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Ernst Moritz Arndt | APuZ 20/1960 | bpb.de

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APuZ 20/1960 Ernst Moritz Arndt

Ernst Moritz Arndt

ERNST WEYMAR

Am 9. März 1960 haben wir eine Betrachtung über das Leben und Wirken Ernst Moritz Arndts von Professor Dr. Walter BuSmann veröffentlicht. Dr. Ernst Weymar von der Universität Kiel sandte uns dazu folgende ergänzende Bemerkungen.

Die Würdigung Ernst Moritz Arndts von Professor Bußmann fordert den historisch und politisch interessierten Leser notwendigerweise zu einigen Fragen und Bemerkungen heraus.

Professor Bußmann wehrt sich in bezug auf die Befreiungskriege „mit guteM Grund und guteM Gewissen^gegen einen Mißbrauch dieser nationalen Erhebung Mit weltbürgerlicheM Gehalt, wie er jüngst etwa iM Zeichen einer sogenannten , deutsch-russischen Freundschaft'gegen Westeuropa versucht“ werde. Er gedenkt aber mit keinem Worte des „Mißbrauches“, den die Nationalsozialisten mit dieser Bewegung und vor allem mit Ernst Moritz Arndt trieben, auch mit den Versen, die Professor Bußmann zitiert („Der Gott, der Eisen wachsen ließ ...“) und mit manchen anderen, die er nicht zitiert (zum Beispiel: „Schlage! reiße! morde! rase!. . .“) 1), mit denen der Verfasser dieser Zeilen und seine Altersgenossen vor gut zwanzig Jahren als tumbe Toren im Glauben an die gute deutsche Sache von geschichtskundigen „. . . führern“ und „ . . . leitern", die selbst in ihren Amtsstuben sitzen blieben und die Heimat mit Durchhaltereden beglückten, zur Kriegsfreiwilligenmeldung angeregt und begeistert wurden. Die verlogenen Phantasiebilder von Ruhm Krieg und Heldentod, die man uns mit patriotischen Liedern vorgegaukelt hatte, zerstoben im soldatischen Alltag wie Spreu im Wind. Die von der Goebbels-Propaganda der jungen Generation mit Hilfe historischer Legenden und in Anlehnung an patriotische Vorbilder schon eingepflanzten Ansätzen und Keime barbarischer Gesinnung konnte man. wenn man Glück hatte und sich mühte, unter dem formenden Einfluß untadeliger Lehrmeister ritterlich-soldatischen Geistes überwinden. Zurück blieb nach dem Zusammenbruch des „Tausendjährigen Reiches" bei den Millionen der gutgläubigen Verführten, sofern sie nicht resignierten oder in Stumpfsinn verfielen, das zermürbende Bewußtsein, zwar subjektiv rechtschaffen im Geiste ehrlichen deutschen Soldatentums „gedient“ zu haben, aber im Sinne objektiver historischer Betrachtung von Hasardeuren und gewissenlosen Verbrechern als willfährige Werkzeuge mißbraucht worden zu sein. Das ist das Grunderlebnis der sogenannten Kriegsgeneration. Sie ist heute dabei, ihren Standort zu bestimmen und die deutsche Vergangenheit, wie man zu sagen pflegt, „aufzuarbeiten“ oder zu „bewältigen“ — mit jenem nüchternen historischen Realismus, den dieses Grunderlebnis in uns hinterließ, und mit einem nicht geringen Maß an Respektlosigkeit gegenüber allen wirklichen oder vermeintlichen Größen und Halbgöttern und ihren wahren oder falschen Propheten, die anzubeten und denen zu opfern man uns vor dem Ende des „Ewigen Reiches“ gelehrt hatte. „Wie konntet Ihr . . so fragt uns heute die heranwachsende Generation. „Wir wußten nicht. .. , wir glaubten . ..“, so müssen wir hilflos antworten. Die nächste wird wieder fragen: „Wie konntet Ihr . . .?“, wenn wir, obwohl wir wissen, nicht alles „aufarbeiten“ und „bewältigen“, was wirr durcheinander, verklärt oder unbewußt, in Vorurteilen verhüllt, in den Gemütern von vielen noch ruht oder gar wirkt und wieder wächst und Keime treibt und Früchte tragen kann — ebenso häßlich wie die der vorigen Ernte.

Nach diesem persönlich-politischen Vorspruch zurück zu der angedeuteten Frage: haben die Nationalsozialisten das Andenken Ernst Moritz Arndts mißbraucht — wenn ja: in welcher Weise? — oder haben sie es nicht mißbraucht?

Zu Beginn der dreißiger Jahre setzte in Deutschland eine wahre Literaturflut zur Wiederbelebung des Geistesgutes von Ernst Moritz Arndt ein 2), wie man auch gleichzeitig zum Teil mit noch größerem Nachdruck andere „Ahnherren“ der „Bewegung“ dem Bewußtsein weiterer Kreise nahezubringen versuchte. 3) Hans Kern feierte Arndt 1930 als den „ewigen Deutschen“ 4) und glaubte zwei Jahre später an seine „Wiederkunft“. 5) Paul Requadt sammelte Zitate aus seinen Schriften, die sich zur nationalpolitischen Bildung im Sinne des „Führers“ verwerten ließen. 6) Willy Andreas und Wilhelm von Scholz nahmen Ernst Moritz Arndt und den „Turnvater“ in die literarische Gedenkhalle der „Großen Deutschen ‘ auf, aus der sie nach dem Kriege von Hermann Heimpel, Theodor Heuss und Benno Reifenberg (zu recht oder zu unrecht?) wieder entfernt wurden. ') L. F. Gengier sah in Arndt einen „Wegbereiter des Dritten Reiches“. 8) Er galt als „VorkäMpfer der deutschen Bauernpolitik“, wie sie von Hitler betrieben wurde, 9) und als ein „VorkäMpfer. . . für das Reichserbhofgesetz“, 10) das in der Tat mit seinen Vorschlägen weitgehend übereinstimmte. n)

Weitaus interessanter als diese Hinweise und die verschieden angelegten Versuche der „ Wiederbelebung“ ist das, was nationalsozialistische Rassedenker Verwandtes bei Arndt entdeckten. Ludwig Schemann erinnerte schon 1931 an den bekannten Ausspruch, den Arndt in seinen „Erinnerungen aus dem äußeren Leben“ dem Freiherm vom Stein in den Mund legt: er, Arndt, habe so etwas wie eine „Hühner- hundnase zum Aufwittem des versdtiedenen Blutes“. 12) Paul Requadt stellte 1934 auch Zitate zusammen, in denen sich Arndt über die Verderblichkeit der „Rasseuwisdtuug“ äußerte, 13) und in den „Nationalsozialistischen Monatsheften" erschienen 193 5 „Gedanken und Aussprüche" von Ernst Moritz Arndt über „Volk und Rasse“, denen zufolge'die Nürnberger Gesetze als eine Verwirklichung seiner Vorschläge erscheinen konnten. 14) Hans Kern schrieb im gleichen Jahre: „Arndt erkannte damals mit seherischem Blick, daß den Deutschen nur noch die Rückkehr zu den Mächten und Kräften der Erde und des Leibes (des . Bodens'also und des . Blutes') und durch eine dementsprechende Umwertung der gesamten überlieferten Kulturwerte geholfen werden könne“. 15) R. Luck meditierte 1937 über das „VegetativVitale der Rasse bei Arndt“. 16) Richard Weigand stellte 1941 in einer historisch-anthropologischen Untersuchung fest, daß seine „Rassenlehre" „fast alle Bestandteile einer Rassekunde“ enthalte. 17) Hermann Blome betonte zwei Jahre später vor allem „die romantischen Züge im rassischen Denken Ernst Moritz Arndts“ und hob wie schon Schemann seine „Hödistbewertung der Germanen“ hervor. 18) Damit genug: es sind nur die wichtigsten und lautesten Stimmen aus dem großen Chor der Verehrer.

