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Wartheländisches Tagebuch | APuZ 27/1960 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 27/1960 Die Vergangenheit mahnt — Wille, Wege und Wagnis zur Bewältigung Wartheländisches Tagebuch

Wartheländisches Tagebuch

ALEXANDER HOHENSTEIN

Nachfolgende Auszüge sind einer vom Institut für Zeitgeschichte, München, vorbereiteten Veröffentlichung entnommen, die im Januar 1961 unter dem Titel „Wartheländisches Tagebuch" von Alexander Hohenstein bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart erscheinen soll. Das Tagebuch hat der Verfasser im Kriege als Bürgermeister einer kleinen Stadt in dem von Deutschland besetzten polnischen Gebiet geführt. Es gibt in besonderer Weise Einblick in die tägliche Praxis nationalsozialistischer Besatzungspolitik in Polen gegenüber den als „rassisch minderwertig" diskriminierten Angehörigen des polnischen Volkes und darüber hinaus auch in die praktischen Konsequenzen, die sich aus der antisemitischen Ideologie und Politik an Ort und Stelle ergaben.

Der Verfasser, ein deutscher Kommunalbeamter,'der von jeher mit der Partei nicht auf besonders gutem Fuße stand, wurde in einer Art Strafversetzung nach den im Polenfeldzug eroberten Ostgebieten abgeordnet, um im sogenannten „Warthegau“ als Bürgermeister die Verwaltung eines mittleren Gemeinwesens zu übernehmen. Wie er — als rechtlich denkender Beamter alter Schule — in zunehmendem Maße mit den Prinzipien nationalsozialistischer Besatzungspolitik in Konflikt geriet, wie er Juden und Polen als Menschen betrachtete, während sie für ihn doch Ungeziefer und Arbeitssklaven zu sein hatten, wie er im Vollgefühl deutscher Überlegenheit, jedoch in humaner Grundhaltung dem polnischen Volk die „Segnungen der Kultur“ zu bringen trachtete, statt es, wie es von ihm erwartet wurde, zu verachten und auszubeuten, und wie er schließlich mit dieser Haltung in immer stärkeren Gegensatz zur Partei geriet, das alles findet in dem Tagebuch seinen lebendigen Niederschlag.

Vorwort

Dieses Buch ist ein wortgetreuer Abdruck aus dem Tagebuch, das ich in den Jahren 1941 und 1942 während meiner Amtszeit im Warthegau geführt habe. Ich habe bei der Übertragung aus dem stenographischen Original nichts weggelassen und nichts hinzugesetzt.

Die Personennamen — auch mein eigener — und die Bezeichnung der Orte des engeren Gebietes wurden verändert. Dies geschah allein mit Rücksicht auf die überlebenden ehemaligen Mitbürger, die in den Tagebuchblättern benannt und charakterisiert worden sind. Wen es angeht, der findet sich auch unter seinem Decknamen mit einiger Sicherheit wieder.

Alle Darstellungen in diesem Buch entsprechen den wirklichen Geschehnissen genau, nichts ist erfunden. Zur Bekundung der Wahrheit in diesen Niederlegungen stehen viele Zeugen bereit. Denjenigen Lesern, die mir ein berechtigtes Interesse daran nachzuweisen vermögen, steht der Namens-Schlüssel und — soweit vorhanden — Adressenmaterial der Zeugen und Briefverfasser zur Verfügung.

Die im Anhang auszugsweise veröffentlichten Briefe sind sämtlich an mich gerichtet. Sie können von wirklichen Interessenten eingesehen werden. Aus ihnen wurde weggelassen, was rein persönlicher Natur war und zur eigentlichen Sache nichts aussagte.

Sollten ehemalige Mitbürger von P., deren Aufenthalt unbekannt ist und die sich in diesem Buch erkennen, diese Zeilen lesen, dann werden sie herzlich gebeten, sich über den Herausgeber bei mir zu melden.

Auszüge aus dem Tagebuch

7. Januar 1941 Dienstag.

Heute vormittag habe ich als erste Amtshandlung einen Betriebs-appell abgehalten. Ich rief noch einmal das gesamte Personal beider Verwaltungen zusammen und machte diese Männer und Frauen mit meiner Auffassung von Recht und Verwaltung bekannt. Besonders betonte ich meinen Grundsatz, niemand zuliebe und niemand zuleide zu regieren und entschieden als Gemeinwohl allen privaten und persönlichen Belangen voranzustellen. Ich betonte, daß ich ganz besonderen Wert darauf lege, zwischen der deutschen und der polnischen Bevölkerung ein gutes, mindestens aber erträgliches Verhältnis herzustellen, und wünsche, daß auch dem jüdischen Bevölkerungsteil menschliche Achtung und eine solche Behandlung zuteil werde, daß wir später vor der Welt nicht unseren Rang als Kulturnation einbüßen. „Es liegt zu einem guten Teil an uns nadtgeordneten Stellen, die wir unwittelbar am Volk arbeiten, den ergangenen und künftigen Bestimmungen von oben die humanste Auslegung und Auswirkung zu geben. Wenn etwas in unser freies Ermessen gestellt ist, das ebensowohl zum Nachteil als auch zum Vorteil geraten könnte, dann ist es für mich und weine Untergebenen selbstverständlich, es nur zum Vorteil anzuwenden, wögen die Betroffenen Deutsche, Polen oder auch Juden sein. Alles, was Mensdtenantlitz trägt, ist unter Wahrung seiner Eigenart wenschlidiförderlidi zu behandeln..."

So versuchte ich, meine Lebensanschauung in knappen Worten auch den einfachen Gemütern meiner nunmehrigen Untergebenen begreiflich zu machen. Amtssekretär Steinemann, der amtliche Dolmetscher, übersetzte meine Worte gleich ins Polnische, (und eigens für die Polen dazu etwa) ... folgendes:

Ich habe nicht die Absicht, das polnische Personal in meinen Verwaltungen zweitklassig zu behandeln. Wer in meinem Geiste und nach meinem Willen fleißig und treu, ohne Nebengedanken arbeitet, wird seine Stellung nicht verlieren. Was ich zu schaffen gedenke, ist nur zum Besten der Stadt bzw.des Amtsbezirks und der Einwohner, gleich welcher Nationalität und welchen Bekenntnisses, geplant . . . Was Ihr polnischen Leute also mit mir arbeitet, das arbeitet ihr für Euch und Eure Volksgenossen selbst ... Ich will Euch nicht versklaven, nicht zum Deutschtum zwingen. Ich achte Eure Nationalität, aber sie hat unbedingt zurückzutreten vor der Arbeit zum Wohle der Stadt und-des Amtsbezirks. Also nochmals: Was Ihr schafft, schafft Ihr letzten Endes für Euch selbst. Und wie Ihr wollt, daß ich Euch fördere, so fördert mich. Bei der Übersetzung beobachtete ich die Wirkung dieser Worte auf den Gesichtem der Polen. Es war mir eine Freude festzustellen, wie sie mitgingen. Zum Schluß begann einer zu klatschen, gleich fielen alle Anwesenden ein.

Die Mienen der deutschen Leute drückten dagegen zunehmendes Erstaunen aus. Nur der Inspektor nickte freimütig Zustimmung. 16. Januar 1941 Donnerstag, (hier: Auszüge)

Der Ortsgruppenleiter hat midi gebeten, in einer heute abend in der Schule stattfindenden Versammlung mich den Amtswaltern der Partei vorzustellen. Ich soll dies mit einem Vortrag über meine Eindrücke und Pläne tun. Für ein solches Referat brauche ich mich nicht vorzubereiten. Im Gegenteil! Idi muß gut aufpassen, daß ich meine Eindrücke nicht wahrhaftig darstelle und meine Pläne nicht vollständig bekannt-gebe. Meine Zuhörer mögen im bürgerlichen Leben ganz erträgliche und relativ gutmütige Kerle sein, sobald der Deutsche aber einen Uniform-rock mit Lametta trägt, ist er unberechenbar. Die NSDAP übt einen ungeheuren suggestiven Einfluß auf ihre Politischen Leiter aus. Sie pflanzt in Gehirne, die von Natur aus schlicht, menschlich und natürlich sind, Illusionen und Machtkomplexe. Wenn die schlecht verdaut werden, richten sie in Gemütern ohne ausgeglichenen Horizont leicht ethische und sittliche Verwirrung an. Meine bösen Erfahrungen mit allerlei politischen Gernegroßen hat midi in starke Zurückhaltung gedrängt. Habe ich im Altreich kein Amt eines Politischen Leiters bekleidet, so werde ich mich hier schon gar nicht in dieses problematische Korps einreihen lassen....

Sogar dieses, mein Tagebuch, führe ich in einer Stenographie, die außer mir wohl kaum jemand entziffern kann. In meiner Jugend erlernte ich nadieinander die Kurzschriftsysteme Stolze-Schrey, Gabelsberger und Reichseinheitsstenographie. Im Laufe der Jahre gerieten diese drei bunt durcheinander. Da ich zudem noch viele eigene Kürzel herausgebildet habe, ist mein Stenogramm für dritte unleserlich. Das ist sehr gut so, denn niemand weiß, wohin die politische Entwicklung führt, ob ich diese Aufzeichnungen einmal für Kinder und Kindeskinder übertragen darf oder sie eines Tages vernichten muß. Sie liegen stets in Sicherheitsverwahrung. — Besser sie als ich selbst. Ich werde sie den Schwiegereltern im Spreewald senden! ...

Wohin sind meine Gedanken nur abgeschweift! ...

Am Nachmittag besuchte ich noch das deutsche Evangelische Pfarramt, sprich Pastor Bläser und Familie. Er stammt aus Galizien, hat sich notdürftig in dem ausgeplünderten Pfarrhaus eingerichtet, in dem noch das Wesen seines Amtsvorgängers zu walten scheint, den die Polen bestialisch hingemordet haben. Der Pastor ist ein schmächtiger Mann. Seine Augen gefallen mir nicht. Im fanatischen Haß verabscheut er Polen und Juden. Steht der Gemütsmangel dieses Mannes zu Christentum und Pastorenwürde schon im üblen Gegensatz, so wirkt er bei seiner Frau geradezu abstoßend ...

— Die Parteiführerversammlung ist nicht aufregend verlaufen. Es verlohnt kaum, sie chronistisch festzuhalten ... Ich habe mich kaum über Allgemeinplätze hinausbewegt und kein Programm fixiert ... Ich befürchtete, jemand würde mich wegen meiner demonstrativen Höflichkeit gegenüber Polen und Juden befragen, doch hat es niemand getan.

... Im übrigen verkündete ich den Männern, daß ich über mein Wollen und Wirken, mein Tun und Lassen Rechenschaft ablegen werde, und zwar unmittelbar der breiten Öffentlichkeit gegenüber. Es liegt in meiner Absicht, Bürgerversammlungen einzuberufen, zu denen jeder erwachsene Deutsche eingeladen wird. Dieser Gedanke wurde lebhaft begrüßt ...

Hier scheint die Diktatur der kleinen Hitlers nicht so anmaßend zu sein, wie im Altreich. Jedenfalls hat in dieser ersten Zusammenkunftvernünftige Sachlichkeit obgewaltet. 26. Januar 1941 Sonntag.

