Von den Anfängen bis zum Jahre 1918
Der deutsche Parlamentarismus wie der kontinentaleuropäische, wie schließlich die Institution des Parlaments überhaupt, haben ihren Ursprung und ihr Vorbild in England. Das englische Parlament gilt als „die Mutter der Parlamente". „Parliament" ist seit langer Zeit die Bezeichnung für dip höchste gesetzgebende Instanz in Großbritannien und Nordirland. Das Wort selbst existiert in der englischen Sprache seit dem 13. Jahrhundert und bezeichnete zunächst eine Debatte, dann eine formelle Konferenz sowie die großen Ratsgremien der Könige des Hauses Plantagenet. Wilhelm der Eroberer soll eine „sehr gründliche Beratung mit seinen Weisen" gehabt haben — der französische Ausdruck dafür war parlement = das Gespräch. Und dieses Wort diente dann als Bezeichnung für die Begegnungen der Könige mit ihrem Volk, schließlich für die Nationalversammlung selbst. Zum ersten Male verwendete das Statut von Westminster das Wort parlement für den großen Rat in England.
Es ist nun nicht nötig, als Einleitung für eine knappe Darstellung der Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland die Geschichte des englischen Parlaments zu beschreiben. Nicht die Geschichte des britischen Parlaments — das lange Zeit keine Volksvertretung im modernen Sinne, sondern eine durch und durch feudale Institution war — ist für den deutschen Parlamentarismus wichtig gewesen oder geworden, sondern seine Existenz zu dem Zeitpunkt, da man in Deutschland begann, den Wunsch nach einer Volksvertretung auszusprechen und in Gedanken die Formen, Rechte und Pflichten einer solchen Einrichtung zu formulieren: also gegen Ende des 18 Jahrhunderts.
Mit dem Regierungsantritt König Georgs 111. im Jahre 1760 begann auch ein neuer Abschnitt in der Geschichte des britischen Parlaments. Die „Öffentlichkeit" erhielt um diese Zeit ein größeres Gewicht als jemals zuvor. Die Agitation wurde lebhafter und energischer, die Presse aktiver und aggressiver die Gruppierung in politische Verbände übli•her -kurz, das Interesse an der Politik lebendiger, während andererseits seit dem Jahre 1771 die Parlamentsberichte regelmäßig und vollständig veröffentlicht wurden, was einerseits der Allgemeinheit einen Einblick in die Tätigkeit des Parlaments gewährte, andererseits diesem eine gesteigerte Verantwortung gegenüber dieser Öffentlichkeit, d. h.dem Volk, auferlegte.
Das Gewicht des Parlaments im politischen Leben war um so größer, als bereits im Jahre 1709 die britische Krone zum letzten Male ein Veto gegen ein vom Parlament beschlossenes Gesetz eingelegt hatte. Allerdings hatten sich im Laufe der Jahrhunderte auch mancherlei Mißbräuche bei den Wahlen zum Parlament eingebürgert, zu denen bei der Union mit Schottland im Jahre 1709 und mit Irland im Jahre 1801 nun auch noch die Schwächen der Parlamente dieser beiden Länder hinzutraten. Da nun die öffentliche Meinung immer aufmerksamer und anspruchsvoller wurde, entwickelte man mancherlei Pläne zur Verbesserung der Volksvertretung, damit weder die Krone noch eine Partei ungerechtfertigte Ansprüche stellen könnten. Zu den am häufigsten kritisierten Übeln gehörte, daß es Wahlbezirke gab, die praktisch ohne Einwohner waren und deren Repräsentanz im Parlament vom Grund-herrn bestimmt werden konnte, daß es kein allgemeines und gleiches, sondern ein eingeschränktes Wahlrecht gab, daß Parlamentssitze käuflich, daß die Wahlkosten hoch und daß durchaus nicht alle Mitglieder des Parlaments unbestechlich waren. Alle, meist sehr bescheidene Vorschläge zur Beseitigung dieser Übelstände erzielten keine Erfolge, bis im Jahre 18 30 nicht allein der Tod König Georgs IV. mit der zweiten französischen Revolution zusammenfiel, sondern obendrein der Herzog von Wellington gerade zu diesem Zeitpunkt behauptete, die Volksvertretung sei vollkommen und könne also gar nicht verbessert werden.
In dieser Situation erwuchs eine Krise des britischen Parlamentarismus und eine Parlamentsreform, die auch das Streben nach Volksvertretung bei den Völkern auf dem Kontinent bestärkten, welche überhaupt noch kein Parlament besaßen. Insofern war für die Entstehung eines Parlamentarismus in Deutschland die Reform des britischen Parlaments im Jahre 18 32 kaum weniger wichtig als die Existenz des britischen Parlaments überhaupt. Die Reformakte von 18 32 bestimmte eine Rekonstruktion der Volksvertretung in Großbritannien. 56 Wahlkreise, die nur nominell existiert, aber 111 Mitglieder ins Parlament entsandt hatten, wurden aufgelöst. Bei 30 Wahlkreisen wurde die Zahl der Vertreter um je einen verringert, zwei Wahlkreise durften nur noch zwei statt vier Vertreter entsenden. Auf diese Weise wurden Parlamentssitze frei gemacht für stark bevölkerte Wahlkreise: 22 große Städte durften fortan je zwei Vertreter wählen, 20 kleinere Städte zum ersten Male je einen. Die Zahl der Grafschaftsvertreter stieg von 94 auf 159, da die großen Grafschaften als Wahlkreise geteilt wurden. Darüber hinaus wurde auch das Wahlrecht auf eine neue Grundlage gestellt. Alle städtischen Steuerzahler, deren Wohnung mindestens 10 Pfund Sterling Mietwert hatten, wurden wahlberechtigt und ebenso alle Landbewohner, die Freigutsbesitzer mit mindestens 10 Pfund und alle Pächter auf zwanzig Jahre mit mindestens 50 Pfund Pacht. Diese Reform bezeichnete einen der wichtigsten Abschnitte in der englischen Geschichte, denn sie verdoppelte die alte Wählerzahl von 400 000, befreite das Wahlrecht weitgehend von den alten Lasten der Patronage und Bestechung und gab statt einer engen, durch das Unterhaus herrschenden Adelsoligarchie aus der Zeit der agrarischen Feudalgesellschaft dem Mittelstand des Industrie-und finanzwirtschaftlichen Zeitalters die entscheidende Macht im Staatsleben. Ohne Zweifel hatte die alte Parlamentsoligarchie Großartiges geleistet; sie hatte insbesondere die Ruhe und Stetigkeit gesichert, die Wahlpoles und Pitts Dauerministerien ermöglicht hatten. Nur eine andere Oligarchie, der römische Senat, kann in bezug auf Einsicht und politische Leistung mit dem englischen Parlament im 18. Jahrhundert verglichen werden. Dennoch hatte dieses nie den Charakter einer einseitigen Klassenvertretung leugnen können — um so weniger, je weiter die Industrielle Revolution fortschritt, die Bevölkerung zunahm und das Übergewicht der Städte gegenüber dem Lande wuchs.
Diese in der ganzen Welt beachtete britische Parlamentsreform fand also statt, als man in Deutschland die Enttäuschung nach den Verfassungshoffnungen von 1815/17 noch nicht verwunden hatte.
Hier war die Einführung von Parlamenten, die Beteiligung des Volkes an der Regierung nicht nur durch die Vertreter ständischer Korporationen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts diskutiert worden. Von ihr versprach man sich die Kontrolle der Fürsten, d. h. die Beseitigung oder Milderung‘des Absolutismus und seiner vielen Mißstände sowie die Aufhebung der immer weniger berechtigt erscheinenden Adelsprivilegien. Lessings „Emilia Galotti", Goethes „Werther" und Schillers Jugenddramen hat man als Äußerungen der Stimmung bezeichnet, der auch das Verlangen nach wirkungsvoller Mitregierung des Volkes entsprang.
Die französische Revolution von 1789 vertiefte diesen Wunsch, ihre Ausartungen ließen jedoch auch wieder stärker auf die Stimmen hören, die vor der Zügellosigkeit des sogenannten Volkswillens warnten. Andererseits zeigten die Zustände in England, daß aus einer verständigen Rücksichtnahme auf die Wünsche und Interessen des Volkes nicht immer umfangreichere Forderungen und schließlich die Revolution zu erwachsen brauchten. Napoleons Gewaltherrschaft schnitt dann sehr schnell alle derartigen Auseinandersetzungen ab. Erst im Zusammenhang mit den Reformen, insbesondere in Preußen, wirklich lebhaft erst seit den Befreiungskriegen erfaßte der Wunsch nach Volksvertretung das Bürgertum als die alle Reformforderungen tragende und formulierende Gesellschaftsschicht.
Bauernbefreiung, Städteordnung, Allgemeine Wehrpflicht, Heranziehung des Individuums als tragenden Staatsbürger an die heimatliche Gemeinde und an den die Gesamtheit repräsentierenden Staat — alle diese Ideen mußten schließlich in dem Gedanken der aktiven Beteiligung an der obersten Regierungsgewalt selbst gipfeln, d. h. in dem Wunsch nach einem Reichsparlament für ein einheitliches deutsches Reich.
Zuerst Volksvertretungen in Klein-und Mittelstaaten
Als diese Hoffnung durch die Schaffung des Deutschen Bundes statt eines Deutschen Reiches im großen Rahmen unerfüllt blieb, wandte sie sich im engeren Bereich den Einzelstaaten zu. In der Tat konnten in einigen deutschen Mittel-und Kleinstaaten, so 1817 in Weimar, Baden, Hessen und Württemberg, Volksvertretungen geschaffen werden.
Unter dem Eindrude der Pariser Juli-Revolution von 1830 erfolgte diese Einrichtung u. a. auch in Sachsen, Hannover und Braunschweig. Doch dürfen solche Konzessionen der Fürsten nicht darüber hinwegtäuschen, daß bei diesen Institutionen von Parlamentarismus, wie er eben in England unter der lebhaftesten Anteilnahme weiter Volkskreise eine Reformperiode durchlebte, nicht wirklich die Rede war: Solche territorial-staatlichen Volksvertretungen enthielten nicht allein sehr starke Elemente unmittelbar ständischer Repräsentation, sondern viele ihrer Mitglieder entstammten außerdem Korporationen wie den Kirchen, den Universitäten und der Ritterschaft, so daß nur ein Teil der Abgeordneten von der Gesamtheit der wahlberechtigten Staatsbürger gewählt wurde. Das aktive und noch mehr das passive Wahlrecht waren sehr eingeschränkt; sie existierten in erster Linie für eine Oberschicht des besitzenden Bürgertums und natürlich aus historischen Gründen für den Adel. Obendrein wurden die auf solche Art zusammengesetzten Abgeordnetenkammern an einer fruchtbaren Wirksamkeit dadurch sehr stark behindert, daß die Regierungen gewöhnlich alles taten, um die Verbindung zwischen den Abgeordneten und ihren Wählern zu verhindern. Auf die Bedeutung der modernen Verkehrs-und Nachrichtenmittel, der Eisenbahn und des Telegraphen, des Schnelldrucks und des Telephons für die Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland wird später noch einzugehen sein. Diejenigen, die seit alters an der Macht waren, taten alles, um den aufstrebenden Kräften die Ausnutzung dieser neuen Massenkommunikationsmittel unmöglich zu machen. Darüber hinaus wurden Versammlungen, die als politisch bezeichnet werden konnten, verboten und Zeitungsberichte aufs strengste zensuriert, so daß z. B. Äußerungen, die im Parlament mit einem Ordnungsruf belegt worden waren, nicht im Druck wiedergegeben werden durften — und damals hatte jede kritische Bemerkung etwa gegenüber dem Staatsoberhaupt mindestens einen Ordnungsruf zur Folge. So neigte man auf der Seite der alten Mächte, der traditionellen Regierungen vor 1848, zu der Auf-fassung, daß die liberalen Kräfte in den Landtagen nicht Vertreter des Volkes seien, welche die Regierung beraten sollten, sondern staats-gefährdende Gegner, die es zu unterdrücken galt. Angesichts dieser Einstellung ließ sich nun die ursprünglich zumeist sehr loyale Opposition in eine immer radikalere Haltung drängen, die dem Ansehen des Parlamentarismus keineswegs zuträglich war und sich von dem Vorgehen der Opposition in England erheblich unterschied.'
Unter solchen Umständen mußten die Ereignisse des Jahres 1848, die von der Revolution in Frankreich ausgelöst wurden, sehr schnell aber ihren eigenen, der deutschen Geschichte entsprechenden Lauf nahmen, viele Menschen mit der Hoffnung erfüllen, daß nun ein entscheidender Schritt auf dem Wege zur Modernisierung des Regierungswesens zu erwarten sei.
Man hat ein wenig vereinfachend über die Stellung der damals entstandenen Parteien zum Parlamentarismus gesagt: „Ein kleiner Flügel war für einen so extremen Parlamentarismus rousseauisdter Prägung, das! man schon sagen kann, er habe mit dem robespierresdten System kokettiert; die große Masse der linksstehenden Liberalen war teils für republikanischen, teils für monardiischen Parlamentarismus im Sinne und nach dem Vorbild des Westens. Die gemäßigteren Liberalen gingen weniger weit; sie glaubten, daß ein Monarch wohl noch eigene politische Rechte haben sollte . . . die Konservativen waren im Grunde jeglicher Beschränkung der Monarchie abgeneigt; sie waren und blieben noch lange im Herzen absolutistisch."
Gewiß, so war es in großen Zügen. Wichtiger aber ist es zu beobachten, wie denn nun das parlamentarische Leben in Frankfurt sich entwickelte — mit anderen Worten, wie das einzige große deutsche Parlament in unserer Geschichte funktionierte. Denn Deutschland hat nach den Worten Veit Valentins nur e i n deutsches Parlament gehabt, das diesen Namen verdient. Bis heute saßen nur einmal gewählte Vertreter aller deutschen Stämme in einem Raum zusammen; nur einmal „hat unser Volk, längst gereift im Geiste zum politischen Gemeinschaftswillen, die parlamentarische Gestaltung gefunden“ — eben 1848 in der Paulskirche. Dabei ist zu beachten, daß 1848 die Begriffe konstitutionell und parlamentarisch vielfach einander gleichgesetzt, zuweilen aber auch voneinander unterschieden wurden. Im allgemeinen meinte man mit beiden, daß der Gedanke der Monarchie mit der geschriebenen Verfassung in Verbindung gebracht, man sagte, „versöhnt“ werden sollte. Auch der Begriff des Liberalismus war sehr flexibel und bezeichnete weit mehr ein Bildungsmoment als eine parteipolitische Haltung. Die Akademiker fühlten in der Mehrzal liberal, was in ihrem Sinne humanitär, national und fortschrittlich — immer auf dem Boden des historisch Gewachsenen, des Bestehenden — bedeutete. Doch ein adliger Offizier, ein ostpreußischer Großgrundbesitzer, ein süddeutscher Jurist, ein rheinischer Groß-kaufmann, ein hessischer Professor, ein Wiener Regierungsbeamter — sie alle konnten sich als liberal bezeichnen. Die Differenzen fingen erst jenseits dieser ihnen längst selbstverständlich erscheinenden Grundhaltung an, und es war nicht immer leicht, sie eindeutig zu formulieren und klar gegeneinander abzugrenzen. Infolgedessen war es vielfach noch schwieriger über sie zu diskutieren — und sich zu einigen. Geringe, kaum faßbare Differenzen lassen sich häufig schwieriger überwinden als schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten.
