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Peking spielt mit hohem Einsatz | APuZ 26/1960 | bpb.de

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APuZ 26/1960 Die ideologischen Gegensätze zwischen Chruschtschow und Mao Tse-tung Peking spielt mit hohem Einsatz Über den „linken Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus"

Peking spielt mit hohem Einsatz

Nachfolgend bringen wir eine Betrachtung über das russisch-chinesische Verhältnis zum Abdruck, die am 4. Juni 1960 in der englischen Zeitschrift „The Economist" unter dem Titel „Peking Bids High“ erschienen ist Bereits einige Zeit vor der Pariser Gipfelkonferenz war es offensichtlich geworden, daß die chinesische Kritik an dem Konzept Chruschtschows von der friedlichen Koexistenz sich weiter zu einer heftigen Opposition gegen die Politik der Aussöhnung mit den USA steigern werde. Als die Gipfelkonferenz scheiterte, zogen einige Beobachter sofort daraus die Folgerung, daß China, in politischer Verbindung mit einer bestimmten Gruppe in der Sowjetunion, einen entscheidenden Einfluß ausgeübt habe, um Chruschtschow von der Notwendigkeit zu überzeugen, in Paris zwar eine Szene zu inszenieren, nicht aber ein Abkommen abzuschließen. Dennoch liegt bisher kein abschließender Beweis vor, daß die chinesische Mißbilligung ausgereicht hat, um Chruschtschow zu einer Änderung seiner Politik zu veranlassen, wären nicht andere Gründe für diese Änderung mit maßgebend gewesen. Was sich jedenfalls nach dem vorliegenden Material sagen läßt, ist, daß der Ausgang des Pariser Treffens zweifellos in Peking lebhafte Befriedigung hervorgerufen hat.

In Peking bestand zweifellos die ernsthafte Besorgnis über eine etwaige, auf der Gipfelkonferenz ohne Teilnahme Chinas erreichte Vereinbarung zwischen den Regierungschefs der drei Westmächte und der Sowjetunion. Es liegen Anzeichen vor, daß die chinesischen Kommunisten nicht bereit waren, Chruschtschow so weit zu vertrauen, daß sie ihn als den Vertreter ihrer Sonderinteressen am Konferenztisch akzeptiert hätten.

Tatsächlich hat Peking formell erklärt, daß China sich an keine in Paris getroffene Vereinbarung gebunden fühlen werde. Eine derartige Haltung wird voraussichtlich sich von neuem zeigen, wenn ein weiterer Versuch zu einem Vier-Mächte-Treffen oder zu einer direkten sowjet-amerikanischen Annäherung unternommen werden sollte.

Mr. Chruschtschow hat nun in seiner Moskauer Rede vom 28. Mai gefordert, daß China zusammen mit Indien und Indonesien an der nächsten Gipfelkonferenz teilnehmen soll. Diese Forderung stellt zunächst lediglich eine Manifestation der neuen intransigenten Haltung des sowjetischen Führers gegenüber dem Westen dar. In den Vorverhandlungen vor der Pariser Konferenz hatte Chruschtschow keinerlei Versuche unternommen, die chinesischen Forderungen nach einer Teilnahme besonders zu unterstützen. Der von ihm im Jahre 19 5 8 gemachte Vorschlag, daß Polen und die Tschechoslowakei an den Mächtebesprechungen teilnehmen sollten, um einen Ausgleich in der Vertretung der beiden Staatenblocks herbeizuführen, ist von ihm schon vor längerer Zeit fallen gelassen worden. Die neue Forderung, daß China zu der nächsten Gipfelkonferenz zugezogen werden soll, ist kaum geeignet, dem amerikanischen Enthusiasmus Auftrieb zu verleihen. Wenn dieser Vorschlag für Washington wenig erfreulich ist, so kann er andererseits in der Fassung, wie sie von Chruschtschow vorgebracht wurde, auch für Peking kaum schmackhaft sein.

Indien und Indonesien sind keine kommunistischen Staaten. Dies sind Länder, die sich mit dem kommunistischen China in einem scharfen politischen Konflikt befinden. China ist nicht in der Lage dem Einfluß, den die Sowjetunion auf diese Länder durch wirtschaftliche Hilfe ausübt, gleichzukommen. Schließlich, aber keineswegs zuletzt, erkennt Peking die Forderung dieser Staaten nach einer Großmachtstellung nicht an, die Peking für sich selbst fordert. Die Großmachtstellung, wie sie am Schluß des letzten Krieges durch die ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen festgelegt wurde und weiter durch die Konstituierung des Rates der Außenminister bestätigt wurde, gehört den fünf Nationen an, wie dies damals festgelegt wurde und keineswegs anderen Mächten. Es wird zuweilen übersehen, daß China diesen privilegierten Rang in den Vereinten Nationen nur für Formosa, nicht aber für Peking genießt, und das Formosa und nicht Peking Delegierte in den Sicherheitsrat entsendet. Für die chinesische Volksrepublik bedeutet es keine besondere Gunst, durch die Sowjetunion als künftiger Teilnehmer an der Gipfelkonferenz gemeinsam mit Indien und Indonesien vorgeschlagen zu werden. Vielmehr wirkt dies eher als eine verletzende Art von Bevormundung Rußlands für seinen fernöstlichen Verbündeten.