Die erste Bürgerversammlung fand heute statt. Der Ruf in die Öffentlichkeit hat unerwartet starken Widerhall gefunden. Mit einem Elan, den wohl nur der Reiz der Neuheit und der Neugier ... hervorbringt, wurde der große Saal des „Deutschen Hauses" sitzfähig gemacht; ... die ganze Stadt geriet in Aufregung ob des bevorstehenden Ereignisses.

Die Sitzplätze reichten bei weitem nicht aus. In den Seiten und der Mitte standen die Leute, dicht gedrängt, bis vom ...

Zunächst stellte ich mich in aller Form vor. Dann schilderte ich meine Eindrücke von Land und Leuten, Stadt und Dörfern ziemlich schonungslos und stellte den Versammelten vor Augen, welchen Wirtschafts-, Bau-und Kulturzustand es zu erreichen gelte, ehe wir uns hier ebenbürtig neben unsere Dörfer und Städte im Altreich stellen könnten. Im einzelnen ging ich dann auf Übelstände ein, deren Beseitigung auch im Kriege durchaus möglich ist, vor allem die Sauberkeit im Denken und Handeln im Verkehr mit unseren Nebenmenschen. Wozu gehört, daß wir uns den Polen gegenüber ohne Haß und Niedertracht einzustellen hätten. „Einen besiegten Feind,“ so führte ich aus, „entehrt man nicht. Sonst entehrt man sich selbst. Es ist unedel, Wehrlose zu erniedrigen und zu schädigen. Ich verlange Toleranz, Einfühlung in die Empfindungen der anderen und deren Umerziehung durch das praktische Beispiel. Nur eine untadelhafte, redliche Lebens-und Wirtschaftsführung kann auf die Dauer diese Leute von unserer kulturellen Überlegenheit überzeugen und sie zu innerlicher Umstimmung bringen. Es liegt an uns, ... das Ziel des friedlidten, förderlidien Zusammenlebens recht bald zu erreichen. Druck erzeugt Gegendruck und Haß wieder Haß. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Polen uns nicht ins Land gerufen haben . . . Wir haben uns, ebenso wie sie, mit Anstand ins Unvermeidliche zu fügen, uns aber nicht das Leben gegenseitig zu verbittern. Wir müssen nun einmal Nachbarschaft halten mit Polen und Juden, wollen es korrekt und menschlidt einwandfrei tun.

Auch der Jude ist ein Mensch . . . Solange wir mit der jüdischen Gemeinde Berührungspunkte haben, sind wir als Menschen und Christen verpflichtet, ihnen die menschlichen Grundrechte möglichst ungeschmälert zu lassen. Freilich in den Grenzen, die uns und ihnen das Gesetz erlaubt ...“ 1. September 1941 Montag.

Gestern haben die ehernen Glocken der schönen Stadtkirche die Gläubigen zum letztenmal zum Gottesdienst gerufen. Ein Befehl der Regierung hat sie zum Schweigen gebracht 4). Ab heute sind die polnischen Kirchen im Warthegau geschlossen worden! Ein unverständlicher, wahnwitziger Gewaltakt. Schlimmeres ist kaum noch denkbar---------! — Ich bin furchtbar aufgeregt, meine Empfindungen und Befürchtungen gehen dem Verstände aus dem Wege. Ich kann meine Erschütterung kaum in Worte fassen. — Wie kann man die Seele eines unterworfenen Volkes so grausam foltern! Wie will man ... diesen Gottesfrevel vor der Weltöffentlichkeit begründen und vertreten?

Wird nicht ein einziger Schrei der Empörung durch die ganze Christen-welt gehen? — Niemand von uns Deutschen versteht diese Brutalität. Die schärfsten Ausdrücke genügen nicht, unsere Gefühle auszudrücken. Inspektor Netter, ein gläubiger Katholik, ist so aufgebracht, daß ich diesen, sonst so ausgeglichenen, gemütvollen Mann kaum wiedererkenne. Auch unter uns Protestanten gibt es kaum einen, der mit gleichgültigem Achselzucken diese fürchterliche Anordnung abtut.

Was werden nun erst die Polen dazu sagen, die, ob ihrer schlichten Lebensweise und geistigen Bedürfnislosigkeit, ihr ganzes Herz der Kirche verschrieben haben? — — Mir graut vor den Folgen dieser unglückseligen Haßpolitik ...

— Alle rechtschaffenen Deutschen im Wartheland, soweit sie sich geistige Klarheit und Selbstachtung bewahrt haben und nicht willenlose Sklaven des NS-und SS-Systems sind, werden innerlich abrücken von dieser tyrannischen Einstellung unserer Führung. Wir sind durchaus nicht alle kritiklose politische Idioten!

Was wir heute den Polen gegenüber empfinden, ist in einem Satz auszudrücken: Wir schämen uns, Handlanger jener Handvoll Menschen in der Staatsführung sein zu müssen, die ihnen und uns diese Kultur-schande bereitet haben. — Nach der bekannten Üblichkeit ist dieser Erlaß ohne Begründung herausgekommen.

Heute entsinne ich mich, daß in der letzten Parteiversammlung vom Kreisschulungsleiter die Kirchenfrage berührt wurde; ziemlich beiläufig.

Der Kreisschulungsleiter ist zugleich stellvertretender Kreisleiter und von Beruf Schulrat, also Jugenderzieher!

Er sagte da etwas von der politischen Gefahr, die in der Ansammlung so vieler Polen während der Gottesdienste zu erblicken sei; und darin, daß ein polnischer Geistlicher, also ein führender Intellektueller, sie in der Hand habe. Die polnische Intelligenz des Warthelandes sei zwar ziemlich gründlich ausgerottet, man habe aber die Pfaffen vergessen. Die Geistlichen könnten nicht ausreichend beaufsichtigt werden, sie entfachen und stärken den Widerstandswillen der Polen. Sie erteilen, trotz strenger Verbote, den polnischen Kindern sogar Unterricht. Ihre klare Führereigenschaft sei das gravierende Element politischen Mißtrauens und geplanter Abwehrmaßnahmen.

Diese politischen Schutzmaßnahmen bestehen also in der gewaltsamen Schließung der Gotteshäuser. Da hat man bestimmt das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, hat Wind gesät und wird einmal, wie ich den polnischen Volkscharakter beurteile, Sturm ernten . . . 14. März 1942 Sonnabend.

Ist denn so etwas überhaupt auszudenken? Ich soll bei vollem Verstände einen unschuldigen Menschen zum Tode verurteilen! Ich soll mit ansehen, wie sechs Menschen öffentlich erhängt werden, von denen wahrscheinlich keiner den Tod verdient hat. — Hingerichtet ohne ordentliches Strafverfahren und Urteil! --------In meiner Stadt! --------Ich bin aufs äußerste erregt, aufgewühlt bis in den letzten Herz-winkel. - O, warum mußte ich hierher verschlagen werden, in diesen unglückseligen Osten, der von konzentrierter Brutalität, von sadistischer Grausamkeit, von blindem Rassenhaß regiert wird. — — Ich will versuchen, das Schreckliche der Reihe nach zu schildern. Nie hat sich die Notwendigkeit, ein ausführliches Tagebuch zu führen, nachdrücklicher erwiesen als heute. Was jetzt befohlen und in einigen Tagen ausgeführt wird, muß unbedingt festgehalten werden für eine spätere Zeit. . . . — Es war ein Uhr mittags. Ich hatte meinen Schreibtisch aufgeräumt und eben abgeschlossen. Eine arbeitsreiche Woche schien überstanden, und ich freute mich auf das Wochenende. — Auf ein besonders schönes Wochenende, denn wir waren nachmittags zu einer Hochzeitsfeier bei netten Leuten eingeladen. .. .

Da klopfte es an die Tür.

Drei Männer traten herein. Zwei SS-Offiziere und ein Zivilist. Der stellte sich als Gestapo-Kommissar und die beiden Uniformierten als Sonderbeauftragte der Staatspolizei vor. „Was kann ich für Sie tun, meine Herren?“

„Wir haben Ihnen einen Auftrag zu überbringen: Auf Befehl der zuständigen Stellen sollen in Ihrer Stadt ant 18. März, also cm Mittwoch der kommenden Woche, sechs Juden öffentlich erhängt werden. Die Hinrichtung hat auf dem Markte zu erfolgen in Gegenwart aller in Ihrem Ghetto steckenden Juden. Denen zur Abschreckung. Es ist dafür zu sorgen, daß die NS-Formationen zur Stelle sind. Auch soll den Polen Gelegenheit gegeben werden, die Exekution mit anzusehen.“

— — — Wie Keulenschläge dröhnten diese Sätze auf mich ein. Ich glaubte, nicht recht zu verstehen: Sechs Juden — öffentlich hinzurichten — aufzuhängen — auf dem Markt — in Gegenwart der jüdischen Gemeinde — — „Was sind denn das für Delinquenten?“

„Fünf Mann bringen wir aus Litzmannstadt mit. Das sind Aufrührer, Schmuggler, Schieber und haben noch allerhand anderes auf dem Kerbholze. Danach ist hier nicht zu fragen. Jude ist Jude. Die ganze Rasse Verdient aufgehängt zu werden.“

Diese Antwort kam in so barscher Form, daß sie jede weitere Forschung nach Schuld und Sühne ausschloß. Ich hatte den Befehl widerspruchslos zur Kenntnis zu nehmen. Ein würgendes Unbehagen stieg mir in die Kehle. „Obersturmführer, Sie sprachen von sechs Verurteilten, aber nur von fünf, die aus Litzmannstadt kommen. Darf ich noch fragen, wo der Sechste herkommt?“ „O ja, das dürfen Sie. Das sollen Sie sogar: Den Sechsten haben Sie zu liefern.“

--------------------------------Mich durchschauerte es heiß und kalt.

„-----Idt — soll — liefern-------?“

Mein Gesicht muß sehr geistlos gewesen sein, denn die Männer brachten es fertig, über mich zu lächeln. Lachen in solcher Situation!

„Ja, Sie!“

„Ich habe doch niemand in der Judengemeinschaft, der ein todes-würdiges Verbrechen begangen hat!“ ----„Was Sie nur immer von Verbrechen reden? In welchen Anschauungen leben Sie denn in diesem Kaff?“ entgegnete bösartig der Offizier. „Alle Juden, ohne Ausnahme, sind Verbrecher und Auswurf der Menschheit. Alle verdienten sie von der Erdoberfläche zu verschwinden.“

„Das fällt mir ungeheuer schwer — —“ „Das scheint mir auch so. — Nun, Sie werden doch im Ghetto ein besonders dreckiges Subjekt haben, das irgendwie kriminell vorbelastet ist oder sich durch große Schnauze hervortut.“ — „Nicht, daß ich wüßte. Ich kümmere mich um das Ghetto befehlsgemäß nur im Rahmen des Allernotwendigsten. Die Juden verwalten sich selbst. Ich habe lediglich mit deren Altesten zu tun.“

„Na, dann nehmen Sie doch einfach den!“

— „Aber meine Herren!“ -------— „Also, Herr Bürgermeister, es ist u/is egal, wie Sie das machen. Sie haben jedenfalls befehlsgemäß einen Juden an den Strick zu liefern, damit das halbe Dutzend voll wird, für das der Galgen vorgesehen ist. Wir haben ohnehin Kerle ausgesucht, die aus Poniatowec stammen, damit das Exempel für Ihr Ghetto besonders nachdrücklich wirkt. — Schluß mit der Diskussion. Kommen wir zur technischen Seite der Veranstaltung.“

Seine Grausamkeit, sein beißender Hohn schmerzten mich fast physisch. Der Obersturmführer weidete sich an dem ohnmächtigen Wirbel meiner Gefühle, den ich nicht verbergen konnte. — Mit den letzten Worten gab er seinem uniformierten Kameraden einen Wink. Der entnahm seiner Aktentasche einen Hefter und breitete vor mir in Lichtpausen die Zeichnung eines Galgens aus, die bis ins letzte detailliert schien. „Diesen Galgen haben Sie auf Kosten Ihrer Stadt bauen zu lassen. Er muß Dienstag abend fix und fertig auf dem Markte stehen.“

Im Augenblick zuckte mir der Gedanke auf: jetzt kannst du einen Zeugen für diese Ungeheuerlichkeit gewinnen.