Die Deutsche Nationalversammlung
Wenden wir uns den praktischen Fragen des Parlaments und des Parlamentarismus von 1848 zu, so zeigte sich gleich zu Beginn, nämlich bei den Wahlen, die Bedeutung des Verkehrswesens. In Gebieten mit schlechten Wegen und großen Entfernungen zum Wahllokal, wie etwa in Ostpreußen, Oberschlesien und Pommern, waren die Wahlen technisch schwer durchführbar und Wahlbehinderung oder doch Wahlbeeinflussung sehr leicht möglich. In den Hauptstädten dagegen, z. B. in Berlin, erlebte man zum ersten Male eine lebhafte Wahlagitation mit zum Teil verbotenen Demonstrationen und aufregenden Wahlversammlungen. Am 1. Mai 1848, dem Wahltag für die Deutsche Nationalversammlung in Frankfurt u n d für die Preußische Nationalversammlung in Berlin, waren alle Ladengeschäfte und Postämter sowie viele Gewerbebetriebe geschlossen. Zwei Tage lang erschienen keine Zeitungen, der Eisenbahnverkehr wurde sehr stark eingeschränkt. Es war wie an großen Feiertagen: Kirchen, Theater und Vergnügungsetablissements hatte man als Wahllokale eingerichtet, in denen die Urwähler ihr Recht in einer feierlichen und erregenden Handlung ausübten. Zum ersten Male bekundete das gesamte Staatsbürgertum seinen Willen — wenngleich noch mit vielen Irrtümern und Llnklarheiten. Hier wurden z. B. in Unkenntnis der Vorschriften Wähler unrechtmäßig abgewiesen; dort glaubten manche, daß sie zur Wahl für das Frankfurter Parlament nach Frankfurt reisen müßten. Nicht wenige Katholiken fürchteten, mit Hilfe des Parlaments in Frankfurt werde eine große Bekehrungsaktion für den Protestantismus verbunden sein.
Am 18. Mai trat dann das Frankfurter Parlament zusammen — eine Honoratiorenversammlung, in der die untere Bevölkerungsschicht unzureichend vertreten war, falls man voraussetzt, daß jede Schicht nur durch ihresgleichen vertreten sein soll und kann. In der Literatur wird immer wieder darauf hingewiesen, daß der Kolonist und Händler Minkus aus Schlesien der einzige echte Bauer im Frankfurter Parlament gewesen sei. Aber selbst er war kein Bauer, sondern weit mehr eine Mischexistenz zwischen Dorf und Stadt, Landwirtschaft und Kaufmannschaft. Nein, Bauern saßen im Frankfurter Parlament ebensowenig wie Arbeiter — wohl aber vier Handwerksmeister und elf mittlere Beamte. Es gab 46 Kaufleute, eine Reihe von Großhändlern, vorwiegend aus den Hansestädten, einige Bankiers, ein paar Fabrikanten und Druckerei-besitzer sowie 60 herrschaftliche Landwirte. Insgesamt betrug die Zahl der Abgeordneten, die als Vertreter wirtschaftlicher Berufe bezeichnet werden konnten, etwa 140. Doch haben sich bei weitem die meisten von ihnen nicht als Vertreter ihrer Berufsgruppe empfunden; denn eine Interessenvertretung im heutigen Sinne gab es in Frankfurt so wenig wie einen Lobbyismus. Jener Gruppe von Männern aus der Wirtschaft standen 49 Universitätsprofessoren und -dezenten, 57 Professoren und sonstige Angehörige höherer Lehranstalten, 157 Richter und Staatsanwälte, 66 Rechtsanwälte, 20 Bürgermeister, 118 Männer der höheren Verwaltung, 18 Ärzte, 33 Geistliche, 43 Schriftsteller, Redakteure und Publizisten, einige Diplomaten, Archivare und Bibliothekare — insgesamt 569 Akademiker — gegenüber. Rechnet man von den 116 Berufslosen und den sechs Buchhändlern den einen oder anderen zu den akademisch Gebildeten mit wissenschaftlich-methodischer Denkweise, so steigt deren Zahl auf mehr als 600. Auf Grund dieser Zahlen erklärt sich der Ausspruch, das Frankfurter Parlament sei „zuviel Universität und zu wenig politische Börse“ gewesen. Aber dieses Urteil stammt, wie schon die Wortwahl erkennen läßt, aus einer späteren Zeit. Der Äbgeordnete von 1848 empfand sich nicht als politischer Börsianer, sondern er übte angesichts der Erstmaligkeit, Grundsätzlichkeit und Größe der Aufgabe dieses Parlaments einen sehr hohen Beruf aus.
Gewiß bot dieses Parlament kein getreues Abbild der damaligen sozialen Schichten in Deutschland; aber, und das ist viel wichtiger, es stellte eine Versammlung der politisch regsten, kenntnisreichsten und umsichtigsten Männer dar, die sich in nahezu religiösem Eifer alle Mühe gaben, das deutsche Volk als Gesamtheit zu vertreten. Diese Tatsache aber war bedeutsamer als die Anwesenheit von einigen Land-und Industriearbeitern, die weder des gesprochenen noch des geschriebenen politischen Wortes mächtig waren und die nationale wie die internationale politische Problematik weit weniger zu durchschauen vermochten als etwa ihre Berufsgenossen in Frankreich mit der langen Tradition sozialer und innenpolitischer Auseinandersetzungen.
Wie rührend naiv und primitiv erscheinen uns heute, vollends im Vergleich zu den gleichzeitigen Verhältnissen in England, Frankreich und anderen Staaten, die Anfänge des deutschen Parlamentarismus im Jahre 1848 — nur die Ansätze nach 1945 in den neuen Landtagen und im Wirtschaftsrat könnten gelegentlich an die Frankfurter Tage vor 100 Jahren erinnern. Die erste Sitzung unter der Leitung eines hilflosen Alterspräsidenten verlief geradezu chaotisch; die Formulierung einer Geschäftsordnung verursachte fast unüberwindliche Schwierigkeiten; jede Gelegenheit zu pathetischen Erhebungen, wie z. B. eine Huldigung für Ernst Moritz Arndt, wurde mit Eifer wahrgenommen, ein Eröffnungsgottesdienst aber durch ein bemerkenswertes Überwiegen materialistischer Auffassungen verhindert.
Unter solchen Umständen mußte den Präsidenten des Parlaments eine große Bedeutung zufallen. Ihre Gevandtheit und Konzilianz, ihre Energie in der Diskussionsführung, ihre Korrektheit und Reinheit der Gesinnung, ihr Patriotismus und ihre nüchterne Geschäftigkeit mußten die Versammlung an vielen Untiefen der Unerfahrenheit und Emotion vorübersteuern. Sehr bald zeigte sich schon in diesem ersten deutschen Parlament, daß die Arbeit der nach französischem Vorbild gewählten Ausschüsse große Bedeutung erhalten würde — der Verfassungsausschuß bildete schließlich geradezu den Kern des ganzen Frankfurter Parlaments. Das zweite wichtige Kennzeichen der Versammlung war die Ausformung von Fraktionen, die sich übrigens zunächst weniger nach ihren politischen Tendenzen benannten als nach den Häusern, den Cafes und Hotels, in denen sie sich zu versammeln pflegten: die Kasinopartei, der Deutsche Hof, der Württemberger Hof.
Versuchen wir nicht, den Verlauf der häufig sehr umständlichen Session im einzelnen zu verfolgen: halten wir vielmehr fest, daß es eine Fülle von Auseinandersetzungen gab, die zutiefst alle um das Problem der Grenzziehung zwischen den alten und den neuen Mächten, zwischen den traditionellen Regierern und den nach Mitbestimmung und Mitverantwortung drängenden Kräften kreisten. Das Wesen der Demokratie ist während dieser Monate in zahllosen Aufsätzen und Broschüren, auch in vielen Witzblättern immer wieder erörtert worden. Aus solchen Zusammenhängen entstand zum Beispiel der „Kladderadatsch", dessen erste Nummer am 7. Mai 1848 erschien.
Das Ende aber war eine tiefe Ernüchterung, ja, Verzweiflung über den tragischen Mißerfolg nach so hochgespannten Hoffnungen und so vielen ernsten Bemühungen. Jetzt tauchte stärker als zuvor die Frage auf, ob das deutsche Volk denn vielleicht wirklich politisch unbegabt sei und daher besser das Regieren alterfahrenen Fachleuten überlassen solle. Diese selbst traten wieder ungescheut in den Vordergrund und verkündeten von Neuem, daß Demokratie und Parlamentarismus ausländische Importartikel seien, die sich eigentlich für das wahre Deutschtum nicht schickten. Schon hier benutzte man das im „Dritten Reich“ dann so oft vorgetragene Argument, die demokratisch regierten Staaten Westeuropas seien dekadent, kulturell unfruchtbar und damit einer germanischen Monarchie unzweifelhaft unterlegen.
So war die bürgerliche Revolution, wie man die Ereignisse von 1848 genannt hat, in wenigen Monaten beendet, nachdem im Frankfurter Parlament Montesquieu, Rousseau, Sieyes, Mirabeau und viele große Revolutionäre mehr oder weniger radikaler Auffassung beschworen worden waren. Die große französische Revolution von 1789 war als „Zeitgeschichte“ der Generation 6 Jahrzehnte später noch so lebendig, daß die Namen ihrer Führer und Parteien sogar zur Kennzeichnung der Gegenwartserscheinungen von 1848 dienten: man sprach von einer deutschen Gironde, von einem deutschen Necker und einem deutschen Danton. Aber ärger als diese nur sehr äußerlich berechtigte Parallelisierung war die bald aufkeimende Befürchtung, daß hier wie dort der autoritäre monarchische Machtstaat die Revolution überwinden könne.
Alle Versuche, durch die Vermeidung des französischen Radikalismus, das Aufgreifen britischer Formen oder die Nachahmung der amerikanischen Verfassung einen gangbaren Mittelweg zu finden, schlugen fehl. Andererseits hat man auch darauf verwiesen, daß die deutsche Revolution von 1848 zwar keine Guillotine und keine Sondergerichte gekannt habe, daß aber eine humane Revolution notwendig eine halbe Revolution bleiben müsse — und das heißt im Endeffekt überhaupt keine Revolution. Trifft diese Auffassung wirklich den Kern des Komplexes zwischen den Reformen Steins und den Maßnahmen Bismarcks, kam das Ergebnis der englischen Parlamentsreform nicht dem politischen Aderlaß einer sozialen Revolution gleich?
Der Parlamentarismus ist in Deutschland gewiß weder durch das Frankfurter noch durch das Preußische Parlament zur Macht gelangt. Aber für den Einheitsgedanken in der Nation, für die Durchsetzung der liberalen Rechtsstaatstheorie in vielen Bereichen, auch für die Entwicklung des Sinnes für staatsbürgerliche Freiheit hat das Jahr 1848 eine sehr große Bedeutung gehabt. Die Gedanken, die 1848 erörtert, wenngleich nicht verwirklicht worden sind, mußten und konnten doch nicht vollständig aufgegeben werden. Sie wirkten fort: im Reichstag nach 1871, ebenso nach 1918 und wieder nach 1945.
Kein Gedeihen des parlamentarischen Gedankens in Preußen
Daß eine stärkere Anlehnung der deutschen Reichsverfassung an britische und amerikanische Vorbilder keine Garantie für einen günstigeren Ausgang der Ereignisse gebildet hätte, beweisen die Vorgänge in Preußen. Die preußische Verfassungsurkunde von 1848 lehnte sich selbst in ihrer revidierten Fassung vom 5. Dezember an die belgische Verfassung an. Gleichwohl nahm die preußische Verfassungsgeschichte einen ganz anderen Verlauf als die belgische. Denn, so hat Friedrich Lassalle es einmal ausgedrückt: Das konstitutionelle Leben eines Staates wird nicht sowohl durch den Wortlaut seiner Verfassungsurkunde als vielmehr durch seine Geschichte, seine innere Struktur und seine realen Gewalten bestimmt. Während Belgien zum Musterland für die liberale konstitutionelle Doktrin wurde, während sich dort wie in England, in Frankreich und in vielen anderen Staaten ein parlamentarisches Regierungssystem entwickelte, bildete sich in Preußen trotz der Ähnlichkeit der Verfassungsurkunde eine spezifisch preußisch-deutsche Form des Verfassungsstaates aus: die konstitutionelle Monarchie.
Das Charakteristikum dieser Verfassung, auf die schließlich auch der König im Januar 1850 widerstrebend einen Eid ablegte, war das Dreiklassenwahlrecht für die zweite Kammer. Aber je stärker die großen Vermögen in Handel und Industrie an Zahl zunahmen und je mehr sich das Steuerrecht von 1861 auswirkte, um so weniger entsprach dieses im Interesse des agrarischen Konservatismus konzipierte Wahlrecht wirklich den Wünschen der Regierung, wenngleich es sich stets mehr für diese als für die Fortschrittlichen auswirkte. Außerdem gab es lange Zeit neben, ja, vor den Kammern den stärksten Einfluß der feudalkonservativen „Kamarilla“ auf den König.
Als in Preußen die ganze Problematik der Regierungsform 1862 im Zusammenhang mit dem Heereskonflikt erneut zur Frage gestellt wurde, stand fest, daß König Wilhelm I. die Faktoren, die er als unerläßlich für die Machtstellung des Staates ansah, auf keinen Fall den Tendenzen wechselnder parlamentarischer Majoritäten aussetzen wollte. Die liberale Partei dagegen und insbesondere ihr im Juni 1861 als „Fortschrittspartei“ selbständig gewordener linker Flügel wollten den Komplex der Heeresreform dazu benutzen, die „konsequente Verwirklichung des verfassungsmäßigen Rechtsstaates“ durchzusetzen. Ihre Forderungen liefen deutlich auf die Unterwerfung der Regierung unter die parlamentarische Mehrheit, auf eine westeuropäische Lösung also hinaus — ein Verlangen, dem der König sich mit der unbeugsamen Unterstützung des neuen Ministerpräsidenten Bismarck mit letzter Entschlossenheit widersetzte. Nachdrücklich wiesen beide darauf hin, daß das Königtum in Preußen eine andere Position und Funktion hatte als in England und noch alle Regierungsrechte besäße, die die Krone in England vor vielen Jahrhunderten eingebüßt hatte, und die preiszugeben es nicht bereit sei. Daß es sich dabei selbstverständlich nicht so sehr um eine Rechtsfrage als vielmehr um einen Kampf für die Behauptung der Vorherrschaft im Staate handelte, hat Bismarck nicht allein zugegeben, sondern geradezu betont. Zu keiner Zeit gab es ein „Recht“ auf die konstitutionelle oder ein solches auf die parlamentarische Monarchie.