Schweigen spricht eine zuweilen beredtere Sprache als Worte. Die Tatsache, daß der chinesische Nachrichtendienst über die Reise Chruschtschows nach Indien und Indonesien im Februar dieses Jahres sich völlig ausschwieg, zeigt unmißverständlich, daß die Asientour Chruschtschows keineswegs den Segen Pekings gefunden hatte. Anstatt nun diese Asienreise als einen diplomatischen Triumph des sozialistischen Lagers zu begrüßen, mit dem Ziel, die beiden großen asiatischen Mächte dem Einfluß des westlichen Imperialismus zu entziehen, behandelte die chinesische Presse und Rundfunk diese Reise als eine bedeutungslose Angelegenheit, die keiner Kommentare wert sei. Seinerseits enthielt sich Chruschtschow sorgfältig von jedem Versuch, die Sowjetunion mit der Sache Chinas in der Auseinandersetzung mit den Nachbarn zu verbinden, während andererseits er keine Gelegenheit unterließ, die Macht und die Errungenschaften der Sowjetunion zu glorifizieren. Auf dem diplomatischen Feld war diese asiatische Reise Chruschtschows, wie sich das nachträglich deutlich erwies, für China keineswegs hilfreich. Allein die Tatsache, daß diese Reise mit so geringer Berücksichtigung der chinesischen Interessen durchgeführt wurde, war eine Demonstration dafür, daß Chruschtschow die Wünsche und die Gefühle der Herrscher der zahlenmäßig größten Bevölkerung der Welt keineswegs besondere Berücksichtigung zukommen ließ. Hier hat er zweifellos einen Fehler begangen.

Pekings ideologischer Angriff auf die politische Haltung Chruschtschows begann bereits im April, somit einen Monat vor der Pariser Gipfelkonferenz, in Gestalt einer Serie von Artikeln in der Presse, die außerordentlich weite Verbreitung in China fanden. Gelegenheit hierzu bot der 90. Jahrestag der Geburt Lenins. Das leitende Thema dieser Pressepropaganda bildete „die unerschütterliche Wahrheit“ der Lehre Lenins, daß Kriege unvermeidlich seien, solange noch der kapitalistische Imperialismus bestehen würde. Dieser leninistische Grundsatz ist, wie das Pekinger kommunistische Organ „The Peoples Daily“ betont, keineswegs überholt und wird niemals überholt sein.

Es stellt sich hierbei die Frage, wer eigentlich von denjenigen, die Lenin als eine höchste Autorität akzeptieren, jemals eine solche Ver-mutung geäußert haben sollte. Das Pekinger Blatt nannte naturgemäß keine Namen, aber jedes Wort dieser abstrakten, theoretischen Auseinandersetzung zeigte den marxistisch-leninistischen Lesern, daß es sich hierbei um einen Angriff auf die wiederholt geäußerte Auffassung Chruschtschows handelte. In kommunistischen Ländern weiß jedes Parteimitglied, daß solch eine Pressekampagne bestimmte politische Ziele verfolgt. Die sowjetrussische Führung war somit tatsächlich von chinesischer Seite der Häresie und der Abweichung von der Generallinie beschuldigt worden. China stellte sich selbst als den Wächter des wahren Glaubens in der Welt dar — einer Welt, in der selbst das Land der Oktober-Revolution untreu zu werden drohte. Diese Herausforderung war allzu deutlich, um in Moskau überhört zu werden. Kuusinen, Mitglied des Parteipräsidiums der KPdSU, antwortete auf diesen Angriff in einer Rede vom 22. April. Sein Argument, daß „man an der Tatsache des Entstehens starker Kräfte, die gegen den Krieg sind,“ nicht vorbeigehen könne, konnte von der westlichen Zuhörerschaft nicht überhört werden. Sofern es sich auch hier um eine Auslegung der leninistischen Doktrin handelt, so ist es klar, daß China in diesem Fall über das stärkere Argument verfügt. Es war Chruschtschow, der Stalin angriff, die Rückkehr zum Leninismus einleitete und sich dadurch derartigen Angriffen ausgesetzt hatte. Zweifellos hat Lenin niemals an eine friedliche Koexistenz zwischen dem Kommunismus und Kapitalismus geglaubt. Für ihn war die Koexistenz lediglich ein zeitbedingtes Hilfsmittel. Die Annahme, daß Lenin, wenn er heute leben würde, eine andere Auffassung vertreten hätte, ist eine Spekulation, die gegenüber dem auf schriftlichen Beweis aufgebauten Dogma kaum Anspruch auf Geltung erheben kann.