„Moment mal, meine Herren! Ich bin bautechnisch nicht bewandert. Da muß ich einen Fachmann heranholen, dem Sie die Zeichnung erläutern können.“ Das war den Männern offensichtlich nicht ganz recht. Sie sahen sich an. Schließlich sagte der bis dahin stille Zivilist:

„Wer ist denn dieser Fachmann?"

„Mein Stra^enbauweister Helferick.“

„Ein Pole?“

„Nein, Deutscher." — „Kann der den Mund halten?"

„Unbedingt.“

„Dann lassen Sie ihn konmten. Aber schnell, denn wir müssen bald weiter“ — Ich hatte Glück. Helferich war noch mit der Lohnabrechnung im Bauamt beschäftigt. Gerade wollte er Schluß machen. Bald war er zur Stelle. Als ich ihm den Sachverhalt in kurzen Worten erklärte, verfärbte er sich. Ich sah, wie es in seinen Gesichtsmuskeln arbeitete. Seine Hände zitterten, als er die Galgen-Zeichnungen betrachtete. — Der SS-Führer erläuterte ihm alle Details. Die Arbeitsweise einer solchen Anlage schilderte er mit einer Vertrautheit, die auf vielfache praktische Erprobung schließen ließ. — Es schüttelte mich, diese Henker bei der Vorbereitung zu sehen. Sie behandelten diesen abscheulichen Komplex mit einer Gelassenheit, als ob es sich darum handelte, einen neuen Brunnen zu graben.

Meine Gedanken kreisten um die ungeheuerliche Zumutung, einen -Menschen „an den Strick liefern" zu müssen. — — Endlich, endlich fuhren diese kaltschnäuzigen Männer weg. Helferich mußte sie zum Markt begleiten, um die Hinrichtungsstätte auszusuchen.

Wie betäubt ging ich nach Hause. . ..

Nachmittags begab ich mich zum Gendarmerieleutnant Gschneidig. Auch er war stark bewegt, als ich ihm den Sachverhalt erklärte. „Kennen Sie einen Juden in unserem Ghetto, der ein todeswürdiges Verbrechen begangen hat?“

„Nein, Herr Bürgermeister. Ich kann Ihnen nicht helfen.“

Dann bestellte ich mir den Judenältesten ins Amtshaus. Goldeborn fuhr auf, als ich ihm erklärte, was bevorstand. „Ist denn so etwas möglich! — Ist denn so etwas möglich?“

„ — ]a! Herr Goldeborn, ich muß jetzt eine Gewissensfrage an Sie richten: Lebt in Ihrer Gemeinde etn Mann, der ein Verbrecher ist oder früher etwas begangen hat, was ungesühnt blieb?“

Goldeborn bedachte sich ein Weilchen.

„Nein, Herr Bürgermeister!“ „ — Denken Sie nochmal nach. Man könnte sich vorstellen, daß ein Verbrechen in Ihrer Gemeinschaft vorgefallen ist, das Sie aus naheliegendenGründen verheimlichten. Zumal Sie im Ghetto ja auch eigene Gerichtspraxis ausüben. Ein Vorkommnis, das Sie auch mir nicht mitteilten.“ „Nein, Herr Bürgermeister, bestimmt nicht.“

— Gequält ging ich im Zimmer auf und ab. Der jüdische Zahnarzt verfolgte midi mit Augen, die schrecklich rot hervortraten. Angst sprach aus ihnen. -----------„Herr Bürgermeister! Das Leben eines unserer Leute ist in Ihre Hand gegeben, — das Leben eines Menschen. — Sie können jeden beliebigen Juden ausliefern. -------Audt mich. ------„Das weiß ich. — Eben das bedrückt mich. Herr Goldeborn, — dies ist eine der sdiwersten Stunden meines Lebens. -----„Seien Sie gerecht!“

„Dazu brauchen Sie mich nicht erst aufzurufen.“

„Das weiß ich. --Leider, — oder Gott sei Dank, kann ich Ihnen nicht dienen, Herr Bürgermeister. Ich kann es vor meinem Gewissen nicht verantworten, Ihnen einen Juden zu nennen, und sei es auch mein ärgster Feind. Den habe ich, aber er ist auch ein Mensch.“

„ — Mann, ich will ja auch gar keinen haben,“ schrie ich ihn, aufs Höchste erregt, an, „verstehen Sie mich denn nicht!? Mir ist meine Seelenruhe genau so lieb wie Ihnen Ihre! Meinen Sie, ich will bis an mein Lebensende die schwere Sünde mit mir herumtragen, einen unschuldigen Menschen zum Tode verurteilt zu haben? Das ist Mord!! Mit solcher Schuld soll ich einmal vor den ewigen Richter treten? — Sie haben leicht sagen , I h kann nicht und ich tue nicht', leit aber soll! Für mich wäre die Nichtlieferung eine Befehlsverweigerung, die an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Verstehen Sie das?“ „Ja, Herr Bürgermeister.“

„Nein, Sie können das nicht verstehen, Sie sind nicht Bediensteter dieser Gewalt. ----Entweder, ich gehorche und werde zum Mörder, oder ich rebelliere, und meine bürgerliche Existenz ist ausgeliefert; und die meiner Frau, die meiner vier unschuldigen Kinder. -----"

„Das ist ja furchtbar!“

„Ja, das ist furchtbar. Vielleicht erkennen Sie nun, daß mich dieses Ereignis persönlich betrifft. Die Alternative heißt für mich: Tod des anderen oder Selbstvernichtung. -----"

— „Gott meiner Väter, wie schwer schlägst du uns arme Menschenkinder! — „Gehen Sie, Herr Goldeborn. — Gehen Sie nach Hause und grüßen Sie Ihre tapfere Frau. Ihr dürfen Sie alles sagen, aber sonst noch keinem Menschen. Das könnte für Sie übel auslaufen. — Ich muß alles mit mir selbst auskämpfen. Gehen Sie jetzt!“ — Ich weiß nicht, um welche Stunde der Judenälteste mich verlassen hat. Ich weiß auch nicht, wie lange ich grübelnd an meinem Schreibtisch gesessen und nichts um mich herum wahrgenommen habe. ... 15. März 1942 Sonntag.

Klirrender, trockener Frost.

Ich ritt über Land, aber die Baustellen zogen mich nicht an. Nur mit den Gedanken aufräumen! Allein sein. — Ziellos trabte der Wallach mit mir durch frierende, armselige Dörfer. Dampfend galoppierte er über Wege und Wiesen, querfeldein. Ich weiß nicht, wo ich heute vormittag überall aufgetaucht bin. Meine Gedanken rissen mich hin und her.

Drüben, im Ghetto, sitzt ein Mann, irgend ein Mann, den ich nicht kenne; den ich wohl nie bemerkt habe, der mir nichts getan hat, der seit Jahren kümmerlich dahinvegetiert. Dieser Mann soll in drei Tagen sterben. Schmachvoll am Galgen. Vor seinen versammelten Glaubens-genossen. Vielleicht im Angesicht seiner Frau und seiner Kinder. — Und ich soll ihn zum Tode bestimmen. Ich!! — Nein. — ich kann es nicht. Mag da kommen, was da wolle. — 16. März 1942 Montag.

Im Ghetto zu Litzmannstadt sitzen fünf jüdische Männer. Alle aus Poniatowec.

Der Tod wartet auf sie. — Übermorgen schon. — Vielleicht ahnen sie ihr grausames Ende noch gar nicht. Das wäre gut so. — Vielleicht aber doch----— Ich konnte auch heute Nacht nicht schlafen. 17. März 1942 Dienstag.

Herr Helferich fragte midi, ob ich mir den Galgen ansehen wolle. Im Zimmerhof, hinter dem „Deutschen Hause“ liegt er, fertig zum Aufrichten. „Nein! Um Gottes Willen, iteivil Idi will nichts davon sehen. Garnirhts! Können Sie ihn in der Nacht aufbauen?“

„Ausgeschlossen. Es muß noch hell sein.“

„Nehmen Sie das letzte Himmelslicht wahr. Bauen Sie so spät als möglich aufl------„Herr Bürgermeister, die polnischen Zimmerleute haben rausgekriegt, was das für ein Bauwerk ist.“ „Ließ sich das nicht vermeiden?“

„Nein. Ich habe ihnen die Zeichnung nicht oezeigt, nur Einzelteile anfertigen lassen. Aber sie haben es doch gemerkt. Nun werden sie sprechen. —“ --„Ich kann's nicht verhindern. Heute abend erfährt ohnehin die ganze Stadt, was für ein teuflisdtes Stück hier gespielt werden soll. Ist wenigstens alles in Ordnung an dem Ding?“

„Ja. E: wird funktionieren.“

— Wie ein Stich ging es mir durch die Nerven.

Schauderhaft, an morgen zu denken. — Idi habe auftragsgemäß Ortsgruppenleiter Puffmann Bescheid gegeben. Er wußte schon, was los ist. — Woher?

Der tägliche Marsch der Juden wird auf den Markt geleitet.

Leutnant Gschneidig fragt an, welchen Juden er nun verhaften lassen soll.

„Gar ke'ten!“

„Sie müssen dodt morgen einen zum Aufhängen stellen.“ „Ich stelle keinen." --------„Das gibt eine Katastrophe, Herr Bürgermeister!“

„Mag kommen, was soll. Ich verurteile keinen unschuldigen Menschen zum Tode.“ „Wir werden böse Stunden erleben. Der Kreisleiter leitet die Hinrichtung persönlich.“ „Meinetwegen. Ich werde meinen Standpunkt schon vertreten."

— Abends werkten Zimmerleute auf dem Markt. Eine Kinderschar umsprang das Blutgerüst, dessen Zweckbestimmung sie nicht kannten. „Hurra! Ein Kasperletheater" riefen sie und tanzten weiter. Sie ahnten nicht, daß es ein Totentanz war. ----— Die Andeutungen der polnischen Zimmerleute haben sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Das morgige Ereignis ist das alleinige Stadtgespräch. Keinem ist dabei so recht wohl.

Im Ghetto heulen die Klageweiber.