Zwar hat Bismarck nach dem Siege in diesem Kampf zwischen der Krone und den Liberalen 1866 dem bürgerlichen Liberalismus, der seit 1848 besonders durch die wirtschaftliche Entwicklung indirekt auch an politischer Macht gewonnen hatte, die Hand zur „Versöhnung" gereicht und den Landtag um Gewährung der Indemnität für die seit 1862 ohne gesetzlichen Etat vorgenommenen Ausgaben gebeten. Aber wenigstens ein Teil der Landtagsabgeordneten empfand deutlich, daß es sich in diesem Fall bei Bismarck durchaus nicht um die Preisgabe seines alten Standpunktes handelte, sondern umgekehrt um das Verlangen, daß der Landtag Haltung und Handlung der Regierung nachträglich billige. Daher lehnten einige Fortschrittsparteiler die Regierungsvorlage ab und verharrten in freilich wirkungsloser Opposition: ihnen ging es offen um das eine Prinzip, Bismarck in recht oberflächlicher Verhüllung noch immer um das andere.
Mit diesem Ausgang des Verfassungskonflikts im Jahre 1866 wurde der besondere Charakter des preußischen Staates als konstitutionelle Monarchie festgelegt, wie sie bis zu seinem Zusammenbruch im Jahre 1918 existiert hat. Bei dieser Form stand das Königtum über den Parteien, so daß das parlamentarische Regierungssystem West-und Süd-europas in Preußen also keine Nachahmung fand. Es wurde damit verwirklicht, was die Staatslehre Friedrich Julius Stahls unter dem Schlagwort des monarchischen Prinzips zum Ideal erhoben hatte.
Diese Form der konstitutionellen Monarchie war in Deutschland möglich, weil hier die Träger der alten staatlichen Ordnung aus der Zeit des Absolutismus — Monarchie, Beamtentum und Offizierskorps — ihre Selbständigkeit behauptet und den Erschütterungen des Jahres 1848 standgehalten hatten. Es gab also ein Gleichgewichtssystem, das allerdings nach einer Formulierung von Carl Schmidt nur bedeutete, „daß die Entscheidung hinausgeschoben" worden war — aber das ist eine allgemeine Erscheinung. Allerdings ruhte der Schwerpunkt dieser Entwicklung fortan nicht mehr in Preußen, sondern im Reich. Gute Politik besteht häufig genug darin, daß Entscheidungen hinausgeschoben werden. Zum anderen trat nun Bismarck als bedeutendster Gegenspieler der Anhänger des Parlamentarismus immer stärker in Erscheinung. Aus seiner ständisch-monarchischen Grundgesinnung, die in einem starken Königtum die beste Gewähr für die Machtstellung des preußischen Staates nach außen und nach innen sah, hatte Bismarck bereits zu Beginn seiner Laufbahn jede demokratisch organisierte Volksvertretung bekämpft und die Wiederbelebung der alten Geburtsstände sowie ihre Einordnung in einen modernisierten Repräsentativstaat als das beste Mittel bezeichnet, um die wirtschaftlichen Interessen des Bürgertums weniger gegenüber als unter dem Inhaber der Staatsgewalt wahrzunehmen. Die Erfahrungen während seiner Gesandtenzeit in Frankreich und die Erkenntnis, daß die Kammern wichtige außenpolitische Bundesgenossen im Kampf um Preußens Vormachtstellung gegenüber der Donaumonarchie bilden könnten, führten ihn dann zur Anerkennung der Repräsentativverfassung von 1848. Als zu Beginn der 60er Jahre die Deutsche Frage immer schneller der Entscheidung zutrieb, reifte in Bismarck der Plan zu einer deutschen Nationalvertretung auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts, mit dessen Hilfe er Österreich aus dem deutschen Staatenverband hinausdrängen wollte. In einer solchen, auf Grund außenpolitischer Überlegungen, nicht also innenpolitischer „Fortschrittlichkeit" begrenzt demokratisch aufgebauten Volksvertretung wollte Bismarck zugleich das Organ schaffen, in dem alle im Volke vorhandenen Kräfte und Meinungen unterhalb der Krone zur Auswirkung gelangen sollten. Von solchen Grundgedanken aus schuf er den Reichstag von 1871.
Niemals hat Bismarck auch nur einen einzigen Augenblick daran gedacht, zugunsten des Parlamentarismus von der konstitutionellen Monarchie abzugehen, die er 1862 in Preußen so energisch verteidigt hatte. Es gibt eine Fülle von z. T.sehr drastischen Äußerungen Bismarcks zu diesem Komplex.
Am 21. Mai 1869 sagte er im Norddeutschen Reichstag: „Dieses Argument, daß einer parlamentarischen Versammlung die Kontinuität nicht beiwohnt, ist m. E. schon ausreidtend, um vorsichtig zu sein bei Bemessung des Machtmaßes, das man in eine soldte Körperschaft legt. Wenn Sie permanent säße, warum sollte nicht die Gesamtheit der 500 oder 1000 Wahlkandidaten, aus deren Gremium durchschnittlich unsere parlamentarischen Körper hergestellt werden, im ganzen ebenso gut regieren, wie die durch den jedesmaligen Träger der Krone angestellte und geschulte Beamtenschaft —das alles ist möglich, und diese Möglichkeit muß man ins Auge fassen, wenn es sich hier um eine Verschiebung des staatsrechtlichen Schwerpunktes in Macht und Einfluß handelt. Es ist ein anderer Umstand, der es meines Erachtens nicht empfiehlt, ein zu großes Schwergewicht in die deliberierenden Versammlungen zu tragen: er liegt in der Macht der Beredtsamkeit.
Sie besddießen hier unter dem Einflüsse einer so ausgezeichneten Rede, wie wir sie eben gehört haben, vielleicht in der Bewegung des Augenblicks, während, wenn Sie die Rede langsam zu Hause nachlesen oder wenn Sie auch Gegner derselben mit derselben Geschicklichkeit sprechen hören würden, wie sie der Herr Vorredner entwickelt hat, Sie doch vielleicht stutzig würden und sagen würden, für das andere läßt sich doch auch vieles sagen. Sie beschließen in der Fraktion im voraus dasjenige, über das Sie abstimmen wollen, unter dem Einfluß der bedeutendsten Redner unter ihnen; es ist die Rednergabe etwas sehr Gefährliches, das Talent hat seine hinreißende Macht, ähnlich wie bei der Musik und der Improvisation. Ist aber der Dichter oder Improvisator gerade derjenige, dem das Steuerruder des Staates, weldtes volle Überlegung erfordert, anzuvertrauen wäre?“
Oder nach vielen Enttäuschungen mit dem deutschen Reichstag durch Parteipartikularismus und Berufsparlamentariertum, die ihm eine Rückkehr zu berufsständischen Körperschaften nahezulegen schienen, in einer Reichstagsrede vom 30. November 1881: „Diejenigen Regierungen, die für den Druck, für Grobheit möchte ich sagen, empfänglicher sind als für Unterstützungen, taugen überhaupt nicht viel. Das sind die Höflinge der Majorität. Solche Leute können Sie in untergeordneten Schichten finden, die bloß fragen: Wie fällt die Majorität aus, da werden wir gehorsam sein ohne Kopfzerbrechen; es wird abgezählt: 150 gegen 140 — was nun dem Staat nützlich ist, darüber bildet man sich kein Urteil, das hängt allein von der Majoritätsfrage ab. Es wird abgezählt, das ist so ungemein bequem ..."
Noch enttäuschter äußerte Bismarck sich wieder ein paar Jahre später in einer Unterhaltung am 27. Oktober 1885: „Eine große Nation ist nur monarchisch regierbar; auch ein gewählter Fürst, ein Präsident könnte es machen, an der Form hängt es nicht, aber die Parteiherrschaft vermag es nicht ... die beste Verfassung ist die Herrschaft eines, der möglichst wenig zu wünschen hat und möglichst unabhängig ist. In solchem Falle können Weiber, Freundschaften, Einflüsse Unheil anrichten. Gegen sie muß das Parlament Dechung bieten durdt Kontrolle, durch Einspruch: ihm, nicht der Krone gehört das Veto, es kann nicht Initiative haben, aber eine schädliche Initiative der Regierung hindern.“
Und schließlich nach dem Ausscheiden aus der praktischen Tätigkeit als Staatsmann in seinen „Gedanken und Erinnerungen": „Ich halte den Absolutismus für keine Form einer in Deutschland auf die Dauer haltbaren oder erfolgreidten Regierung. Die preußische Verfassung ist, wenn man von einigen, aus der belgischen übersetzten Phrasenartikeln absieht, in ihrem Hauptprinzip vernünftig; sie hat drei Faktoren, den König und zwei Kammern, deren jeder durch sein Votum willkürliche Änderungen des gesetzlichen Status quo hindern kann. Darin liegt eine geredite Verteilung der gesetzgebenden Gewalt. Wenn man letztere von der öffentlichen Kritik der Presse und der parlamentarisdien Behandlung emanzipiert, so wird die Gefahr erhöht, daß sie auf Abwege geriete. Absolutismus der Krone ist ebenso wenig haltbar wie Absolutismus der parlamentarischen Majoritäten.“
Freilich muß man bei solchen Äußerungen Bismarcks zugunsten der parlamentarischen Mitwirkung bei der Regierung noch bedenken, daß er ein energischer Gegner der geheimen Wahl war, deren Heimlichkeit, wie er sagte, „mit den besten Eigensdtaften des germanischen Blutes in Widersprudt steht“. Auch trat er bei der Bemessung der Wahlrechte für die Bevorzugung der Gebildeten, denen er größere Besonnenheit zutraute, gegenüber den weniger Gebildeten und für die Besitzenden gegenüber den Begehrlichen ein, die das Element der Unruhe in die Entwidclung des Staates trügen.
Will man gegenüber einer solchen theoretischen und praktischen Haltung die Stellung des deutschen Reichstagsabgeordneten, insbesondere die von Parteien, welche Bismarcks Regierung nicht nahestanden, und die Leistung des deutschen Reichstages beurteilen, so wird man außerdem die vielen uns heute kaum noch vorstellbaren Behinderungen und Erschwerungen bedenken müssen, denen zumindest ärmere Reichstags-abgeordnete und insbesondere die Abgeordneten der ärmsten, d. h.der sozialdemokratischen Partei ausgesetzt waren.
Historiker, die die Tätigkeit des deutschen Reichstages während der ersten Jahre seines Bestehens untersucht haben, unterstreichen die Bedeutung der parlamentarischen Initiative durch Anträge und ausgearbeitete legislative Entwürfe vor allem in finanziellen und wirtschaftlichen, aber ebenso in sozialpolitischen Fragen. Auch gab es kaum ein wichtiges Gesetz, dessen von der Regierung vorgelegter Entwurf nicht durch die Mehrheit der Volksvertretung nach rechtsstaatlich-parlamentarischen Prinzipien verbessert oder umgearbeitet wurde. In unermüdlicher Kleinarbeit trugen die Abgeordneten gegen den Widerstand Bismarcks, dessen Auffassung uns bekannt ist, und mancher seiner Anhänger, insbesondere auch des Bundesrates, den Geist einer freiheitlicheren Staatsauffassung in die Gesetzestexte und Paragraphen hinein. Während aber einerseits schon 1873 deutlich wurde, daß die Tagungsperioden und Arbeitsmethoden des Parlamentes dem ständig wachsenden Andrang gesetzgeberischer Aufgaben nicht mehr gerecht zu werden vermochten, erwies sich andererseits z. B. die Diätenlosigkeit des Reichstages als ein Faktor, der nicht allein das Überwiegen bestimmter Berufsgruppen und der in Berlin ansässigen Abgeordneten förderte, sondern außerdem auch die zeitliche Ausdehnung der Session sehr begrenzte und ihre Verlängerung fast unmöglich machte. Bebel, einer der ersten Sozialisten, die als gewählte Mitglieder des Reichtages aus der bloßen Obstruktion in die überlegte Mitarbeit übergingen, hebt in seinen Erinnerungen hervor, wie schon im Norddeutschen Reichstag die Teilnahme an den Verhandlungen für ihn, der Drechslermeister in Sachsen war, und für Liebknecht ein großes Opfer bedeutete. „Zwar taten unsere Wahlkreise“, so schreibt er, „und namentlich der meine, was sie konnten, um uns finanziell zu unterstützen. Es war aber doch ein peinliches Gefühl für uns beide, von einer Wählerschaft finanzielle Hilfe annehmen zu sollen, die mit zur ärmsten in Deutschland gehörte. Eine Parteiunterstützung gab es damals noch nicht, für Diäten war kein Geld vorhanden; die Diätenzahlung durch die Partei trat erst vom Jahre 1874 ab ein, die mager genug ausfiel. Auch mußten wir die Reisen nach und von Berlin aus eigener Tasche bezahlen. So fehlten wir häufig in den Sitzungen, manchmal sogar, wenn unser Parteiinteresse gebot, anwesend zu sein.“
Der deutsche Reichstag hat sich mit dem Problem der Diäten ein Menschenalter hindurch beschäftigt. Ursprünglich sollte es in der Reichsverfassung nicht allein heißen, die Mitglieder des Reichstages „erhalten aus der Bundeskasse Reisekosten und -diäten nach Maßgabe des Gesetzes“, sondern obendrein: „ein Verzicht auf die Reisekosten und Diäten ist unstatthaft.“ Aber Bismarck und später der Bundesrat lehnten die Einführung der Diäten mit allem Nachdruck ab, mochte auch zuweilen während der ersten Wochen einer Session der Reichstag infolge der Abwesenheit vieler seiner Mitglieder beschlußunfähig sein. Das Hauptargument für die Beibehaltung der Diätenlosigkeit war stets, daß der Steuerzahler den Abgeordneten gegenüber nicht das Gefühl des zahlenden Arbeitgebers gewinnen dürfe, der die pflichttreue Diensterfüllung von der Galerie aus kontrollieren könne — ein mit sehr nur Argument geringer Schlagkraft angesichts der Tatsache, daß die Abgeordneten aller anderen Parlamente in Deutschland Diäten erhielten. Vom Jahre 1873 ab wurde den Abgeordneten wenigstens die Freifahrt auf den Staatseisenbahnen gewährt, ein Jahr später auch die auf den Privat-bahnen, denen jährlich 14 OOO Taler Entschädigung für die Fahrten der Reichstagsabgeordneten während der Sitzungsperioden bewilligt werden mußten. Diäten wurden den Mitgliedern des Reichstages erst im Jahre 1906 zuerkannt.
Bebel gehörte durch seine Herkunft aus den beengten Verhältnissen der Arbeiterpartei gewiß zu denjenigen Mitgliedern des Reichstages, welche am deutlichsten empfanden, wie wichtig Kleinigkeiten sein können: er beantragte bei der Beratung des Wahlgesetzes für den Reichstag, daß der Wahltag ein Sonn-oder Feiertag und im ganzen Lande der gleiche Tag sein müsse, um jedem Wahlberechtigten die Möglichkeit der Wahl und deren unbeeinflußte Durchführung zu sichern; er wandte sich gegen die das allgemeine und gleiche Wahlrecht einschränkende Bestimmung, daß Personen das Wahlrecht verlieren sollten, die eine Armenunterstützung aus öffentlichen oder Gemeindemitteln beziehen oder im letzten Jahre vor der Wahl bezogen hatten. Eine Partei, deren politische und soziale Zielsetzung auf der Annahme beruhte, daß die kapitalistische Gesellschaft immer schwerere und längere Wirtschaftskrisen durchlaufen müsse und die Industriearbeiterschaft dabei in eine riesige Reservearmee von Arbeitslosen verwandelt würde, mußte bei einer solchen Einschränkung des Wahlrechts natürlich befürchten, daß ihre Anhänger schließlich mit der Verdienstmöglichkeit insgesamt auch das Wahlrecht verlören. Die Armenunterstützung — eine sozialpolitische Maßnahme — konnte so geradezu das allgemeine Wahlrecht in ein -kapi talistisch beschränktes verwandeln.