In ideologischer Hinsicht vertreten somit die chinesischen Kommunisten im Gegensatz zu Chruschtschow eindeutig die klassische Linie der kommunistischen Lehre. Auf dem Gebiet der praktischen Politik haben die Chinesen ferner den Verlauf der Ereignisse klarer vorhergesehen als die sowjetrussischen Führer. Chruschtschow scheint aus seinem sanguinischen Temperament heraus ehrlich geglaubt zu haben, daß es ihm durch friedliche Überzeugung und Propaganda gelingen werde, die Amerikaner zur Aufgabe Berlins zu bewegen. Chruschtschow glaubte, daß er in den Gesprächen mit Präsident Eisenhower in Camp David bestimmte Zusicherungen im Sinne eines Rückzugs erhalten habe. Wäre es Chruschtschow auf der Gipfelkonferenz gelungen, seine Berlin-Forderungen durchzusetzen, so würde er voraussichtlich nur allzu gern Formosa im Austausch für eine wenn auch nur zeitweilige Aussöhnung mit Amerika vergessen haben. Peking dagegen hat in den letzten 6 Monaten immer wieder die Auffassung vertreten, daß der amerikanische Imperialismus keine Korrekturen kenne, daß die Amerikaner Berlin nicht aufgeben würden und daher der Chruschtschow-Eisenhower-Flirt zu nichts führen würde. Der chinesische Parteiführer Mao kann sich jetzt beglückwünschen, recht gehabt zu haben. Der begrenzte diplomatische Kontakt zwischen dem kommunistischen China und denUSA ist nicht abgebrochen. Das Zusammentreffen zwischen dem amerikanischen und chinesischen Botschafter in Warschau, das vor 2 Jahren begann, hat bis jetzt nicht aufgehört. In diesen Diskussionen ist aber das Haupthindernis der amerikanischen militärischen Allianz mit den chinesischen Nationalisten in Formosa nicht überwunden worden. Peking weigert sich nach wie vor eine irgendwie geartete Garantie zu geben, daß die Versuche einer Eroberung Formosas aufgegeben würden. Die Pekinger Regierung fordert Formosa als ihr Recht und betrachtet das Formosa-Problem als eine Angelegenheit innerchinesischer Rechtsprechung. Bisher liegen keinerlei Anzeichen vor, daß dieser tote Punkt überwunden werden kann. Dennoch steht die Entwicklung nicht still. Die chinesischen Kommunisten sind sich bewußt, daß sie die Machtposition, nach der sie streben, nur durch den Eintritt in die ausgewählte Gesellschaft derjenigen Völker erreichen können, die über Atomwaffen verfügen. Die Schätzungen der Spezialisten über den von den chinesischen Kommunisten benötigten Zeitraum für die Herstellung von Atomwaffen gehen auseinander, allerdings unter der Voraussetzung, daß die Sowjetunion den Chinesen auf diesem Gebiet keine Hilfe gewährt. Es erscheint aber wahrscheinlich, daß das chinesische Regime, sofern es weiter intakt bleibt, im Laufe der nächsten 5 Jahre zu einer Atom-macht aufsteigen wird.

Sofern die Bedingungen günstig sind, wird Peking möglicherweise im gegebenen Augenblick die Offensive gegen Quemoy und Matsu wieder aufnehmen. Jetzt bereits, kurz nach dem Zusammenbruch der Pariser Gipfelkonferenz, sind Gerüchte über derartige chinesische Absichten im Umlauf. Es mag sein, daß diese Gerüchte den Entschluß der amerikanischen Regierung herbeigeführt haben, eine Luftflotte von 120 Militärflugzeugen in dem süd-asiatischen Raum zu „Manövern“ zu entsenden, obwohl es äußerst unwahrscheinlich ist, daß Mr. Chruschtschow die Chinesen ermutigt, die gegenwärtige internationale Lage durch provokative Aktionen in der Meerenge von Formosa weiter zu verschärfen, so darf doch nicht übersehen werden, daß die erhöhte Spannung in der gesamten Weltlage das Risiko des Ausbruches lokaler Konflikte bis zu dem Punkt eines maximalen Konfliktes treiben würde. Es liegt somit die dringende Notwendigkeit neuer anglo-amerikanischer Konsultationen über die sich nach der Pariser Konferenz entwickelnden Möglichkeiten, nicht allein in Europa sondern auch im Fernen Osten, vor.

Fussnoten

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