— Die kleine Stadt hält den Atem an. 18. März 1942 Mittwoch.

Mit Gottes Hilfe ist dieser bitterschwere Tag nun überstanden. Noch fiebert alles in mir, und meinen Händen fällt es schwer, das Entsetzliche niederzuschreiben, das unsere Stadt, und nicht zuletzt ich selbst ertragen mußte. ... — — Der Kreisleiter hatte die öffentliche Hinrichtung auf 10 Uhr früh angesetzt. Befehlsgemäß hatte ich in Uniform daran teilzunehmen. In letzter Minute ging ich zum Markt. Da stand der schauderhafte Galgen auf der höchsten Erhebung vor der Kirche. Hoch überragte er die Menschenmenge. Am Platzrand parkten fremde Autos. — Links vom Galgen hatte man die schwarze, traurige Schar der Juden aufgetrieben. Kinder drängten sich in die Lumpen verhärmter, weinender Frauen. Die verängstigten Männer starrten gebannt auf das Mordinstrument. Rechts wogte die Menge der sensationslüsternen Deutschen und Polen. Alle Fenster ringsum waren besetzt, sogar die sonst fast nie benutzten Balköne.

Die Frontseite des nach hinten offenen Karrees wurde von den Partei-amtsträgern, dem Korps der politischen Leiter und der Gendarmerie eingenommen. Ich sah viele auswärtige Uniformträger. Unter ihnen den Kreisleiter. Bei ihm mußte ich mich melden. — „Das klappt hier nicht!", fuhr Hofmüller mich an. „Wo ist der Jude von Ihnen, der aufgehängt werden soll?“

„Es ist keiner da.“ „Das merke ich. Wann wird er endlich gebracht? Gleich kommen die Litzmannstädter!“ „Idi habe niemand, der zum Tode verurteilt werden könnte!“ ------------„Waaas? Sie haben keinen? --------------“

Ich denke im Augenblick, der Mann will mich körperlich angreifen und trete spontan einen weiten Schritt zurück.

„Das ist ja unglaublich! Das ist ja Sabotage! Auflehnung gegen meine Befehle! -----Parteigenosse Hohenstein, dafür werden Sie geradestehen müssen! Das zieht Konsequenzen nach sich!"

Hofmüllers Stimme überschlug sich. Seine Augen hinter der rand-losen Brille stachen auf mich ein. Seine Begleitung nahm drohende Haltung gegen mich an.

Ein Zivilist, offenbar Gestapo-Beamter, fragte Hofmüller:

„Kreisleiter, soll ich nicht einfach einen Kerl aus dem Judenhaufen rausgreifen lassen?“

Mir schlug das Herz bis zum Halse. Ja, ich hatte Angst. Nicht vor den Parteigewaltigen. Nein, davor, daß Hofmüller diesen teuflichen Einfall ausführen lassen würde. Ich hing an seinem Munde, an seinen Bewegungen. — Was er über mich dachte und beschloß, war mir im Augenblick ganz gleichgültig.

„Nein“, donnerte er. „Idi will keinen Zwischenfall! Ich will-----“

Was er noch wollte, blieb unausgesprochen, denn Autosignale schnitten ihm das Wort ab. Zwei Personenkraftwagen und ein Gefangenentransportauto rollten an. Die Menge kam in Bewegung. Aus den PKW’s sprangen SS-Leute. Sie meldeten dem Kreisleiter. Dann fuhr der Gefangenenwagen in das Karree. Die hintere Tür wurde aufgeschlossen. Was ich nun sah, ging mir durch und durch. Nicht nur mir. Auch meine Umgebung starrte mit großen, erschrockenen Augen hin:

In diesem Wagenkasten standen, zusammengepreßt wie die Heringe, Männer verschiedenen Alters mit dem Rücken zu uns. Auf den zerschlissenen Jacken leuchtete der gelbe Judenstern. Zwischen den Schultern — ein grausiger Anblick — trug jeder ein weißes Kreuz, dick mit Kreide ausgezeichnet. Ihre Arme waren mit Stricken auf den Rücken gefesselt. — Die fünf Ersten wurden heruntergezerrt. Im Wagen verblieb eine Kolonne von wohl dreißig Juden. Sie trugen alle das Kreuz. Wo mögen die hingefahren und hingerichtet werden?

Man führte die Verurteilten unter den Galgen. Jetzt erkannten die einheimischen Juden deren Gesichter. Ein Kreischen, Schreien und Weinen erhob sich, das Mark und Bein erschütterte. Es hätte einen Stein erweichen können. Aber der Kreisleiter und die fremden Uniformierten blieben kalt, wurden von dem maßlosen Jammer nicht berührt.

Inzwischen hatten sich SS-Männer hinter den Galgen begeben. Ich sah, wie sie auf den Judenältesten einredeten. Was wollten die da? — Goldeborn rief fünf Männer aus seinem Haufen. Er ließ sie auf das hintere feste Trittbrett des Galgens steigen. Sie angelten die Strick-schlaufen herunter. Mit einer kaum faßbaren Infamie hatten die SS-Männer es so eingerichtet, daß die Verurteilten durch ihre eigenen Rassegenossen hingerichtet werden sollten. ----Der Exekutionsleiter, — jener mir schon bekannte Obersturmführer, schrie Goldeborn an: „Los, fang'an zu reden!“ — — Der Kreisleiter hatte befohlen, daß zu dieser Stunde der Juden-älteste „zu seinem Volk" sprechen sollte. Diese Grausamkeit grenzt an Sadismus. Mit zitternder Stimme hob Goldeborn an:

„Juden von Poniatowec! Ihr seht vor Euch fünf Glaubensgenossen, die schwerer Vergehen bezichtigt werden. Des Ungehorsams, der Aufwiegelung und der Meuterei. Die deutsche Regierung hat diese Männer zum Tode verurteilt. Ihre Hinrichtung soll uns warnen, den Anordnungen der Regierung Widerstand entgegenzusetzen oder nicht blind zu gehorchen. Wollen wir also diese Züchtigung beherzigen und uns folgsam in unser Schicksal fügen. Wir verabsdueden uns von unseren Glaubensgenossen und erwarten, das! sie standhaft sterben.“

Dem Judenältesten versagte die Stimme. Unwirsch winkte der Obersturmführer ab.

Dann führte man die fünf Todeskandidaten von hinten auf das Gerüst. Auf Befehl der SS-Männer zogen die zuerst aufgestiegenen Juden fünf von den sechs Schlingen herunter. Sie nahmen den Verurteilten die Mützen ab, legten ihnen die Schlingen um den Hals und setzten ihnen dann die Mützen wieder auf. Die Ärmsten sollten nicht mit Blößen vor ihrem Herrgott erscheinen.

Während dieser Arbeit, die aufgeregt und ungleichmäßig vonstatten ging, bewegten sich die zehn Männer auf dem Gerüst nach vorn, gerieten auf das Fallbrett. Dessen Auslöseeinrichtung war solcher Belastung nicht gewachsen. — Plötzlich klappte es ab und sechs Menschen, Henker und Delinquenten, stürzten auf die Erde.

Die Menschen, nicht nur die Juden, schrien auf! Zwei der Unglücklichen hingen bereits und kämpften über den Köpfen der Liegenden mit dem Tode. Das ging alles so schnell und war so gräßlich, daß es nicht zu beschreiben ist. Mit irren Augen in den grünbleichen Gesichtern sahen die abgestürzten Todeskandidaten ihre beiden Kameraden über sich hängen.

Da sie selbst gefesselt waren, konnten sie sich selbst nicht erheben, waren auch vom Schreck gelähmt. Ihre Glaubensgenossen halfen ihnen auf und schleppten sie zum zweiten Male auf den Galgen, den Helferich und die polnischen Zimmerleute in fliegender Eile reparierten. Das bedeutete eine Verlängerung der Szene, die uns allen an den Nerven zerrte. Inzwischen wurden oben die Köpfe auch dieser Verurteilten durch die Schlingen gesteckt und ihre Häupter wieder bedeckt. Da standen die drei noch Lebenden zwischen den schon hängenden Toten. Keiner machte eine abwehrende Bewegung, keiner sprach ein Wort, keiner weinte. —

Ein Kommando des Obersturmführers!

Das Standbrett fiel, — ein Ruck in den Stricken, ein Aufschrei der Judengemeinde, — und die Verurteilten waren erlöst. Ihre standhafte Haltung verdiente Hochachtung! Wi? qualvoll haben sie sterben müssen.

Ich glaube, ihr Geist war schon tot, ehe ihre armen Körper starben.

Da hängen nun fünf Menschen, die alle den Tod nicht verdient haben, als Opfer eines wildgewordenen Systems. ----— — Als das Fallkommando des SS-Offiziers erscholl, habe ich den Kopf senken müssen. Diese gräßlichen Mordsekunden konnte ich nicht mit sehenden Augen ertragen. — Inzwischen war der Gefangenenwagen in Richtung Herrensitz wieder abgefahren. Nach diesem letzten Akt wurden die Juden ins Ghetto zurückgeschickt. Eilig bestiegen die SS-Leute ihre Wagen. Der Kreisleiter ging davon, ohne mich noch einmal anzusehen. Er verabschiedete sich nur von Ortsgruppenleiter ? uffmann und Gendarmerieleutnant Gschneidig.

Aufatmend sah ich seine Begleitung verschwinden und die Wagen-kolonne abfahren. Ich wartete nicht ab, bis sich die Menge zerstreute. Schleunigst begab ich mich ins Amtshaus zurück, um das nicht länger ansehen zu müssen, was leider manchen Mitmenschen noch lange betrachtenswert erschien. Ich hatte ein Gefühl im Munde, als hätte ich Tinte getrunken. — -----Man hat mir im Laufe dieses Tages noch mancherlei berichtet.

So, daß sich unter den fünf Juden, die an ihren Rassegenossen Henkershilfe verrichteten, der Vater des einen und der Bruder eines anderen Delinquenten befanden. So hat also ein Vater seinem Sohne, ein Bruder seinem Bruder die Schlinge um den Hals gelegt. Beim Aufruf haben sie sich dazu freiwillig gemeldet. Sie wollten in der letzten Minute bei ihren Angehörigen weilen und ihnen den Tod erleichtern, wie es dem ausgeprägten Familiensinn der Juden entspricht. Aufregung und Unbeholfenheit haben bedauerlicherweise gerade das Gegenteil bewirkt.

Arme Menschenkinder!

Gendarmen erzählten mir, daß schon vor uns in einer anderen Gemeinde eine Hinrichtung von Juden stattgefunden hat, daß die im Wagen verbliebenen Gefangenen alle noch im Laufe des heutigen Tages in den anderen Städten des Kreises erhängt werden. Wahrscheinlich laufe in den anderen Kreisen des Bezirks zur gleichen Zeit eine gleiche „Warnungsaktion“. — Leutnant Gschneidig zeigte sich sehr besorgt um mein Geschick. Dem sehe ich mit beherrschten Gefühlen ziemlich ruhig entgegen. Wenngleich es mir klar ist, daß ich bald die Rechnung präsentiert bekomme. — Aber ich werde mich zu verteidigen wissen. Ein Gefühl innerer Erleichterung hat von mir Besitz ergriffen, seit ich sah, daß der sechste Strick leer im eisigen Nordwind baumelt. ------------

Die Erhängten sollen, dem Befehl nach, bis in die Dunkelheit hängen bleiben. Gegen 5 Uhr nachmittags kam der Judenälteste zu mir und fragte, ob er die Toten auf dem israelitischen Friedhof bestatten lassen dürfe.