Während überall im Ausland die konstitutionelle Entwicklung immer stärker auf das parlamentarische System hinauslief, hielt man also im preußischen Landtag und im Reichstag mit allem Nachdruck an der konstitutionellen Monarchie fest. Die Hauptaufgabe der Landesvertretung sah man daher nicht im positiven Einfluß auf die Regierung, sondern in der negativen Abwehr von politischen Ansprüchen der Regierung — was das Parlament von vornherein mehr in die Rolle des wenig angesehenen Kritikers schob, als ihm wirkliche politische Aufgaben zu-wies. Eine solche Auffassung beruhte noch immer auf der Theorie vom monarchischen Prinzip, das die selbständige Rechtssphäre des Monarchen, in die das Parlament nicht eingreifen dürfe, von dessen Tätigkeitsfeld schied. Diese Ansicht wurde von Bismarck mit um so stärkerem Nachdruck praktiziert, als sein durch die Außenpolitik bestimmtes politisches Denken das parlamentarische Leben als Kampf zweier feindlicher, einander ausschließender und höchstens durch Kompromisse auf Zeit zu versöhnender Mächte empfand.
Allein aus dieser außen-und machtpolitischen Auffassung heraus ist Bismarcks Verhältnis zu den Parteien zu verstehen; nur aus der Stellung der Parteien zum Monarchen erklärt sich auch die Tatsache, daß schließlich Bismarck vom Kaiser, nicht etwa von den Parteien, d. h. vom Reichstag, gestürzt worden ist. Bismarck selbst war noch in den letzten Wochen seiner Kanzlerschaft, ja, in dieser Zeit mehr als je zuvor ein strikter Gegner des Parlamentarismus. Sein Spiel mit dem Gedanken des Konfliktes, des Staatsstreichs, der recht fadenscheinig motivierten Wiederauflösbarkeit des von ihm selbst gegründeten Reiches bei fortgesetzt für die Regierung ungünstigen Wahlen zeigt deutlich, daß er sich in fast drei Jahrzehnten preußischer Ministerpräsidentschaft und zwanzig Jahren deutscher Kanzlerschaft in diesem Punkte nicht geändert hatte.
Mit dem Jahre 1890, also nach Bismarcks Ausscheiden aus dem Amt, begann die allmähliche Umwandlung der monarchisch-konstitutionellen Regierungsform in eine parlamentarische — freilich nicht wegen der besseren Einsicht Wilhelms II. und Caprivis in die Erfordernisse derZeit, sondern weil der neue Kurs von Anfang an weder über Bismarcks Autorität noch über dessen innere Sicherheit verfügte, vielmehr lavierte, wo dieser geführt und um seine Ziele gerungen hatte. Die Reichsregierung aber besaß auch fortan keine organische Verbindung zum Parlament. Beamte, Nichtparlamentarier wurden mit den leitenden Stellen in Politik und Verwaltung betraut; ihre Ernennung erfolgte regelmäßig ohne jedes Einvernehmen mit dem Parlament und den Parteien. Da freilich die Regierung nicht Bismarcks Stärke besaß, mußte sie unter der Hand gleichwohl im Gegensatz zu diesem Rücksicht nehmen auf die Mehrheitsverhältnisse im Reichstag — am stärksten auf die Zentrumspartei, die im Reichstag nicht selten das Zünglein an der Waage der Abstimmungen bildete.
Eine ganz besondere Rolle fiel von Anfang an, vor allem aber unter den Machtverhältnissen und angesichts der Wahlergebnisse seit 1890 der Sozialdemokratie zu. Diese Partei des sozialen und wirtschaftlichen Radikalismus wurde mit der Industriearbeiterschaft groß, während ihr Programm aus der Zeit des Polizeiregiments, aus der industriearmen Zeit vor 1848 stammte. Es war von Männern aufgestellt worden, welche die Bedeutung des Staates und der nationalen Gemeinschaft, wie sie nach 1866 entstand, nicht zu empfinden vermocht hatten. Man hat in späterer Zeit häufig kritisiert, daß das unternehmerische, das wirtschaftlich und technisch führend tätige deutsche Bürgertum sich so wenig für die Politik interessiert und so geringen Ehrgeiz nach Parlamentssitzen und -lorbeeren gezeigt habe. Aber auf dem linken Flügel des Reichstages sah es im Endergebnis nicht viel anders aus: der Mangel an politischem Willen, der den Deutschen nur allzuleicht auf praktische Mitarbeit am Staate verzichten und ihn sich auf Kritik und Abwehr beschränken ließ, war bei den Sozialdemokraten unter dem Einfluß der Lehre vom Klassenkampf auf eine groteske und heute nahezu unverständliche Weise zur prinzipiellen Ablehnung jeder Beteiligung am parlamentarischen Leben gesteigert worden. Man stellte Kandidaten auf, wählte sie mit schnell wachsendem Erfolg, sandte sie unter Opfern ins Parlament und ließ sie dort um des Prinzips der Gegnerschaft gegen diesen Staat willen Obstruktion treiben und auf den Tag der Errichtung der Diktatur des Proletariats warten. Allerdings traten auch hier im Laufe der Zeit Modifizierungen in der Haltung der Partei und ihrer Vertreter im Parlament ein. Bebel, der seit den Wahlen zum Norddeutschen Reichstag 1867 mit Liebknecht zusammen Abgeordneter war, schrieb später über die Parlamentstätigkeit seines Parteifreundes: „Anfangs stellte er selbst Anträge zu Gesetzentwürfen, aber bald kam die alte Abneigung gegen den Parlautentariswus wieder bei iltm zum Durchbruch und äußerte sich in lebhaften Auseinandersetzungen zwisdten uns über die Taktik, die wir einnehwen sollten.“ Eine Rede Liebknechts aus dem Jahre 1869 über die politische Stellung der Sozialdemokratie bildete jahrzehntelang den Mittelpunkt dieser Diskussionen um die Frage, ob die Mitglieder und Vertreter der Arbeiterpartei durch Mitarbeit im Reichstag bewußt oder unbewußt Werkzeuge Bismarcks seien oder als demokratische Verfechter der sozialistischen Ideen jede Mitarbeit ablehnen sollten. Liebknecht vertrat die Auffassung: „Wer die neue Gesellschaft will, hat daher vor allem auf Vernichtung der alten hinzuwirken“. Er schlug vor, daß die von den Sozialdemokraten gewählten Vertreter in den Reichstag eintreten und ihn dann sofort wieder verlassen sollten, ohne jedoch ihr Mandat niederzulegen. Bebel hielt dagegen diese rein negierende Haltung stets für unzureichend — und mit ihm eine wachsende Zahl von Parteifreunden, die vermutlich nicht die starre Stärke zu der erbitterten, aber teilnahmslosen Anwesenheit im Parlament aufbrachten. Den meisten schien es mehr erfolgversprechend, die Staatseinrichtung unter Benutzung der parlamentarischen Möglichkeiten von innen heraus zu bekämpfen, als in der prinzipiellen Ablehnung zu verharren. Und Liebknecht selbst kam schließlich 1893 zu der Erkenntnis: „Hätten wir uns für eine Enthaltung entschieden statt für eine Politik der Wahlbeteiligung — wir wären heute noch eine Sekte statt einer Partei.“
Das Zentrum endlich, dessen ausschlaggebende Bedeutung als majoritätsbildende Mittelpartei bereits erwähnt wurde, scheute sich doch gerade wegen dieser Sonderstellung, als Minderheit die seiner Bedeutung entsprechende Verantwortung der Führung zu übernehmen, und begnügte sich mit einem nicht immer glücklichen Kryptoparlamentarismus: nicht auf die Besetzung der obersten, leitenden Stellen legte es Wert, wohl aber auf den unsichtbaren Einfluß durch die wichtigsten, den obersten Stellen nachgeordneten Posten in den Reichsämtern. Und die Zustimmung zu nicht wenigen Vorschlägen der Regierung ließ das Zentrum sich durch zuweilen erhebliche Zugeständnisse in religionsund kulturpolitischen Fragen abkaufen.
Bülows Versuch, sich von dieser Form starker parlamentarischer Machtausübung zu befreien, mündete 1906 in einen Pyrrhus-Sieg: er gelang nur durch eine noch stärkere Bindung an andere Parteien und damit durch einen weiteren Schritt in Richtung auf das parlamentarische System. Fortan wurden die bei den Regierungsparteien unbeliebten Minister entlassen und bei ihnen angesehene Männer bevorzugt. Die so entstandene Blockpolitik bildete die erste, freilich noch nicht eine dauerhafte Verbindung zwischen Reichsregierung und Mehrheitsparteien. Im Jahre 1913 wurde zum ersten Male ein Mißtrauensantrag gegen einen Reichs-kanzler — nämlich gegen Bethmann-Hollweg — angenommen. Doch hatte er selbst jetzt noch nicht den im echten parlamentarischen System selbstverständlichen Rücktritt dieses Kanzlers zur Folge.
Wahlrechtsreform in Preußen — wichtigste Forderung der fortschrittlichen Parteien
Auch Preußen blieb von der parlamentarischen Entwicklung im Reichstag nicht ganz unberührt. Nach Bismarcks Entlassung trat hier wie dort nicht der Träger der Krone, sondern die stärkste Partei das Erbe der politischen Führung an. Und das Dreiklassenwahlrecht sowie eine Wahlkreiseinteilung, die den dünn bevölkerten Osten gegenüber den rasch wachsenden Städten und Industriegebieten bevorzugte — in England hatte die Reform 1832 ähnliche Verhältnisse beseitigt —. kam den Konservativen noch besonders zustatten. Darüber hinaus erstarkte seit den 70er Jahren der Konservatismus in den oberen Wählerklassen. Gegen diese Bewegung kam die Regierung trotz äußerer Wahrung der Unabhängigkeit vom Parlament nicht mehr an: die preußischen Konservativen bestimmten den Ton auch in der Regierung und übten durch sie einen starken Einfluß auf die Reichspolitik aus, so daß Preußen das Gegengewicht für die demokratischen Strömungen wurde, die im Reichstag durch das gleiche Wahlrecht und die süddeutschen Abgeordneten überwogen. Damit aber ergab sich als Gegensatz der in Preußen vorherrschenden konservativen Partei des Ostens zu allen nichtkonservativen Parteien Preußens und des Reiches. Diesen galt Preußen als Hemmnis für einen zeitgemäßen Forschritt — um so mehr, als die süddeutschen Staaten in den Jahren 1904 bis 1906 für ihre Landtage zum allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht übergingen, während Preußen bis auf wenige kleinere Änderungen das Wahlrecht unverändert ließ.
Fortan wurde die Wahlrechtsreform zu einer der wichtigsten Forderungen der fortschrittlichen Parteien in Preußen und der Kritiker Preußens im Reich und im Ausland. Wilhelm II. stellte im Herbst 1908 in einer Thronrede dem preußischen Landtag eine fortschrittliche Entwicklung des Wahlrechts, d. h.dessen Anpassung an die im Laufe der letzt-vergangenen 60 Jahre wesentlich veränderte soziale Lage in Aussicht. Praktisch aber blieb in Preußen die konservative Partei an der Regierung, die Vertretung der alten Herrenschicht des 19. Jahrhunderts, die nicht zuließ, daß das Übergewicht der ostelbischen ländlichen Wahlkreise angetastet wurde.
Erst als während des Weltkrieges seit 1916 Deutschlands Lage immer ungünstiger wurde, die letzten Reserven des Volkes ausgeschöpft werden mußten und die Regierung die äußerste Hingabe der Massen brauchte, erkannte der Reichskanzler und preußische Ministerpräsident Bethmann-Hollweg und Kaiser Wilhelm II. die Unabwendbarkeit von Parlaments-reformen.Es kam hinzu, daß die Mehrheitssozialisten, die durch die Radikalisierung ihres linken Flügels in Schwierigkeiten gerieten, unter diesem Druck immer energischer eine Wahlrechtsreform in Preußen forderten, um durch einen Erfolg auf diesem Gebiet die Anziehungskraft der russischen Revolution auf ihre Anhänger zu verringern. Unter diesen Umständen versprach der Kaiser in der Osterbotschaft vom 7. April 1917 die Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts, die Einführung des geheimen und unmittelbaren Wahlrechts und die Reform des Herrenhauses in Preußen. Vom gleichen Wahlrecht war immer noch nicht die Rede. Gleichzeitig suchten die bisher Privilegierten durch die Einführung von Pluralstimmen in das künftige Wahlrecht ihre alten Vorrechte in etwas verhüllter Form zu behaupten. Und schließlich sollte die Reform erst nach dem siegreichen Ende des Krieges beginnen. Doch mit so vagen Versprechungen ließen die Gegner des Regimes und der Kriegs-politik sich nun nicht mehr abspeisen. Immer energischer forderten sie die Einführung des uneingeschränkten parlamentarischen Regierungssystems englisch-französischer Art. Schließlich setzte am 30. März 1917 der Reichstag selbst mit 228 gegen 3 3 Stimmen einen Verfassungsausschuß ein, der die für die Vorbereitung der parlamentarischen Regierungsweise im Reich notwendigen Verfassungsänderungen beraten sollte. Nur auf diesem Wege — davon war man jetzt überzeugt — konnte das Volk vielleicht noch einmal an den Staat und die Hohenzollerndynastie herangezogen werden. Wenige Monate nach der Einsetzung dieses Ausschusses versuchten Zentrum, Fortschrittspartei und Sozialdemokratie, die Regierung auf eine Friedenspolitik festzulegen. Dazu aber fehlte dem Kanzler um diese Zeit doch noch der Mut. Erst als Bethmann-Hollwegs Nachfolger Michaelis sehr bald völlig versagte und entlassen wurde, forderten die Parteien so energisch ihre Zuziehung bei der Berufung eines Nachfolgers und des Vizekanzlers, daß auf Grund ihres Verlangens Graf Hertling und der fortschrittliche Abgeordnete von Payer berufen wurden.
Freilich erwies Hertling sich gegenüber der diktatorisch auftretenden Obersten Heeresleitung Hindenburgs und Ludendorffs als zu schwach, während gleichzeitig den Mehrheitsparteien die Erfahrung fehlte, die ihnen die sinnvolle Ausnutzung ihrer tatsächlich vorhandenen Macht im Reich und in Preußen ermöglicht hätte. So konnte in Preußen die Wahlrechtsvorlage im November 1917 verschleppt und im Mai 1918 bei augenblicklich nicht ungünstiger militärischer Lage die Einführung des gleichen Wahlrechts durch die Konservativen abgelehnt werden. Das verstärkte den Verdacht, daß die innenpolitischen Reformen nach Beendigung des Krieges ebenso unterbleiben würden wie die Erfüllung des Verfassungsversprechens genau ein Jahrhundert zuvor versagt worden war.
