Einleitung
„Berlin ist nickt Row. Hitler ist nicht Mussolini. Berlin wird niemals die Hauptstadt eines Faschistenreiches werden. Berlin bleibt rot!“ „Vorwärts“, 8. Februar 1933. „Wir waren getrieben durch den Zwang der Verhältnisse in stärkerem Maße als die Parteien irgendeines anderen Landes. Wir waren wirklich nur Objekt der Entwiddung.“ Otto Wels am 22. August 1933 auf dem Kongreß der Sozialistischen Arbeiter-Internationale in Paris.
Die strukturelle Dauerkrise der Weimarer Demokratie, die Resignation der Demokraten und ihre Unfähigkeit, sich eine realistische Vorstellung von der drohenden Gefahr und den Methoden des totalitären Gegners zu machen, zählen zu den wichtigsten Voraussetzungen, die den Sieg der dynamischen Massenbewegung des Nationalsozialismus ermöglicht haben. Von den Parteien der Republik verharrte allein die sozialdemokratische in eindeutiger und kompromißloser Gegnerschaft zum aufsteigenden Nationalsozialismus
Die Politik der Tolerierung
Am Tage nach den Reichstagswahlen vom 14. September 1930, die mit einem Schlage die Nationalsozialisten zur zweitstärksten Partei werden ließen und gleichzeitig den Kommunisten bemerkenswerte Gewinne einbrachten, erklärte der preußische Ministerpräsident Otto Braun, der profilierteste unter den sozialdemokratischen Politikern der Weimarer Zeit, daß er trotz dieses besorgniserweckenden Ergebnisses weder die Verfassung noch die öffentliche Sicherheit und ebensowenig den Kurs der deutschen Außenpolitik auch nur einen Augenblick für bedroht halte. Den rechts-und linksradikalen Siegern der Wahlen werde kaum Gelegenheit geboten werden, ihre bedenklichen Rezepte praktisch zu erproben, wenn sich, was mit Sicherheit zu erwarten sei, über alles Trennende hinweg „eine große Koalition aller Vernünftigen“ zusammenfinde, „um mit einer zweifellos ausreichenden Regierungsmajorität zunächst alle Kräfte auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und auf die Verbesserung der wirtschaftlidten Existenzbedingungen der breiten Massen zu konzentrieren“
Die Bedrohung des Staates durch die gefährlich angewachsenen totalitären Bewegungen hatte nach der Überzeugung Brauns eine völlig neue politische und parlamentarische Situation geschaffen, in der der wirtschafts-und sozialpolitische Antagonismus der Flügelparteien, durch den das Kabinett Hermann Müllers auseinandergesprengt worden war, sich einem übergeordneten gemeinsamen Interesse unterzuordnen hatte und auf keinen Fall ausschlaggebend für die politische Fronten-bild
Die Bedrohung des Staates durch die gefährlich angewachsenen totalitären Bewegungen hatte nach der Überzeugung Brauns eine völlig neue politische und parlamentarische Situation geschaffen, in der der wirtschafts-und sozialpolitische Antagonismus der Flügelparteien, durch den das Kabinett Hermann Müllers auseinandergesprengt worden war, sich einem übergeordneten gemeinsamen Interesse unterzuordnen hatte und auf keinen Fall ausschlaggebend für die politische Fronten-bildung werden durfte. Auf allen Seiten waren Fehler gemacht worden, und Braun war der letzte, der die seiner eigenen Partei geleugnet hätte. Die mangelnde Kompromißbereitschaft der Sozialdemokratie in der Frage der Arbeitslosenversicherung, die im März den unmittelbaren Anlaß zum Bruch gegeben hatte, war von ihm ebensowenig gebilligt worden wie der Mißtrauensantrag, mit dem die Reichstagsfraktion dem neuen Kabinett Brüning ihre grundsätzliche Opposition ankündigte 10). Ungeachtet dessen bot die von den Parteien des Reichstags bewiesene „Verantwortungsscheu" in den Augen Brauns keinen hinreichenden Grund für den „offenbaren Mißbrauch“ des Artikels 48 durch Brüning und für den „großen politischen Fehler" der Reichstagsauflösung, die der Kanzler am 18. Juli herbeigeführt hatte, ohne zuvor die angekündigte Verhandlungsbereitschaft der Sozialdemokraten zu erproben 11). Nachdem der Wahlausgang Brünings Hoffnung auf eine bürgerliche Mehrheit, die es ihm erlauben so
Obgleich Brüning den Wahlkampf in scharfer Frontstellung gegen die Sozialdemokraten geführt hatte, war seine erste Reaktion auf das Wahlergebnis nicht viel anders als die des preußischen Ministerpräsidenten. Als er am 15. September vom Reichspräsidenten zum Vortrag empfangen wurde, gab dieser ihm allerdings zu verstehen, daß er keine Wiederherstellung der Großen Koalition wünsche 12).