„Selbstverständlidt! — Wo denn sonst?“

„Der Ortsgruppenleiter hat sich geäußert, sie sollen in einer Schuttabladestelle vergraben werden.“

„Darüber hat Herr Puffmann nicht zu bestimmen. Beerdigen Sie Ihre Leute nur, wo sidt das gehört. Aber ohne Begleitung und ohne Feier.“

„Für uns ist aber ab adit Uhr abends Sperrzeit, und die Toten sollen bis in die Nacht hinein hängen.“

„Da mache ich nicht mit. Idt gebe ihnen zwei Stunden Zeit zum Begräbnis. Das wird ausreichen. — Um 6 Uhr nehmen Sie die Leichen ab und sdtaffen sie sofort auf Ihren Friedhof. Den Galgen nehmen Sie mit ins Ghetto und lassen ihn sofort zu Brennholz zerhauen. Von dem Gerät will ich keinen Span Wiedersehen.“

Goldeborn erhielt seine Ausweise und führte aus, was ihm geheißen war. — Meine Familie hat die Hinrichtung und die Stätte des Grauens nicht gesehen. Muttchen hat die Kinder tagsüber daheim behalten.

Der Galgen wurde mit größter Eile beseitigt, hat vorher aber noch manchen bisher unbeteiligten Bürger, manches unschuldige Kind und manchen ahnungslosen Durchreisenden tief erschreckt. — Uns allen werden die scheußlichen Erlebnisse, diese Bilder des Grauens noch lange vor der Seele bleiben. Es waren Szenen, wie sie im dunkelsten Mittelalter vorgekommen sein mögen.

— Großdeutschland nennt sich Rechtsstaat.

Wir unterhalten eine Armee von Rechtswahrern, ein Spinnennetz von Gerichten.

— Wir bekennen uns zu den zehn Geboten der Bibel. ----— Ein blutiger Hohn! 19. März 1942 Donnerstag.

Im Laute des heutigen Tages fanden sich auffällig viel mir wohlgesinnte Bürger nach und nach im Rathaus ein. Offensichtlich trieb sie das Verlangen nach einem Gedankenaustausch über die gestrigen Erlebnisse. Irgend ein Geschäft in den Verwaltungsbüros wurde zum Anlaß genommen, mir „Guten Tag“ zu sagen. — Nadimittags hielt ich die übliche Ortsvorsteherkonferenz ab, die von gestern auf heute verlegt werden mußte. Nadi Abwicklung der Tagesordnung saßen wir noch länger zusammen als sonst und unterhielten uns über das, was mir möglicherweise jetzt bevorsteht. Die Herren sind der Meinung, daß meine gestrige Befehlsverweigerung dem Kreisleiter keine rechtliche Handhabe bietet, midi disziplinarisch zu belangen. Der gleichen Auffassung sind auch meine treuen Mitarbeiter und Vertreter, Inspektor Netter und Sekretär Steinemann.

Ich hingegen bin dessen nicht allzu sicher. Ich traue den Rechtsverdrehungskunststücken eines Herrn Hofmüller allerlei zu. Meine Überlegungen gehen dahin, daß man vielleicht auf eine Dienststrafverfolgung verzichtet in Erwägung dessen, daß ich, nadi Verlust der Ostdienstfähigkeit ins Altreich zurückversetzt, über die hiesigen Zustände kritisch sprechen könnte. Was möglicherweise in empfänglichen Ohren ein unerwünschtes Echo erweckt. .. .

Ich habe nun meinen Vorgesetzten zum Feind. Das kann wohl noch eine ganze Weile gut gehen, aber nicht auf die Dauer. Nun, ich werde meinen Dienst so korrekt wie möglich tun und Angriffspunkte zu vermeiden suchen.... 25. März 1942 Mittwoch.

Betriebsschulung im „Deutschen Haus“. Ein Gauredner sprach. Seine rein politischen Darlegungen hatten mit Betrieb und Schulung recht wenig zu tun. Befehlsgemäß war mein ganzes Personal da. „Ich bin fetzt so klug als wie zuvor“, meinte Herr Steinemann ziemlich enttäuscht, als wir den Saal verließen. 27. März 1942 Freitag.

Amtskommissar-Konferenz im „Adler“ zu Herrensitz. Hofmüller übersah mich völlig. In seiner Eröffnungsansprache sagte er u. a.:

„In jüngster Zeit hat sich ein Amtskowwissar in unerhörter Weise erlaubt, den Anordnungen der Geheimen Staatspolizei und meinen Befehlen Widerstand entgegenzusetzen. Er hat die Stirn, sich offen gegen die Partei-Raison aufzulehnen. Ich habe diesem Amtskommissar zu verkünden, das! idi seine Gesinnung zur Kenntnis genommen habe. Bei nächster Gelegenheit werden wir unsere Konten gegeneinander aufrechnen!“ Dann mit erhobener Stimme:

„Idt verkünde allen Amtskommissaren, daß ich jede Auflehnung gegen mich mit allen Machtmitteln unterdrücke! Ohne Rüdtsicht auf die Person und etwaige bisherige Verdienste. Solche Verdienste sind kein Freibrief gegen die fest gefügte Ordnung des Staates und seiner Organe. — Meine Maßnahmen sind die der Partei, und meine Handlungen werden einzig von dieser diktiert. Ich dulde keine Eigenmächtigkeiten und keine Kritik dessen, was ich befehle. Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich. Wer aber gegen mich ist, der ist gegen den Führer, und wer gegen Adolf Hitler ist, der ist mein persönlicher Feind! Meine Feinde pflege ich zu vernichten.“ — Schön hat er das gesagt, der starke Mann. Ich zeigte mich ungerührt und nicht betroffen. ... — Eigenartig, wie ruhig ich der Zukunft entgegensehe, obgleich ich doch genau weiß, daß Waffen gegen mich geschmiedet werden.

Mein Sieg hat mir das Herz leicht gemacht. ... 4. April 1942 Sonnabend.

Morgens kam Stadtdiener Reder in unser Haus und wünschte mich zu sprechen.

„Herr Bürgermeister, unser Herr Steinemann hat vor, die Beamten und Angestellten der Verwaltung zu einer kleinen Abschiedsfeier einzuladen. Er bittet um die Erlaubnis, das große Sitzungszimmer dafür in Anspruch nehmen zu dürfen.“

„Darüber befindet Herr Inspektor Netter, denn ich bin in Urlaub.“

„Der Herr Inspektor sagt, solange Sie noch am Ort sind, treffen Sie die Entscheidungen. Er hat nichts dagegen.“

„Ich auch nicht.“

„Herr Steinemann läßt fragen, ob Herr Bürgermeister ihm wohl die Ehre geben würde, ebenfalls sein Gast zu sein. Um vier Uhr nadtmittags läßt er bitten. ..."

„Gut, Reder, ich werde erscheinen. Aber nur auf höchstens zwei Stunden, wir haben noch Oster-und Reisevorbereitungen.“

— Pünktlich war ich zur Stelle.

An der großen, hufeisenförmigen Tafel saßen meine Gefolgsleute. Die Querfläche war für Steinemann, für mich und die leitenden Herren reserviert. Den rechten Flügel hatten die Deutschen, den linken die Polen inne. Es fehlten nur Herr Helferich und Frau Ferk. Nach mir erschien Inspektor Netter. Er stutzte, wandte sich mir zu und flüsterte: „Es war riskant von Steinemann, auch die Polen einzuladen. Mich soll's nicht wundern, wenn das Unannehmlid-tkeiten gibt.“

Ich wandte mich leise an Steinemann mit den gleichen Bedenken. „Herr Bürgermeister, das ist doch keine offizielle Veranstaltung. Dafür zeichnen Sie und Herr Netter nicht verantwortlich. Deswegen kann uns niemand an den Wagen fahren. Warum soll ich mich nicht audt von den polnisdten Kollegen verabschieden dürfen? Wir sitzen doch sonst tagsüber in den Büros am gleichen Tische und helfen uns gegenseitig.“ — Sei dem, wie ihm möge. Jetzt ließ sich daran nichts mehr ändern. Vielleicht dringt die Kunde ausnahmsweise mal nicht über unsere Stadt-grenzen hinaus. Hoffen wir das Beste. — Zunächst sprach Inspektor Netter. Dann tranken wir ein Glas Bier und kosteten von den leckeren Kleingerichten, die Steinemann auffahren ließ. Im gutgeschneiderten Smoking saß er auf dem Präsidentenstuhl und ließ all'seinem Witz und Temperament die Zügel schießen. Bis ich mich erhob und eine kurze Abschiedsansprache hielt, die ihm zur Ehre gereichte. Noch ein Glas Bier, und dann verabschiedete ich mich, Eine gute Stunde war vergangen. Mochten die jungen Leute feiern, so lange sie wollten; mich rief die Familie.

Es war recht gut, daß ich so bald wieder daheim einfraf. Während ich noch dem Osterhasen Hilfestellung leistete, erschien Besuch. Völlig unerwarteter Besuch: Die jüdische Zahnärztin, Frau Goldeborn, eilte zur Hoftür herein, verstört, sich ängstlich umblickend. Schnell leiteten wir sie in das nächstgelegene Zimmer, damit möglichst Janina ihrer nicht ansichtig wurde. „Herr Bürgermeister, mich treibt die helle Angst zu Ihnen. Ich hörte, daß Sie verreisen, für lange Zeit. Wenn der Vater weggeht, dann sind die Kinder schutzlos. Und wir sind doch nun einmal Ihre Gemeinde-kinder. Ich möchte mich von Ihnen verabschieden. Möchte Sie und Ihre liebe Familie nodt einmal sehen. Wahrscheinlich zum letzten Male.“

„Wieso denn, Frau Goldeborn? Wir kommen doch nach vier Wochen wieder zurück?“

„Ich fühle es, wir werden uns nie Wiedersehen. Wir gehen einem grauenvollen Ende entgegen. .. .“ . — Wie schwer ist es mir geworden, der armen Frau klar zu machen, daß ich immer noch an keine Gefahr für Leib und Leben der Juden glauben kann. Daß ich alle Gerüchte, die von Vernichtungsmaßnahmen sprechen, für wahnwitzige Erfindungen halte.... Audi Muttchen tat ihr Möglichstes, die aufgewühlte Frau zu trösten, ihre Verzweiflung zu zerstören. Fast schien das schwere Werk gelungen.

„Wir sehen uns in einem Monat gewiß wieder, Frau Goldeborn." — Da überfiel es die gequälte Frau wieder. Sie riß sich herum und weinte heftig. „Nein, wir sehen uns nie wieder“, schluchzte sie.

-Schließlich beruhigte Frau Bella sidi doch.

Mit abwesenden, tränennassen Augen blickte sie aus den Fenstern. Dann durch das Zimmer, als wollte sie sich dessen Eindruck für alle Zeiten einprägen. Erschüttert standen wir drei zusammen. Keiner sprach ein Wort.