Als in dieser Lage seit Mitte Juli 1918 der militärische Zusammenbruch offenbar wurde und die Gefahr entstand, daß das Volk die Regierungen im Reich und in Preußen im Stich lassen würde, überstürzten sich die Reformen geradezu: ein Gesetz vom 24. August 1918 erhöhte die seit der Reichsgründung unverändert gebliebene Zahl der Reichstagsabgeordneten um 44 und trug damit einigermaßen der Bevölkerungszunahme insbesondere in den großstädtischen und industriellen Wahlkreisen Rechnung. Im Oktober nahm das preußische Herrenhaus das gleiche Wahlrecht an, nachdem schon kurz zuvor im Reich das unbeschränkte parlamentarische System eingeführt worden war. Die Grundsätze dieser Regierungsreform, nämlich Ausschaltung der Initiative des Monarchen zugunsten der dem Parlament verantwortlichen Regierung, die Abhängigkeit dieser Regierung, also vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit, wurden am 28. Oktober 1918 durch die Reform der Reichsverfassung gesetzlich eingeführt. Damit verzichtete der Kaiser an diesem Tage auf die wichtigsten Bereiche seiner, der Obersten Heeresleitung gegenüber allerdings nur noch theoretisch vorhandener Machtfülle zugunsten einer Reichsregierung, deren Schwerpunkt im Reichstag liegen sollte.
Aber diese Reformen kamen zu spät und waren in ihrer übereilten schematischen Anpassung an westeuropäische Verhältnisse nicht mehr in der Lage, das Kaiserreich zu retten. In so kurzer Zeit vermochte die neue Regierung nicht, ein Volk wieder um den Thron zu sammeln, das sich seit Jahrzehnten mehr und mehr von ihm entfernt hatte: die Revolution war unvermeidbar geworden. Selbst die durch Prinz Max von Baden eigenmächtig verkündete Abdankung der Hohenzollern, d. h. praktisch die Verkündigung der Republik, vermochte diesen sichtbaren Abschluß der preußischen Monarchie und des deutschen Kaiserreiches nicht zu umgehen.
Soziale Zusammensetzung des Reichstages
An dieser Stelle sei kurz die wichtige Frage berührt, welche soziale Zusammensetzung der deutsche Reichstag von 1871 bis 1918 gehabt hat, nachdem das deutliche Übergewicht der Akademiker in der Pauls-kirche bereits erwähnt worden ist.
Für die Spiegelung der sozialen Umschichtung des deutschen Volkes auch im Reichstag ist wohl am bezeichnendsten, daß die Zahl der darin vertretenen Rittergutsbesitzer 1871 bis 1887 von 21 auf 24Vo stieg, dann aber bis zum Reichstag von 1912 auf 10, 6% zurückfiel und an ihre Stelle zum Teil die Vertreter des mittleren und kleineren Grundbesitzes traten, die 1871 1 % und im letzten Reichstag 6, 5 % aller Abgeordneten stellten. Der Prozentsatz der Beamten aller Kategorien ist niemals sehr groß gewesen, derjenige des Militärs lag stets um etwa 1 %; auch die Geistlichkeit gelangte über 1 % aller Mandate nicht hinaus. Der Anteil der Universitätsprofessoren sank von etwa 4 auf 1 %, der der Studienräte schwankte um 10%, derjenige der Volksschullehrer stieg von 0, 5% im Jahre 1884 bis auf 2, 6 %, also fast um den Teil, den die Universitätsprofessoren einbüßten.
Der Anteil der Rechtsanwälte war 1871 und 1912 konstant bei etwa 10%. Für die Abneigung gegen die im Verhältnis zum Ergebnis oft sehr zeitraubende Parlamentsarbeit ist es bezeichnend, daß infolge des enormen Aufschwungs und Bedeutungsanstieges der Wirtschaft die Beteiligung Industrieller am Reichstag zwar von 1, 8% im Jahre 1871 bis 1887 auf 11, 4% stieg, danach aber bis zum Weltkrieg wieder auf etwa 1, 5% unter Einschluß der Syndici bis auf 2, 5% absank. Die Bankiers und Bankdirektoren stellten meist weniger als 1 % aller Abgeordneten, sofern sie überhaupt Reichstagsmandate erhielten. Der Handel schwankte um 3— 5 % der Mandate. Die einzige Gruppe von Mitgliedern des Reichstages, die eine sehr starke Zunahme zu verzeichnen hatte, war schließlich die der Handwerker und Arbeiter: von 0, 3 % im ersten Reichstag wuchs ihre Beteiligung bis auf 19% im letzten Reichstag, um etwa den Anteil, den die Großgrundbesitzer, die Industriellen, die Bankiers und die Kaufleute im Laufe der Zeit einbüßten oder auch ohne Not freiwillig aufgaben.
Von einem Professoren-oder Akademikerparlament konnte also am Ende des Kaiserreiches gewiß nicht mehr die Rede sein. Aber ebenso wenig kann man davon sprechen, daß die wirtschaftlich und sozial aufstrebenden und aufsteigenden Schichten die Position der Gelehrten eingenommen hätten. Denn auch in dieser Gruppe gab es offensichtlich solche, die stark nach parlamentarischen Lorbeeren und politischem Einfluß strebten — wie etwa die Volksschullehrer und die Arbeiter-Vertreter, zu denen häufig Gewerkschafts-und Parteifunktionäre sowie Redakteure und Parteischriftsteller gehörten — wie auch andere Gruppen, die entweder gar keine politische Macht anstrebten oder diese einfach in Ausnutzung ihrer beruflichen Möglichkeiten oder mittelbar durch ihre Syndici, Verbandsfunktionäre, Parteifreunde usw. ausübten. So ist also das deutsche Reichsparlament von 1848 bis 1918 in keiner Zeit wirklich ein getreues Spiegelbild der sozialen Schichtung des deutschen
Volkes gewesen — aus leicht verständlichen Gründen. Der Wähler hat ja niemals in erster Linie seinesgleichen gewählt, sondern Männer, die er respektierte oder bewunderte, denen er politische Fähigkeiten, Objektivität, soziales Verständnis, Unbestechlichkeit sowie die energische Vertretung seiner Interessen zutraute. Erst mit dem Aufkommen derpolitischen Kampfpartei trat in dieser Haltung eine Wende ein — und doch auch wieder nur in beschränktem Umfange; denn die Millionenmassen der Arbeiter wählten gleichfalls zumeist nicht den Durchschnitt der Millionen, sondern naturgemäß — so möchte ich es formulieren — Angehörige ihrer eigenen Oberschicht. Aus diesem Grunde lag das Bildungsniveau des Parlaments im Durchschnitt stets um einiges höher als das der übrigen Bevölkerung. Als Repräsentanten des Volkes bildeten die Abgeordneten doch zugleich auch dessen Elite — selbst wenn unzufriedene und enttäuschte Wähler diese Tatsache häufig nicht wahrhaben wollten. Ja, vielleicht darf man diesen Gedanken sogar umkehren und behaupten: würde eines Tages auf Grund des Wahlresultats zum Beispiel im Deutschen Bundestag das genaue soziale, wirtschaftliche und intellektuelle Spiegelbild des deutschen Volkes versammelt sein, dann müßte man ein solches Ergebnis als unerfreulich bezeichnen, da diese falsch verstandene demokratische Repräsentation des deutschen Volkes nicht dessen politische Elite, sondern eben nur den Durchschnitt an die politisch verantwortungsvollste Stelle getragen hätte.
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Das Schicksal der Demokratie von 1918 bis zur Gegenwart
Als am Abend des 9. November 1918 zwischen den Vertretern der Sozialdemokratischen Partei und denen der Unabhängigen Sozialdemokraten die Vereinbarung getroffen wurde, einen Rat der Volksbeauftragten als vorläufige Regierung einzusetzen, war eine Entscheidung von weittragender Bedeutung gefallen: Es war entschieden, daß die eben gestürzte Monarchie in Deutschland nicht durch die Räterepublik nach bolschewistischem Vorbild, sondern durch die parlamentarische Republik abgelöst werden würde.
Die Parlamentarisierung sollte — so mußte es jedenfalls der großen Masse des deutschen Volkes erscheinen — nicht als Abschluß eines allmählichen Heranwachsens zur politischen Reife und Verantwortung erfolgen, sondern in einem revolutionären Akt; nicht auf der Grundlage außenpolitischer Ruhe und wirtschaftlichen Wohlstandes, sondern in einem Augenblick des militärischen Zusammenbruchs und der völligen wirtschaftlichen Zerrüttung.
Schlimmer noch: In den Verhandlungen, die auf den dringenden Wunsch der Obersten Heeresleitung eingeleitet worden waren mit dem Ziel, einen Waffenstillstand herbeizuführen, hatten die Feindmächte sehr deutlich gemacht, daß sie in diesem Augenblick und erst recht bei späteren Friedensverhandlungen nur eine demokratische deutsche Regierung als legitimen Verhandlungspartner anerkennen würden. Es zeigte sich hier, daß im Ausland ebenso wie in Deutschland selbst die seit dem Juli 1917 anfangs allmählich und stockend, später schnell und unaufhaltsam verlaufenden innenpolitischen Veränderungen nicht voll erkannt, nicht richtig gedeutet worden waren. Die Alliierten hatten trotz Verfassungsausschuß, trotz der Tätigkeit des Interfraktionellen Ausschusses, trotz der parlamentarischen Vorgänge bei den Kabinetts-wechseln seit Bethmann-Hollweg an der alten Vorstellung des „Persönlichen Regimentes“ Wilhelms II. festgehalten, und die deutsche Öffentlichkeit hatte über all den Alltagssorgen um die Lage an den Fronten und um die immer unzureichender werdende Ernährung nicht bemerkt, daß spätestens seit der Einsetzung des Prinzen Max v. Baden die Parlamentarisierung in vollem Umfange durchgeführt war. Auch die Entlassung Ludendorffs hatte man weithin als einen Wechsel in einer der höchsten militärischen Kommandostellen empfunden und nicht als die — zu spät erfolgte — Aufhebung der Militärdiktatur, als die Beseitigung der unbedingten Vorherrschaft militärischer Erwägungen vor politischen Lebensnotwendigkeiten. Und wenige Wochen später hätte ein aufmerksamer Beobachter leicht erkennen können, daß die demokratischen Parteien, die später sogenannten „Weimarer Parteien“ die gleichen waren, die schon im Juli 1917 den Versuch gemacht hatten, durch Parlamentarisierung und Friedensresolution die innenpolitische Entwicklung maßvoll voranzubringen und das Ende der Kampfhandlungen auf der Grundlage eines Friedens ohne Eroberungen herbeizuführen.
Jetzt — im November 1918 — aber entstand der Eindruck, daß zwischen der soeben beschlossenen Parlamentarisierung und jener alliierten Forderung, zwischen dem Sturz der Monarchie und der Einführung einer demokratischen Regierungsform untrennbare Zusammenhänge bestünden und letztlich diese Veränderungen nur infolge der militärischen Ohnmacht Deutschlands erfolgen könnten. Welche Rolle diese Argumentation in der Agitation der der Weimarer Republik feindlich gegenüberstehenden extremen Gruppen gespielt hat, ist bekannt. Aber auch weite Kreise der Liberalen, die stets die volle Ministerverantwortlichkeit, d. h. also die Parlamentarisierung erstrebt hatten, beobachteten die Verwirklichung ihres Zieles in diesem Augenblick und in dieser Form mit kühler Zurückhaltung. Charakteristisch für ihre Empfindungen ist jenes Wort von Friedrich Meinecke, dem vor wenigen Jahren verstorbenen Historiker, der den Nationalliberalen, dem rechten Flügel des Liberalismus, nahestand: Er sei ein Vemunftrepublikaner geworden, aber ein Herzensmonarchist geblieben. „Alle Gewalt geht vom Volke aus". — Die Nationalversammlung in Weimar war redlich bemüht, diesem Satz in der Verfassung, in dem neu aufzubauenden parlamentarischen Regierungssystem Geltung zu verschaffen. So sehr die demokratischen Parteien aber darauf bedacht waren, dem Parlament die ihm gebührende Stellung gegenüber der Regierung zu sichern, so selbstverständlich schien es ihnen auch, der Gefahr eines übermächtigen Parlaments vorzubeugen. Wie anders hätte das geschehen können als indem man den Reichspräsidenten unabhängig vom Parlament unmittelbar durch das Volk wählen ließ und ihm die Initiative bei der Regierungsbildung übertrug? Der Präsident sollte als Beauftragter des Volkes die Kontrolle über das Funktionieren des parlamentarischen Systems ausüben, er sollte — frei von Parteibindungen — den Kanzler berufen und aktiv an der Bildung des Kabinetts mitwirken. „Ein Dualismus zwisd-teu Präsident und Parlament wird von vornherein so gut wie ausgeschlossen. Die GleiMieit der Herkunft (Wahl durch das Volk) wird die Gleichheit der Ziele und Zwecke bestimmen.“ So formuliert der sozialdemokratische Abgeordnete Dr.
Quarck das, was die meisten -anderen Abgeordneten — und nicht nur von der SPD — ebenfalls empfanden
Die Praxis der Regierungsbildungen sah freilich von Anfang an ganz anders aus. Nicht der Reichspräsident, sondern die Parteien und Fraktionen ergriffen die Initiative, nicht die fachliche Eignung bestimmte die Ernennung des Reichskanzlers und seiner Minister, sondern die Stärke der Fraktionen und die Stellung, die sie möglicherweise als Zünglein an der Waage einnahmen. Koalitionsvereinbarungen wurden zwisehen den Parteien und Fraktionen getroffen und zumeist nicht auf ein großangelegtes Regierungsprogramm, sondern auf die im Augenblick anstehenden Fragen bezogen. Fr. Glum zitiert einen Brief Cunos vom 18. November 1922 an den Reichstagspräsidenten Ebert, in dem Cuno mitteilt, daß er den Auftrag zur Kabinettsbildung zurückgeben müsse
Eine weitere Belastung jeder Regierung lag darin, daß im allgemeinen nicht die Partei-oder Fraktionsführer die Verantwortung als Kanzler oder Minister übernahmen. Sie hielten sich im Hintergrund, trafen aber in den Fraktionen oder in interfraktionellen Besprechungen die wirklichen Entscheidungen, die dann von den Kabinettsmitgliedem übernommen und dem Reichstag und der Öffentlichkeit gegenüber vertreten werden mußten. Auch ohne das Bild einer Regierung hinter den Kulissen heraufzubeschwören, wird man nicht umhin können festzustellen, daß auf diese Weise vielfach die großen Entscheidungen nicht von dem seiner Verantwortung bewußten Staatsmann, nicht von dem erfahrenen Fachmann getroffen und im Parlament begründet wurden, sondern daß sie in Gremien der Parteien fielen.
Die Parteien waren unvorbereitet
Die Parteien waren aber, wie es sich bald erwies, dafür in keiner Weise vorbereitet, obwohl die Parlamentarisierung in ihren Programmen — außer denen der Konservativen — seit altersher einen bevorzugten Platz gehabt hatte. Bis in die letzten Phasen des Krieges hinein hatten sie nicht im Ernst mit der umfassenden Parlamentarisierung gerechnet, sondern mit der allmählich zunehmenden Beteiligung an der Regierung, mit einem langsamen Wachsen der Mitverantwortung. Der sich überstürzende Verlauf der Entwicklung hatte sie überrascht.