Eine Demission des Kabinetts infolge der Wahlniederlage wurde von Fündenburg abgelehnt und vermutlich von Brüning auch gar nicht angeboten. Nach seinen Ausführungen in der Kabinettssitzung vom 16. September hatte er dem Präsidenten geraten, „die Frage der Umbildung oder Neubildung der Regierung mit größter Ruhe zu behandeln“. Dem Kabinett gegenüber betonte der Kanzler, daß die jetzige Regierung nach seiner Ansicht im Amte bleiben müsse und daß man Deutschland „nur durch Ruhe und sachliche Arbeit“ helfen könne 13). Damit drückte er seinen Willen aus, an den Grundlinien des in Angriff genommenen Sanierungsprogramms festzuhalten, was jedoch nicht hieß, daß er dem neuen Reichstag gleich wieder mit der Parole: „Friß Vogel, oder stirb!“ — mit diesen Worten hat Friedrich Stampfer nachträglich das Vorgehen Brünings im Juli charakterisiert 14) — entgegenzutreten beabsichtigte.
Da dem Kanzler eine Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten und der Deutschnationalen Hugenbergs „aus staatspolitischen Gründen" 15) nicht tragbar schien, hoffte er zunächst darauf, die Widerstände bei Hindenburg und den in der Regierung vertretenen Gruppen der gemäßigten Rechten gegen eine Linkserweiterung des Kabinetts überwinden zu können, falls er diese Frage bis zum Beginn der sachlichen Erörterungen über das Sanierungsprogramm im Reichstag zurückstelle, wobei sich dann die Lösung des Koalitionsproblems aufdrängen werde 16). Am 17. September berieten die Staatssekretäre Pünder (Reichskanzlei), Weismann (preußisches Ministerium) und Meißner (Präsidialkanzlei) über die Lage 17), und zumindest bei Pünder und Weismann bestand Einigkeit über das anzustrebende Ziel der Großen Koalition. Brüning selbst traf am 23. September mit dem sozialdemokratischen Fraktionsvorsitzenden und ehemaligen Reichskanzler Hermann Müller bei Hilferding zusammen, um die Voraussetzungen für eine eventuelle Erweiterung zu klären. Nach einer Tagebucheintragung Pünders 18) gewann der Kanzler bei dieser unverbindlichen Unterredung den Eindruck, daß die Bereitwilligkeit der Sozialdemokraten nur sehr gering zu veranschlagen sei. Müller wiederum konnte sich, wie er in den letzten Septembertagen an Braun schrieb, auf Grund dieser „losen Fühlung“ keine rechte Vorstellung davon machen, was der Kanzler eigentlich wolle. Es scheine ihm jedoch sicher, „daß Brüning zunächst seine Regierung nicht nadt redtts und — ich mödtte fast sagen — erst recht nicht nadt links erweitern will“
Auch Otto Braun, der sehr feste Vorstellungen über eine parlamentarische Lösung der Krise gehabt hatte, von denen an anderer Stelle noch zu sprechen sein wird, gab fürs erste den Gedanken an die Einbeziehung der SPD in das Kabinett auf. In einer Unterredung mit Pünder am Abend des 2. Oktober äußerte er: wer A gesagt habe, müsse auch B sagen, und wer wie Brüning einmal angefangen habe, mit Notverordnungen zu regieren, müsse, wie die Dinge lägen, auch damit fortfahren. Es komme jedoch darauf an, daß es in stillschweigendem Einverständnis mit dem Reichstag geschehe 24). Diese Stellungnahme erscheint um so bemerkenswerter, als Braun seit den Tagen Eberts ein Gegner der Anwendung des Artikels 48 gewesen war. Braun und Müller 25) setzten sich in der Reichstagsfraktion, die am 3. Oktober zusammentrat, energisch für die Unterstützung Brünings ein, und wenn auch der von der Fraktion gefaßte Beschluß, in dem die Erhaltung der Demokratie, die Sicherung der Verfassung und der Schutz des Parlamentarismus als erste Aufgabe bezeichnet wurden 26), die Entscheidung nach außen hin noch offenließ, so waren doch die Weichen gestellt. Einen plastischen Einblick in das Dilemma der SPD vermitteln die Memoiren des damaligen