War diese offenbare Wahlverwandtschaft zwischen den nationalsozialistischen Rassedenkern und dem patriotischen Sänger der Freiheitskriege erfunden? Hat man ihn bewußt mißbraucht und seine Gedanken entstellt? Nein! Wer sich die Mühe macht und sich nicht allein auf die leicht greifbare Literatur verläßt 19), sondern auch alles liest und prüft, was von den Schriften und Werken Arndts noch zu erreichen ist — eine kritische Gesamtausgabe fehlt —, wird manches finden, was den Leser seltsam berührt, wenn er die Schlagworte von der „Rassenhygiene“, die Goebbels dem deutschen Volke einzupeitschen versuchte, noch nicht ganz vergessen hat.

Arndt und Jahn und viele ihrer Anhänger und Erben stärkten im Kampf gegen Napoleon (und später) das deutsche Selbstbewußtsein nicht nur durch Haßgesänge, Hetzreden und Sendungsmythen, 20) sondern auch durch die Betonung des „reinen deutschen Blutes“, um auf diese Weise dem deutschen Volke das Gefühl artmäßiger Überlegenheit gegenüber den „verbastardeten“ Franzosen anzuerziehen. Unter Berufung auf Tacitus, der die Germanen für ein reines und unvermischtes Volk hielt, 21) nahm Arndt die gleiche Reinheit des Blutes für seine Deutschen in Anspruch: „Die Deutschen sind nicht durch fremde Völker verbastardet, sie sind keine Mischlinge geworden, sie sind mehr als viele andere Völker in ihrer angeborenen Reinheit geblieben und haben sich aus dieser Reinheit ihrer Art und Natur nach den stetigen Gesetzen der Zeit langsam und still entwickeln können; die glücklidten Deutschen sind ein ursprüngliches Volk .. 22)

Die Reinheit des Blutes galt ihm als Voraussetzung für wahrhaft schöpferische Leistungen, die „Verbastardung“ als ein gewaltiges Übel, das zum physischen und geistigen Niedergang führen müsse: „Idt meine mit der Verbastardung, wovon wir spredien, nicht allein einander ganz fremde Geschlechter, wodurch die mensdtliche Willkür mittels absichtlicher und hurischer Paarungen Neues und Wunderliches hervorzubringen versucht hat, sondern ich meine audt die Verpaarung und Verächtung der einander nädtststehenden Arten. Man hat in den letzten fünfzig Jahren in den Stutereien und Züchtereien von Rindern und Schafen in manchen Ländern, besonders aber in England, mannigfaltige Versuche angestellt und mancherlei Erfahrungen gemacht, und das ist endlich der merkwürdigste Aussprung aller dieser Versuche gewesen, und hat sidt als die bleibende Erfahrung bewährt, + daß man einen unedlen Stamm durch häufige Mischung mit einem edleren bis zu einem gewissen Grade wohl geschwind scheinbar verbessern kann, daß aber diese Verbesserung auf die Dauer nicht aushält, sondern daß das Unedle, was übrig blieb, immer wieder zurückschlägt und das Edle allmählich wieder verschlingt; daß aber das andere, viel mühseligere und viel langsamere Verfahren nie fehlt, weldtes aus jedem Stamm (gleichviel ob edel oder unedel) immer das Kräftigste und Schönste ausliest und miteinander zeugen läßt. So wird durch die Paarung des Gleichen und Zusammengehörigen miteinander allein ein edles und vorzügliches Geschieht. ++ (von + bis ++ im Text von Arndt gesperrt)

Um es durh Beispiele zu sagen: ih kann durh arabishe und andalusishe Hengste, womit ih deutshe Stuten beshälen lasse, wohl edle Bastarde hervorbringen mit manhen shönen Pferdeeigenshaften; aber wenn ih immer wieder die besten und von Zeugung zu Zeugung wieder die besten Stuten und Hengste von eht deutshem Stamme zusammenlasse, so wird endlih, vielleicht erst nah fünfzig Zeugungen, aber gewiß endlih einmal das kräftigste, shönste und dauerhafteste Pferd fertig sein, was der deutshe Himmelsstrih ertragen kann; jene durh Vermishung mit Fremden entstandene Spielarten aber werden immer wieder zu dem Shlehten und Unedlen zurückshlagen: denn nur die Mishung des Gleihen und Einfahen veredelt die Art wirklih und gibt eine Art, die bleibt. Ebenso, wenn wir zum Beispiel annehmen, was wir ja gewöhnlih tun, daß der Neger und Mongole eine shlehtere Menshenart sei als der Kelte und Germane, sollte man glauben, daß der Neger-und Mongolenstamm durh eine fortgesetzte Mishung mit den letzteren beiden unendlih veredelt, ja allmählich wohl in einen ganz anderen und eigentümlihen Stamm umgewandelt werden müßte. Nah der Erfahrung aber, die uns das Naturgesetz zeigt, wird das mitnihten geshehen, sondern auh der Neger und Mongole und überhaupt jedes Volk wird nur dadurch das beste und edelste werden und das Beste und Edelste hervor b r i n g e n k ö n n e n , d a ß es immer d a s K r ä f t i g s t e und Schönste seines Stammes a u s l i e s t und miteinander zeugen läßt. Die Bastarde, die durh Vermishung des Ungleihen oder gar des Ungleihsten entspringen, mögen allerdings manhe glänzende Eigenshaften zeigen, und sie zeigen sie in der Tat sehr häufig, wie man z. B alle Tage an den Mulatten weisen kann, aber das Harmonishe, Sichere und Genialishe, kurz das Tühtige und Bleibende wird aus ihnen nie hervorgehen.