Das wog um so schwerer, als der Reichstag der neuen Republik ja etwas grundsätzlich anderes sein mußte, als es der Reichstag im kaiserlichen Deutschland gewesen war. Auch bis 1918 war gewiß im Parlament mit großem Ernst gearbeitet worden. Aber in dem konstitutionellen System, wie es in Deutschland gehandhabt worden war, hatte die letzte Verantwortung nicht bei den Volksvertretern gelegen, sondern bei einer Regierung, die vom Kaiser berufen und entlassen wurde. Die Mitwirkung im Reichstag blieb von der Verpflichtung frei, selbst die Regierung zu übernehmen. In diese Unmittelbarkeit der Verantwortung sollten die Parteien nun eintreten, die weit mehr an die Opposition als an die positive und gemeinsame Arbeit auf weite Sicht gewöhnt waren.
Mehr noch: Auch die Aufgaben hatten sich dem alten Reichstag gegenüber verändert und vor allem ganz außerordentlich erweitert. Der Staat hatte zwischen 1914 und 1918 zwangsläufig in schnell zunehmendem Maße weiteste Bereiche des öffentlichen und des privaten Lebens unter seine Kontrolle nehmen müssen. Das Ende des Krieges hatte statt der erhofften Rückkehr der staatlichen Zuständigkeiten in ihre früheren Grenzen das Gegenteil gebracht und die bis heute bestehende Tendenz der Ausdehnung weiter verstärkt. Der Reichstag mußte zahllose neue Aufgaben in Wirtschaft und Verwaltung, in der Versorgung der Kriegsopfer und in der Überwindung der Kriegsfolgen usw. übernehmen. Die Parteien mußten sich bemühen, die unendliche Vielfalt der Erscheinungen und Aufgaben in einem modernen großen Staat im ganzen und zugleich bis in ihre feinsten Verflechtungen hinein zu überblicken. Sie brauchten von nun an hauptamtliche Funktionäre, Spezialisten und Sachbearbeiter. Sie mußten einen „Parteiapparat" aufbauen, wenn sie den Menschen in allen seinen Sorgen und Interessen ansprechen wollten. Sie mußten schnellstens die Umstellung von der Honoratiorenpartei zur Massenorganisation vollziehen, um neben dem Apparat genügend ehrenamtliche Mitarbeiter und genügend Geld zu haben. Nur die sozialistischen Parteien hatten schon vor dem Kriege hauptamtliche Mitarbeiter in größerer Zahl gehabt. Die anderen Parteien mußten jetzt folgen. Die Parteipolitik begann, zum Beruf zu werden.
Die parlamentarische Praxis wurde durch diese Veränderungen stark berührt. Bis 1918 war das Bild des Reichstages durch die Persönlichkeit der einzelnen Abgeordneten bestimmt worden, und vor allem in der Zeit Bismarcks hatte es nie an Männern gefehlt, die im Reichstag wie außerhalb seiner Mauern einen bedeutenden Rang einnahmen und die parlamentarische Arbeit in Beratung, Rede und Debatte auf einem hohen Stand hielten. Sie handelten nach ihrem Gewissen und ihrer Verantwortung der übernommenen Aufgabe gegenüber, nicht aber nach den Anweisungen einer Parteizentrale oder einer Fraktionsführung. Gewiß hat es auch dem Reichstag der Republik nie an bedeutenden Köpfen gefehlt, aber Geltung konnten sie zumeist nur als Repräsentanten ihrer Partei und ihrer Fraktion erlangen. Sie waren nicht mehr m erster Linie Persönlichkeiten von überragender politischer Einsicht, sondern geschickte Taktiker in Partei und Fraktion, die es verstanden, Einfluß auf die Willensbildung auszuüben, deren Sprecher sie wurden.
Auch das Verhältnis zwischen Fraktion und Partei wurde völlig umgekehrt. Hatte die erstere — trotz der Lockerheit ihrer eigenen Struktur — sich bisher als die für die politische Willensbildung der Partei wirklich entscheidende Instanz betrachtet und sich — mit Ausnahme der sozialdemokratischen — stets die Unabhängigkeit von der Partei erhalten, so war sie nun auf die sachlichen Informationen und die Vorarbeiten für die parlamentarische Arbeit, auf die organisatorischen und finanziellen Hilfen bei den Wahlen angewiesen, die nur die Partei mit ihrem Apparat und ihren Finanzquellen bieten konnte. Die immer wieder betonte Exklusivität, die die Fraktion durch ihre unmittelbare Stellung zur Regierung und in der praktischen politischen Verantwortung besaß, wurde reichlich ausgewogen, je mehr sie auf die Parteizentrale und deren Verbindungen zur Presse, zu den Landesverbänden, den Landtagsfraktionen, zu den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden angewiesen war. Die Fraktionen wurden Teil der Parteiorganisation, ohne daß freilich die Rivalität mit der Parteiführung je endgültig überwunden worden wäre.
Es ist hier nicht der Raum, im einzelnen zu untersuchen, welchen Einfluß der Übergang vom Mehrheits-zum Verhältniswahlsystem auf die Entwicklung des Parlamentarismus in der Weimarer Republik ausgeübt hat. Obwohl die verfassungsgeschichtliche Forschung überwiegend in dem Verhältniswahlrecht einen wesentlichen Grund für das Versagen des Reichstages erblickt, sind die Vor-und Nachteile beider Systeme heute kaum weniger umstritten, als sie es 1919 waren. Für unsere Betrachtung genügt die Feststellung, daß die Verhältniswahl die Möglichkeit bot, auf dem Wege über die Landes-oder Reichsliste den mehr oder weniger unpolitischen Fachmann in das Parlament zu bringen, der in der direkten Wahl kaum Erfolgsaussichten gehabt hätte. Zur Popularität des Parlamentarismus hat dieses Wahlsystem zweifellos nicht beigetragen, da es nicht zu klaren und überzeugenden Mehrheiten im Reichstag führte und sich auf den gerade in diesem frühen Stadium demokratischer Entwicklung besonders wichtigen unmittelbaren Kontakt zwischen dem Wähler und seinem Kandidaten ungünstig auswirkte.
Für den Bestand der Republik mußte es entscheidend sein, ob es gelingen würde, die Jugend für sich zu gewinnen. Die Gründe für den Mißerfolg sind zahlreich, und wir können sie hier nicht im einzelnen untersuchen. Es rächte sich jetzt, daß in der Zeit des Kaiserreiches für die Entwicklung der politischen Reife wenig oder nichts geschehen war und daß die nichtsozialistischen Parteien, soweit sie überhaupt Jugendgruppen hatten oder mit nahestehenden Verbänden zusammenarbeiteten, die Politik nur in der Form eines unklaren und kritiklosen Patriotismus an die Jugend herangebracht hatten. Militärische Disziplin und Frontkameradschaft einerseits, die unnötig kränkenden Friedensbedingungen und mancherlei unerfreuliche Erscheinungen in der Zeit des Wechsels der Staatsform andererseits hatten das Ihre dazu beigetragen, daß weite Kreise der Jüngeren die Republik als ein Unglück betrachteten und den einzigen Ausweg in der Rückkehr zu einer autoritären Staatsform sahen. Sozialistisches Kaisertum und preußischer Sozialismus wurden mit heißem Herzen diskutiert, und die Freikorps und die Schwarze Reichswehr boten zunächst noch die Möglichkeit, vor der Bindungslosigkeit in die straffe Einordnung, vor der Eigenverantwortung in die Unterordnung unter den Befehl des Vorgesetzten zu flüchten. Die Vernunftrepublikaner, die in ihrem Herzen Monarchisten geblieben waren, die Männer, die aus höchstem Verantwortungsbewußtsein und politischem Weitblick um die Aussöhnung mit dem siegreichen einstigen Gegner kämpften und bereit waren, dafür Opfer zu bringen, konnten keine Begeisterung bei einer im Grunde unpolitischen Jugend erwecken. Sie suchte die militärische Disziplin und fand sie in den Kampfverbänden der radikalen Parteien auf dem rechten und linken Flügel.
Auch die Beteiligung der Frauen — die ja bis 1918 kein Wahlrecht gehabt hatten — am politischen Leben blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Viele ältere Frauen, vornehmlich auch Landfrauen, wußten mit diesem neuen Recht nichts anzufangen. Sie standen der Politik hilflos gegenüber und beteiligten sich nicht an den Wahlen. Die Parteien bemühten sich aus verständlichen Gründen — und mit beachtlichem Erfolg — darum, möglichst zahlreiche weibliche Abgeordnete in den Reichstag zu entsenden, von denen einige durch Aktivität und parlamentarische Begabung zu hohem Ansehen und wirklicher Bedeutung gelangten.
Gefährdung der neuen Staatsform seit ihrer Geburtsstunde
In dem gleichen Augenblick, in dem der Parlamentarismus in Deutschland seine Verwirklichung fand, entstanden auch schon die Kräfte, die ihn benützten, um ihn zu zerstören. Sie fanden sich in der Entschlossenbeit, ihr negatives Ziel zu erreichen, ohne daß ihnen die gleiche entschlossene Bereitwilligkeit der demokratischen Parteien zur Verteidigung der Republik entgegengestanden hätte.
Auf der Rechten schien zunächst noch keine Gefahr zu drohen. Der Kapp-Putsch wurde erstaunlich schnell vergessen; die rechtsradikalen Gruppen waren zersplittert und zerstreut; die festeren Organisationen, die hier und dort bestanden, hatten nicht so sehr den Charakter von politischen Parteien als von militärähnlichen Verbänden. Sie wurden leicht übersehen in den Jahren, in denen linksradikale Aufstände die Republik immer wieder erschütterten und den Einsatz der Reichswehr erforderten. Auch die 32 nationalsozialistischen Abgeordneten, die bei der ersten Wahl des Jahres 1924 in den Reichstag einzogen und zudem noch verschiedenen Richtungen entstammten, wurden nicht ganz ernst genommen — mit Recht, wie es schien, denn die Gruppe schmolz bei der 2. Wahl des gleichen Jahres auf 14, bei den Wahlen von 1928 sogar auf 12 Abgeordnete zusammen.
Die wirkliche Gefahr schien links zu liegen. Die KPD, die schon am 1. Januar 1919 aus dem Spartakusbund hervorgegangen war, befand sich damals zwar noch nicht in der unbedingten Abhängigkeit von Moskau, wie es spätestens um 1928 der Fall war, aber sie ließ durch die Anzettelung immer neuer bürgerkriegsähnlicher Unruhen und durch ihre parlamentarische Taktik keinen Zweifel, daß sie die parlamentarische Republik grundsätzlich ablehnte und den Reichstag wie die Landtage nur als Agitationsplattform betrachtete. Sie wuchs schnell heran und konnte 1924 — dank dem Zerfall der USPD — 62 Reichstagsmandate erringen. So gab es damals bereits etwa 100 Volksvertreter im Reichstag, die nicht nur den Parlamentarismus ablehnten — das galt auch für die Konservative Deutschnationale Volkspartei — sondern die positive Arbeit im Reichstag überhaupt. „Ihnen war jede Konsolidierung, der Demokratie, jeder noch so kleine wirtsdiaftliche Aufstieg, jede Gesundung der innenpolitischen Verhältnisse, ja das Funktionieren des Parlamentarismus schlechthin ein Hindernis auf dem Wege zur Revolution und zur Machtergreifung."
Ihre Einstellung zur parlamentarischen Arbeit zeigte sich in dem Stil der politischen Auseinandersetzung, der in diesen Jahren entwickelt wurde: Obstruktion und Schlägereien in den Parlamenten, Überfälle, Saalschlachten und Straßenkämpfe.
Der Reichstagspräsident Paul Löbe berichtet in seinen Erinnerungen, daß er gelegentlich vor Beginn der Sitzung auf den Platz jeder weiblichen Reichstagsabgeordneten eine Rose gelegt habe, die er selbst in dem großen Garten seines Amtsgebäudes geschnitten hatte. Es war eine ritterliche Geste, die in einem seltsamen Gegensatz stand zu dem groben, ja brutalen Ton, der nur zu oft die Diskussion beherrschte.
Allmählicher Zerfall des Reichstags in Interessengruppen
In den Jahren der Scheinblüte — von 1924 bis 1928 — konnte die Radikalisierung noch zurückgedämmt werden. Mit dem Beginn der großen Krise und ihrem Übergreifen nach Deutschland, mit dem Ausbruch der Massenarbeitslosigkeit und dem Anwachsen der Hoffnungslosigkeit setzte dann aber die schnelle und unaufhaltsame Auflösung des Parlamentarismus ein. Die Deutschnationale Volkspartei, die bis dahin noch zur gelegentlichen Mitarbeit oder doch wenigstens zur konstruktiven Opposition bereit gewesen war, ging unter der Führung Hugenbergs zur Obstruktion über, die Deutsche Volkspartei und die Demokratische Partei zerbrachen unter der Last der Verantwortung. Neue Pateien ganz anderer Art entstanden: Es gab eine Deutsche Einheitspartei für wahre Volkswirtschaft und eine Deutsche Kulturpartei der geistig Schaffenden, eine Partei der versorgungsberechtigten Unteroffiziere und Mannschaften einschließlich der Abgefundenen und eine Partei, die für die Aufwertung der rot gestempelten 1000-Mark-Scheine eintrat; es gab die Menschheitspartei und die Partei gegen den Alkohol und 30 oder 40 andere mehr.
Auf die praktische Arbeit des Reichstages hatten sie keinen Einfluß, da sie zumeist nur wenige tausend Stimmen erhielten. Aus dem gleichen Grunde haben sie auch nicht den Zerfall jener staatserhaltenden Parteien herbeigeführt, sondern sind recht eigentlich Zerfallsprodukte, die sich aus deren Auflösung ergaben. Ihre Bedeutung war mehr symptomatischer als realer Art, denn sie waren ein Abbild der Ratlosigkeit. Ihre Wähler versuchten, in dem allgemeinen Chaos des politischen Denkens an irgendeinem Gedanken festzuhalten, und war er auch noch so unklar und wirklichkeitsfremd.
Dem Ganzen dienten diese Parteien nicht mehr. Ihnen war nur noch ein spezielles Interesse eines kleineren oder größeren Personenkreises — der versorgungsberechtigten Soldaten, der Hausbesitzer, der Besitzer von 1000-Mark-Scheinen — wichtig; für sie hatte der Begriff Politik seinen Inhalt verloren. So standen sie, ohne es zu wollen, in einer Front'mit den radikalen Parteien, denn sie verstärkten die Sehnsucht nach der »starken Hand“, die Deutschland aus dem Chaos herausführen sollte.
Brüning hat es in einer Wahlrede vom 14. September 1930 ausgesprochen: „Wer wirklich helfen wollte, durfte nicht seine Fürsorge dem oder jenem Stand, diesem oder jenem Wirtschaftszweig angedeihen lassen, sondern mußte die Npt des deutschen Volkes in seiner Gesamtheit beheben wollen. ... Eine Besserung unserer Lage konnte man ...
nur erreichen, wenn die erforderlichen Opfer auf alle gleichmäßig verteilt wurden. . .. Keine Partei des letzten Reichstages ist mir bekannt, die nicht in eindringlicher Weise die Not dieses oder jenes Standes geschildert hätte, aber zu viele Parteien haben immer nur die Not derjenigen gesehen, deren Interesse sie glaubten besonders vertreten zu müssen. Die großen Gegensätze ließen ein entschiedenes Handeln einer Mehrheit im vergangenen Reichstag nicht aufkommen. Die Stimme des einzelnen Wählers galt mehr als das Volksganze. Der Reichstag war nicht mehr arbeitsfähig, weil er in Interessengruppen zerfiel."