Plötzlich raffte sie sich auf und verabschiedete sich. Bat, auch die Kinder herzurufen. Jedes drückte sie an sich und fand Worte, die uns in die tiefe Seele hinein weh taten.

„Auf Wiedersehen!“

„Leben Sie wohl“ ----— Frau Goldeborn glaubte nicht an ein Wiedersehen. ----- 20. April 1942 Naßthal/Spreewald Ferien! . .. Wir genießen diese Schaffenspause mit Behagen. Selbst das Wetter hat sich freundlich entwickelt. Hier ist es wärmer als bei uns im Ostland. Die milde, aber intensive Sonne bräunt unsere Gesichter. Alle Bäume zeigen schwellende Knospen, und einige beginnen schon zu blühen. Die Glaswand unseres Sommerhäuschens schützt vor dem noch frischen Winde.

Herrlich, so unbeschwert das Erwachen der Natur zu erleben. ... 5. Mai 1942 Poniatowec.

Dienstag.

Das Unglaubliche ist Tatsache, das Unfaßbare Geschichte geworden. Meine Ahnungen haben eine tiefe Berechtigung gehabt. Während meiner Ferien vollzog sich die Ausmerzung der Juden von Poniatowec. Die realistischen Darstellungen des dramatischen Geschehens lassen nur den Schluß zu, daß diese armen Menschen nicht mehr leben, — daß sie vernichtet wurden.

Sie sind erlöst. ----Ich aber, und mit mir meine Familie, danken unserem Herrgott vom ganzen Herzen, daß er uns erspart hat, Zeugen dieses grauenvollen Verbrechens ... zu sein oder gar, auf Grund meines Amtes, Henkers-dienste leisten zu müssen.

Welche Höllenqualen haben sie in ihren letzten Lebenstagen ausstehen müssen! Wie bestialisch ist man mit ihnen umgegangen!

— Ich bin betäubt von dem Gehörten, den Augenzeugenberichten. Es wird mir unendlich schwer, meine Erschütterung in Worte zu fassen; ich will versuchen, so sachlich wie möglich niederzulegen, was ich erfuhr....

Inspektor Netter ... berichtete mir:

„Ich wollte Sie in den schrecklichen Tagen, Mitte April, telegraphisch aus dem Urlaub zurückholen, Herr Bürgermeister. Aber Kreisleiter Hof-müller hat mir das ausdrücklich verboten. , Wir werden damit ohne den Amtskommissar besser fertig', sagte er. Offenbar hegt er Mißtrauen gegen Sie, oder er lehnt Ihre Mitwirkung in Exekutivaktionen grundsätzlich ab. So habe ich Herrn Helferich aus dem Urlaub zurückberufen. Er kam gerade noch zur rechten Zeit.

„Wozu?“

»-Herr Bürgermeister, ich werde diese satanischen Szehen nicht vergessen, so lange ich lebe. Sie werden meine alten Tage vergällen. Idi habe niemals geglaubt, daß Menschen, deutsche Menschen, so bestialisch, so sadistisch, so — teuflisch sein können.“ -----Der alte Herr saß eine Weile schweigsam da. ...

— „Wie ging es denn zu?“ ----------- — „Sie wissen ja, Herr Bürgermeister, daß die Judengemeinde seit Februar täglich vollzählig und geschlossen zur Kontrolle in den Schloßhof marschieren mußte. Die Juden hatten sich schon so daran gewöhnt, daß die meisten gar keinen Arg mehr hatten. ...

Eines Tages — es war der 14. April — wurden die Juden im Schloßgut von einem großen Aufgebot an Gendarmerie in Empfang genommen. Gemeinsam mit einer Abteilung SS aus Litzmannstadt wurden die Unglücklichen umstellt. Scharf eskortiert trieb man die Juden in die polnische Kirche. —“

In die Kirche?

„Ja, in unsere schöne Stadtkirche. Da wurden sie hineingesperrt. Danach kämmte die Polizei das Ghetto bis in den letzten Winkel durch und holte alles heraus, was krank daniederlag oder sonst zurückgeblieben war: Greise, Wöchnerinnen ... Zur gleichen Zeit wurden sämtliche jüdischen Arbeiter von ihren Arbeitsplätzen weggenommen. Auch Hermann aus Ihrem Grundstück. Alle steckte man in die Kirche und warf einen Toten hinterher, wie einen Sack.“ — „Schauderhaft“.

„Ja, das war schlimm, aber noch lange nicht das Schlimmste. — Zehn Tage wurden die Juden in dem Gotteshause gefangen gehalten. So wie sie gingen und standen. Ohne Betten und Decken, ohne Wäsche, ohne Löffel und Kamm, ohne Gerätschaften für das tägliche Leben. Bedenken Sie, fast dreitausend Menschen jedes Geschlechts und jedes Alters, Männer und Frauen, Kinder und Greise, Kranke und Tote, alle in einem Raum. Die Menschen haben ja nachts nicht liegen können. Die Türen wurden von SS-Männern Tag und Nacht bewacht.

— „Und keine Verpflegung ging hinein?“

„Doch. Auf Kosten der Stadtverwaltung wurden die Juden mit Brot ünd Margarine versehen. Zweimal täglich durfte ein Trupp Männer Wasser vom Brunnen vor der Kirche holen.“

Und die hygienischen Verhältnisse?“

„Nichts von sanitären Anlagen. Kein Klosett, keine Ambulanz.“

„War Doktor Korte nicht dabei?“

„Ja. Als Gefangener. Er wurde genau so einvernommen, wie er zum täglichen Kontrollmarsch ging. Ohne jede Behandlungsmittel und Instrumente. Er konnte zum Schluß sich nicht einmal selbst helfen. Wie hat er gejammert, nicht einmal eine Giftspritze für sich bei sich geführt zu haben.“

„Entsetzlich! Welche Tragödien mögen sich in jenen Tagen in der Kirche abgespielt haben!“

„Das ist für uns Außenstehende unvorstellbar. Ich weiß, daß Kinder geboren wurden und Menschen starben in dieser qualvollen Enge. -Eines Tages forderte der SS-Hauptmann die Juden durch ihren Ältesten auf, Geld und Geldeswerte abzuliefern, damit die Verpflegung bezahlt werden könne. Ganze Mützen voll Geld, Gold und Schmuck wurde von den verzweifelten Menschen herausgegeben. Die Stadtkass'e hat davon nichts erhalten. Das beschlagnahmte die SS. — Ist vielleicht auch besser so, als daß wir am Raub beteiligt wären.

Das Heulen und Wehklagen, das Jammern und Schreien der unglücklichen Juden vernahm man Tag und Nacht auf dem ganzen Markt. Es war grauenhaft, gruselig. Die Einwohnerschaft vermied es, nach Einbruch der Dunkelheit an der Kirche vorüberzugehen. Wenn am Tage die Tür aufging, dann schrien und flehten die Gefangenen um Erbarmen, um Verbandszeug, um Tücher und um — den Tod. Den Begriff Freiheit kannten sie nicht mehr. Brutal, eiskalt, herzlos trieben die SS-„Helden“ die Herausquellenden in die Kirche zurück, in der ein entsetzlicher Geruch brodelte.

Neun Tage und acht Nächte lang währte diese Vorhölle. Am zehnten Tage, in früher Morgenstunde, fuhr die SS eine Kolone Lastkraftwagen auf den Markt. Die Pforte des Gotteshauses wurde aufgerissen und die Juden truppweise herausgelassen.

Wie sahen die Unglücklichen aus! Zerzaust, zerlumpt, dreckig, fast verhungert, glichen sie eher unheimlichen Spukgestalten als lebendigen Menschen. Die ganze Zeit über haben sie kaum schlafen, nur sitzen können. Sie konntest sich nicht ansziehen, nidtt waschen und nicht sättigen Denn was sie an Brot und Margarine bekamen, das reichte kaum dazu aus, sie vor dem Verhungern zu schützen. In diesem Zustande wurden sie wie Vieh auf die Lastautos getrieben. Sie schleppten und schoben sich gegenseitig, denn die SS-Männer zwangen sie mit Schlägen zu größtmöglicher Eile. Auf den Wagen mußten die Menschen sich eng . meinanderpressen. Stehend natürlich. Kranke kamen dazwischen, die sich nicht auf den Beinen halten konnten. Rückesichtslos mußten die Nachfolgenden über sie hinsteigen, gerieten schließlich auf sie drauf. Markerschütternde Schreie ertönten zwischen dem Heulen und Wehklagen. Man riß die zertretenen Kranken hoch. . Die sind ja totgetrampelt', hörte ich. So wurden die Toten zwischen die Lebenden eingepreßt. Wie die Heringe. Wenn sich die Planen nach außen beulten, weil drinnen das Gedränge zu groß wurde, dann schlugen die SS-Männer mit Knüppeln und Kolben auf diese Beulen, die doch Menschen waren, ein. — Ich hätte wcglaufen mögen und durfte doch nidtt.“ Und die Frauen?" „Mit denen wurde nicht anders verfahren. Herzzerreißende Szenen spielten sich ab. Die gequälten Menschen schrieen, weinten und fielen in Krämpfe. Ungeadhiter aller Gefahr fielen Frauen mit kleinen Kindern vor den SS-Männern auf die Erde und umklammerten deren Knie, um Erbarmen flehend. Blutig geschlagen und gestoßen wurden sie auf die Wagen getrieben. Dann fuhr die Kolonne mit ihrer Todesfracht zum ersten Male ab. SS-Motorradler zur Seite und hinterher.“ „Todesfracht? -----" „Ja. Ich glaube, fest, daß sie in ein Vernichtungslager gebracht wurden. “ „Hat man Ihnen das gesagt?“ „Nicht direkt. Das Ziel der Reise ist geheimgehalten worden. Die Fahrt ging in Richtung Dabie. Man erzählte sich, daß nahe dieser Stadt, bei einem Dorfe Chelmno, Gasvernidttungsanlagen bestehen und Hochbetrieb haben.“ *) „Was hat denn die SS verlautbart?“ „Die Leute führten die Ausrede, daß die Juden nur in ein anderes Lager kämen. So, wie ich es erlebte, behandelt man aber keine Menschen, die nur einen Platzwechsel vorhaben. So behandelt man nur ausgesprochene Todeskandidaten.“ „Ich habe nie an die umlaufenden Gerüchte von Vernichtungsmaßnahmen und Vergasungen geglaubt. Das wäre ja staatlich organisierter Massenmord!“ „Ich auch nicht, Herr Bürgermeister. Aber jetzt glaube ich nicht nur daran, sondern bin überzeugt davon.“ „Unfaßbar.