württembergischen Reichstagsabgeordneten Wilhelm Keil, der Ende September 1930 auf einer Sonderkonferenz der sozialdemokratischen Delegierten zum Deutschen Städtetag in Dresden das Wort nahm und bei vielen der Anwesenden mit seiner Auffassung Erstaunen hervorrief, „daß uns bei der gegebenen politischen Lage gar nichts anderes übrig bleibe als die Regierung Brüning zu stützen, wenn wir verhindern wollten, daß die Nationalsozialisten die Führung an sich rissen. Die Verblüfften hatten sich noch keine ernsten Gedanken darüber gemacht, was nun werden solle, und konnten sich schwer darein finden, daß wir an die Seite desselben Kanzlers treten sollten, der uns bisher von sich gestoßen hatte. Es gab aber auch in diesem Kreis schon einige Männer mit nüchternem politisdten Blick, die mir lebhaft zustimmten. Der Zusammentritt des Reichstages am 11. Oktober 27) gab mir wieder Anlaß zu Betrachtungen über das Schicksal des Kabinetts Brünings. Von den fünfhundertsechsundsiebzig Mitgliedern des Reichstags gehörten, die Sozialdemokraten eingeschlossen, dreihundertadttundsechzig der Opposition an. Nichts leichter also, als Brüning zu stürzen. Wer aber konnte an seine Stelle treten? Stand nicht die Sozialdemokratie den anderen Oppositionsparteien viel feindlicher gegenüber als dem Kabinett Brüning? Sollten wir Brüning zwingen, sich mit den Nationalsozialisten zu verbinden? Das hätte zur Hitlerdiktatur geführt und zur völligen Zerstörung des Parlamentarismus. Davor warnte ich in einem großen Zeitungsaufsatz . . . Dieser , Tagwacht'-Aufsatz wurde von den Telegraphenbüros weiterverbreitet und rief in Berlin Aufsehen hervor. Mancher Parteifreund dachte wie ich, aber keiner hatte sich bis dahin so offen ausgesprochen. Mit bissiger Freundlichkeit meinte Breitscheid, als wir uns in Berlin sahen, nun werde wohl die Reichspolitik von Stuttgart aus gemacht. Ihm selbst blieb aber in der Fraktion, die nun zu beraten hatte, nidtts anderes übrig, als mit mir in der gleichen Richtung zu steuern." 28) Die Entscheidung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion machte es Brüning möglich, für anderthalb Jahre seinen Sanierungskurs fortzusetzen, der allein davon abhing, daß sich eine parlamentarische Mehrheit dazu bereit fand, auf die Aufhebung der nach Artikel 48 erlassenen Notverordnungen zu verzichten 29). So entwickelte sich, um mit Friedrich Stampfer zu sprechen, „ein eigentümlidier Schwebezustand, ein System, das man als Parlamentarismus mit Artikel 48 oder als parlamentarisch tolerierte Präsidialregierung bezeichnen kann". 30) Die Frage, ob dieses semiparlamentarische System den einzig möglichen Ausweg aus dem Dilemma darstellte, oder ob es — trotz der unstreitig sehr stark divergierenden Tendenzen innerhalb der von den Parteien der früheren Großen Koalition und Gruppen der gemäßigten Rechten gebildeten negativen Tolerierungsmehrheit — hätte gelingen können, die von Otto Braun geforderte aktive „große Koalition aller Vernünftigen“ zu schaffen, läßt sich kaum eindeutig beantworten. Auf keinen Fall darf der Grund dafür, daß eine solche Lösung nicht zustande kam, allein in den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen gesucht werden, wenn sich auch die Voraussetzungen gegenüber dem von Brüning leichtfertig zerschlagenen alten Reichstag verschlechtert hatten. Die passive Zusammenarbeit der Sozialdemokratie mit der Regierung Brünings wurde von allen beteiligten Gruppen — vielleicht mit Ausnahme der demokratischen Staatspartei — als äußerst unbequeme Vernunftehe betrachtet. Aber um etwas anderes hätte es auch bei dem Versuch, zu einer arbeitsfähigen Mehrheit zu gelangen, nicht gehen können. So stand in einer vermutlich von einem Mann der bürgerlichen Mitte verfaßten Denkschrift