Zentrum und Sozialdemokratie konnten sich in ihrem Bestand behaupten; aber eine arbeitsfähige parlamentarische Regierung kam schon seit 1930 nicht mehr zustande.
Zu den Absonderlichkeiten des Parlamentarismus Weimarer Prägung gehörte es, daß die übliche Entscheidung über Bestehen oder Nichtbestehen einer Regierung zumeist nicht, wie es hätte sein sollen, durch das Votum des Reichstages getroffen wurde, sondern daß sie in den der Öffentlichkeit verschlossenen Besprechungen innerhalb der Parteien fiel. Eine Übersicht
Von den 17 Regierungen vor dem letzten Kabinett Brüning sind 2 zurückgetreten auf Grund eines Mißtrauensvotums, 1 zurückgetreten auf Grund eines abgelehnten Vertrauensvotums, 3 zurückgetreten nach dem Zusammentreten eines neugewählten Reichstages, 1 zurückgetreten nach einer Reichstagsauflösung, 1 zurückgetreten wegen des Kapp-Putsches, 3 zurückgetreten aus außenpolitischen Gründen, 6 zurückgetreten wegen Neuorientierung der Parteien (also wegen einer Auflösung der Koalition von innen her).
Die meisten Regierungen stürzten also nicht, weil sie keine Basis mehr im Parlament gehabt hätten, sondern weil der eine oder andere Koalitionspartner seine Minister zurücknahm.
Zu dieser Übertragung der Entscheidung auf die Parteivorstände paßte es, daß die Praxis der tolerierten Minderheitenkabinette früh begann und sich mehr und mehr durchsetzte. Die Tolerierung unliebsamer Maßnahmen entlastete von der Mitverantwortung und ließ bei der Wahlpropaganda weitgehend freie Hand. So konnte es geschehen, daß das 1928 gebildete Kabinett Müller-Franken, das über eine ungewöhnlich große Mehrheit, bestehend aus den vier stärksten Parteien, verfügte, über eine Bagatelle zerfiel und der ersten Regierung Brüning — einem Minderheiten-Kabinett — Platz machte, deren Notverordnungen dann hingenommen wurden. Auf die Wähler mußten die häufigen Regierungswechsel, die Schwierigkeiten der Koalitionsvereinbarungen und das Aushandeln von Ministerposten einen deprimierenden Eindruck machen, zumal da kein überzeugendes Programm zugrunde lag und die Not und Verzweiflung gleichzeitig immer mehr anwuchsen und von der Agitation der radikalen Parteien geschickt ausgenutzt wurden. „Die verfassungstreuen Mittelparteien, zu denen auch die Sozialdewokratisdte Partei zu rechnen ist, haben es nicht verstanden, dieser Agitation mit einem wirksamen positiven Programm entgegenzutreten und durch praktische Leistungen den Boden zu entziehen ..; bei aller Anerkennung der starken außenpolitischen Belastung kann doch „schwerlich geleugnet werden, daß auch die Verfassungsparteien lieber den Ansprüchen der Wähler an die Unterstützung des Staates nachgaben, als daß sie versuchten, diese zur Übernahme der gerade in der Demokratie unvermeidlichen Pflichten zu erziehen“
War am Anfang der Weimarer Republik die dem Reichspräsidenten zugedachte Funktion durch die Verfassungspraxis aufgehoben worden, so vollzog sich nun eine entgegengesetzte Wandlung. Der Reichstag gab die ihm übertragenen Möglichkeiten preis, der Reichspräsident trat in eine Aufgabe ein, die über alle Absichten der Väter der Weimarer Verfassung hinausging und zu deren Erfüllung es eines wirklichen Staatsmannes bedurft hätte. Der Reichstag nahm es hin, daß der Reichs-präsident Brüning entließ, obwohl nach der Verfassung der Reichs-kanzler vom Vertrauen des Reichstages, nicht von dem des Reichspräsidenten abhing. Aus der parlamentarischen Demokratie, der als unparteiischer „Hüter der Verfassung“ der Reichspräsident zur Seite gestellt war, war eine durch Verfassungsbestimmungen nur wenig eingeschränkte Diktatur des Reichspräsidenten geworden.
Die Fehlentwicklung des parlamentarischen Lebens in der Weimarer Republik war selbstverständlich bald bemerkt worden. Schon früh hatten Erörterungen über eine Parteien-und Parlamentsreform begonnen, mit dem Ziel etwa einer Heraufsetzung des Wahlalters oder einer stärkeren Berücksichtigung des Persönlichkeitsprinzips. Sie mußten an der unumstößlichen Tatsache enden, daß die radikalen Parteien mit ihrer starken Anziehungskraft auf die jungen Wähler ebenso wenig zugestimmt hätten, wie die zahlreichen kleinen und kleinsten Gruppen, die nur durch die Verhältniswahl überhaupt noch eine Chance hatten, in den Reichstag zu gelangen. Auch die Frage, ob nicht der Parlamentarismus bis zur Arbeitsunfähigkeit verzerrt und überspannt sei, wurde gestellt und mit dem Vorschlag beantwortet, die Abhängigkeit der Regierung vom Parlament zu verringern. Zwar haben diese Anregungen keine unmittelbare praktische Bedeutung erlangt, aber sie bereiteten die Stimmung vor für die späteren sogenannten „Präsidialkabinette“, für den Übergang also zur Diktatur. Und Hitler ließ keinen Zweifel, wie er sich den Fortgang dachte: „Dreizehn Jahre lang haben sie wirtschaftlich, politisch bewiesen, was zu leisten sie fähig sind: eine Nation wirtsdtaftlich zerstört, den Bauernstand ruiniert, den Mittelstand verelendet, die Finanzen im Reich, in den Ländern, in den Kommunen zerrüttet, alles bankrott und sieben Millionen Arbeitslose! Sie können sich winden, wie sie sich winden wollen! Dafür sind sie verantwortlich! (Bravorufe, Händeklatschen).
Und so m u ß t e es ja kommen! Glaubt man wirklich, daß eine Nation überhaupt irgendweldte Leistungen vollbringen kann, wenn ihr wirtschaftliches Leben so zerfetzt und zerrissen ist, wie unser deutsches? Idi habe vor ein paar Stunden erst die Wahlvorschläge gelesen, z. B. in Hessen-Nassau: Vierunddreißig Parteien! Die Arbeiterschaft ihre eigene Partei, und zwar nicht eine, das wäre zu wenig, es müssen gleich drei, vier sein. Das Bürgertum, da es noch intelligenter ist, braucht daher noch mehr Parteien. Der Mittelstand muß seine Partei haben, die Wirtschaft ihre Partei, der Landmann auch die eigene Partei, und zwar auch gleich drei, vier! Und die Herren Hausbesitzer müssen ihre besonderen Interessen politischer Art, weltanschaulicher Art, auch durch eine Partei vertreten lassen; und die Herren Mieter natürlich können da nicht zurückbleiben! Und die Katholiken auch eine eigene Partei und die Protestanten eine Partei und die Bayern eine Partei und die Thüringer eine Partei und die Württemberger noch eine besondere Spezialpartei usw.: vierunddreißig in einem Ländchen! Und das in einer Zeit, in der die größten Aufgaben dastehen, die nur gelöst werden können, wenn die ganze Kraft der Nation zusammengerissen wird!
Die Gegner werfen uns Nationalsozialisten vor — und mir insbesondere, daß wir intolerante, unverträgliche Mensdten seien. Wir wollten, sagen sie, mit anderen Parteien nicht arbeiten, und . . .
Es ist an dieser Stelle notwendig, ein Wort über die Presse in der Weimarer Republik zu sagen. Gemeint sind hier nicht die nationalsozialistischen und kommunistischen Parteizeitungen, sondern jene Blätter, die die Republik grundsätzlich bejahten. Der Chronist des Berliner Zeitungswesens, Peter de Mendelssohn, sagt dazu: , „Die Zeitungen der parlamentarischen Demokratie, unter denen die großen Berliner Zeitungen an erster Stelle standen, hatten eine zweifache Aufgabe. Es war an ihnen, die Republik dem Volk in den Nachkriegsjahren nahezubringen und der Republik ihre Unterstützung zu verschaffen. Es war weiterhin an ihnen, die Massen über die Bedrohungen zu unterrichten, welchen die Republik ausgesetzt war, und sie immer wieder auf die Notwendigkeit hinzuweisen, diesen Bedrohungen ihre Unterstützung zu versagen. Es waren dies zwei verschiedene Aufgaben, eine konstruktive und eine präventive, und sie überkreuzten sich zuweilen. Bei der ersten Aufgabe jedoch versagte die demokratisch-republikanische Presse und ihre Bemühungen bei der Bewältigung der zweiten blieben daher fruchtlos.“
Es zeigte sich die überraschende Tatsache, daß die demokratische Presse zwar gelesen, aber nicht eigentlich beachtet wurde. Hermann Ullstein schrieb zu einer Zeit, in der die Zentrumszeitung „Germania“ bereits ihre Abendausgabe eingestellt hatte und der sozialdemokratische „Vorwärts" sehr stark zurückgegangen war: „... Obwohl unsere Leser uns nadt außen hin treu blieben, bestand nur wenig Zweifel, daß sie im Herzen nicht mehr auf unserer Seite waren. Innerlich war die gute Hälfte von ihnen, die überzeugt war, daß , es so nicht weitergehen kann', bereits in Hitlers Lager. Tag um Tag kritisierten wir ihr Idol und griffen es an, und es hatte nicht die geringste Wirkung auf sie“
Fielen hier die Zeitungslektüre und die politische Meinungsbildung einfach auseinander, so leisteten die Zeitungen, die von Hugenberg und seinem riesigen Pressekonzern direkt oder indirekt beherrscht wurden, durch ihre maßlose und unsachliche Kritik dem Nationalsozialismus ganz unmittelbar Vorschub. Gewiß gab es in der Weimarer Republik große, verantwortungsbewußte Blätter, die sich um die Erfüllung ihrer Aufgabe bemühten, ihre Leser nicht nur zu unterrichten, sondern auch zur Mitarbeit, zu sachlichem Urteil oder doch wenigstens zur Geduld aufzurufen. Aber sie waren in der Minderzahl, und die laute Sprache wurde von jenen Blättern geführt, die vom Skandal und von der Sensation lebten.
Der Einfluß der radikalen Presse darf nicht überschätzt werden: Hitler hatte bis zum 30. Januar 1933 keine wirkliche Massenpresse zur Verfügung, und dennoch gelang es ihm, die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit der Massen für seine Partei nutzbar zu machen. Ihm war bewußt, daß in einem solchen Stadium das gesprochene Wort viel wirksamer ist als das gelesene. Massenaufmärsche und Massenkundgebungen waren ihm wichtiger als Zeitungen, und sobald er über die notwendigen Mittel verfügte, verwendete er auch den Tonfilm als eines seiner Werkzeuge. Seit 1930 störte er durch seine Kommandos systematisch die Vorführung von Filmen, die ihm unerwünscht waren, seit der gleichen Zeit organisierte er Zellen sogenannter NS-Lichtspieltheaterbesitzer. Vor allem aber wurde in diesen letzten Jahren des Kampfes um die Macht von den Nationalsozialisten der agitatorische Film in vollem Umfange entwickelt. Nicht weniger als 182 parteieigene Wahl-filme konnten in den Wahlkämpfen von 1932 über ein Netz von Film-stellen der Partei über das ganze Reich verbreitet werden.
Das was von den Regierungen der Weimarer Republik und den verfassungstreuen Parteien dem entgegengestellt wurde, unterschied sich davon vielleicht nicht so sehr in der Menge als in der skrupellosen Anwendung dieser Möglichkeit suggestiver Massenbeeinflussung durch die Nationalsozialisten. Welch ein Abstand liegt zwischen der schlichten Vortragsweise und dem nüchternen Vortragsinhalt etwa Brünings und Löbes und dem Auftreten Hitlers oder Röhms!
Zerstörung der Handlungsfähigkeit des Parlaments
Die Wahlen vom Juli 1932 brachten den verfassungstreuen Parteien nur noch 252 Mandate, denen 356 der Nationalsozialisten, Deutsch-nationalen und Kommunisten gegenüberstanden. Die Handlungsfähigkeit des Reichstages war endgültig zerstört, die politische Auseinandersetzung auf die Straße verlegt. Innerhalb von 7 Wochen wurden 72 Tote und 500 Schwerverletzte gezählt.
Noch einmal wurde eine Spur parlamentarischen Geistes und demokratischen Verantwortungsbewußtseins sichtbar in der Reichstagssitzung vom 23. März 1933, die dem Ermächtigungsgesetz galt. Man kann auch heute nur mit tiefer Bewegung den Appell lesen, den der Abgeordnete Wels an das deutsche Volk und an die freie Welt richtete — während in den Gängen der Krolloper und um das große Gebäude herum Tausende von schwerbewaffneten SA-Männern standen und in dem Sitzungssaal zahlreiche Plätze durch den Ausschluß der Kommunisten und die Verhaftung und Mißhandlung vieler bürgerlicher und sozialdemokratischer Abgeordneter unbesetzt waren.
Die Nationalsozialisten führten die Auseinandersetzung mit dem Parlamentarismus in ihrer Weise weiter: zahllose Reichstags-und Landtagsabgeordnete aller Parteien wurden von ihnen in den Zuchthäusern und Konzentrationslagern ermordet
Man kann nicht verkennen, daß in den Gedanken und Handlungen, die zu der Wiederbegründung der deutschen Parteien und des Parlamentarismus in Deutschland nach der Katastrophe des Nationalsozialismus beitrugen, dieser Geist trotz aller Schärfe der Auseinandersetzung wirksam geworden ist. Man darf aber auch nicht in den Fehler verfallen, in dem Ausbleiben parlamentarischer Prügelszenen, in der gesicherten Anwendung einiger Abstimmungsmechanismen und in der hohen Wahlbeteiligung eine Garantie für das Funktionieren des Parlamentarismus zu erblichen: Das alles gab es auch in den Reichstagssitzungen der Hitler-Zeit und gibt es in der sogenannten Volkskammer der SBZ.
Wollten wir uns auf das Äußerliche beschränken, wäre ein Überblick über den Wiederaufbau des Parlamentarismus nach dem 2. Weltkrieg schnell gegeben. Wir erinnern uns der Erschwerungen, unter denen das politische Leben — verhältnismäßig sehr bald nach dem völligen Zusammenbruch — wieder in Gang kam, wenn auch zunächst begrenzt auf die kommunalen Vertretungen. Wir müssen uns noch einmal vergegenwärtigen, wie erschwerend sich der Mangel an erfahrenen und politisch unbelasteten Parlamentariern damals und erst recht bei den bald folgenden Wahlen zu den Landtagen auswirkte. Weite Bereiche, wie etwa die Außenpolitik, die Außenhandelspolitik, ja sogar Teile der Rechtsprechung waren damals der politischen Verantwortung entzogen; andere Aufgaben, die durch die bittere Not diktiert waren, standen im Vordergrund. Es ist noch deutlich in aller Erinnerung, wie mit der allmählichen Normalisierung des öffentlichen Lebens auch die Parlamentarisierung fortschritt — über den Wirtschaftsrat zum Parlamentarischen Rat und schließlich zum Bundestag, der dann die Funktionen eines souveränen Zentralparlaments übernahm. Erstmals in der deutschen Geschichte erhielten die Parteien im Grundgesetz ihren Platz im Staat und die Anerkennung ihres Anteiles an der politischen Willensbildung. Und mit der Wertung der Parteien, d. h. mit der Respektierung nur der Parteien, die sich in ihrer Zielsetzung und Arbeitsweise an die Grundsätze der Verfassung halten, scheint alles zum Schutze der Bundesrepublik und zur Erhaltung des Parlamentarismus geschehen, was möglich ist.