„Lassen Sie mich weiter berichten. Mir ist erst wieder wohl, wenn ich alles vom Herzen habe. — Nach Stunden kam die Autokolonne wieder zurück, und der zweite Akt dieses Dramas begann. Frau Goldeborn mit ihrer Tochter kam aus der Kirchentür. Sie sah Herrn Helferich, eilte auf ihn zu und flehte ihn um Rettung an. Ihr Mann, der Judenälteste, bot ihm in hastigen Worten ein Vermögen in solcher Höhe, daß Helferich nie wieder zu arbeiten brauchte. Nur Goldeborn wüßte das Versteck. Inzwischen waren SS-Männer auf diese Szene am Rande aufmerksam geworden. Sie eilten herzu, schlugen auf die Unglücklichen ein, ergriffen besonders den Judenältesten und mißhandelten ihn so schwer, daß er, über und über blutend, zu Boden sank. Auch die Frauen mit Säuglingen und kleinen Kindern auf den Armen wurden zu drangvoller Enge in die Wagen gepreßt. Es war ein einziges Weinen und Schreien vor Schmerz und Verzweiflung. — —“

— Der Inspektor schüttelte sich in Erinnerung an das grauenvolle Erlebnis ... Seine Augen flimmerten. — Er zündete sich umständlich eine neue Zigarre an und berichtete weiter.

„Das Schrecklichste ereignete sich bei der dritten und letzten Verladung. In den Wagen standen die Juden, Männer, Frauen und Kinder, dicht zusammengepreßt. Jeder Zentimeter Fläche war in Anspruch genommen. Die Menschen konnten nicht Arm und Bein bewegen. Da brachte man die „bett“ lägerigen Kranken aus der Kirche. Sie wurden den Menschen auf den Wagen einfach über die Köpfe geschoben. Wie Kornsäcke. Immer hinauf und hinein, ungeachtet des Geschreies der Gesunden und Kranken. Und die Gesunden konnten nicht einmal eine Hand heben, um sielt und die lebendige Kopflast zu bewegen. Eine Orgie des Satans, Herr Bürgermeister! Mir zittern die Knodten, wenn ich daran denke, oft nachts im Bett.“

— „Das kann ich mir einfach nicht vorstellen ..."

„ Als die letzten Wagen vollgepfropft waren mit lebendigen Menschenleibern, da brachte man die toten Juden an. Adrtundzwanzig sind während der Gefangenschaft in der Kirche verstorben, Männer, Frauen, Kinder. — Ein Wagen war für sie nidtt mehr frei. Anstatt sie nun zurückzulassen, nahmen die SS-Scheusale die Leichen und warfen sie den lebenden Insassen mehrerer Autos budrstäblich auf die Köpfe. Sogar die deutschen Zuschauer schrieen vor Entsetzen auf. Unter sdtauerlidtem Geheul fuhren die Wagen zur letzten Fahrt. ----“

— „Die armen Kreaturen. Sie haben die Hölle schon auf Erden erlebt. ---------“ „Glauben Sie nun noch daran, Herr Bürgermeister, daß diese Transporte in eine neue Lebens-Ara hineinliefen? Nein! Dem Henker sind sie ausgeliefert worden! — . .. Noch etwas: Ihr Hausbursche Hermann und ein anderer junger Jude hatten sich im Dachreitertürmchen der Kirche versteckt. Darin wollten sie sich verbergen und nach Abgang der Transporte entfliehen. SS-Leute fanden die beiden Burschen aber doch und haben sie unmenschlich zerschlagen. Hermann war der Schädel aufgespalten. Die Halbtoten wurden auf den letzten Wagen geworfen.“

Tief erschüttert saß ich da und fand keine Worte. ...

Der Inspektor unterbrach das Schweigen:

„Noch einen Fall muß ich Ihnen schildern, der Vollständigkeit halber, damit auch all'das Scheußliche auf einmal ausgeschüttet und vergraben wird. Als die Juden schon weg waren, kämmte die Gendarmerie noch einmal alle Wohnungen durch. Auf dem Boden eines Hauses fand ein Gendarm jenes irrsinnige Weib, von dem Sie mir vor Jahresfrist einmal erzählt haben. Das jammernswerte Geschöpf war angekettet, lag fast verhungert in seinem Kote. Seit zehn Tagen hatte sich ja niemand mehr darum gekümmert. Kaltschnäuzig zog der Gendarm seine Pistole und schoß auf das Weib. Die Kugel muß schlecht getroffen haben. Das Weib zuckte nur zusammen. Dann richtete es sich plötzlich auf und schrie in deutschen Worten: . Gebt mir Wasser und Essen!' Darauf legte der Gendarm wieder an und gab der Frau einen Gnadensdtuß durch den Kopf.

Als man den Leichnam losschloß, war deutlich zu erkennen, daß die Frau ihr eigenes Fleisch an den Füßen, dicht'an den Eisenringen, mit den Zähnen zerbissen hatte, um sidt zu befreien“ ....

„Das ist ja grauenhaft!" . . .

(Langes Schweigen. Dann:) „Daß man ausgerechnet die Kirdte zum Gefängnis madite, ein Gotteshaus so sträflich entweihte, ist einfach unfaßbar.“ — Sie hätten die Kirche mal sehen müssen, als die Juden raus waren! — Etwas Widerlicheres gibt es auf der Welt nicht mehr. Schmutzübersudelte Bänke, von den meisten die Rückenwände abgebrochen, die hat man verfeuert, ebenso wie das kostbare Chorgestühl. Vor dem Hodcaltar haben die Juden ein ständiges Feuer unterhalten. Hinter den Altären fußhoher Kotschlamm, denn hier verrichteten die gequälten Kreaturen ihre Notdurft. Blutige Lappen, ehemals Altardedcen, lagen herum. Die ganze Kirche stank, daß man darin keine Minute aushalten konnte, ohne ohnmächtig zu werden. — Wir haben uns vor Ekel geschüttelt. — Zwei Wochen lang haben polnische Arbeitstrupps angestrengt und opfervoll geschuftet, um wieder Grund hineinzubringen. Sie übernahmen die Reinigung freiwillig, ohne Lohn zu fordern. Der Kreisleiter hatte ohnehin verboten, dafür Geld auszugeben. — Nun steht die Kirche ohne Fenster da. Die gefangenen Juden haben sie herausgeschlagen, als die Luft knapp wurde. Wie mögen die gelitten, welche Tragödien sich in diesen zehn Schreckenstagen in dieser Hölle auf Erden abgespielt haben, die doch eigentlich ein Gotteshaus ist. Welcher Frevel, welche Herausforderung! — Herr Bürgermeister, das kann unmöglich gut gehen. Dafür rächt sich der Herrgott sicher und bald. Nein, wir sind kein Kulturvolk mehr! Daß ich als alter Mann so etwas noch erleben mußte und den Verstand uodt beisammen habe —. Ach, ich habe das Leben hier so satt. Ich möchte heim, heim, heim!“

Erschüttert sah ich, daß Herr Netter weinte.

Wir schwiegen eine lange Weile. Ich bot ihm eine Zigarre an, um ihn abzufangen (und fragte dann:) ...

„Sagen Sie, was ist denn aus den Judenhäusern geworden?“

„Die sind frei, darüber können wir verfügen. Wir haben das Ihnen überlassen". ..

„Sind die Wohnungen denn leergemacht?“

„Nein. Daraus sind nur Kleidung, Wäsche und Schuhwerk entfernt worden. Auf Befehl der SS mußten diese Leder-und Textilwaren in der Kirche aufgestapelt und sortiert werden ..: Da finden Sie das übelriediende Material auch heute noch. Wir warten darauf, daß es nach Litzmannstadt abgeholt wird. Angeblich für das dortige Ghetto.“

„Das besteht noch?“

„Ja."

„Daraus kann man dodr schließen, daß unsere Juden nicht vernichtet, sondern in ein anderes Ghetto gekommen sind!"

„Machen Sie sich doch von solchen Gedanken frei, Herr Bürgermeister .. Zu viel spricht dagegen. — Übrigens sind keine Wertsachen in der Kirche. Vor dem Abtransport hat die SS den Juden alles Geld, alle Wert-und Schmudesachen abge^ommen. Sie fielen immer noch in erstaunlicher Menge an. In Gemeins^aft Mit ^n Herren Helferich und Runge habe ich die Gold-und rillantsadten in mein Amtszimmer getragen. Soviel Glitzereien und , orte haben wir noch niemals beisammen gesehen. Gerade war ich ahei, in Gegenwart der Zeugen ein Protokoll aufzusetzen und ein Ver^eicknis anzulegen, als drei SS-Leute eintraten . . . und mir sagten, ich rauchte diese Sachen nicht zu registrieren, sie besorgten das in Litz mannstadt schon selbst. Damit schob ein SS-Mann mit einer lässigen Armbewegung den ganzen Berg blitzender Dinge, unglaubliche Werte, von meinem Tisch in seine Aktentasche, als ob es sich um Kalkstein-proben handelte. Ich war sprachlos! Konnte aber nichts dagegen unternehmen. — Als die Männer raus und mit dem Juwelenkoffer davon waren, haben wir drei uns über die nun für diese SS-Leute gegebenen Möglichkeiten unterhalten. Was mögen diese Staatsvertreter unterwegs , verlieren“. Der Bestand ist völlig unkontrollierbar. Man braucht nur so nebenbei in diese Aktentasche zu greifen, einige Sachen herauszunehmen und in der eigenen Tasche verschwinden zu lassen, — kein Hahn würde danach krähen. Der Spitzbube ist dann für sein ganzes Leben versorgt. Und was das für Ehrenmänner sind, das haben wir ja zu Genüge erlebt.

— „O, du mein armes Vaterland“... 12. Mai 1942 Dienstag ) *.

Wieder fuhr eine SS-Lastkraftwagen-Kolonne in unserer Stadt auf. Dicht vor dem Kirchenportal. Der Kommandoführer meldete sich bei mir. Er hat den Auftrag, die in der Kirche aufgestapelten Kleidungsstücke, Schuhe und Wäsche der Juden nach Litzmannstadt zu überführen. — — Gemeinsam mit ihm betrat ich das Gotteshaus, um mich selbst einmal von dessen Zustand zu überzeugen. Als erstes fiel mir auf, daß im Kirchenchiff überhaupt keine Bänke mehr stehen. Alles gottesdienstliche Gerät ist von den Altären verschwunden, die Fenster zerschlagen, Teppiche und Fußboden zeigten große Brandflecken, die Pfeiler stehen geschwärzt und verrußt da. Wenig erinnert nur noch daran, daß diese gewaltige Halle einst ein Bethaus für fromme Menschen war.