Ließ sich das gleiche ohne sozialdemokratische Regierungsbeteiligung erreichen, so wurde er dadurch nur der Verlegenheit enthoben, sich zwischen der SPD und den Kräften der gemäßigten Rechten innerhalb der Regierung, die sich einer Einbeziehung der Sozialdemokraten widersetzten, entscheiden zu müssen. Der gewissenhafte und von seiner sachlichen Aufgabe besessene Regierungschef, dessen Vorzüge als Fachmann zugleich seine Schwäche als Politiker bezeichneten, verkannte dabei, daß gerade das Fehlen einer festen Regierungskoalition, die für die heterogenen Partner einen ständigen Zwang zur Zusammenarbeit bedingt hätte, eine wirksame Durchpolitisierung der wirtschaftlichen Interessen verhindern mußte. Die Interessentengruppen, deren störender Einfluß eingedämmt werden sollte, konnten auf diese Weise viel ungehemmter und unvermittelter einen erpresserischen Drude auf die Spitze ausüben, durch den die von Brüning erstrebte „Sachlichkeit“ einer Regierung über den miteinander zerfallenen Parteien der negativen Tolerierungsmehrheit in vielen Fällen mehr als fragwürdig wurde.
Das mangelnde, nicht allein auf den voraufgegangenen bösen Erfahrungen beruhende Verständnis des Kanzlers für die integrierende Bedeutung des parlamentarischen Kompromisses — die sich allerdings, wie nicht zuletzt Otto Brauns preußisches Beispiel zeigt, nur beim Vorhandensein einer ebenso starken wie elastischen Führung hätte voll auswirken können — erklärt zu einem güten Teil, daß sich Brüning nicht ernsthafter um die Schaffung einer arbeitsfähigen Mehrheit unter Einschluß der Sozialdemokraten bemühte, soviel andere Faktoren — seine eigenen konservativen Neigungen, Rücksichten auf Hindenburg, Schleicher und die Reichswehr usw. — auch dabei im Spiel sein mochten.
Ist der Übergang zur Tolerierung im Oktober 1930 einerseits als Selbstausschaltung des Reichstags von der aktiven Mitgestaltung der Politik zu begreifen, so darf andererseits nicht verkannt werden, daß die Haltung des Reichskanzlers diese Entwicklung begünstigen mußte. Das mindert allerdings nicht die Verantwortlichkeit der Parteien, und am wenigsten die der SPD als der stärksten Kraft der parlamentarischen Demokratie. Es bleibt festzuhalten, daß die Parteiführung sich nach den Wahlen nicht mit der Stellungnahme des preußischen Ministerprä-, sidenten identifizierte, sondern von Anfang an darauf verzichtete, das Gewicht ihrer 143 Mandate für eine aktive Regierungsbeteiligung in die Waagschale zu werfen. Nichts erhellt die Situation so sehr, als daß Brüning und die sozialdemokratischen Führer sich auf halbem Wege in dem Bestreben entgegenkamen, einer wirklichen politischen Entscheidung auszuweichen. Das heißt nichts anderes, als daß die sozialdemokratische Standardbegründung, die Tolerierung sei das „kleinere Übel“ gegenüber einer offenen Diktatur oder einer ausgesprochenen Rechts-regierung gewesen, zwar nicht falsch, aber doch ergänzungsbedürftig k . Hinzuzufügen wäre, daß die Partei diese Lösung, die weder Koalition noch Opposition bedeutete, nicht nur den Konsequenzen eines leichtfertigen Sturzes der Regierung Brüning, sondern auch einer festen Koalitionsbindung an diese Regierung, der sie das Weiteramtieren ermöglichte, vorzog. Das gilt unabhängig davon, ob eine Regierungsbeteiligung erreichbar gewesen wäre. Es kann allerdings nicht unbeachtet bleiben, daß die Reichstagsfraktion schon bei ihrem ersten Zusammentritt nur noch vor die Alternative Opposition oder Tolerierung gestellt wurde und sich schon der Tolerierungsbeschluß in Anbetracht der starken, in die Opposition drängenden Strömungen nur unter großen Schwierigkeiten durchsetzen ließ.
Die Duldung des Kabinetts Brünings verurteilte die Sozialdemokratie zur völligen Bewegungslosigkeit. Sie sah sich dazu gezwungen, die unpopulärsten Not-und Sparmaßnahmen, die von ihren Anhängern leidenschaftlich abgelehnt wurden, hinzunehmen, und mußte sogar die einseitig den Interessen der Landwirtschaft dienenden Gesetze passieren lassen. Die führenden Männer der Partei redeten sich in den Versammlungen im Lande die Köpfe heiß, um zu beweisen, daß das alles nur geschehe, um Schlimmeres zu verhüten, „fanden aber nur Mitleid statt Verständnis“
Sozialdemokraten Dieser Entschluß verlangte von den wohl das größte Maß an Selbstverleugnung, zumal die erregten Debatten um das 1928 von der Reichstagsfraktion gegenüber einer sozialdemokratisch geführten Regierung abgelehnte Panzerschiff A
So führte auch die Kabinettsumbildung im Oktober 1931, mit der sich die Präsidialregierung noch weiter von der parlamentarischen Basis löste, zu keiner Revision der sozialdemokratischen Haltung. Der „Vorwärts“ versuchte seinen Lesern klarzumachen, welche bedenklichen Personalveränderungen vermieden worden seien („Weder Neurath, noch Voegler, noch Gessler“)
Der Bogen, der sich von den Septemberwahlen 1930 bis zum Sturz Brünings spannt, macht deutlich, wie sehr der Sozialdemokratie das Gesetz des Handelns aus den Händen geglitten war. Sie bewährte sich in dieser ganzen Zeit, abgesehen von den katholischen Parteien und der kleinen Staatspartei, als zuverlässigste parlamentarische Stütze des Kabinetts, ohne dafür mehr als kleine Zugeständnisse, besonders auf sozialpolitischem Gebiet, einhandeln zu können. Wenn eine oppositionelle sozialdemokratische Zeitung im Frühjahr 1931 boshaft feststellte, daß Brüning wisse, „wie man eine grollende Sozialdemokratie kirre madten“ könne, und nur mit seinem oder Hindenburgs Rücktritt zu drohen brauche, um den Vorstand der Reichstagsfraktion wieder „sanft wie eine Taube“ einlenken zu lassen
Obgleich dieser Zustand als bedrückend und lähmend empfunden werden mußte, unterblieb jeder aktive politische Vorstoß, der das parlamentarische Potential der Sozialdemokratie wirkungsvoller hätte zur Geltung bringen können. Auch wenn sich die Partei wiederholt bemühte, die Regierung für häufigere Tagungen des Reichstags zu gewinnen, ging es ihr im wesentlichen nur darum, die Anwesenheit des Parlaments nach außen hin zu demonstrieren. Brüning, der solche Forderungen strikt zurückwies, reagierte im Juni 1931 schon auf den Kompromißvorschlag, mindestens die Einberufung des Hauptausschusses zuzulassen, mit der Androhung seiner Demission. Die Sozialdemokraten aber fanden sich damit ab, mochte ihnen noch soviel daran liegen, auf diese Weise ein „Ventil“ für die Stimmung der Unzufriedenen und eine „Kulisse“ für die Arbeit der Regierung zu schaffen: „Man könne den Leuten im Lande dann wenigstens verständlich madten, daß Verhandlungen im Gange seien“
Alle Anstrengungen, aus der Partei heraus ein zugkräftiges Programm zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit zu entwickeln, scheiterten schon daran, daß auch die führenden Männer und die Wirtschaftstheoretiker der Sozialdemokratie und der freien Gewerkschaften das Gespenst der Inflation viel zu sehr fürchteten
Hinter der negativen Linie dieser Politik, der es darauf ankam, das Zentrum und die bürgerlichen Mittelparteien zu binden und die Nationalsozialisten von der Macht fernzuhalten, verbarg sich ein ungebrochener Abwehrwille, der in der starken sozialdemokratischen Organisation und in den der Partei noch verbliebenen Machtpositionen, vor allem ihrer Stellung in Preußen, seinen Rückhalt fand. Wenn es gelang, Preußen zu behaupten, so schien auch die Sache der Republik nicht verloren. Die Rücksicht auf dieses „letzte große Bollwerk, die Zitadelle der Demokratie und der Republik in Deutschland“
Braun und Brüning
Der Bruch der Großen Koalition im Frühjahr 1930 hatte auch die Weimarer Koalition in Preußen akut gefährdet. Die preußische Landtagsfraktion des Zentrums verstand sich jedoch trotz starken Drängens aus den Reihen der eigenen Partei nicht dazu, die über lange Jahre bewährte Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten in der preußischen Regierung aufzugeben. So blieb ungeachtet der Erbitterung, mit der sich Zentrum und Sozialdemokratie im Reichstagswahlkampf gegenüberstanden, eine Brücke zwischen den beiden Parteien erhalten, die es nach den Septemberwahlen erleichterte, die Tolerierungsmehrheit zu begründen. Hier hätte nach Auffassung des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun auch der mögliche Ausgangspunkt für die Rückkehr zu einer Regierung der Großen Koalition im Reich liegen können. Dabei unterschätzte er keineswegs die Schwierigkeiten, denen der Versuch, zu einer parlamentarischen Lösung der Krise zu gelangen, begegnen mußte. Er glaubte jedoch, einen gangbaren Weg zu sehen, der es den beteiligten Parteien erlaubt hätte, über alle sachlichen Gegensätze und gefühlsmäßigen Hemmungen hinweg die Konsequenzen aus der verfahrenen Lage zu ziehen, ohne dabei in der erhitzten und psychologisch belasteten innenpolitischen Atmosphäre ihren Anhängern im Land gegenüber das Gesicht zu verlieren.
Die von Braun ins Auge gefaßte Lösung, die den gordischen Knoten mit einem kühnen Streich durchhauen sollte, sah eine Personalunion zwischen den Ämtern des preußischen Ministerpräsidenten und des Vizekanzlers im Reich vor
Zur Würdigung des geschilderten Lösungsvorschlages scheint erforderlich, etwas näher auf die Stellung des preußischen Ministerpräsidenten zur Frage der Reichsreform einzugehen. Wenn Braun in seinen Memoiren betont, er habe „die Mission des neuen Preußen“ darin gesehen, „die Demokratie in Deutschland zu sichern und zu vertiefen“
Die Bedeutung, die Braun dem auch von dem preußischen Zentrums-minister Hirtsiefer
Der Weg, den Braun vor sich sah, als er nach den Septemberwahlen eine „große Koalition aller Vernünftigen“
Nach einer kurzen Zeit des Schwankens entschied sich jedoch Brüning, die schwierige Frage der Reichsreform, seinem ursprünglichen Vorsatz entsprechend, bis zum Abschluß der Reparationsverhandlungen zurückzustellen. Die durch einen voreiligen Zeitschriftenartikel des preußischen Finanzministers Höpker-Aschoff mobilisierten Widerstände, die Intervention Schleichers, eine vorübergehende Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Braun und Brüning und nicht zuletzt die Unentschlossenheit des Kanzlers, der mit seinen Vorzügen und Schwächen so etwas wie eine Bethmann-Hollweg-Natur war, dürften zusammengewirkt haben, um dieses negative Ergebnis herbeizuführen.
Der schon in den Vorerörterungen steckenbleibende Versuch hatte allerdings noch ein Nachspiel; und zwar nahm Brüning den Rücktritt
Die geschilderten drei Stationen September 1930, August und Herbst 1931 belegen die Kontinuität in den politischen Zielvorstellungen des preußischen Ministerpräsidenten, der ein bemerkenswertes Maß an politischem Weitblick besaß, und lenken gleichzeitig den Blick auf die Bedeutung des Verhältnisses zwischen Braun und Brüning für die Endphase der Weimarer Republik. Braun war weder Freund einer uni-. tarischen Reichsreform um jeden Preis, noch hielt er es für der Weisheit letzten Schluß, starr an der preußischen Machtstellung festzuhalten. Daß es gerade ihm nicht leicht gefallen wäre, die ersten Schritte auf einem Wege zu tun, der zum Abbau des selbständigen preußischen Staatswesens führen mußte, kann dabei keinem Zweifel unterliegen.
Aber das hätte ihn nicht davon abgehalten, die Hand zu einer konstruktiven Lösung zu reichen, durch die der Republik bessere Aussichten eröffnet worden wären, sich gegenüber dem Ansturm der Gegner der Demokratie zu behaupten. Wenn wir seine Intentionen richtig interpretieren, so hätte am Anfang ein Schutz-und Trutzbündnis der Chefs der beiden Zentralregierungen stehen müssen, ein Pakt, der in sich schon eine politische Tatsache darstellte, auch dem Reichspräsidenten und den Parteien gegenüber. Der Versuch, das gestörte parlamentarische Zusammenspiel wieder zu beleben, bot nach seiner Auffassung nur dann Aussicht, wenn von der Spitze ein starker Zwang zur Integration auf die durch Interessenkonflikte zerrissenen antitotalitären Parteien ausgeübt wurde. Dazu sollte der durch seinen Eintritt als Vizekanzler in die Reichsregierung besiegelte Pakt mit Brüning den Auftakt geben. Dabei glaubte er, nicht mehr tun zu dürfen, als vorsichtig anzuregen. Die Initiative aber konnte nur vom Reichskanzler ausgehen, dessen Zuständigkeit und Verantwortlichkeit Braun ebenso respektierte, wie er selbst in seinem eigenen Amtsbereich als preußischer Ministerpräsident keine Eingriffe von nicht zuständiger Seite hinzunehmen bereit war. Hier zeigt sich klar, daß ein solcher Pakt nicht zuletzt ein psychologisches Problem bedeutete
Trotzdem fanden Braun und Brüning ein Verhältnis zueinander, das man vielleicht am besten als ein begrenztes Bündnis charakterisiert
Niemand vermag zu sagen, ob eine Reichspolitik im Sinne Brauns das Schicksal hätte abwenden können und ob es gelungen wäre, auf diesem Wege zu einer starken Regierung mit einer ausreichenden parlamentarischen Grundlage zu kommen. Allein eine große Chance hätte auch ein großes Risiko gerechtfertigt. Es hätte schon viel bedeutet, wenn eine einheitliche rücksichtslose Abwehr der nationalsozialistischen und kommunistischen Provokationen gewährleistet worden wäre
Durchbrach Braun einerseits mit seinen Intentionen den Horizont der gelähmten und passiven sozialdemokratischen Politik, so erscheint es andererseits charakteristisch für ihn, daß er kaum etwas dazu tat, seine Partei zu einer selbständigen politischen Aktivität zu bewegen und den Ansatz zu einer Lösung der Probleme der Krise aus der Sphäre des Staatlichen erwartete. Aber wenn die Sozialdemokratie auch nicht von sich aus zur Regierungsverantwortung drängte und sogar glaubte, durch die halbe Lösung der Tolerierung die Konkurrenz der Kommunisten und den Druck ihres eigenen linken Flügels besser abfangen zu können, als wenn sie direkte Regierungspartei gewesen wäre, so hätte sie sich, von Brüning und Braun ernstlich vor die Wahl gestellt, kaum der Zustimmung zu den Personalunionsplänen entzogen. Insofern dürfte die Kalkulation Brauns richtig gewesen sein. Die größten Hindernisse lagen zweifellos an anderer Stelle. Doch alle Spekulationen sind müßig, da weder im September 1930 noch im August des folgenden Jahres der Pakt der Regierungschefs zustande kam.