Das Wesentliche des Parlamentarismus kann aber durch keine Verfassung, durch kein Parteiengesetz gesichert werden. Es liegt in der inneren Anerkennung, die er beim einzelnen Staatsbürger, bei den großen Interessenverbänden und nicht zuletzt bei den Parteien selbst findet. Nur wenn der einzelne sich wirklich als Staatsbürger fühlt und die Verpflichtung zur politischen Mitbestimmung und Mitverantwortung ernst nimmt — nur wenn die Parteien selbst das Parlament als alleinige Stätte der politischen Entscheidung achten und ihre eigenen Rechte und Pflichten nicht schmälern, indem sie außerparlamentarische Kräfte zu Hilfe rufen, nur dann besteht die Hoffnung, daß auch in Deutschland eine feste parlamentarische Tradition sich entwickeln kann.
Mangel an parlamentarischer Erfahrung in der Bundesrepublik
Wer das politische Leben in der Bundesrepublik auch nur mit geringer Aufmerksamkeit verfolgt, kann nicht übersehen, daß diese Voraussetzungen durchaus noch nicht unbedingt gegeben sind. Noch wirkt sich der Mangel an parlamentarischer Erfahrung aus, noch ist erkennbar, daß es in Deutschland eigentlich zu keiner Zeit eine echte parlamentarische Opposition im Sinne der positiven Zusammenarbeit mit der Regierung gegeben hat. Die Auflockerung der doktrinären Verhärtung, die so gern Realpolitik mit Prinzipienlosigkeit gleichsetzt und damit das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit so außerordentlich belastet, hat eben erst begonnen.
Der 1954 verstorbene Bundestagspräsident Hermann Ehlers hat einmal in einer Ansprache im Dezember 1951 gesagt: „Wie es vor den GesaMtinteressen der Nation im Bliese auf Einzelfrageii und -forderungen nicht nur Schwarz und Weiß gibt, so sollten wir audh in der eigentlichen parlamentarischen Auseinandersetzung nicht so tun, als ob es nur ein generelles . Nein und generelles , }a gäbe.“ Und seine Mahnung war: „Hinter all diesen Erwägungen stehen letztlich nicht Fragen politisch-parlamentarischer Technik und Taktik, es steht dahinter die ganz schlichte Frage, wie die Menschen miteinander umgehen. Das gilt für unser Volk als Ganzes, das gilt aber ebenso für das Parlament dieses Volkes“
Diese ganz schlichte Frage, wie die Menschen miteinander umgehen, umschließt in Wahrheit das brennendste Problem der deutschen Parteien und des deutschen Parlamentarismus. Wir dürfen nicht verkennen, daß dieses „Wie“ auf das stärkste belastet ist durch jene andere große Sorge, daß nur ein kleiner Teil derer, die zur Mitarbeit berufen sind, wirklich mitarbeitet, und daß die große Mehrzahl es einigen wenigen überläßt, die ganze Last der sachlichen Arbeit und der Verantwortung zu tragen. Zuverlässige Zahlen über den Mitgliederstand der Parteien zu erhalten, ist aus naheliegenden Gründen kaum möglich, er beträgt aber etwa 3— 4 °/o der Wahlberechtigten, während man bei den westlichen Nachbarn der Bundesrepublik mit 15— 20°/o rechnet.
Die Auswirkungen sind zahlreich und vielschichtig und werden zunächst einmal in den Parteifinanzen sichtbar. Es sei hier nur daran erinnert, daß die Wahlkosten für einen einigermaßen aussichtsreichen Reichstagskandidaten um 1880 etwa 500— 1000 Mark betrugen, kurz vor dem 1. Weltkrieg dagegen schon 20— 30 000 Mark. Die Schätzung von 150 000 DM für jeden Kandidaten der Bundestagswahlen ist wahrscheinlich viel zu niedrig, läßt aber die Größenordnung erkennen, in denen die Schatzmeister der großen Parteien rechnen müssen.
Weit schwerer wiegen andere Sorgen, die durch den Mangel an aktiven Mitgliedern entstehen und die der Arbeitsfähigkeit der Parteien — bei der Erfüllung ihrer gesetzgeberischen Aufgaben wie in der Formung und Entwicklung des politischen Willens ihrer Mitglieder und Wähler — gelten.
Je kleiner diese Zahl derer ist, die bereit sind, praktisch mitzuarbeiten, und je mehr die Aufgaben der Parteien wachsen, desto unerträglicher wird die Belastung des einzelnen Aktivmitgliedes mit immer neuen Ämtern, Funktionen und Mitgliedschaften in den Gremien seiner Partei und in den parlamentarischen Körperschaften, in denen sie vertreten ist. Da die Ausdehnung des Staates, die im 1. Weltkriege eingesetzt hat, in keiner Weise abgeschlossen ist, sondern, wie wir tagaus, tagein beobachten können, sich immer mehr verstärkt, müssen die Parteien dieser Tendenz folgen. Es kann nicht ausbleiben, daß sie bei der Auswahl ihrer haupt-und ehrenamtlichen Mitarbeiter und ihrer parlamentarischen Vertreter auch auf Persönlichkeiten zurückgreifen müssen, die nicht in jeder Beziehung qualifiziert oder aber eben schon überlastet sind. Ungenügend durchdachte und vorbereitete Arbeit in den Fraktionen wie im Plenum und in den Ausschüssen der Parlamente mag sich in manchem Falle so erklären lassen.
Auf der anderen Seite fehlt der Parteiprominenz — und sie ist nicht selten ganz gegen ihren Willen zu dieser Prominenz gelangt — die Zeit, sich noch um den Wähler anders als durch die großen Massenveranstaltungen zu bemühen. Der Wähler in den Dörfern und kleinen Städten ist gewiß nicht von vornherein uninteressiert an der großen Politik. Aber er sucht zunächst Auskunft, Erklärung und Abhilfe in den politischen und unpolitischen Problemen, die ihn in seiner engeren Heimat beschäftigen. Bei der Zentralisierung der Parteien, die mit dem Ausbau der Parteiapparate zwangsläufig verbunden ist, kann es kaum ausbleiben, daß auch deren Geschäftsstellen ihm weniger und weniger das geben können, was er braucht, und nicht selten kommt er zu der Frage: „Was wissen denn die da oben schon von meinen Sorgen?“ Vieles von dem, was seine Partei tut, bleibt ihm unverständlich, und niemand macht sich die Mühe, es ihm gegenüber zu begründen. Die Verstimmung, die sich daraus ergibt, führt häufig zum Erlöschen des politischen Interesses überhaupt oder aber zu der Ausbildung neuer lokaler Organisationsreformen z. B. in den sogenannten Wählergemeinschaften.
Man findet gelegentlich die Meinung vertreten, daß derartige Wählergemeinschaften zur Sachlichkeit der Arbeit in den ländlichen und städtischen Gemeinden und in den Kreisen beitragen und gewissermaßen d i e Entscheidungen entpolitisieren, die ihrem Wesen nach auch keine politischen sein sollten. Bis zu diesem Punkt könnte das Wirken derartiger Institutionen durchaus begrüßt werden. Leider geht es aber weit darüber hinaus und kann leicht dazu führen, daß ihre Anhänger sich mit dieser Form der Kirchturmspolitik begnügen und die Entscheidungen über die großen, weittragenden politischen Fragen den großstädtischen Wählern überlassen. Die andere, nicht weniger ernst zu nehmende Gefahr sei hier nur angedeutet, daß nämlich die Wählergemeinschaften unter den Einfluß von Persönlichkeiten gelangen, deren Vergangenheit nicht die Gewähr dafür bietet, daß sie die demokratische Ordnung auch innerlich anerkennen.
Der Wähler zwischen Parteien und Verbänden
Das Verhältnis des Parteimitgliedes zu seiner Partei ist heute zweifellos ein ganz anderes als um 1880 oder auch noch um 1930. Gewiß ist ihm auch heute noch die Möglichkeit gegeben, Einfluß auf die Haltung der Partei, auf ihre Entscheidungen zu nehmen, aber anders als damals muß er sich heute mit einer Vielzahl von Interessenverbänden aller Art und mit einem sehr stark gewordenen Parteiapparat auseinandersetzen. Es würde zu weit führen, dem Problem der viel-zitierten Interessenverbände an dieser Stelle nachzugehen, und nicht als abschließende Bemerkung sondern vielmehr als Hinweis auf umfassendere Überlegungen, die diese Frage erfordert, ist die Erinnerung gedacht, daß es ja auch vielfach die gleichen Verbände sind, die in den verschiedenen Parteien vertreten sind, und daß das Parteimitglied zumeist selbst dem einen oder anderen dieser Verbände angehört — und daß eben diese Verbände durch Sachverständigenäußerungen oder durch ihre Vertretung in den Beiräten, deren sich mehrere Fachministerien bei der Vorbereitung von Gesetzesvorlagen bedienen, auf einem ganz anderen Wege ebenfalls zu einem indirekten Einfluß auf die parlamentarische Arbeit gelangen. Hier mag einer der Ausgangspunkte für die allmähliche Lösung der Fraktionen von den starren Ideologien und für den Übergang zu einer pragmatischen Politik liegen. Eine Fülle von weiteren Fragen, die für die künftige Entwicklung der parlamentarischen Arbeit in Deutschland wichtig sind, können wir nur stellen, nicht aber hier beantworten. Sie gelten dem Einfluß, den die feste Einordnung der Bundesrepublik in das westliche Bündnissystem auf die innenpolitische Gestaltung ausübt, aber auch der Belastung durch den ganzen Komplex gesamtdeutscher Fragen, die sich weitgehend der kühlen realpolitischen Erörterung entziehen; sie gelten den Parteifinanzen und der Presse, wie dem Verhältnis der Jugend zur Politik und zu den Parteien. Nur eine von vielen sei noch kurz skizziert. Wir haben bisher immer nur vom Parlament und von den Fraktionen, von den Parteien und ihren Mitgliedern und Wählern gesprochen. Untrennbar mit dem Parlamentarismus verbunden ist aber auch der Nicht-wähler, genauer: der Gelegenheitswähler. Es gibt Nichtwähler aus Bequemlichkeit, aus Gleichgültigkeit oder aus mangelnder Orientierung, aber auch aus grundsätzlicher Gegnerschaft zur Demokratie. Die letzteren wollen wir hier beiseite lassen.
Ob der Gelegenheitswähler sich an einer Wahl beteiligt, hängt von mancherlei Faktoren ab: Die Zahl der weiblichen Nichtwähler ist größer als die der männlichen, die der protestantischen größer als die der katholischen. Landarbeiter bleiben eher der Wahl fern als Industriearbeiter, freiberuflich Tätige eher als Angestellte und Beamte. Die Art der Wahl — Kommunal-, Landtags-oder Bundestagswahl — übt einen Einfluß aus, aber auch die Persönlichkeit des örtlichen Kandidaten. Schließlich kann ein zu grob geführter Wahlkampf abstoßen und ein zu lau geführter den Eindruck erwecken, daß „es nicht so sehr darauf ankommt".
Je mehr sich die regelmäßigen Wähler auf ihre Partei festgelegt haben — und das ist sehr weitgehend der Fall — desto mehr gilt der Wahlkampf dieser Gruppe der Gelegenheitswähler und der Aktivierung der Nichtwähler. Wenn man nur an die parlamentarische Kräfteverteilung, also an die Mandatszahlen denkt, liegt hier eine der vordringlichsten, aber auch der schwierigsten Aufgaben der Parteien.
Es ist nun aber leider nicht so, daß der ständig wechselnde oder der Gelegenheitswähler sich auf Grund sorgfältiger Beobachtung und Prüfung für diese oder jene Partei entscheidet. Im Gegenteil — er hängt völlig ab von Zufällen äußerlicher Art, vom lokalen Klatsch, von persönlicher Verstimmung, von dem, mit dem er zuletzt gesprochen hat. Ja, er läßt seine Wahlbeteiligung bestimmen durch das Wetter oder den Kaffeebesuch oder die Fußballreportage. Für den Ausgang einer Wahl aber kann es von größter Bedeutung werden, ob es dieser oder jener Partei gelingt, ihn für sich zu gewinnen. Man wird fragen müssen, ob damit nicht ein Großteil der politischen Entscheidung jener Minderheit zugeschoben wird, die das geringste Maß an politischer Einsicht, politischer Reife und politischem Willen besitzt.
Nicht die absolute Höhe der Wahlbeteiligung verleiht der demokratischen Ordnung die Festigkeit und dem parlamentarischen System die Funktionsfähigkeit. Weit wichtiger ist der hohe Stand der politischen Urteilsfähigkeit der Wähler. Und hier, in der gründlichen Information und in der sachlichen Überzeugung des Staatsbürgers, der zur politischen Mitverantwortung wenigstens durch seine Beteiligung an den Wahlen bereit ist, liegt die vornehmste Aufgabe der Parteien. Hier liegt aber auch für das Parlament selbst die Aufgabe, durch die Sachlichkeit seiner Arbeit dem Parlamentarismus die in der inneren Zustimmung jedes einzelnen beruhende gesicherte Grundlage zu schaffen und endlich eine parlamentarische Tradition zu begründen.
Literaturhinweise Ehlers, Hermann: Um dem Vaterland zu dienen. Reden und Aufsätze. Köln 1955.
Glum, Friedrich: Das parlamentarische Regierungssystem in Deutschland, Großbritannien und Frankreich München 1950.
Hartung, Fritz: Deutsche Verfassungsgeschichte. 5. Auflage. München 1950.
Mendelssohn, Peter de: Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse. Berlin 1950.
Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 1: Der Interfraktionelle Ausschuß. Düsseldorf 1959.
Terveen, Fritz: Politische Reden 1830 — 1932. Dokumente zur neuesten deutschen Geschichte. (Beihefte des Institutes für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht, München. Seebrück a. Chiemsee 1959.)
ders.:
Die Rede des Reichsministers Dr. Goebbels vor den Filmschaffenden in Berlin am 28. Februar 1942 („Publizistik" Jahrg. 4 Heft 1).
ders.:
Aus einer Wahlrede Hitlers in Eberswalde, 27. Juli 1932 (Beiheft des Inst. f. d. Wissenschaftl. Film zum Film 151/1957. Göttingen 1958).
Treue, Wollgang: Deutsche Parteiprogramme 1861 — 1956. 2. erweiterte Auflage, Göttingen 1956.
Weichert, Hans-Heinrich: Theodor Heuss, Ein Lebensbild. Bonn 1953.
Politik und Zeitgeschichte
AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:
Kurt Borries: „Die französische Revolution und Deutschland im Vorfeld der europäischen Integration"
Ernst Deuerlein: „Deutschland in Vorstellung und Aussage des Marxismus-Leninismus"
W. Jaide: „Die Einstellung heutiger Jugendlicher zur Politik"
Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"
Walter Wehe: „Die wirtschaftspolitische Entwicklung Europas seit dem Marshallplan"