Jetzt liegen, fast fünf Meter hoch, Altkleider in enormen Mengen darin aufgestapelt. Hier Mäntel, dort Jacken und Hosen, gegenüber Frauenkleider aller Art, Wäschestapel, Schuhe und Stiefel in allen Größen. — Die Bestände sind genau sortiert und füllen das ganze Kirchenschiff. Hier wurde gründlich gearbeitet. Trotz der Höhe des riesigen Raumes und der fehlenden Fenster steht noch immer ein übler Geruch in dieser Kirche. Ein Gemisch von Schweiß, Knoblauch, Kampfer, Staub und Kot. — Wie schlimm mag es gewesen sein, als hier die vielen armen Menschen ihre letzten Lebenstage dahinquälten. — — Wir kehrten wieder um, der SS-Offizier und ich, und gingen zum Stadthaus. Inzwischen wurde ein Trupp polnischer Arbeiter von einer Baustelle abgezogen und der SS zur Verfügung gestellt, um die Verladearbeit durchzuführen. „Wer ersetzt denn nun der Stadtgemeinde die Löhne, den Arbeitsausfall, die Verpflegungskosten und sonstigen Aufwendungen, die anläßlich der Deportation der Juden notwendig geworden sind?“ fragte ich den SS-Untersturmführer. „Wenn Sie die Kosten durchaus ersetzt haben wollen, dann müssen Sie sich an die Ghettoverwaltung Litzmannstadt wenden. Legen Sie dort Ihre Rechnungen vor, und man wird sie bezahlen. Wir waren allerdings der Annahme, daß Sie gern die Kosten selbst tragen würden im Hinblick darauf, daß Sie Ihre Juden nun losgeworden sind.“

„Ich denke gar nicht daran, auf den Kostenersatz zu verzichten. Die Juden haben, durch ihre Regiearbeit, der Stadtkasse nur Geld eingebracht, uns aber nichts gekostet.“

„Für die fetzt abgeholten Klamotten bekommen Sie aber nichts." „Die sind ja audi nickt Besitz der öffentlidten Hand. Ick nekwe an, das! sie für die Ausstattung der Juden in Ikrem Ghetto benötigt werden. “

„Das sdhlechte Sdiuhwerk werfen wir denen ja zu. Das gute aber nickt. Und Kleidung brauchen sie sowieso nidtt wehr.“

„Sind denn unsere Juden nickt nack Litzwannstadt gebracht worden?" -

Ob er merkte, daß ich auf den Busch schlug? — Er sah mich forschend an und schwieg. Ich mußte ihn anstoßen: „Zur Zeit des Abtransportes war ich ja nicht hier. Ich kehrte erst vor fünf Tagen aus dew Altreick zurück, wo ich weine Ferien verlebte. So bin ich also nur wangelhaft unterrichtet.“ — Nach weiterem forschenden Zögern, das ich durch eine Zigarren-spende beendete, hielt er mich denn doch wohl für hinreichend vertrauenswürdig. Nachdem er Feuer genommen hatte, begann er mit seinen schauerlichen Offenbarungen:

Nein. Die Juden sind nicht nach Litzwannstadt gekowwen. Wir werden uns hüten, da noch welche hinzubringen. Wir sind froh, sie von dort allwählidi loszuwerden.“

„Aber wo sind die denn da gelandet?“

iw Jenseits, wenn es für sie so etwas gibt.“

„Wie, die sind — tot?"

Der junge SS-Führer setzte eine überhebliche Miene auf, setzte sich gerade und zog die Augenbrauen hoch.

„Ehrlich, Herr Bürgermeister: Wissen Sie wirklich nicht, was gespielt wird?“ „Offiziell nidtt. Wohl hörte idt von allen Seiten Vermutungen. Man spradt sogar von Vernichtungslagern. Aber niemand hat sie je gesehen. Kein Mensch weiß, wo unsere Juden wirklidt hingekommen sind.“ „Das ist audi richtig und so beabsidttigt. Es genügt vollkommen, wenn nur wenige führende Persönlichkeiten Bescheid wissen. — Nun, Sie als Bürgermeister, Amtskommissar und Ortsgruppenleiter darf idt sdton informieren. Sie haben ja auf Grund Ihrer Stellung und Ihres Eides dicht zu halten.

(Die angekündigten Enthüllungen waren mir so wichtig, daß ich den SS-Mann gern in dem irrigen Glauben ließ, in mir auch den Ortsgruppenleiter der Partei vor sich zu haben.)

„Haben Sie den Abtransport der Juden iw April geleitet?“

„Von anderen Städten ja, aber nicht von Poniatowec. Hier bin ich zum erstenmal.“

(Also kannte er mich nicht.)

„Ich werde Ihre Mitteilungen pflichtgemäß für mich behalten ..: Erzählen Sie nur!“ „Alle Juden sind den gleichen Weg gegangen und werden ihn auch weiterhin gehen. Erst haben wir das platte Land, die kleinen Städte, von ihren Parasiten befreit, und nun lassen wir die großen Ghettos langsam auslaufen. Der Tag, an dem Europa judenfrei ist, kann an Hand der Kapazität der Vergasungsinstitute errechnet werden.“ „Vergasungsinstitute??“

„Ja. Davon haben wir jetzt mehrere itn Altreich und iw Warthegau.“

„Die Juden werden in vergaste Räume geführt?“

„Nein, so primitiv geht es da nidtt zu. Stellen Sie sich das folgendermaßen vor:

Von hier aus sind die Juden direkt in das Abschlußlager transportiert worden. Da sieht man nicht etwa Gasometer oder Sdilote. Das sieht aus wie ein sdtmuckes, besonderes geräumiges Baradtenlager. Dort werden die Juden abgeladen. Der Lagerleiter begrüßt sie und sagt ihnen, daß sie in diesem 1 ger sich häuslich einrichten sollen. Hier blieben sie bis zum Kriegsende. — Dann kommen sie in saubere Hallen und werden zunächst beköstigt. Dann erfolgt die Einteilung in Gruppen zu etwa 30 Mensdten, Männer und Frauen getrennt. Ist das erfolgt, heißt es: Antreten gruppenweise zum Baden! Zunächst kommt die Gruppe in einen Entkleidungsraum. Nackend geht es, durch eine Art Temperatursdileuse, einige Treppen hodi in den . Dusdtraum'. Der ist fensterlos und kann 30 Menschen gerade noch fassen. Duschbrausen beenden sich unter der Decke und Abflußtüllen im Fußboden. Also genau, wie eine Dusdikabine auch sonst eingeriduet ist und aussieht.

Kaum ist die Gruppe eingetreten, da wird die Tür von draußen dicht und fest verschlossen und der , Duschraum'— — fährt davon. Er ist nämlich der Spezialaufbau eines Lastkraftwagens. Sobald das Auto in Fahrt ist, bedient der Transportführer zwei, drei Hebel, und ein besonders giftiges Gas aus dem eingebauten großen Behälter strömt in den luftdidtt versddossenen Raum. Es tötet die Menschen darin binnen weniger Minuten sidrer und sdtwerzlos. Die Wände sind sdialldidtt. Man hört nach draußen keinen Laut. Alles geht ruhig und friedlich zu.“

„Na, danke!“ „O, es gibt peinlichere und bedeutend schmerzvollere Todesarten.“

— „Mag sein. — Aber erzählen Sie weiter."

„Viel gibt es davon nicht mehr zu erzählen. Die Fahrt des Wagens ist nur kurz. Binnen einer Viertelstunde ist der Begräbnisort, meist eine tiefe Sand-oder Tongrube, erreicht. Ventile werden geöffnet, Preßluft durdt den . Dusdiraum'geblasen, die audi die letzte Spur des Gases vertreibt. Dann sperrt man die Tür auf, und das Verscharrkomwando zieht die Leichen heraus. Sie gleiten eine Rutsdie hinunter, werden unten nebeneinander geschichtet wie die Büdtlinge und mit Kalk über-streut. Dann kommt eine Erdsdiicht darüber — und der nädiste Transport kann kommen." — Ich hatte sehr viel Mühe, meine tiefe Bewegung, meinen Abscheu nicht hinauszuschreien, ja, jede Regung vor ihrer Erkennbarkeit nieder-zudrücken. Den anteilheischenden Blicken des Erzählers wich ich durch neue Fragen aus. „Besteht das , Verscharrkomwando aus Polen?, aus Deutschen doch sidter nidtt.“

„Um Himmels willen! Wo denken Sie hin! Das sind natürlich Juden. Die leben in der Hoffnung, mit saldier Totengräberarbeit ihr eigenes Leben zu erkaufen. Aber zuletzt kommen auch sie dran, in einem anderen Lager und auf andere Weise. Wir werden uns hüten, Mitwisser und Verräter großzupäppeln. — Währenddessen werden im Lager die Klamotten gefilzt“.

„Was meinen Sie damit?“

„Genauestens auf Wertsachen untersucht.“

„Lohnt denn das nodt?“ „Was weinen Sie wohl! Die Bande trägt dodt alles zwischen Hemd und Haut, was sie an höchsten Werten besitzt! Kommen Sie mal nach Litzwannstadt in die Ghettoverwaltung. Da werden Sie Schätze sehen wie nie zuvor und nie ivieder in Ihrem Leben. Milliardenwerte! Nach der Filzung kommen die Klamotten in die Spinnstoffverwertung. — Inzwisdien ist ein neuer Vergasungswagen vorgefahren, und der nädiste Trupp kommt in den . Dusdtrauin'. — Selbstverständlich werden die Wagen nadi jeder Fahrt sorgsam gereinigt, die Gas-und Preßlufttanks nadigefüllt. Nidtts verrät die Todeskarren. Sie werden in die Spezialrawpen eingefahren, die ihnen den Eindrudt vermitteln, als seien sie ein mit der Baradte baulidi verbundener Raum. — So geht das Tag für Tag iw kontinuierlichen Betrieb. Das schafft allerhand weg, aber die Ghettos von Litzwannstadt und Warsdtau sind so groß, daß nodi auf Jahre hinaus Arbeit vorliegt.“ — Das erzählt dieser schlanke, gut aussehende junge Mann, eine Zigarre rauchend, im leichten Plauderton dahin, als handele es sich um die Beschreibung des Betriebes einer Zuckerfabrik.

Sind denn in diesen Menschen, die sich „des Führers Elite" nennen, Herz und Gemüt gänzlich verlorengegangen? Sind sie so verhetzt, so blind gehorsam oder so ehrlich überzeugt, daß sie Juden nicht als Menschen, sondern als schädliche Tiere in Menschengestalt ansehen, die man kaltschnäuzig abtöten muß wie die Ratten? -----...

Unsere Juden wird man bestimmt im „Abschlußlager" nicht mit einer gefühlvollen Begrüßungsansprache und einem Gastmahl empfangen haben. Sicher werden sie gleich zum „Baden“ abkommandiert worden sein. Sie wußten bestimmt, was die gut getarnten „Duschräume“ zu bedeuten hatten, als sie hineingetrieben wurden. ----— Frau Goldeborns letzter Besuch am Oster-Abend, ihr erschütternder Abschied, wird uns lebenslang vor Augen stehen ... — Und wie sehr ahnte unser treuer Hausbursche Hermann die giftige, unmittelbare Gefahr, die ihn und seinesgleichen bedrohte. Wie angstvoll, wie traurig war er, als wir Abschied nahmen. Auch er wußte, daß es ein Abschied für immer war. — So also hat Euer Erdenlauf geendet. In einer tiefen Lehmgrube unter einer Kalkschicht.

Aber Euer höchster Wunsch ist doch erfüllt worden: Ihr habt Euch nicht zu trennen brauchen. Vereinigt seid ihr in die rätselvolle Ewigkeit hinübergegangen.

Wir, meine Familie und ich, werden Euch in gerechtem Andenken behalten. — *)

Memento mori. —

Politik und Zeitgeschichte

AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Kurt Borries: „Die französische Revolution und Deutschland im Vorfeld der europäischen Integration"

Ernst Deuerlein: „Deutschland in Vorstellung und Aussage des Marxismus-Leninismus" W. Jaide: „Die Einstellung heutiger Jugendlicher zur Politik“

Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"

Wilhelm und Wolfgang Treue: „Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland"

Walter Wehe: „Die wirtschaftspolitische Entwicklung Europas seit dem Marshallplan"

Fussnoten

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