Diese Theorie, die in der Regel gewiß Stich hält, sollte von den Gesetzgebern mehr ins Auge gefaßt werden und ist von einigen alten Gesetzgebern, welche die natürlichen Dinge mehr natürlich sahen und b e g r i f fe n als wir, gewiß sehr ins Auge gefaßt worden. Sie haben mehr auf reines und gleiches Blut gesehen als wir . . .“ 23)

Diese von den „Erfahrungen" in der planmäßigen Tierzucht hergeleiteten „Phantasien“ über „künftige deutshe Verfassungen“ wurden hundertundzwanzig Jahre später, arisch-nordisch abgewandelt, durch die Nürnberger Gesetze verwirklicht. Was Hermann Blome schreibt, trifft durchaus zu:

„Bei Ernst Moritz Arndt ... konnte gezeigt werden, wie das rassishe Denken in nationalpolitishe Bestrebungen einmündet. In ihm wurde der erste Rassehygieniker gefunden, dex der . Verbastardung der Völker'bewußt entgegenwirkte und eine umfassende Rassenpflege durh Gesetze sihergestellt wissen wollte.“ 24) „Wieviel Leid und Unheil hätte die Erfüllung dieser Forderungen Arndts dem deutshen Volke ersparen könnenl“, schrieb 1939 Paul Breitenkamp. „So klar und selbstverständlih wie sie heute ersheinen, so weit eilten sie ihrer Zeit voraus“. Doch weiter: „Alles das, was er allgemein über Verbastardung ausführt, gilt in erster Linie für die Ver’mishung mit Juden.“ 25)

Auch dieser Frage müssen wir nachgehen, denn der letzte Satz ist in dieser Form eine typische Rezeptionsfälschung. Professor Bußmann betont mit Recht, Arndts Abneigung gegen die Juden habe nicht so „shroffe Formen“ angenommen wie bei denjenigen seiner Zeitgenossen — so ergänze ich —, die schon damals die „Judenfrage“ durch „Shädeleinshlagen“ lösen wollten. 26) Arndt glaubte trotz seiner Reinzuchtvorschläge, das deutsche Volk in seiner großen Masse könne die in Deutschland ansässigen Juden „in sih vershlingen“, ohne großen Schaden an seiner Art zu nehmen:

„Der hristlihe Herrsher eines Staates sieht sih nah der menshlihen Lehre des Evangeliums auh als den Vater der Juden an, die in seinem Lande gebühren als seine Kinder bei ihm wohnen. Er duldet nidtt, daß sie durch eine tückische und grausame Behandlung länger zertreten, entwürdigt und entmenscht werden; er sucht die Erniedrigten und Verdorbenen, welchen die langen Jahrhunderte alle Sehnen der Kraft ausgeschnitten und alle heiligen Borne der stolzen und muthigen Gefühle ausgetrocknet haben, aus den gemeinen Trieben und den habsüchtigen Gelüsten zu reißen und allmählich wieder zu den himmlischen Gelüsten der Gestirne zu erheben; und er hofft, daß die meisten von ihnen, auf diese Weise gereizt und veredelt, dem Gefühle des Zeitalters und der Art des Volkes, unter welchem sie wohnen, mehr zugewendet, von der in mancher Hinsicht ehrwürdigen Beharrung und Verstockung in dem veralteten Alten ablassen, vermittelst des Übergangs zu dem Christenthum immer mehr auch zu dem Stamm des christlichen Volks übergehen und ihre starre und gemeinschädliche Eigenthümlichkeit verlieren werden, weldte die größere Masse des Volks, zu dem sie durch das christliche Bekenntnis übergehen, in sich verschlingt ... So wie die Juden den Geist ihrer wunderbaren Gesetze aufgeben und sich dem Christenthum hingeben, verwischt sich, wie die Erfahrung lehrt, gar bald alle jüdische Eigenthümlichkeit in Karakter und Gestalt, und kaum erkennt man in dem zweiten Geschlechte noch den Stamm Abrahams.“ 27)

Diese Gedanken Arndts, zu seiner Verteidigung gegen die Angriffe der „Juden-Emanzipatoren“ geschrieben, bezogen sich nur auf die im Lande geborenen Juden. Hier bestimmte ihn der unklare Gedanke von der Erblichkeit erworbener Eigenschaften (Lamarck), wodurch sie sich im Laufe der Zeit mit ihrer Art der des Gastvolkes schon angenähert hätten, wenn er sie auch, wo sie „in Menge“ auftraten, eine „Plage und Pest der Christen“ nannte, weil die Mehrzahl wie „Fliegen und Atücken und anderes Ungeziefer“ umherflattre: „Unsiät an Sinn und Trieb, umherschweifend, auflauernd, listig, gaunerisch und knechtisch, duldet er allen Schimpf und alles Elend lieber als die stätige und schwere Arbeit, welche die Furchen bricht, den Wald rodet, die Steine haut, oder in der stätigen Werkstatt schwitzt . . . lauert und hascht immer nach dem leichten und flüchtigen Gewinn, und hält ihn, wenn er ihn erschnappt hat, mit blutigen und unbarmherzigen Klauen fest.“ „Was von bösen und nichtswürdigen Trieben und Neigungen seit zweitausend Jahren in dem Volke eingewurzelt und verstockt ist, davon glaube man nicht, daß es durch ein paar Edikte eines Staats-ministers plötzlich verwandelt werden kann. Es ist durch die langen Zeugungen etwas Angebohrnes, und wenigstens drei Menschenalter müßten auch bei den besten Anstalten vergehen, ehe die Juden sich von der Unstätigkeit zu der Stille, von der Faulheit zu der Arbeitsamkeit und von dem Betrüge zu der Rechtlichkeit des teutschen Volkes wenden, vorzüglich ehe sie sich zum stätigen Fleiß gewöhnen und zu sdiwerer Arbeit, ohne deren Geduld ein Volk überhaupt nichts taugt.“

29)

Diese harte Kritik bezog sich offenbar vor allem auf die damals einwandernden Ostjuden. Man kann aber bei der unklaren Gedanken-führung Arndts nicht immer bestimmt und deutlich erkennen, wer gerade gemeint ist, so daß der Willkür der Deutung seiner nicht gerade folgerichtigen und sinnkonsequenten, sondern oft widerspruchsvollen Ausführungen verschiedene Möglichkeiten offenstehen. Doch soviel ist klar: ihre Emanzipation ohne vorherige Christianisierung lehnte er ab: „Alle unsere Staaten sind mehr oder weniger auf dem Christenthum und seinen Lehren gegründet . . . Die Juden mit ihrer schroffen und alles Andere feindselig aussdtließenden Art stehen völlig außerhalb des Christenthums . .. Fast allen unseren Einrichtungen, Ordnungen und Gesetzen fremd, sind sie durchaus unfähig, mehrere Pflichten zu erfüllen, deren jeder christliche Mitbürger schuldig ist; sie sind also unfähig, in einem christlichen Staate volle Bürger zu seyn.“

3°)

Sie sollten auch nicht durch Einwanderung in Deutschland vermehrt werden: „Man kann sie bedauren, und man muß sie bedauren, aber lieben kann man sie nicht; denn Liebe wird nur gebühren aus dem Gleichartigen und Geselligen, welches diesem Volke fehlt, das in seiner abgesdtlossenen Art und Weise und mit seinem wunderbaren Gesetze unter den europäischen Völkern dieser Zeit wie ein Fremdling ist. Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, daß sie auf eine ungebührliche Weise in Teutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie ein durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten wünsche . . . Ich nenne dieses Fremde schon an sich eine Plage und ein Verderben. Es ist noch mehr so zu nennen, weil die Juden ein verdorbenes und entartetes Volk sind . . . Wenn der Herrscher .., gütig und gerecht ist gegen die einheimischen Juden, so ist er andererseits eben so gütig und gerecht gegen sein eigenes Volk. Er fürchtet das Fremde und Entartete, welches durch unaufhörlichen Zufluß und Beimischung die reinen und herrlichen Keime seines edlen Volkes vergiften und verderben kann .

. .“ 31)

Man kann also, wie diese ausführlichen und vielseitigen Zitate bezeugen, Arndts Haltung in bezug auf die „Judenfrage“ keineswegs auf eine einfache und eindeutige Formel bringen. Aus dem hier angedeuteten größeren Zusammenhang herausgerissen, ließe sich durch einzelne Stellen auch der oben zitierte Satz von Breitenkamp „beweisen“. Arndt stellt schließlich mit Bedauern fest: „Dafür haben wir an Sitte und Art und in mancher andern Hinsicht bezahlen müssen, daß wir das zweite bei uns gebohrene und unserer Sprache schon kundige Geschlecht nicht gezwungen haben, wirklich teutsch zu werden.“ 32)

Der hier verlangte Zwang zur Deutschheit war nicht gerade ein humaner Zug, verglichen mit der Menschenliebe der sogenannten Juden-Emanzipatoren unter Arndts Zeitgenossen, ebenso wenig wie seine Ausfälle gegen die „giftige Judenhumanität“ von 1 848 33) und seine Bemerkungen gegen die „Juden und Judengenossen“ wie etwa die folgende: . „Jene Allerweltphilosophie und Allerweltliebe, welche die Leute mit einem blanken Namen auch Liberalität und Humanität der Ansichten und Gesinnungen nennen, ist mir immer ein Gräuel gewesen, hinter welchem alle Schwächlichkeit und Jämmerlichkeit und Zierlidtkeit zerbrochener und mürber Seelen sich so gern versteckt.“

34)

Professor Bußmann zitiert aus den „Fragmenten über Menschenbildung“ von 1805, einer Schrift, die damals kaum beachtet wurde. Man kann jedoch nicht sagen, daß das Humane im Mittelpunkt seines Schaffens stand, denn gerade in dieser als „human" charakterisierten Erziehungslehre findet man die (von unkritischen Arndt-Interpreten übersehene) zentrale Wurzel, aus der jene oben angedeutete Inhumanität sich herleitet. Was wollte Arndt an die Stelle der lächerlichen „Allerweltliebe“ oder an die Stelle der schon 1803 kritisierten „Möncherei“ und „Moralität“ einer „in allen ihren Teilen verschrobenen Religion“ setzen, die ein „Hebräer und Morgenländer“ gestiftet hatte?

35) Die „Lebensfülle“, den „Instinkt“, 36) nach der Deutung von H. J. Kuhn die „Totalität und Irrationalität des Lebens“, die er der „Rationalität des Lebens in der Aufklärung" entgegengesetzt habe 37). Doch folgen wir ihm selbst.

In der Einheit der Mutter mit ihrem Kinde sah Arndt das lebendige und gedeihliche Wirken eines natürlichen „Instinktes“. Er stellte diesen dem „Aberverstand“ entgegen, der an dem „Instinkt“ etwas Unreines entdecken wolle. Wenn man das Vorhandensein solcher „Instinkte“ auch nicht ganz leugnen könne, so sei man doch so frech gewesen, sie da, wo sie sich zeigten, für „des Menschen niedrigste Kräfte und Strebungen“ zu erklären. „Wir aber sagen, je mehr Instinkt ein Mensch hat, desto trefflicher ist er organisiert.“ 39) Arndt verfolgt nun, wie dieser „Instinkt“

sich nach allen Seiten hin lebendig und frei entfaltet und kommt zu dem Punkt, wo ihm der sittliche Einfluß der menschlichen Umgebung mit überlieferten Normen entgegentritt:

„Das Kind spielt mit dem Schmetterling und mit der Schlange, bricht mit gleichem Mut einem Stöckchen und einem Vogel den Hals, faßt selbst den Totenkopf seiner Mutter an und fühlt nur, dafl er kalt ist. Es soll bloß leben und hat kein anderes Gefühl als das des Lebens, vom Tode noch keine Ahnung. Aber hier beginnt durch Sünde die eigentliche Einschüchterung und Einsaugung der jungen wilden Natur, die sonst so freudig und frei aufwachsen würde. Man nimmt das junge Wesen, wenn es dreist durchfährt, zuschlägt, im übermütigen Widerstande sich hoch aufbäumt, gefühllos — so nennt man es — anderen nichts nachsehen nodt mitteilen will, man nimmt es zur Mürbmachung zwischen die beidttenden Kniee, und die Vermahnungen der Weinerlichkeit beginnen. Es ist unglaublich, wie diese Weinerlichkeit der Alten, die als Heuchelei gewöhnlich kein Maß hat, das Unheil weit treiben kann. Sie faßt die Kinder bei ihrem Zartesten an, bei ihrer Liebe, und wimmert ihnen solange vor, bis sie weidt und flüssig werden müssen. Audi hier ist Verwirrung; das Kleine fühlt die Strafe, ohne sich deutlich einer Tat bewußt zu sein, weldte außer seinem Recht läge. So wird sein Tun irre, und es behält oft für das künftige Leben keinen wahren Instinkt für sein Recht; sein rechtes Lebensinstrument, womit es künftig die Welt hebeln und aufwippen soll, wird ihm zerbrochen.“ 39) -''Hier bezeichnet Arndt den entscheidenden Punkt, wo nach Her-bart — um diesen Zeitgenossen zum Vergleich heranzuziehen — die Regierung des Erziehers das kindliche Ungestüm unterwerfen und zügeln müßte, um den sittlichen Willen bilden zu können. Hier müßte die Erziehung eingreifen, um das Bewußtsein des Rechtes und der Pflichten dem ziellos schweifenden, im Subjektiven verwurzelten „Instinkt" entgegenzusetzen — gemäß einer sittlich-religiösen und kulturellen überlieferten objektiven Norm, an der sich das menschliche Zusammenleben ausrichtet. Stattdessen tadelt Arndt die zügelnden und formenden Kräfte: seinem Naturtriebe gemäß könnte der Knabe später Menschen die Köpfe abreißen wie gegenwärtig dem Vogel, ohne sich einer Tat bewußt zu sein, die „außer seinem Recht“ läge. Arndts eigener Sohn bewies dies — neunjährig — mit den vom Vater gebilligten Worten, „die großen Deutschen sollten die kleinen Franzosen alle totschlagen.“ 40) „Tatenlose Träumer“ und „Grübler“ würden bestenfalls die durch „Sünde“ eingeschüchterten Kinder, meinte Arndt, oder gar „Mönchsköpfe und Bußfertige“, denen bei jedem Schritt, wo der „Gesunde unschuldig" wandle, die „Sünde“ begegne 41). Diese Sätze, lange vor Nietzsches Auftreten verkündet, bedeuteten einen Aufstand urtümlicher und ungebändigter Kräfte gegen die Normen einer fast zweitausendjährigen Kultur. Ihre Schranken sollten niedergerissen und die „Instinkte“ in ihre „Rechte" eingesetzt werden.

„Idt habe in der Notwendigkeit meines Gemütes mein Recht“, schrieb Arndt 1814, „und dieses Redit meiner Liebe und meines Hasses will ich gebraudten, weil ich muß.“ 42) Als dreiundsiebzigjähriger Greis bekannte er 1842, daß in seiner Heimat von dem „starken heißen lA^dtsblut“ die Rede gewesen sei, daß dieses „ungeduldige Arndtsblut“ zuweilen in ihm aufgesiedet sei und daß er, was er leider beklagen müsse, vieles in seinem Leben „mehr aus Instinkt als für einen bewußten Zwedt“ getan habe 43). Dieser „Instinkt“ galt ihm als ein Naturgesetz, das sich in höchster hingebender und schwärmerischer oder fanatischer Liebe ebenso äußern konnte wie in blindwütendem Haß 44).

So schrieb er in seinen „Ansiditen und Aussichten der deutschen Geschichte“, die Nachkommen der Germanen hätten im Mittelalter, als sie so stolz auf ihre Kaiser waren, vergessen gehabt, daß ihre Vorfahren die Caesaren oft verflucht hatten: „So gehen in dem Gedächtnisse der Menschen Namen und Dinge unter, und selbst der Haß stirbt, das einzig unsterblich zu behütende Vestafeuer, ohne weldtes kein Mensdt und kein Volk auf Erden bestehen kann." 45) Gerade solche und ähnliche Bemerkungen zeigen: Arndts Franzosenhaß, auf den auch Professor Bußmann mit Nachdruck hinweist, wurzelte viel tiefer und muß sehr viel grundsätzlicher verstanden werden als aus den Bedrängnissen der napoleonischen Herrschaft heraus. Wie Gott und Satan einander gegenüberstehen in den Schriften, die den „heiligen Krieg“ verkünden, so gehört zu Arndts Nationalismus, zu seiner glühenden Volks-und Vaterlandsliebe, zu seinem Sendungsmythos und zu seiner Instinkt-Gläubig-

keit.der „Volkshaß“ als elementarer Gegenpol — wie zum extremen Marxismus der „Klassenhaß“ und zum Nationalsozialismus der „Rassenhaß.“ In diese Polarität der übersteigerten Extreme gehörte auch der radikale Gegensatz der einander bekämpfenden Typen des „deutschen Wesens“, dessen bluthaftes Lebenszentrum die „Seele“, das „Gefühl“ und das kulturschöpferisch angelegte kraftvolle und gesunde „deutsche Gemüt“ bildeten, und des „französischen Wesens", als dessen Mittelpunkt der kalte Verstand, der zerstörende und zersetzende Intellekt galten 46), wie ganz ähnlich im Typ-Denken Hitlers „der Arier“ und „der Jude“ als von den gleichen letzten Bezugspunkten her entworfene Menschenbilder einander gegenüberstehen 47).

Dieses Denken in starren Gegensätzen — bei aller Variationsbreite seiner Anschauungen — trieb Arndt zuweilen zu gleichsam vulkanischen Ausbrüchen, deren Höhepunkte uns zurückschaudern lassen, wie das folgende Beispiel verdeutlichen möge. Der Gedanke der Reinheit des deutschen Blutes, stammte, wie schon erwähnt, aus der „Germania“ des Tacitus. Die Vorstellung, die Verbastardung sei verderblich, glaubte er im Alten Testament begründet zu finden: er verwies auf die Verse 1— 7 im 6. Kapitel der Genesis, wo es verglichen mit der Schöpfungsgeschichte, nicht ganz sinnkonsequent heißt — nach der Übersetzung Luthers —, die „Kinder Gottes“ hätten, als die „Mensdten“ sich auf Erden zu mehren begannen, „Töchter der Menschen“, da sie schön waren, za Weibern genommen und mit ihnen „Gewaltige in der Welt“, „Tyrannen“ und berühmte Leute gezeugt, und Gott habe gesehen, daß der „Menschen Bosheit groß war auf Erden“. Arndt fährt hier fort: “. . . da reuete es ihn, daß er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen und sprach: Ich will die Menschen, die ich gemacht habe, , vertilgen von der Erde‘. — Siehe, wie die alte heilige Bibel hier für uns spricht! Die stillen, frommen und schöpferischen Menschen, die nach dem Sündenfalle noch das meiste von dem göttlichen Ebenbilde behalten hatten, dieKinder Gottes, lassen sich gelüsten und mischen sich mit einem anderen, unruhigeren und schlechteren Geschlechte, und diese zusammen zeugen jene Mischlinge, welche Gott nicht gefallen, und die er deswegen von der Erde vertilgen will.“ 48)

Nach dieser freien, im ganzen unklaren Textinterpretation, in die nichts hineingedeutet werden soll, setzt Arndt zu einem neuen Gedanken an. Was wollte er sagen? Worin gibt ihm die Bibel recht? Wer sind nach seiner Vorstellung die „Kinder Gottes“? Wie immer man diese Stelle deuten mag: sie kennzeichnet den Punkt, an dem sein Haß in den radikalen Willen zur Vernichtung umschlagen konnte. Dieser stürmische Drang richtete sich in gleicher Weise wie gegen die „Mischlinge“ auch gegen die „schwarze Rotte“ und die „Bösewichter“ im deutschen Volke: „Wird der Abscheu und Abschaum des deutschen Volkes nicht aus ihm vertilgt, so wird Sieg und Glück nimmer um seine Paniere schweben, noch Freiheit je wieder seine Hütten bewohnen.“

49)

Arndts ganze „Humanität“, aus dem „Instinkt“ und aus der „Lebensfülle“ geboren, und seine patriotische Binnenmoral, die sich an den Lebensformen des alttestamentlichen Judentums ausrichtete 50), sind ebenso wie seine Vaterlandsliebe und sein „Volkshaß“ nur von der Irrationalität seines ganzen Wesens her zu verstehen. Alle Rationalität war ihm spätestens seit 1805 zutiefst verhaßt, und dieser Haß, der nur eine besondere Erscheinungsform seines Franzosenhasses darstellt, steigerte sich zuweilen zu sehr bezeichnenden Ausbrüchen: „Die Nichtigkeit des Verstandes, welcher Vernunft sein will, sollte in der Theologie, Philosophie und Politik, kurz in allen höchsten menschlichen Dingen bis zur klaren Albernheit bewiesen werden. Ist dies vollbracht, dann tritt der alte Luther wieder ein, dann beginnt wahrhaftig die Reformation.“ 51)

Arndt war sich bei solchen Auslassungen gewiß nicht bewußt, daß er gerade mit der Forderung der totalen Entrationalisierung aller Lebensbereiche die Lehre Luthers durchbrach und verfälschte — ein außerordentlich folgenreicher Wendepunkt im deutschen Geistesleben 52). Luther hatte zwar die Vernunft (ratio) als religiöse Erkenntniskraft abgelehnt 53), ihr aber in der Ordnung der irdischen Dinge einen bevorzugten Platz angewiesen 54). Der totale Irrationalismus Arndts in den Jahren seiner größten Wirksamkeit ist der Schlüssel zum Verständnis nicht nur seines Wesens, sondern zugleich der ganzen daraus er-wachsenen Bewegung der patriotischen Innerlichkeit 55) sowohl als auch des völkischen Blut-und Kraftglaubens 56). Aus der durch nichts beschränkten „Notwendigkeit“ seines lebhaften „Gewütes“ flossen Gedanken und Gefühle von äußerster Spannweite, von tiefster Innigkeit und von äußerster Brutalität. So finden wir auf der einen Seite die zarten Töne:

„Du lieber heiliger frommer Christ, Der für uns Kinder kommen ist, Damit wir sollen weiß und rein Und reckte Kinder Gottes sein. . „Ich weiß woran ich glaube, Ich weiß was fest besteht, Wenn alles hier im Staube, Wie Sand und Staub verweht;

Ich weiß was ewig bleibet, Wo alles wankt und fällt, Wo Wahn die Weisen treibet 57)

Und Trug die Klugen prellt . .

Auf der anderen Seite abgründiger Haß:

„Zu den Waffen! Zu den Waffen!

Zur Hölle mit den welschen Affen!

Das alte Land soll unser sein!

Kommt alle, welche Klauen haben, Komm', Adler, Wölfe, Krähen; Raben!

Wir laden Euch zur Tafel ein! . .

„Hinein und färbt die Schwerter rot!

Die Rossehufe rot!

Schlagt alle Welschen mausetot!

Schlagt alle Buben tot! . . .

Hinein! und laßt die Fahnen wehn!

Gott, Freiheit, Vaterland!

Es lebet und es stirbet schön, Wer diesen Klang verstand. . .“

58)

Beide Formen seines Empfindens und seines Lebens wie alle dazwischen sich einordnenden Mittellagen seines Verhaltens sind Ausfluß der gleichen apriorischen Wertsetzung: sie beruhen auf dem Postulat des absoluten Vorranges des BIOS (des „Instinktes“, „Triebes“, „Lebens“ , „Blutes“ und der „Natur" und der daraus abgeleiteten Stimmungen des „Gemütes“, der „Liebe“ wie des „Hasses“) vor dem LO-GOS (dem „Verstand“, der „Vernunft“ als einer autonomen, nicht blutgebundenen und artbedingten Erkenntnis-und Bekenntniskraft). Kein vernünftiger Mensch wird leugnen, daß der Mensch dem „Vegetativ-Animalischen“ verhaftet ist, in vielem vom Irrationalen her bestimmt wird oder sich bestimmen läßt und nicht nur aus der Ratio lebt. Wo aber der Bios, dem Recht und Spielraum eingeräumt werden müssen, nicht dem Gesetz und dem Normbewußtsein des Logos unterworfen und in seinen kulturfeindlichen und normwidrigen Strebungen und Äußerungen beschränkt und gezügelt wird, herrscht das aus der mannigfaltigen „Notwendigkeit“ der Gemüter der einzelnen geborene Chaos: das Recht des Stärkeren und der brutalen Gewalt.

In dieser Hochschätzung des „Lebens“, des „Blutes“ und des „Instinktes“, in der radikalen Irrationalität seines Wesens und in seinem Chauvinismus liegt die innere Wahlverwandtschaft zwischen dem Nationalismus Emst Moritz Arndts (und des „Turnvaters“) und der Ideologie Adolf Hitlers, der den gleichen Haß, den gleichen Rausch erzeugen wollte, unter anderen Bedingungen und zu anderen Zwecken. 59) H. J. Kuhn nannte Arndt und Jahn die „ersten Künder eines völkischen Gewissens“ und stellte nicht ganz unzutreffend fest: zwischen dem Nationalsozialismus und ihrer „völkischen“ Bewegung bestehe zwar kein „realgeschichtlicher Zusammenhang“, „wohl aber ein gewisser ideeller und problemgeschichtlicker“, wenngleich auch der Versuch, die „volle Übereinstimmung“ zu beweisen, nie gelingen könnte. 60) M a n kann den Nationalsozialismus mit einergewissen Berechtigung auch als eine extreme Sonderform unter den vielen partiellen Rezeptionen und Variationen des Gedankengutes von Arndt und Jahn in der Geschichte des deutschen Nationalismus betrachten, wenn auch Hitlers „Bewegung“ aus mancherlei dunklen Quellen gespeist wurde, deren unterirdische Zuflüsse wahrscheinlich zum Teil aus der gleichen Richtung herkommen.

Wenn Hans Kern 1935 in den Gedanken und Absichten Arndts die Ansätze zu einer „Umwertung der gesamten überlieferten Kulturwerte“ sah, was zutrifft, so wiederholte er nur mit positivem Vorzeichen den Hauptgedanken, den die Gegner des „wütenden Volkstums“ zur Verteidigung der Kultur vor hundertunddreißig Jahren hervorkehrten, die zwar weniger laute, doch gewiß nicht weniger gute Patrioten waren.

61) Sie wehrten sich dagegen, den Kultus des Blutes und der Kraft und die Anhänglichkeit an die Scholle bis „zum Kindischen“ und bis zur Barbarei ausarten zu lassen und dem neuen Götzen Bios die abendländisch-europäische Tradition zu opfern, die auf dem Vorrang des Logos beruhte, ganz gleich, ob man diesen Logos im Sinne der neutestamentliehen Offenbarung oder rational-naturrechtlich verstand oder beide Formen des Primates des Geistes als Grundlage der Lebensgestaltung miteinander zu verbinden suchte. Die Abkehr weiter Kreise unseres Volkes von diesem Grundsatz, im Gefolge Arndts und Jahns und ihrer Erben oder modernen Geistesverwandten, ist Deutschland zum Verhängnis geworden. Der Nationalsozialismus, die letzte und radikalste Ausgipfelung und Konsequenz der Leugnung dieses Primates und der Zerstörung des überlieferten Normbewußtseins zugunsten der Kräfte des „Bodens und des Blutes“, ist wahrscheinlich tot. Das weltanschauliche Prinzip, auf dem er ruhte, lebt ohne Zweifel fort, den meisten seiner Anhänger und Verfechter wahrscheinlich in seiner wurzelhaften geistesgeschichtlichen Verflechtung und in der ganzen Tragweite seiner philosophischen Voraussetzungen und seiner möglichen Konsequenzen nicht oder nur teilweise bewußt. DAS ist die „Eigentümlichkeit und Problematik des deutschen Nationalgefühls!“ 62) Es ist die Spannung zwischen dem „Abstammungsgrundsatz (Volksbürgergrundsatz oder Blutrecht)“ und dem „Bekenntnisgrundsatz (Staatsbürgergrundsatz oder Lippenbekenntnis)“, wie es in der Sprache des „Dritten Reiches“

hieß, 63) die in der politischen Auseinandersetzung in Deutschland seit mehr als einem Jahrhundert die Gemüter gegeneinander bewegt, ganz deutlich ausgedrückt: die Spannung zwischen dem christlichnaturrechtlichen und dem germanisch-heidnischen oder alttestamentlich-hebräischen Prinzip. Für unseren heutigen Staat gilt — wie für das Deutsche Reich von 1871 und für die Weimarer Republik — der eindeutige Grundsatz der Rechts gemeinschaft, die auf jenem alten Fundament der abendländisch-europäischen Norm des Primates des Logos beruht und den Vorrang genießt vor der Bluts gemeinschaff.

Eine solche grundsätzliche Besinnung, notwendigerweise einseitig, weil als Ergänzung gedacht, kann nur nützlich sein in der Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit, die viel zu ernst ist, um mit leichter Hand betrieben zu werden. Die Verdienste Ernst Moritz Arndts im Kampf gegen die Fremdherrschaft Napoleons, die Professor Bußmann mit Recht betont, werden dadurch nicht geschmälert, wenn man vielleicht auch berücksichtigen sollte, daß die Massenproduktion von Kriegsgesängen und Kampfschriften vielleicht nicht ganz so gefährlich war wie der frisch-fröhliche Heldentod, wenn das zutrifft, was Carl von Clausewitz, der große Lehrmeister deutschen Soldatentums, darüber schreibt. 64) Auch Arndts „Gebet eines kleinen Knaben an den heiligen Christ“ wird durch eine solche Besinnung nicht entwertet. Ich möchte dieses Gedicht im deutschen Schulunterricht nicht missen, aber auch nicht die Hinweise, mit denen ich die Würdigung von Professor Bußmann ergänzte. — „Ich habe meine Wahrheit bekannt, wie wir es müssen zu unserer Zeit...“ (Arndt).

Anmerkungen

1) Zitiert nach Ernst Müsebeck, Ernst Moritz Arndt, ein Lebensbild, Bd. I (mehr nicht erschienen), Gotha 1914, Seite 335. 2) Genauer Nachweis in Dietrichs »Bibliographie der deutschen Zeitschriftenliteratur", Jg. 1932 bis 1945, und im . Deutschen Bücherverzeichnis" für diese Zeit. Auch aus den früheren Jahrzehnten besitzen wir eine umfangreiche Arndt-Literatur und zahlreiche Auswahl-Sammlungen. Nachweis am gleichen Orte. 3) Vergl. z. B. Rabenhorst, Friedrich Ludwig Jahns Gedanken über die deutsche Erziehung, in: Nationalsozialistische Monatshefte, Jg. 1934, Seite 420 ff.; Friedrich Ludwig Jahn, der Politiker und politische Turner, Erlesenes aus seinen Werken, ebenda, Seite 424 ff.; Alfred Baeumler, Friedrich Ludwig Jahns Stellung in der deutschen Geistesgeschichte, ebenda, 1936, Seite 523 ff.; Alfred Baeumler, Nietzsche und der Nationalsozialismus in: NS Monatshefte, 1934, Seite 289 ff.; Fritz Peuckert, Chamberlain und Nietzsche, ebenda, Seite 299 ff.; Arthur Schwinkowski, Gobineau und die Rassen-frage, ebenda, Seite 549 ff.; mit diesen Beispielen aus der großen Fülle der Literatur zur geistigen . Ahnenforschung“ muß man etwa den krampfhaften Versuch von H. Heyse vergleichen, Immanuel Kant im nationalsozialistischen Sinne umzudeuten, um in ihm den Aufbruch des . Urgesetzes“ des . nordisch bestimmten, des griechischen wie des deutschen Daseins und W* eltgefühls entdecken und seine positive Grundhaltung gegenüber der sogenannten . Modernität" und dem Liberalismus westlicher Prägung verleugnen zu können (NS Monatshefte 1934, Seite 894 ff.). 4) Hans Kern, Ernst Moritz Arndt, der ewige Deutsche, Jena 1930. 5) Hans Kern, Arndts Wiederkunft, in: Deutsche Rundschau, Febr. 1932, Seite 121— 124; vergl. H. Schreiner, Zur Wiederentdeckung Arndts, in: Zeitwende 1934/35, Seite 281 ff.; W. Deubel, Deutsche Kulturrevolution und Wiederentdeckung Arndts, in: Die Sonne, 1932, Seite 462 ff.; Gedanken und Aussprüche von Ernst Moritz Arndt, in: NS Monatshefte, Nov. 1935, Seite 1020 ff. Wolfgang von Eichhorn, Ernst Moritz Arndt und das deutsche Nationalbewußtsein, Diss. Heidelberg 1932; Schilg, Arndts Gedanken über Jugendertüchtigung und Wehrhaftmachung, in: Leibesübung und Körpererziehung, Berlin 1936, Seite 35 ff. 6) Paul Requadt, Ernst Moritz Arndt, Volk und Staat, Leipzig 1934, Bd. 117 von Kröners Taschenausgabe. Vergl. Carl Petersen und Paul Hermann Ruth, Ernst Moritz Arndt, deutsche Volkwerdung, sein politisches Vermächtnis an die deutsche Gegenwart, Kernstellen aus seinen Schriften und Briefen, Breslau 1934, Hirts Deutsche Sammlung. 7) Die Großen Deutschen. Neue Deutsche Biographie, herausgegeben von Willy Andreas und Wilhelm von Scholz, Bd. II, Berlin 1935. Vergl. die neue Ausgabe des Werkes . Die Großen Deutschen“ von Hermann Heimpel, Theodor Heuss und Benno Reifenberg. 8) L. F. Gengier, Arndt, ein Wegbereiter des Dritten Reiches, in: Der Altherrenbund, 2. Jg. 1939/40, Seite 101. 9) Paul Hermann Ruth, Ernst Moritz Arndt als Vorkämpfer der deutschen Bauernpolitik in: Deutsche Agrarpolitik, Berlin 1935, Seite 649; O. Mann, Staat und Bauerntum bei Arndt, in: NS Monatshefte 1935, Seite 1012 ff.; Meyers Lexikon, Bd. I, 8. Auflage 1936, Stichwort Arndt; Otto Terstegen, Ernst Moritz Arndts Kampf für das deutsche Bauerntum, Bonn 1942 — Kriegsvorträge der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Heft 80; Ernst Moritz Arndt, Agrarpolitische Schriften, herausgegeben von W. O. W. Terstegen, Blut und Boden Verlag Goslar 1938. 10) F. Ehringhaus, Emst Moritz Arndt, ein Vorkämpfer für den deutschen Bauernstand und das Reichserbhofgesetz, in: Neues Bauerntum (früher Archiv für innere Kolonisation) 1935, Seite 116. 11) Text des Gesetzes Reichsgesetzblatt I, 1933, Seite 685 ff. Vergl. Arndt:

. Den ersten und vornehmsten Bauer, den rechten Edelmann, habe ich schon auf Majoraten befestigt; auch den kleinen Bauer will ich auf einer Art Majorat, das man meinethalben auch Bauernlehen nennen kann, gegründet wissen.

Zuvörderst wünsche ich, damit ein rechter Kern des Volkes sei und werde, daß in allen deutschen Landen die Hälfte aller Ländereien von freien Bauern bewohnt und besessen sei.

In den Landschaften, wo der Bauern mit eigentümlichem Besitz unverhältnismäßig wenig sind, ließen sie sich erschaffen durch Zerstückelung der Staatsgüter oder sogenannten Herrengüter (Domänen), welche die Regierungen in Teile von einer bis drei Hufen Landes zerschneiden und als Bauernlehen des Staates den Meistbietenden verkaufen könnten, so daß der Staat bei der Gründung dieser nützlichen Anstalt im Grunde wenig aufopferte. Diese also geschaffenen Bauernhöfe und die übrigen freien Bauerngüter im Lande würden zu einer Art Bauernmajorate erklärt. Sie würden immer nur von einem aus der Familie besessen, welcher seinen übrigen Geschwistern nur eine leidlich bestimmte Abfindung und Ausstattung gäbe, er selbst aber das Haupterbe behielte und besäße.

Sie wären unteilbar. Nichts ist dem Staate in der Regel verderblicher als die übertriebene Zerteilung der Grundstücke ... Niemand mag zu gleicher Zeit mehr als einen dieser Höfe besitzen..." (Zitiert nach Requadt, a. a. O., Seite 254 f.). Der Herausgeber schreibt dazu: . Bis ins einzelne entsprechen seine Anregungen den Bestimmungen des Erbhofgesetzes, nur daß er die Deutschblütigkeit des Bauern nicht ausdrücklich fordert und die Veräußerung des Besitzes unter der Bedingung zulassen will, daß er wieder an Bauern übertragen wird'(ebenda, Seite 196). 12) Ernst Moritz Arndt, Erinnerungen aus dem äußeren Leben, herausgegeben von H. Rösch, Leipzig 1892, Seite 152. Vergl. Ludwig Schemann, Die Rasse in den Geisteswissenschaften, Bd. III, München 1931, Seite 367; Bd. II, 1930, Seite 122, Bd. I, 1928, Seite 43: in bezug auf den „geübten Blick" in der rassischen Betrachtung heißt es hier: . Das Nonplusultra nach dieser Seite haben wir in Ernst Moritz A r n d t zu erkennen, der sich selbst einmal als einen Rassenspürhund bezeichnet und als solcher vorbildlich wirken sollte .. *. Bd. I, Seite 91: .... bei uns war der erste, der mit der Rasse Ernst gemacht hat, Arndt..." Bd. III, Seite 367: Arndt habe alle Eindrücke, die er auf seinen Reisen und Wanderungen sammelte, . auch wissenschaftlich verarbeitet und zu einem Blutsbilde gestaltet, dem noch heute kaum etwas Wesentliches hinzuzufügen ist, wenn wir auch seitdem — in fast einem Jahrhundert — manches hinzugelernt haben, und die Technik sozusagen der Völkeranalyse eine andere geworden ist." Vergl. dazu Arndt, Versuch einer vergleichenden Völkergeschichte, Leipzig 1843. 13) Paul Requadt, a. a. O., Seite 77 f. 14) NS Monatshefte, 1935, Seite 1023 f.; vergl. die Jahn-Zitate 1934, Seite 432; Petersen und Ruth, Hirts Dte. Sammlung, a. a. O., Seite 115 f. 15) Die Großen Deutschen, Bd. II, 1935, Seite 510. 16) R. Luck, Das Vegetativ-Vitale der Rasse bei Arndt, in: Der Rhythmus, Mitt.des Bodebundes, 1935, Seite 77; R. Luck, Rassenkundliches bei Arndt, in: Zeitschrift für Rassenkunde, 1938, Seite 207; K. Hildebrandt, Ernst Moritz Arndts Rassebegriff, in: Rasse, Monatsschrift der Nordischen Bewegung, 1938, Seite 333 ff. 17) Richard Weigand, Die Anthropologie von Ernst Moritz Arndt, Berlin 1941, Seite 42. Neben den . Formkräften des Blutes" behandelt Weigand auch ausführlich die Bedeutung der Formkräfte des Klimas, der Landschaft, der Kulturgüter (Sprache!), der familiären Verhältnisse und der sozialen Ordnungen im anthropologischen Denken Arndts. 18) Hermann Blome, Der Rassengedanke in der deutschen Romantik und seine Grundlagen im 18. Jahrhundert (Schriften des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands), Berlin 1943, Seite 292 ff. und Seite 315. Schemann, Die Rasse in den Geisteswissenschaften III, Seite 367. Vergl. Arndt, Versuch einer vergleichenden Völkergeschichte, Seite 25: „Ich glaube nicht zu irren, wenn ich behaupte, daß der kräftige, leben-volle und saftvolle Wildling, Germane genannt, der rechte Stock war, dem der göttliche Keim für die edelsten Früchte eingeimpft werden konnte. Der Germane und die von ihm durchschwängerten und befruchteten Romanen sind die einzigen, welche (den Himmelskeim durch Theologie und Philosophie zum rechten Sprießen und Blühen gebracht haben und welche) die Reste der alten eingeschlafenen und wenig theilnehmenden Welt und die an-und um-wohnenden Völker fremder Art als Allherrscher beleben und leiten,“ Blome, der den gleichen Abschnitt zitiert, läßt die von mir in () gesetzten Worte aus und entstellt dadurch den Sinn dieses Zitates (Seite 315). Vergl. auch Arndt, Ansichten und Aussichten der teutschen Geschichte, Bd. I (mehr nicht erschienen), Leipzig 1814, Seite 174: „... es ziemte den Germanen, die in sich rein und ungemischt geblieben waren, vor ihren Brüdern die höchsten Ehren zu tragen (das Kaisertum, der Verfasser) und selbst mit der Kirche am verderblichsten zu kämpfen: von ihnen ging später der Sturz der alten Kirche aus, ihre, der gemüthvollsten und geistigsten Europäer, Arbeit wird es künftig sein, eine neue unvergängliche wieder zu begründen ...“ Vergl. dazu Richter (Direktor des Gymnasiums zu Quedlinburg), Uber deutsche Kirchen-Union oder den eigentlichen Sinn der Idee einer allgemeinen germanischen Kirche, Leipzig 1841, ausführlich besprochen (mit Zitaten) in den Neuen Jahrbüchern für Philologie und Pädagogik, 13. Jg., Bd. 38. 1843, Seite 238 f. Vergl. Ibo Ibbeken, Emst Moritz Arndt und die christlich germanische Bewegung seiner Zeit, Greifswald 1937, besonders Seite 13 und Seite 46 ff. (Christentum und Germanentum). Neuerdings Helmuth Rößler, Arndt, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. I, Berlin 1953, besonders Seite 359: Arndt „stellte seiner Zeit die Aufgabe, der seit 1789 eingeleiteten neuen Epoche die natürliche und einfache Kraft des Christentums als Mittelpunkt zu geben, wie es zugleich germ. Denken entsprach.“ Was ist das: . germanisches Denken"? 19) Die umfangreiche Arndt-Literatur, die uns zur Verfügung steht, stammt zu einem sehr großen Teil von unkritischen und wohlmeinenden Geistesverwandten, die in der Regel jeweils das mit Nachdruck als sein Hauptanliegen oder als seine Grundgedanken und Grundüberzeugungen hervorkehren, was ihnen selbst zu rezipieren oder zu loben gefällt, dabei nicht selten das übergehen, was das von ihnen gewünschte Bild verdunkeln könnte. Neben den ausgesprochen nationalsozialistischen Schriften steht die große Zahl der Untersuchungen und Abhandlungen von Verfassern aus der romantischen oder neulutherischen Tradition, die die Gedanken Arndts vielfach in ihrem eigenen Sinne . entschärfen":

Albrecht Wolters, Ernst Moritz Arndt, ein Zeuge für den evangelischen Glauben, Elberfeld 1860; Rudolf Haym, Ernst Moritz Arndt, Sonderdruck aus den Preußischen Jahrbüchern, Berlin 1860; E. Langenberg, Emst Moritz Arndt, Bonn 1865; Ernst Müsebeck, Ernst Moritz Arndt und das kirchlich-religiöse Leben seiner Zeit, Tübingen 1905; Daniel Schenkel, