenheit und Tatkraft erheischen“
Marx beschäftigte sich im Nachwort zur zweiten Auflage seiner Broschüre „Enthüllungen über den Kommunistenprozeß in Köln“ mit der Haltung Bismarcks gegenüber der Arbeiterpartei und erklärt, dieser habe sich stark genug gewähnt, die Arbeiterpartei aus der Welt Stiebern zu können. Er beschloß seine rückschauenden Überlegungen mit einem Hinweis auf die Preußens militärischen Ruhm begrabende Schlacht von Jena und Auerstedt
So hochgestimmt diese Erwartungen waren, sie konnten die aufkommenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Marx/Engels und der ihnen entsprechenden Arbeiterbewegung in Deutschland weder verhindern noch überbrücken. Bekanntlich flossen 1875 die beiden Ströme der deutschen Arbeiterbewegung ineinander, „Lassalleaner" und „Eisenacher“ vereinigten sich
Der Kritik an der Entwicklung der deutschen Arbeiterpartei trat auch Engels bei, der am 11. Januar 1878 an Johann Philipp Becker schrieb: „Auch in Deutschland sind große Fehler begangen worden, besonders das — ganz im bakunistischen Geist gehaltene — Auftreten gegenüber der französischen Krisis. Und doch hat sich wieder bei dieser Gelegenheit gezeigt, wieviel weiter Frankreich in der Praxis ist als wir. So lausig die Lösung bis jetzt auch ist, so ist es doch das erstemal, daß dort etwas ohne gewaltsamen Umschwung durchgesetzt ist — und Gewalt, so bald nach dem Blutbad von 1871, konnte dort nur zu neuer Unterdrückung und neuem Bonapartismus führen. So aber ist alle Aussicht da, daß die Arbeiter sich in kurzem Pressefreiheit, Vereins-und Versammlungsrecht und die übrigen Mittel zur Organisation und zum Kampf erobern, und das ist zunächst alles, was sie brauchen . . . Ein fernerer großer Fehler in Deutschland ist, daß man dem Studenten und sonstigen unwissenden . Gelehrten erlaubt, als wissenschaftliche Repräsentanten der Partei den größten Blödsinn massenhaft in die Welt zu schieben. Das ist indes eine Kinderkrankheit, die überstanden sein will, und gerade um sie abzukürzen, habe ich an dem Dühring so ausführlich ein Exempel statuiert“
Engels wurde nicht müde, zu betonen, daß Deutschlands industrielle Entwicklung noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hat. Er griff Bemerkungen Brakes über eine Reichseisenbahn und über das Tabak-monopol auf, indem er erläuterte, alle Übertragung industrieller und kommerzieller Funktionen an den Staat könne einen doppelten Sinn und doppelte Wirkung haben, je nach den Umständen. Einen reaktionären, einen Rückschritt zum Mittelalter und einen progressiven, einen Fortschritt zum Kommunismus. Engels fuhr fort: „Wir sind aber in Deutschland erst eben aus dem Mittelalter heraus-gekrochen und stehn erst in diesem Augenblick im Begriff, vermittelst der großen Industrie und des Krachs in die moderne bürgerliche
Gesellschaft einzutreten. Was bei uns der höchstmöglichen Entwicklung bedarf, ist grade das bürgerliche wirtschaftliche Regime, das die Kapitale konzentriert und die Gegensätze auf die Spitze treibt, namentlich im Nordosten. Die ökonomische Auflösung der feudalen Zustände östlich der Elbe ist nach meiner Ansicht für uns der notwendigste Fortschritt. Daneben die Auflösung des Kleinbetriebs in der Industrie und dem Handwerk im ganzen Deutschland und ihre Ersetzung durch die große Industrie. Und das ist am Ende die einzige gute Seite am Tabak-monopol, daß es mit einem Schlage eine der infamsten Hausindustrien in große Industrie verwandeln würde. Dagegen würden aber auch die Staatstabakarbeiter sofort unter Ausnahmegesetze gestellt, der Koalitions-und Streikfreiheit beraubt werden, was noch schlimmer wäre. Reichseisenbahnen und Tabakmonopol sind bei uns nicht mit Notwendigkeit Staatsindustrien — die Eisenbahnen wenigstens noch nicht, sie werden es erst jetzt in England; Post und Telegraf dagegen sind es“
Am 1. Juli 1879 setzte sich Engels mit der politischen Entwicklung-in Deutschland auseinander, wobei er Liebknechts Sanftmut im Reichstag tadelte
Nach dem Erlaß des Sozialistengesetzes (21. Oktober 1878) traten Marx und Engels mit den emigrierten Führern der deutschen Sozialdemokratie in eine heftige Auseinandersetzung über politische und ideologische Fragen ein. Sie übten in einem „Zirkularbrief“ an den im Höchbergschen „Jahrbuch" veröffentlichten „, R ückblickeaufdie sozialistische Bewegung in Deutschland" leidenschaftliche Kritik. Sie wandten sich gegen die Bewertung des Klassenkampfes und gegen die Auffassung, die Arbeiterklasse bedürfe der Leitung der gebildeten und besitzenden Bourgeoisie. Auch verdammten sie die kleinbürgerlichen Vorstellungen, die in dem kritisierten Aufsatz vertreten wurden. Von dessen Verfassern sagten sie: „Jene Herren aber, wie nachgewiesen, stecken über und über voll bürgerlicher und kleinbürgerlicher Vorstellungen“. Sie fuhren dann fort: „In einem so kleinbürgerlichen Land wie Deutschland haben diese Vorstellungen sicher ihre Berechtigung. Aber nur außerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Wenn die Herren sidt als sozialdemokratische Kleinbürgerpartei konstituieren, so sind sie in ihrem vollen Recht; man könnte dann mit ihnen verhandeln, je nach Umständen Kartell schließen etc. Aber in einer Arbeiterpartei sind sie ein fälschendes Element. Sind Gründe da, sie vorderhand darin zu dulden, so besteht die Verpflichtung, sie nur zu dulden, ihnen keinen Einfluß auf Parteileitung zu gestatten, sich bewußt zu bleiben, daß der Broich mit ihnen nur eine Frage der Zeit ist. Diese Zeit scheint übrigens gekommen. Wie die Partei die Verfasser dieses Artikels noch länger in ihrer Mitte dulden kann, erscheint uns unbegreiflich. Gerät aber solchen Leuten gar die Parteileitung mehr oder weniger in die Hand, so wird die Partei einfaclt entmannt, und mit der proletarischen Schneid ist's am End. Was uns betrifft, so steht uns nadt unserer ganzen Vergangenheit nur ein Weg offen. Wir haben seit fast 40 Jahren den Klassenkampf als nächste treibende Macht der Gesdrichte, und speziell den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat als den großen Hebel der modernen sozialen Umwälzung hervorgehoben; wir können also unmöglich mit Leuten zusammengehn, die diesen Klassenkampf aus der Bewegung streichen wollen. Wir haben bei Gründung der Internationalen ausdrücklidt den Schlachtruf formuliert. Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiterklasse selbst sein. Wir können also nicht zusammengehn mit-Leuten, die es offen ausspredren, daß die Arbeiter zu ungebildet sind, sich selbst zu befreien, und erst von oben herab befreit werden müssen durdt philanthropisdte Groß-und Kleinbürger“
In einem im März 1880 veröffentlichten Aufsatz attackierte Engels den „Sozialismus“ Bismarcks. Er wies darauf hin, daß Deutschland bis 1848 keine eigentliche Großindustrie besessen habe. Erst nach 1871 habe Deutschlands Industrie einen bemerkenswerten Aufschwung genommen; sie habe, da sie zuletzt auf dem Weltmarkt erschien, mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt. Bismarck habe mit der ihm eigenen Eigenwilligkeit auf diese Entwicklung Einfluß genommen und damit eine Wirtschaftspolitik eingeleitet, deren Ergebnis unschwer zu erraten sei. Engels schloß seine Betrachtung mit der Feststellung: „Das deutsdie Kaiserreich ist ebenso vollständig unter dem Joch der Börse wie das französische Kaiserreich zu seinen Lebzeiten. Die Börsianer bereiten die Projekte vor, welche — zugunsten ihres Geldbeutels — von der Regierung ausgeführt werden müssen. Dabei haben sie in Deutschland noch einen Vorteil, der dem bonapartistischen Kaiserreich fehlte: Wenn die Reichsregierung auf Widerstände von seifen der kleinen Fürsten stößt, verwandelt sie sich in die preußische Regierung, die bestimmt keinen Widerstand in ihren Kammern finden wird, die ja wahre Filialen der Börse sind“
Im Jahre 1881 befaßte sich Engels in einem in England erschienenen Aufsatz mit dem Verhältnis Bismarcks zur deutschen Arbeiterbewegung. Er gab zu bedenken, daß diese aus jeder allgemeinen Wahl mit gewachsenen Stimmenzahlen hervorgegangen sei. Das Sozialistengesetz habe diese Entwicklung nicht aufgehalten, sondern im Gegenteil, das Volk erbittert. Leute, denen alle legalen Möglichkeiten, sich geltend zu machen, abgeschnitten sind, werden eines Tages zu illegalen Mitteln greifen; niemand kann ihnen daraus einen Vorwurf machen. Lenin und Stalin haben sich sowohl mit der inneren als auch mit der äußeren Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung beschäftigt
Lenin nahm die deutsche Entwicklung nach 1871 zum Anlaß einer Betrachtung der beiden Methoden des Kampfes der Bourgeoisie. Er wies darauf hin, daß eine außerordentlich wichtige Ursache unter den Mitgliedern der Arbeiterbewegung Differenzen erzeugt habe, nämlich die Veränderungen in der Taktik der herrschenden Klassen im allgemeinen und der Bourgeoisie im besonderen. Er betonte, daß die Taktik der Bourgeoisie nicht immer gleichförmig oder gleichartig sei. Wäre sie dieser Art, würde die Arbeiterklasse rasch lernen, sie mit einer entsprechenden gleichförmigen oder gleichartigen Taktik zu beantworten. Er sagte im Anschluß: „In Wirklichkeit bildet die Bourgeoisie in allen Ländern unvermeidlich zwei Systeme des Regierens heraus, zwei Methoden des Kampfes für ihre Interessen und für die Verteidigung ihrer Herrschaft, wobei diese beiden Methoden bald einander ablösen, bald sich miteinander in verschiedenartigen Kombinationen verflechten. Die erste Methode ist die Methode der Gewalt, die Methode der Verweigerung aller Zugeständnisse an die Arbeiterbewegung, die Methode der Unterstützung aller alten und überlebten Institutionen, die Method» der unversöhnlichen Ablehnung von Reformen. Darin besteht das Wesen der konservativen Politik, die in Westeuropa immer mehr aufhört, die Politik der Grundbesitzerklassen zu sein, die immer mehr zu einer der Spielarten der allgemeinen bürgerlichen Politik wird. Die zweite Methode ist die Methode des . Liberalismus', der Schritte in der Richtung auf die Entfaltung politischer Rechte, in der Richtung puf Reformen, Zugeständnisse usw.“ Als Beispiel für die liberale Methode der Bourgeoisie führte Lenin England, als Beispiel der Methode der Gewalt Deutschland des Zeitalters Bismarcks an. Bei dessen Beurteilung erklärte er: „Als diese Methode in Deutschland herrschte, war der einseitige Widerhall dieses einen der Systeme des Regierens der Bourgeoisie das Anwachsen des Anarchosyndikalismus oder, wie es damals hieß, des Anarchismus in der Arbeiterbewegung (die Jungen zu Beginn der neunziger, Johann Most zu Beginn der achtziger Jahre)“
Stalin nahm in seinem, auf dem VII. erweiterten Plenum des F. KKI am 7. Dezember 1926 gehaltenen Referat „Noch einmal über die sozialdemokratische Abweichung in u ns e r e r P a r t ei “ auf die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung Bezug und erläuterte daran die Behauptung, daß die Überwindung der innerparteilichen Meinungsverschiedenheiten auf dem Wege des Kampfes ein Entwicklungsgesetz unserer, d. h.der Kommunistischen Partei sei. Er verwarf die Ansicht, dieses Gesetz gelte nur für die KPdSU, dieses Gesetz sei ein Entwicklungsgesetz für alle einigermaßen große Parteien, ganz gleich, ob es sich um die proletarische Partei der UdSSR oder um die proletarischen Parteien des Westens handelt. Stalin fuhr, diese unerläßlichen Parteikämpfe ansprechend,. fort: „Ich möchte mich hier auf die Autorität von Engels berufen, der zusammen mit Marx jahrzehntelang die proletarischen Parteien im Westen leitete. Es handelt sich um die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als in Deutscldand das Ausnahmegesetz gegen die Sozialisten herrschte, als Marx und Engels in London in der Emigration lebten und das illegale Auslands-organ der deutschen Sozialdemokratie , Der Sozialdemokrat'faktisch die Arbeit der deutsdteit Sozialdemokratie leitete. Bernstein war damals ein revolutionärer Marxist (er war noch nidtt zu den Reformisten hinübergewechselt), und Engels stand mit ihm in regem Briefwechsel über die aktuellsten Fragen der Politik der deutschen Sozialdemokratie. Folgendes sdtrieb er damals an Bernstein (1882): , Es sdteint, jede Arbeiterpartei eines großen Landes kann sidt nur in innerm Kampf entwickeln, wie das in dialektischen Entwicklungsgesetzen überhaupt begründet ist. Die deutsdie Partei wurde, was sie ist, im Kampf der Eisenacher und Lassalleaner, wo ja die Keilerei selbst eine Hauptrolle spielte. Einigung wurde erst möglich, als die von Lassalle absichtlich als Werkzeug gezüdttete Lumpenbande sich abgearbeitet hatte — und auch da gesdtah sie unserseits mit viel zu großer Übereilung. In Frankreidt müssen die Leute, die zwar die bakunistische Theorie geopfert, aber die bakunistischen Kampfmittel fortführen und gleidtzeitig den Klassencharakter der Bewegung ihren Sonderzwecken opfern wollen, sidt audt erst abarbeiten, ehe wieder Einigung möglich. Unter soldten Umständen Einigung predigen wollen, wäre reine Torheit. Mit Moral-predigten ridttet man nidtts aus gegen Kinderkrankheiten, die unter heutigen Umständen nun einmal durchgemacht werden müssen; (Siehe Archiv K. Marx und F. Engels, Bd. I, S. 324/325
Denn, wie Engels an anderer Stelle sagt (1885): , Die Gegensätze werden nie auf die Dauer vertuscht, sondern stets ausgefodtten.'(Ebenda, S. 371)
Im Vorwort zur Broschüre „Karl Marx vor den Kölner Geschworenen, Prozeß gegen den Ausschuß der rheinischen Demokraten wegen Aufrufs zum bewaffneten Widerstand (9. Februar 1349)“ untersuchte Engels die an die deutsche Arbeiterbewegung gerichtete Zumutung, ihre revolutionäre Natur abzulegen. Die „offiziellen“ Parteien warfen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei vor, sie sei eine revolutionäre Partei, sie wolle den Rechtsboden, der 1866 und 1871 geschaffen wurde, nicht anerkennen. Engels erwiderte mit der Bemerkung, daß der Rechtsboden von 1866 ein revolutionärer Boden sei.
Bismarck habe die Bundesverfassung gebrochen und den Bundesgenossen den Krieg erklärt. Wenn die Krone Preußens versuche, ihre Gegner mit dem Donnerwort „revolutionär“ niederzuschmettern, so könne sie damit höchstens Philister schrecken, denn es halle ihr aus ganz Europa entgegen „selbst revolutionär". Er urteilte in diesem Zusammenhang scharf über die politische Situation in Deutschland: „Grundkomisch aber wird die Zumutung, man solle die aus den geschichtlichen Verhältnissen unumgänglich folgende revolutionäre Natur ablegen, wenn sie an eine Partei geridttet wird, die man erst außerhalb des gemeinen Rechts, das heißt außerhalb des Gesetzes stellt und von der man dann verlangt, sie solle den Rechtsboden anerkennen, den man grade für sie abgeschafft hat. Daß man über so etwas nur ein Wort zu verlieren hat, beweist wieder den politisdt zurückgebliebenen Zustand Deutschlands. In der übrigen Welt weiß jedermann, daß die gesamten gegenwärtigen politisdten Zustände das Ergebnis von lauter Revolutionen sind.“ Engels hielt die Gelegenheit günstig, sich seine Verachtung und seinen Haß über den deutschen Spießbürger von der Seele zu schreiben. Er gab dabei einen höchst eigenwilligen und wohlbedachten Überblick über die verfassungsgeschichtliche Entwicklung Deutschlands, wobei er die Absicht verfolgte, das revolutionäre Verhalten Preußens deutlich zu machen. Engels erklärte: „Aber der deutsche Spießbürger — und seine Meinung ist noch immer die öffentliche Meinung Deutschlands — ist ein eigner Mann. Er hat nie eine Revolution gemacht. Die von 1848 machten die 'Arbeiter für ihn — zu seinem Entsetzen. Dafür hat er um so mehr Revolutionen erlitten. Denn wer in Deutsddand seit dreihundert Jahren 'die Revolutionen machte — sie waren audt danach —, das waren die Fürsten. Ihre ganze Landeshoheit und endlich ihre Souveränität war die Frucht von Rebellionen gegen den Kaiser. Preußen ging ihnen mit gutem Beispiel voran. Preußen konnte erst ein Königreidt werden, nachdem der . große Kurfürst'gegen seinen Lehnsherrn, die Krone Polen, eine erfolgreiche Rebellion durdtgeführt und so das Herzogtum Preußen von Polen unabhängig gemacht hatte. Seit Friedrich II. wurde die Rebellion Preußens gegen das deutsdie Reich in ein System gebradtt; er . pfiff auf die Reichsverfassung noch ganz anders als unser braver Bracke auf das Sozialistengesetz. Dann kam die Französische Revolution, und sie wurde von den Fürsten wie von den Spießbürgern unter Tränen und Seufzern erlitten. Das deutsche Reich wurde im Reichsdeputationshauptsdtluß 1803 von Franzosen und Russen hödrst revolutionär unter die deutschen Fürsten verteilt, weil diese selbst über die Teilung sich nicht einigen konnten. Dann kam Napoleon und erlaubte seinen ganz besonderen Schützlingen, den Fürsten von Baden, Bayern und Württemberg, sich aller innerhalb und zwischen ihren Gebieten liegenden reichsunmittelbaren Grafschaften, Baronien und Städte zu bemächtigen. Gleich darauf machten dieselben drei Hochverräter die letzte erfolgreiche Rebellion gegen ihren Kaiser, machten sich mit Napoleons Hilfe souverän und sprengten damit endgültig das alte deutsche Reich. Seitdem verteilte der faktische deutsche Kaiser, Napoleon, Deutschland ungefähr alle drei Jahre wieder neu unter seine getreuen Knechte, die deutschen Fürsten und andere. Endlich kam die glorreiche Befreiung von der Fremdherrschaft, und zum Lohne wurde Deutschland vom Wiener Kongreß, das heißt von Rußland, Frankreich und England, als allgemeines Entschädigungsgebiet für heruntergekommene Fürsten verteilt und verschachert, und die deutschen Spießbürger wie soviel Hämmel in ungefähr 2000 abgesonderten Gebietsfetzen den verschiedenen sechsunddreißig Landesvätern zugewiesen, vor deren Mehrzahl sie noch heute als vor ihren angestammten Landesvätern . untertänigst ersterben'. Alles das soll nicht revolutionär gewesen sein — wie recht hatte doch Schnapphahnski-Lichnowsky, als er im Frankfurter Parlament ausrief: Das historische Recht hat keinen Datum nicht! Es hatte nämlich nie einen gehabt!“.
Engels schloß seine Betrachtung mit einer Zurückweisung der Aufforderung, die Deutsche Arbeiterpartei möge ihren revolutionären Charakter ablegen: „Und wenn die durch Konterrevolution und Revolution zur Macht gekommene Regierung dieselbe Zumutung stellt, so heißt das nur, daß die Revolution gut ist, solange sie von Bismarck für Bismarck und Konsorten gemacht wird, aber verwerflich, wenn sie gegen Bismarck und Konsorten gemacht wird“
Im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Broschüre „Zur Wohnungsfrage'ging Engels auf die Lage der Hausindustrie in Deutschland ein. Er wiederholte.seine These, daß in weiten Gebieten Deutschlands noch ein industrieller Zustand herrsche, der auf den ersten Blick der Situation gleiche, wie sie vor Einführung der Maschinenindustrie allgemein war und erinnerte daran, daß nach dem Dreißigjährigen Krieg als einzige deutsche Industrie die Textilindustrie für den Weltmarkt gearbeitet habe. Diese sei durch Steuern und Feudallasten so niedergedrückt worden, daß sie die webenden Bauern nicht über das sehr niedrige Niveau der übrigen Bauernschaft erhoben habe. Engels sagte im Anschluß daran: „Mit der Einführung der Maschinerie änderte sich das alles. Der Preis wurde nun bestimmt durch das Maschinen-produkt, und der Lohn des hausindustriellen Arbeiters fiel mit diesem Preise. Aber der Arbeiter mußte ihn nehmen oder andre Arbeit suchen, und das konnte er nicht, ohne Proletarier zu werden, d. h. ohne sein Häuschen, Gärtchen und Feldchen — eigen oder gepachtet — aufzugeben.
Und das wollte er nur im seltensten Fall. So wurde der Garten-und Feldbau der alten ländlichen Handweber die Ursache, kraft deren der Kampf des Handwebstuhls gegen den mechanischen Webstuhl sidt überall so sehr in die Länge zog und in Deutsddand noch nidtt ausgefochten ist . Engels würdigte die deutsche Hausindustrie, die er als die breite Grundlage des deutschen Ausfuhrhandels und damit der ganzen Großindustrie Deutschlands bezeichnete. Durch diesen Vorgang werde eine Bauerngegend nach der andern in die industrielle Bewegung der Gegenwart hineingerissen. Er erklärte auch, warum in Deutschland im Gegensatz zu England und Frankreich die revolutionäre Arbeiterbewegung eine Verbreitung über den größten Teil des Landes gesunden habe; in anderen Ländern sei sie ausschließlich an städtische Zentren gebunden. Ihre große Streuung berechtigte, einen ruhigen, sicheren und unaufhaltsamen Fortschritt der Bewegung zu erwarten: „In Deutschland leuditet es von selbst ein, daß eine siegreidte Erhebung in der Hauptstadt und den anderen großen Städten erst dann möglich wird, wenn audt die Mehrzahl der kleinen Städte und ein großer Teil der ländlichen Bezirke für den Umschwung reif geworden ist. Wir können, bei einigermaßen normaler Entwicklung, nie in den Fall kommen, Arbeitersiege zu erfechten wie die Pariser von 1848 und 1871, aber eben deshalb auch nicht Niederlagen der revolutionären Hauptstadt durch die reaktionäre Provinz erleiden, wie Paris sie in beiden Fällen erlitt. In Frankreich ging die Bewegung stets von der Hauptstadt aus, in Deutschland von den Bezirken der großen Industrie, der Manufaktur und der Haus-industrie; die Hauptstadt wurde erst später erobert. Daher wird vielleicht auch in Zukunft die Rolle der Initiative den Franzosen vorbehalten bleiben; aber die Entscheidung kann nur in Deutschland ausgekämpft werden“
Auch bei anderer Gelegenheit brachte Engels seine Auffassung von der besonderen Eignung Deutschlands für die Entfaltung und Durchsetzung des Sozialismus zum Ausdruck. Diesen bringe am meisten die zurückgebliebene industrielle Lage Deutschlands voran. In England und Frankreich sei der Übergang zur großen Industrie beinahe beendet. Die Verhältnisse, in denen sich das Proletariat befindet, seien schon stabil geworden. Die bürgerlich-kapitalistische Entwicklung habe sich stärker erwiesen als der revolutionäre Gegendruck. In Deutschland datiere die große Industrie erst von 1848 an. Die industrielle Umwälzung gehe noch immer vor sich, und zwar unter den ungünstigsten Bedingungen. Deutschland werde deshalb viel gründlicher revolutioniert als England oder Frankreich. Engels betonte: „Diese gesellschaftliche Revolution, die schließlich auf Enteignung des kleinen Bauern und Handwerkers hinausläuft, vollzieht sich aber zu einer Zeit, wo es grade einem Deutschen, Marx, vergönnt war, die Resultate der englischen und französischen praktischen und theoretischen Entwicklungsgeschichte theoretisch zu verarbeiten, die ganze Natur und damit das geschichtliche Endschicksal der kapitalistischen Produktion klarzulegen und damit dem deutschen Proletariat ein Programm zu geben, wie es die Engländer und Franzosen, seine Vorgänger, nie besessen. Gründlichere Umwälzung der Gesellschaft einerseits, größere Klarheit in den Köpfen andererseits — das ist das Geheimnis des unaufhaltsamen Fortschritts der deutschen Arbeiterbewegung. .
Wenige Tage nach Abfassung dieses Briefes entwickelte Engels gegenüber Bebel seine Ansichten über den politischen Zustand Europas, den er das Ergebnis von Revolutionen nannte. Der Rechtsboden, das historische Recht und die Legitimität, sei überall tausendmal durchlöchert oder ganz umgestoßen worden. In Deutschland beruhe der bestehende Zustand auf der Revolution, die 1848 begann und 1866 endete: „Das deutsch-preußische Reich, als Vollendung des durch 1866 gewaltsam geschaffenen Norddeutschen Bundes, ist eine durchaus revolutionäre Schöpfung. Ich beklage mich nicht darüber. Was ich den Leuten vorwerfe, die es gemacht haben, ist, daß sie nur armselige Revolutionäre waren, nicht viel weitergingen und nicht gleich ganz Deutschland an Preußen annexierten. Aber wer mit Blut und Eisen operiert, ganze Staaten verschluckt, Throne umstürzt und Privateigentum konfisziert, der soll nicht andere Leute als Revolutionäre verdammen. Wenn die Partei nur das Recht behält, nicht mehr und nicht minder revolutionär zu sein, als die Reichsregierung gewesen, so hat sie alles, was sie braucht. Vor kurzem hieß es offiziös: Die Reichsverfassung sei kein Vertrag der Fürsten mit dem Volk, sie sei nur einer zwischen den Fürsten und Freien Städten, die ihn jederzeit durch einen neuen ersetzen könnten. Die Regierungsorgane, die dies lehrten, verlangten also für die Regierungen das Recht, die Reichsverfassung umzustoßen. Man hat kein Ausnahmegesetz gegen sie gemacht, sie nidtt verfolgt. Nun gut, mehr verlangen wir auch nicht für uns im alleräußersten Fall, als hier für die Regierungen verlangt wird“. Engels beschloß seinen Brief an Bebel mit einer eindringlichen Warnung vor Konzessionen an die Gegner der Sozialisten. Letztere hätten sich nur durch einen trotzigen Widerstand in Respekt gesetzt und seien dadurch eine Macht geworden. Er zählte zu den deutschen Sozialisten, weshalb er mahnend sagte: „Das deutsche Proletariat ist eine mächtige Partei geworden, mögen seine Repräsentanten seiner würdig sein.“
Doch war Engels mit der Entwicklung der Sozialdemokratie vornehmlich in Deutschland nicht zufrieden. Er empfand Unbehagen sowohl über Deutschland, als auch über die sozialistische Bewegung. Am 15. Juni 1885 schrieb er an Johann Philipp Becker: „In einem Spießbürgerland wie Deutschland muß die Partei auch einen spießbürgerlich . gebildeten rechten Flügel haben, den sie im entscheidenden Moment abschüttelt. Der Spießbürger-Sozialismus datiert von 1844 in Deutschland und ist schon im . Kommunistischen Manifest'kritisiert. Er ist so unsterblich wie der deutsche Spießbürger selbst. Solange das Sozialistengesetz dauert, bin ich nidtt dafür, daß wir die Spaltung provozieren, da die Waffen nicht gleich sind. Sollten aber die Herren die Spaltung selbst hervorrufen, indem sie den proletarischen Charakter der Partei unterdrücken und durch eine knotig-ästhetisch-sentimentale Philanthropie ohne Kraft und Saft ersetzen wollen, so müssen wir's eben nehmen, wie es kommt.“
Den Tod Kaiser Wilhelms 1. (9. März 1888) betrachtete Engels als eine Wende der deutschen Politik. Mit dem Kaiser der Reichsgründung sei der Schlußstein des Gebäudes ausgebrochen, die Wackelei mache sich stark fühlbar. Die innere Politik zeige ein krampfhaftes Anklammern Bismarcks & Co. an ihre Stellung. Die Sozialisten macht er darauf aufmerksam, daß ihre Stellung nicht gleich geblieben sei, sondern sich verschlimmert habe. Unter Hinweis auf die Erkrankung des neuen Kaisers vertrat er die Meinung, daß es sich bei dessen Regierung nur um ein Interregnum handle, „mit sehnsüchtiger Hoffnung des Bismarcks auf Fritzens Abfahrt und des neuen Wilhelms Einfahrt.“ Über die Lage nach der Thronbesteigung des Kronprinzen Wilhelm, des nachmaligen Kaisers Wilhelm II., sagte Engels: „Dann aber ist es (erst) recht nidtt mehr beim alten. Dann wird's toll. Unser Bonapartismus ist jetzt etwa bei seiner mexikanischen Periode angekommen. Wenn der kommt, so kommt unser 1866 und bald 1870, das heißt vom Innern, ein inneres Sedan. Meinetwegen!“
Im Februar 1890 befaßte sich Engels in einem Brief an Bebel mit den sozialpolitischen Erlassen Wilhelms II, den er spöttisch stets „JungWilhelm“ nannte. Er sah darin die Zeichen einer neuen Entwicklung in Deutschland und erwartete eine Kollision zwischen dem Herrscher-willen des jungen Kaisers und dem scheinbar stabilen Regierungssystem Bismarcks. Engels konnte sich nicht versagen, über Wilhelm II. beißenden Spott auszugießen. „Der Ainu« ist uns“, so versicherte er, „zweimal sein Gewicht in Gold wert, der braucht sich vor Attentaten nicht zu fürchten, den zu erschießen wäre nicht nur ein Verbredten, sondern eine riesige Dummheit. Im Notfall sollten wir ihm eine Garde stellen, gegen anardtistische Eseleien". Engels äußerte in diesem Zusammenhang, daß Bismarcks Gepflogenheit, an die Furcht des Philisters vor der drohenden Arbeiterbewegung zu appellieren, wirkungslos geworden sei. Die Morgenröte des sozialistischen Sieges sah er bevorstehend, mahnte jedoch gleichzeitig zu Zurückhaltung, da zunächst eine allgemeine Verwirrung entstehe: „Was aus dieser Konfusion wird, ist bei der Feigheit unserer Bourgeoisie nidtt zu sagen. Jedenfalls ist das Alte auf ewig kaputt, nicht wiederherzustellen, ebensowenig wie eine ausgestorbene Tierspezies. Es kommt wieder Leben in die Bude, das ist alles, was wir braudten. Zunächst werdet Ihr es besser haben, ob aber nicht schließlich Puttkamer mit dem großen Belagerungszustand recht erhält, ist fraglidt. Audt das wäre ein Fortsdiritt: das letzte, allerletzte Rettungsmittel — sehr fatal für Euch, während es dauert, aber der entschiedene Vorabend unseres Sieges. Bis dahin fließt aber noch allerlei Wasser den Rhein hinab.“
Im „Sozialdemokrat“ stellte Engels am 8. März 1890 die Frage „Was nun?“ Er bezeichnete den 20. Februar 1890 als den Anfang vom Ende der Ära Bismarcks. Die Allianz zwischen Junkern und Goldprotzen zur Ausbeutung der deutschen Volksmassen trage ihre Früchte. Engels bezweifelt die Möglichkeit, eine neue Majorität für das alte System zusammenzustümpern. Er räumte ein, daß es unter den Freisinnigen Angstmeier gäbe, die lieber selbst Kartell spielten, als die bösen Sozialdemokraten aufkommen zu lassen. Auch im Zentrum seien Junker vorhanden, die vor Begierde darauf brennen, in die Arme ihrer ostelbischen Brüder zu sinken. Bei der eingehenden Charakterisierung des Zentrums kam er zu der Auffassung, dieses halte nicht der Katholizismus, sondern der Preußenhaß zusammen. Es setze sich aus lauter preußenfeindlichen Elementen zusammen, die in den katholischen Gegenden selbstredend am stärksten seien, aus rheinischen Bauern, Kleinbürgern und Arbeitern, aus süddeutschen, aus hannoverschen und westfälischen Katholiken; um diese gruppierten sich die übrigen bürgerlichen und bäuerlichen antipreußischen Elemente, die Welfen und andere Partikularisten, die Polen, die Elsässer. Auch von einer Regierungsunterstützung durch das Zentrum erwartete Engels keine Stabilisierung der politischen Lage im Reich. Das Vertrauen des Philisters sei erschüttert. Keine Macht der Welt sei in der Lage, diesen Vorgang rückläufig zu machen. Engels untersuchte die Frage, ob ein Staatsstreich diese Entwicklung anhalten könnte. Er verneinte sie mit dem Hinweis, daß ein Staatsstreich nicht nur das Volk, sondern auch die Reichsfürsten von ihrem Gehorsam gegen die dann gebrochene Reichsverfassung entbinde; das aber bedeute Sprengung des Reiches. Auch einen Krieg hielt Engels nicht für ein geeignetes Mittel, um die eingetretene Labilität der deutschen Innenpolitik zu überwinden. Er bemerkte: „Geht Krösus über den Halys oder Wilhelm über den Rhein, so wird er ein großes Reich vernichten — aber welches? Sein eigenes oder das feindliche?“ Engels verwarf auch diese Möglichkeit und schloß mit einem Ausblick auf einen Sieg der Arbeiterklasse: „Die deutschen sozialdemokratischen Arbeiter haben soeben einen Triumph erfochten, wie ihre zähe Standhaftigkeit, ihre eiserne Disziplin, ihr heiterer Humor im Kampf, ihre Unermüdlichkeit ihn nidtt anders verdient haben, der aber wohl ihnen selbst unerwartet gekommen ist und der die Welt in Erstaunen versetzt hat. Mit der Unwiderstehlichkeit eines Haturprozesses ist der Zuwachs der sozialdemokratischen Stimmen bei jeder Neuwahl vor sich gegangen; Vergewaltigung, Polizeiwillkür, richterliche Niedertracht, alles prallte wirkungslos ab, vorwärts und immer rascher vorwärts bewegte sich die stets anschwellende Angriffs-kolonne, bis sie jetzt dasteht, die zweitstärkste Partei im Reich, indem da sollten die deutschen Arbeiter sich ihr eigenes Spiel verderben, indem sie sich zu einem aussichtslosen Putsch verleiten ließen, einzig und allein, um Bismarck aus der Todesnot zu erretten? In dem Augenblid^, wo ihre eigene, über alles Lob erhabene Tapferkeit unterstützt wird durdt das Zusammenwirken aller äußeren Umstände, wo die ganze gesellschaftliche und politische Lage, wo sogar alle ihre Feinde für die Sozialdemokratie arbeiten müssen, als würden sie von ihr bezahlt — in dem Augenblick sollte die Disziplin, die Selbstbeherrschung versagen und wir selbst uns in das vorgehaltene Sdtwert stürzen? Nimmermehr. Dazu hat das Sozialistengesetz unsere Arbeiter zu gut eingeschult, dazu haben wir viel zu viel alte Soldaten in unseren Reihen und unter ihnen zu viele, die Gewehr bei Fuß im Kugelregen ausharren gelernt haben, bis der Augenblick reif für den Angriff.“
15. Engels'Erwartungen auf die Regierungszeit Wilhelms II
Angesichts der eingetretenen Situation zeigte sich Engels am 19. April 1890 am Verlauf des 1. Mai interessiert. Er betonte, in Deutschland sei es Pflicht der Reichstagsfraktion, den übertriebenen Gelüsten entgegenzutreten: „Die Bourgeois, die politische Polizei, bei der es jetzt ums Brot geht, die Herren Offiziere, sie alle möchten gerne dreinschlagen und schießen und suchen jeden Vorwand auf, dem jungen Wilhelm zu beweisen, daß er nicht rasch genug schießen lassen kann. Das würde aber unser ganzes Spiel verderben. Erst müssen wir das Sozialistengesetz los sein, das heißt, den 30. September überstanden haben. Und dann machen sich die Dinge in Deutschland gar zu prächtig für uns, als daß wir sie uns durch pure Renommage verderben sollten. Im übrigen ist die Proklamation der Fraktion schlecht, sie ist von Lieb-knecht, und der Blödsinn vom . allgemeinen Streik'ganz überflüssig. Aber einerlei wie, die Leute sind durdt den 20. Februar so gehoben, daß sie einer gewissen Zügelung bedürfen, um keine Dummheiten zu zu machen.“
Im September 1890 schrieb Engels einen Abschiedsbrief an die Leser der Zeitung „Der Sozialdemokrat". Er gab zunächst einen Über-blick über die Wirksamkeit sowohl der „Neuen Rheinischen Zeitung“ als auch des „Sozialdemokraten". Letzteren feierte er mit pathetischen Worten: „ , Der Sozialdemokrat'war die Flagge der deutschen Partei; nach zwölfjährigem Kampf ist die Partei siegreich. Das Sozialistengesetz ist gefallen. Bismarck ist gestürzt. Das mächtige Deutsdie Reich hat alle seine Machtmittel gegen uns in Bewegung gesetzt; die Partei hat ihrer gespottet, bis endlich das Deutsche Reich seine Flagge hat streichen müssen vor der unsren. Die Reichsregierung will es uns gegenüber einstweilen wieder mit dem gemeinen Recht versuchen, und so wollen wir es einstweilen mit den gesetzlichen Mitteln versuchen, die wir uns, vermittelst kräftigen Gebrauchs der ungesetzlichen, wiedererobert haben. Ob dabei die . gesetzlichen'Mittel wieder ins Programm ausgenommen werden oder nicht, ist ziemlich gleichgültig. Versucht muß werden, vorderhand mit den gesetzlidten Kampfmitteln auszukommen. Das tun nicht nur wir, das tun alle Arbeiterparteien aller Länder, wo die Arbeiter ein gewisses Maß gesetzlicher Bewegungsfreiheit haben, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil dabei am meisten für sie herauskommt. Das hat aber zur Voraussetzung, daß die Gegenpartei ebenfalls gesetzlich verfährt. Versucht man, sei es durdt neue Ausnahmegesetze, durch rechtswidrige Urteile und Reichsgerichtspraxis, durch Polizeiwillkür oder durch sonstige ungesetzliche Übergriffe der Exekutive, unsre Partei wieder tatsächlich außerhalb des gemeinen Rechts zu stellen, so treibt man die deutsche Sozialdemokratie abermals auf den ungesetzlichen Weg als den einzigen, der ihr noch offensteht.“ Engels beschloß seine, von Wehmut nicht freie Betrachtung mit der Versicherung, die Partei der deutschen Arbeiterklasse werde keine Barrikaden bauen und nicht an die Gewalt der Waffen appellieren. Davor bewahre sie die Erkenntnis ihrer eigenen Machtstellung, die ihr jede Reichstagswahl gebe. Engels versichert, die Partei habe ein viel besseres, gründlich erprobtes Mittel. Zur Einstellung des „Sozialdemokraten“ sagte er: „An dem Tage, wo uns das gemeine Recht streitig gemacht wird, erscheint der . Sozialdemokrat'wieder. Die alte Masdtinerie, in Reserve gehalten für diesen Fall, tritt wieder in Tätigkeit, verbessert, vermehrt, neu eingeölt. Und eins ist sidter: Zum zweitenmal hält das Deutsche Reich das keine zwölf Jahre aus.“
Durch seine Kritik am Erfurter Parteiprogramm
Engels begnügte sich nicht, dieses Bild zukünftiger Entwicklung zu entwerfen. Er fragte sich auch, was in diesem Falle die deutsche sozialdemokratische Partei tun müsse. Zunächst, betont er, weder der Zar, noch die französischen „Bourgois''-Republikaner und die deutsche Regierung selbst, würde eine so schöne Gelegenheit zur Unterdrückung der einzelnen Partei, die für sie alle drei „der Feind“ sei, sich entgehen lassen. Wie sich Thiers und Bismarck über den Ruinen des „Paris der Kommune" die Hand gereicht hätten, würde sich der Zar, Constans
„Nun aber hat die deutsdte Sozialdemokratisdte Partei, dank den ununterbrodtenen Kämpfen und Opfern von dreißig Jahren, eine Stellung erobert wie keine andere sozialistische Partei der Welt, eine Stellung, die ihr binnen kurzer Frist den Heimfall der politisdten Macht sichert. Das sozialistische Deutschland nimmt in der internationalen Arbeiterbewegung den vordersten, den ehrenvollsten, den verantwortlichsten Posten ein; es hat die Pflicht, diesen Posten gegen jeden Angreifer bis auf den letzten Mann zu behaupten. Wenn aber der Sieg der Russen über Deutschland die Erdrüdtung des deutsdten Sozialismus Aussidit, bedeutet, was wird dann, gegenüber einer solchen die Pflicht der deutsdten Sozialisten sein? Sollen sie die Ereignisse passiv über sidt ergehen lassen, die ihnen Vernidttung drohn, sollen sie widerstandslos den Posten räumen, für den sie die Verantwortung übernommen haben vor dem Proletariat der ganzen Welt? Keineswegs. Im Interesse der europäisdten Revolution sind sie verbunden, alle eroberten Stellungen zu behaupten, nidit zu kapitulieren, ebensowenig vor dem äußeren wie vor dem inneren Feind. Lind das können sie nur, indem sie bis aufs äußerste Rußland bekämpfen und alle seine Bundesgenossen, wer sie auch seien. Sollte die französische Republik sich in den Dienst Seiner Majestät des Zaren und Selbstherrschers aller Reußen stellen, so würden die deutsdten Sozialisten sie mit Leidwesen bekämpfen, aber bekämpfen würden sie sie“
Engels ließ sich in seinem Glauben an den Primat des deutschen Sozialismus nicht beirren. In der Einleitung zur englischen Ausgabe der Broschüre „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ stellte er fest: „... hängt der Sieg der europäischen Arbeiterklasse nicht von England allein ab. Er kann nur sichergestellt werden durch das Zusammenwirken von, mindestens, England, Frankreidt und Deutsdtland. In den beiden letzteren Ländern ist die Arbeiterbewegung der englisdten ein gutes Stück voraus. In Deutschland steht sie sogar innerhalb meßbarer Entfernungen vom Triumph. Der Fortsdiritt, den sie dort seit 25 Jahren gemacht, ist ohne gleidten. Er bewegt sich voran mit stets wachsender Geschwindigkeit, Hat die deutsche Bourgeoisie bewiesen, weldten jammervollen Mangel sie leidet an politischer Fähigkeit, Disziplin, Mut, Energie, so hat die deutsche Arbeiterklasse gezeigt, daß sie alle diese Eigenschaften in reichlichem Maß besitzt. Vor fast vierhundert Jahren war Deutsdiland der Ausgangspunkt der ersten großen Erhebung der europäischen Mittel-klasse; wie die Dinge heute liegen, sollte es unmöglich sein, daß Deutsdtland auch der Sdtauplatz sein wird für den ersten großen Sieg des europäisdten Proletariats?“
Wenn sich auch Engels mit der Entwicklung innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung intensiv beschäftigte, — sein Hauptinteresse galt der allgemeinen Entwicklung Deutschlands. Er war, wie er in einem Brief an Bebel vom 19. Februar 1892 zum Ausdruck brachte, der Überzeugung, daß sich die Dinge in Deutschland zuspitzten. Die kapitalistische Gesellschaft, wie sie in Deutschland situiert sei, wackle zwischen zwei Strömungen, zwischen der Allianz aller offziellen und besitzenden Gesellschaftsschichten gegenüber dem Proletariat und einer Strömung, die den alten, aus Feigheit unausgekämpften Konflikt zwischen der Monarchie und der industriellen Bourgeoisie immer wieder auf die Tagesordnung setze. Als Ursache dieser Spannung bezeichnete er die Unmöglichkeit, der Industrie auf die Dauer die von den Junkern gewünschten Rohstoff-und Lebensmittelzölle tragen zu lassen. Charakteristisch sei das Handeln nach der alten Praxis: Man schlägt den Sade und meint den Esel. Man schlage auf die Sozialdemokratie, treffe aber nebenbei die Bourgeoisie tüchtig mit, zunächst politisch, in ihren seit 60 Jahren prunkend zur Schau gestellten liberalen Prinzipien und in dem bißchen Anteil, das sie direkt an der Staatsgewalt besitze, dann später, wenn es gut gehe, auch ökonomisch und opfere ihre Interessen denen des Grundbesitzes. Als politisches Ergebnis dieser Entwicklung nahm Engels eine starke Schwenkung nach rechts an. Diese erfolgte unter dem Vorwand, den Aufschwung des Sozialismus anzuhalten
und dritten Ranges ansehe, sei er der Überzeugung, daß, wenn die Sache so voranginge, bald eine Krise einsetze. Unter Hinweis auf den geisteskranken Bayernkönig Ludwig bemerkte er: „In Preußen und im preußisdt-deutsdien Reich kann man sidt einen horntollen Monardten nidit jahrelang gefallen lassen wie in Bayern, und es sollte midi nicht wundern, wenn man Wilhelmchen demnädist ein eigenes Narrenhaus einriditet und dann eine Regentsdiaft — das wäre gerade was wir
Reichskanzleramt, die in dem von ersterem der Wiener „Neuen Freien Presse“ gewährten Interview ihren Höhepunkt erreichte, veranlaßte Engels, gegenüber Bebel Kritik an der Parteipresse zu üben, weil sie zusammen mit den bürgerlichen Zeitungen nach dem Strafrichter schrien. „Müssen wir denn", fragte Engels Bebel am 6. Juli 1892, „mit Gewalt ebenso bürokratisdi-polizistisdi-staatsanwältlidi auftreten wie unsere Gegner? Können nidit einmal w i r dem alten krackbrüchigen Esel Bismarck erlauben, daß er sich nach Herzenslust selbst blamiert? Und würde nicht drei Tage Gefängnis hinreichen, ihn zum Märtyrer zu machen? Man sollte nicht glauben, wie tief den Leuten der Preuß in . .“
Auffassungen vom Charakter einer proletarisdien Partei bestimmten ihn, sich intensiv mit dem Führer der bayerischen SPD, von Vollmar
In einer sozialdemokratischen Versammlung in Berlin am 22. September 1893 schilderte Engels, sich selbst als Mitarbeiter, Mitstreiter und Kampfgenosse von Karl Marx vorstellend, nicht ohne Rührung die Eindrücke seiner Begegnung mit Deutschland. Er bemerkte, vor 51 Jahren das letzte Mal in Berlin und vor 16 Jahren das letzte Mal in Deutschland gewesen zu sein. Die inzwischen eingetretene Entwicklung beschrieb er mit folgenden Worten: „Vor einem Menschenalter war Deutschland ein ackerbauendes Land mit einer zu zwei Dritteln ländlichen Bevölkerung; heute ist es ein Industrieland ersten Ranges, und den ganzen Rhein entlang, von der holländischen bis zur Schweizer Grenze, habe ich nicht ein einziges Fleckchen gefunden, wo man um sich schauen kann, ohne Dampfschlote zu sehen. Das scheint allerdings zunächst nur die Kapitalisten anzugehen. Aber die Kapitalisten, indem sie die Industrie steigern, schaffen nicht nur Mehrwert, sie sdtaffen auch Proletarier, sie zerstören die kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Mittelstände, sie treiben den Klassen-gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat auf die Spitze, und wer Proletarier schafft, der schafft auch Sozialdemokraten. Die Bourgeoisie ist bestürzt bei jeder neuen Reichstagswahl über das unaufhaltsame Anschwellen der sozial-dewokratisdten Stimmen, sie fragt: Woher kommt das? Ja, hätte sie einigen Verstand, so wüßte sie sehn, daß dies ihr eigenes Werk ist! So ist es gekommen, daß die deutsche Sozialdemokratie die einigste, die geschlossenste, die stärkste in der ganzen Welt ist und von Sieg zu Sieg schreitet dank der Ruhe, der Disziplin und dem guten Humor, womit sie ihre Kämpfe führt. Parteigenossen, ich bin überzeugt, Sie werden auch fernerhin Ihre Schuldigkeit tun, und so sdtließe ich mit dem Rufe: Hoch 'die internationale Sozialdemokratie!“
Am 6. März 1895 beschloß Engels seine Einleitung zu der Schrift von Marx „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850", wobei er betonte, daß der Krieg von 1870/71 und die Niederlage der Kommune den Schwerpunkt der europäischen Arbeiter-bewegung von Frankreich nach Deutschland verlegten. Er rühmte zwei besondere Verdienste der deutschen Arbeiter. Sie hätten die stärkste, die disziplinierteste, die am raschesten anschwellende sozialistische Partei geschaffen; sie hätten gleichzeitig ihren Genossen aller Länder eine neue, eine der schärfsten Waffen geliefert, in dem sie ihnen zeigten, wie man das allgemeine Stimmrecht gebraucht. Auch wies er darauf hin, daß die Rebellion alten Stiles, der Straßenkampf mit Barrikaden, der bis 1848 überall die letzte Entscheidung herbeiführte, überholt sei. Resigniert stellte er fest: „Heißt das, daß in Zukunft der Straßenkawpf keine Rolle wehr spielen wird? Durchaus nicht. Es heißt nur, daß die Bedingungen seit 1848 weit ungünstiger für die Zivilkämpfer, weit günstiger für das Militär geworden sind. Ein künftiger Straßenkawpf kann also nur siegen, wenn diese Ungunst der Lage durch andere Momente ausgewogen wird. Er wird daher seltener im Anfang einer großen Revolution Vorkommen als iw weiteren Verlauf einer solchen und wird wit größeren Kräften unternommen werden müssen. Diese aber werden dann wohl, wie in der ganzen großen französisdten Revolution, am 4.
September und 31. Oktober 1870 in Paris, den offenen Angriff der passiven Barrikadentaktik vorziehen.“ Engels schloß eine Würdigung der neuen Form der Auseinandersetzung zwischen den Inhabern der staatlichen Macht und der Arbeiterklasse an, wobei er versicherte, daß alle Magazingewehre Europas und Amerikas nicht ausreichten, um eine Partei, die Millionen zählt, aus der Welt zu schießen, und sprach den Regierungen, vor allem der Reichsleitung, das moralische Recht ab, neue Gesetze gegen den Umsturz zu machen, weil diese 1866 den König von Hannover, den Kurfürsten von Hessen, den Herzog von Nassau aus ihren angestammten legitimen Erblanden vertrieben und die Erblande annexiert habe. „Und diese Umstürzler“, fuhr Engels fort, „des Deutschen Bundes und dreier Kronen von Gottes Gnaden beklagen sich über den Umsturz?“ Er ermahnte seine Leser, nicht zu vergessen, daß das Deutsche Reich, wie alle modernen Staaten, ein Produkt von Verträgen sei; nämlich eines Vertrages der Fürsten untereinander und eines Vertrages der Fürsten mit dem Volk. An diese Interpretation hängte er die Bemerkung an: „Bricht der eine Teil den Vertrag, so fällt der ganze Vertrag, der andere Teil ist dann auch nicht wehr gebunden." Bismarck habe diese Verhaltensweise 1866 vorgemacht. Zur Illustrierung dieses Vorganges erinnerte er an eine gefährliche Umsturzpartei, die vor 1600 Jahren das römische Reich beunruhigt habe: „Sie untergrub die Religion und alle Grundlagen des Staates; sie leugnete geradezu, daß des Kaisers Wille das höchste Gesetz, sie war vaterlandslos, international, sie breitete sich aus über alle Reichslande von Gallien bis Asien und über die Reichsgrenzen hinaus. Sie hatte lange unterirdisch, iw verborgenen gewühlt; sie hielt sich aber schon seit längerer Zeit stark genug, offen ans Licht zu treten“. Engels meinte damit das junge Christentum, dessen Sieg über das Imperium Romanum für ihn Vorbild und Unterpfand dafür war, daß die von ihm mitinspirierte Umsturzpartei erfolgreich sein werde
/16. Stalins Kritik an Engels
Deutschlandvorstellungen
Diese Auslassungen tragen das Datum 6. März 1895; fünf Monate später, am 5. August 1895, starb Engels. Sein Vergleich zwischen der von ihm mitgeprägten und propagierten Ideologie und dem Christentum ist nicht für das ihm eigene Selbstbewußtsein aufschlußreich, er führt in die Brunnenstube des Sendungs-und Überlegenheitsglaubens derer, die ihn als „Klassiker“ ihrer Weltanschauung feiern und studieren. Der Marxismus-Leninismus wünscht, nicht nur die Religion zu verdrängen und zu ersetzen, erklärt sich dieser überlegen und trägt keine Bedenken, deren Formen zu übernehmen. Seine Wandlungen haben an dieser Zielsetzung keine bemerkenswerte Veränderungen vorgenommen; der Marxismus-Leninismus tritt auch heute mit der Überzeugung seines totalen Sieges auf. Dieser verschafft -begreiflicherweise -der Umstand Unbehagen, daß die Erwartungen auf Deutschland bisher unerfüllt blieben. Zur Beruhigung der dadurch ausgelösten Zweifel verweisen die Interpreten des Marxismus-Leninismus auf den Widerstand der „reaktionären Kräfte in Deutschland und deklarieren die gewaltsame Einbeziehung Mitteldeutschlands in die ideologisch-politische Sphäre der Sowjetunion als „Befreiung
Während Lenin also keine Bedenken hatte, sich zu der Kritik Engels an Rußland zu bekennen, sah sich Stalin veranlaßt, an Engels Artikel „Die auswärtige Politik des russischen Zarentums" kritische Bemerkungen anzubringen. Seine Feststellungen tragen das Datum 19. Juli 1934. Sie sind erstmals im Mai 1941 im „Bolschewik" veröffentlicht worden. Dessen Redaktion hatte, wie den Ausführungen Stalins zu entnehmen ist, sich mit der Absicht getragen, Engels Aufsatz als einen richtung-gebenden oder jedenfalls höchst lehrreichen Artikel abzudrucken. Stalin stellte fest, daß die Studie Engels’ ungeachtet ihrer Vorzüge eine Reihe von Mängeln aufweise, die, wenn sie ohne kritische Bemerkung veröffentlicht wird, den Leser verwirren könnten. Er ging in seiner Kritik an Engels so weit, zu erklären, dieser habe sich in seinem Pamphlet gegen den russischen Zarismus ein wenig hinreißen lassen und dabei auf kurze Zeit einige elementare, ihm gut bekannte Dinge vergessen. Er warf diesem vor, die Rolle des Dranges des zaristischen Rußlands nach Konstantinopel im Heranreifen des Weltkrieges überschätzt zu haben: „Wohl hat Engels als Kriegsfaktor anfangs die Annexion von Elsaß-Lothringen an Deutschland an die erste Stelle gesetzt, aber dann schiebt er dieses Moment in den Hintergrund und die Eroberungsbestrebungen des russischen Zarismus in den Vordergrund, wobei er behauptet, daß die . ganze Gefahr eines Weltkrieges an dem Tag verschwindet, wo eine Wendung der Dinge in Rußland dem russischen Volk erlaubt, durch die traditionelle Eroberungspolitik seiner Zaren einen dicken Strich zu machen'. Das ist natürlich eine Übertreibung.“ Auch die Ansicht Engels, der Sturz des Zarismus sei das einzige Mittel zur Verhütung des Weltkrieges, nannte Stalin eine offensichtliche Übertreibung. Auch wies er dessen Behauptung, die zaristische Macht sei die letzte starke Festung der gesamteuropäischen Reaktion, zurück. Vor allem bezweifelte er, daß Rußland die letzte Festung in dieser Reaktion sei. Er betonte, daß die von ihm fixierten Mängel des Engels’schen Artikels nicht nur historische sondern auch eine sehr wichtige praktische Bedeutung hätten, über die er sagte: „In der Tat: Wenn der imperialistische Kampf um Kolonien und Einflußsphären als Faktor des herannahenden Weltkrieges außer acht gelassen wird, wenn die imperialistischen Widersprüche zwischen Eng-
and und Deutschland ebenfalls außer acht gelassen werden, wenn die Annexion Elsaß-Lothringens an Deutschland als Kriegsfaktor in den Slintergrund, der Drang des russischen Zarismus nach Konstantinopel als der wichtigste und sogar bestimmendste Kriegsfaktor aber in den Vordergrund geschoben wird, wenn schließlich der russische Zarismus die letzte Stütze der gesamteuropäischen Reaktion ist — ist es dann nicht klar, daß ein Krieg — sagen wir — des bürgerlichen Deutschlands gegen das zaristische Rußland kein imperialistischer, kein räuberischer, kein volksfeindlicher Krieg, sondern ein Befreiungskrieg oder fast ein Befreiungskrieg ist? Es ist kaum zu bezweifeln, daß ein analoger Gedankengang den Sündenfall der deutschen Sozialdemokratie am 4. August erleichtern mußte, als sie beschloß, für die Kriegskredite zu stimmen und die Losung der Verteidigung des bürgerlichen Vaterlandes gegen das zaristische Rußland, gegen die . russische Barbarei'usw. verkündete."
Stalin vertrat weiter die Auffassung, Engels sei bei der Niederschrift dieses Aufsatzes von dem sich anbahnenden französisch-russischen Bündnis, das seine Spitze gegen die österreich-deutsche Koalition richtete, beunruhigt gewesen, und habe sich das Ziel gesetzt, in seinem Artikel die Außenpolitik des russischen Zarismus zu attakieren und der öffentlichen Meinung Europas und vor allem Englands jedes Vertrauen zu ihr zu nehmen. Diese Ausstände bewogen Stalin, von einem Druck des Aufsatzes abzuraten
17. Lenins und Stalins Hoffnung auf die deutsche Arbeiterbewegung
Bereits vor dem Tode Engels'ging die Entwicklung im Sozialismus verschiedene Wege, danach gab es keine allgemein anerkannte ideologische und politische Autorität mehr. Im „Revisionismus"
Obwohl die schriftlichen Auslassungen Stalins für die Zeit vor 1917 unerheblich sind, müssen sie erwähnt werden. Bei zwei Gelegenheiten setzte sich Stalin mit der Stellung Deutschlands in der sozialistischen Weltbewegung auseinander. 1907 schrieb er einen Bericht über den Londoner Parteitag der SDAPR. Er erwähnte darin sowohl die Ausführungen Rosa Luxemburgs als auch das Schreiben, das der Parteivorstand der SPD an den Parteitag in London gerichtet hatte. Stalin führte aus:
„Besonders aufschlußreich waren die Reden der Genossin Rosa Luxemburg, die den Parteitag im Namen der deutsdien Sozialdemokraten begrüßte und die Auffassung entwidtelte, die unsere deutschen Genossen von unseren Meinungsverschiedenheiten haben. ... In den Fragen nadt der Rolle des Proletariats als des Führers der Revolution, nach der Rolle der liberalen Bourgeoisie als einer antirevolutionären Kraft usw. usw. erklärte Rosa Luxemburg ihre volle Übereinstimmung mit den Bolschewiki, kritisierte sie die Führer des Menschewismus, Plechanow und Axelrod, die sie als Opportunisten bezeichnete und deren Haltung sie mit der der Jauresisten in Frankreidt verglidt. Ich weiß, sagte Rosa Luxemburg, daß auch die Bolschewiki manchmal danebenhauen, manchmal sonderbar und allzu felsenfest sind, aber ich verstehe und redttfertige sie durdtaus: angesidtts der zerfließenden, gallertartigen Masse des mensdiewistischen Opportunismus muß man felsenfest sein. Bei den Guesdisten in Frankreidi ist gleichfalls zu verzeichnen gewesen, daß sie allzu felsenfest sind, hat doch ihr Führer, Genosse Guesde, in dem bekannten Wahlplakat verkündet: . Kein Bourgeois wage es, für 4uich zu stimmen, denn idt werde im Parlament nur die Interessen der Proletarier gegen alle Bourgeois vertreten.'Und ungeadttet dessen, ungeachtet dieser Schroffheiten, standen wir deutschen Sozialdemokraten stets an der Seite der Guesdisten in ihrem Kampf gegen die Verräter am Marxismus, die Jauresisten. Das gleidie muß hinsichtlich der Botsdiewiki gesagt werden, die wir deutsdien Sozialdemokraten in ihrem Kampfe gegen die Opportunisten, die Mensdtewiki unterstützen werden ... So ungefähr spradt Genossin Rosa Luxemburg. Nodt interessanter ist der berühmte Brief, den der Parteivorstand der Sozialdemokratisdten Partei Deutsdilands an den Parteitag geriditet und den Rosa Luxemburg verlesen hat. Interessant ist er deshalb, weil er durch den Rat an die Partei, gegen den Liberalismus zu kämpfen, und durdt die Anerkennung der besonderen Rolle des russisdien Proletariats als des Führers der russisdien Revolution zugleich auch alle grundlegenden Leitsätze des Bolschewismus anerkennt. Es ist also offenbar geworden, daß die erprobteste und revolutionärste sozialdemokratische Partei Europas, die deutsche Sozialdemokratie, offen und klar die Bolschewiki, als die wahren Marxisten, in ihrem Kampf gegen die Verräter am Marxismus, gegen die Menschewiki unterstützt“
Es ist notwendig, die Formulierung Stalins in ihrer Bedeutung zu bedenken. Er nannte die deutsche Sozialdemokratie die erprobteste und revolutionärste sozialdemokratische Partei Europas, deren Entscheidungen er für verbindlich erklärte. Eine ähnliche Auffassung bekundete er in einer Proklamation, die zum Tode Bebels
Nur das kämpfende Proletariat konnte einen Bebe! gebären, so lebendig, ewig jung, ständig vorwärtsblickend, wie es audt selbst ist.
Nur die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus konnte der rastlosen Natur Bebels, der unermüdlidt zur Zerstörung der alten, verfaulenden, kapitalistisdten Welt drängt, diesen weiten Sdiwung verleihen.
Bebel zeugt mit seinem Leben und seinem Werk von der Kraft und der Unbesiegbarkeit des Proletariats, von der Unvermeidlichkeit des Triumphs des Sozialismus ...
Laßt uns denn, Genossen, unserem treuen Lehrmeister, dem Drechsler August Bebel, unseren Gruß entbieten!
Möge er uns russisdien Arbeitern, die soldie Bebels der Arbeiterbewegung besonders nötig haben, als Vorbild dienen!“
Auf der Linie dieser Vorstellungen bewegten sich auch die Ansichten Lenins bis zu dem Tag des Sommers 1914, an dem nach einem, im Tone tiefer Sorge gesprochenen Wort des britischen Außenminister Lord Grey „die Lidtter in Europa ausgingen“
III. Zusammenfassung
Der Versuch, die Ergebnisse dieser Aussagen über Deutschland und über dessen Verhältnis zum wissenschaftlichen und politischen Sozialismus festzulegen und zusammenzufassen, hat einige nicht unbedeutende Veränderungen unberücksichtigt zu lassen, die — ungeachtet der inzwischen eingetretenen Rezeption des Marxismus-Leninismus durch den großrussischen Imperialismus — auf das marxistisch-leninistische Leitbild von Deutschland Einfluß genommen haben. Dieses läßt sich in folgenden Feststellungen zerlegen: 1. Deutschland ist das Geburtsland Marx’ und Engels’.
2. Deutschland ist, wie Stalin formulierte, das „Geburtsland des wissenschaftlichen Sozialismus“.
3. Deutschland war die ursprüngliche Hoffnung des Sozialismus. Über die russische Oktober-Revolution hinaus wurde die von Marx und Engels begründete Vorstellung hochgehalten, daß die Weltrevolution in Deutschland ihren Anfang nimmt.
4. Die deutsche Geschichte ist für Marx und Engels und auch für Lenin Lehrmaterial. Wer die Grundlagen der von diesen entwickelten Ideologie studiert, stößt auf Deutschland und die deutsche Geschichte.
5. Auf die deutsche Geschichte wird die Schablone des marxistischleninistischen Geschichtsdenkens, der „materialistischen Geschichtsauffassung“, gelegt, wodurch diese als „ungelöst“ und „unerfüllt“
scheint. Sie bietet sich als Abfolge zwangsläufiger Ereignisse dar, an deren Ende der Sieg der Arbeiterklasse nicht steht, sondern stehen muß. Deutschland ist im Advent des Kommunismus. Diese Ansicht bedeutet bei der gegebenen Situation: Die Bundesrepublik Deutschland steht — nach dieser Überzeugung — vorm Übergang zum Marxismus-Leninismus, dem sie als der größere Teil Deutschlands auf besondere Weise verbunden ist. 6. Die angestrebte Perfektion der Glaubwürdigkeit des Marxismus-
Leninismus ist solange nicht erreicht, solange dieser nicht in Deutschland, in ganz Deutschland, dem „Gebuitsland des wissenschaftlichen Sozialismus“, durchgesetzt und realisiert ist. Der Widerstand des deutschen Volkes vermehrt das — in der Regel nicht direkt eingestandene — Unbehagen und die darüber empfundene Ungeduld der zelotischen Missionare des Marxismus-Leninismus.
c Diese Feststellungen verweisen auf das eigentümliche Verhältnis zwischen dem Marxismus-Leninismus und Deutschland, das ohne Beispiel ist, und charakterisieren das Fundament der Vorstellungen, die der Marxismus-Leninismus von Deutschland entworfen hat. Jeder in Deutschland unternommene Versuch, sich mit diesem und den politischen Systemen, die vorgeben, ihn zu vollstrecken und anzuwenden, auseinanderzusetzen, muß davon ausgehen. Es besteht zwischen Deutschland und der Sowjetunion ein besonderes Verhältnis, das bisher zu wenig beachtet und untersucht worden ist. In diesem Zusammenhang müssen die Beziehungen zwischen der deutschen Arbeiterbewegung und dem Marxismus strenger Observanz gesehen und gedeutet werden; auch der deutsche Anteil an dem sehr früh einsetzenden Schisma im Sozialismus verdient Berücksichtigung. Dadurch wird zwar jede deutsche Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus beschwert, erschließt sich jedoch die Möglichkeit, entscheidend zu dessen geistiger Bewältigung beizutragen.
Es ist nicht zulässig, bei Betrachtung und Beurteilung der nachrevolutionären Entwicklungen des ideologischen Leitbildes „Deutschland“ das politisch-diplomatische Verhältnis zwischen der entstehenden Sowjetmacht und dem Deutschen Reich unbeachtet zu lassen; das schwankende Gewicht des ideologischen Einflusess ist dafür ohne Bedeutung. Zahlreiche Vorgänge der deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen 1917 und heute sind nur verständlich, wenn sowohl die ideologischen Vorstellungen als auch die politischen Gegebenheit eingesehen werden. Die eingangs zitierte Auslassung Stalins auf der Konferenz von Teheran bringt einen ideologischen Unwillen, der durch die Konstituierung der SBZ nur teilweise rückgängig gemacht wurde, zum Asdruck. Die ideologische Interpretierung der Konstituierung des „Ersten Arbeiter-und Bauern-Staates auf deutschem Boden" verweist auf die sehr früh einsetzenden Bemühungen, aus der militärischen Besetzung Ost-und Mitteldeutschlands eine Befreiung der deutschen Arbeiter und Bauern zu machen, die angesichts der Stärke und Verschlagenheit der Kapitalisten dazu nicht fähig waren. Dazu wurde zunächst zögernd, mit zunehmendem zeitlichen Abstand jedoch laut und vernehmlich erklärt, die Rote Armee habe mit dieser Befreiung den Dank der Sowjetunion an das Geburtsland Marx’ und Engels’ abgestattet. Sowohl die weltpolitische Kuriosität als auch die ideologische Fragwürdigkeit dieser These liegen auf der Hand. Sie stellt eine bewußte Verdrehung der geschichtlichen Wirklichkeit dar, ein Umstand, der Propaganda und Publizistik der SBZ nicht davon abhält, sie geduldig zu wiederholen. Dabei spielt die gewaltsame Hinordnung der deutschen Geschichte, durch Marx, Engels und Lenin vorbereitet, auf die Praktizierung der von diesen ntwickelten Anschauungen eine nicht unerhebliche Rolle. Politische, militärische, geographische und wirtschaftliche Erwägungen und Erwartungen sind darin unausscheidbar eingeschmolzen; sie machen zusammen das besondere Verhältnis Deutschlands zum Marxismus-Leninismus aus, das dem deutschen Volk, vor allem aber den deutschen Geisteswissenschaften, eine besondere Aufgabe stellt. Weil der Marxismus-Leninismus „politische Kirche"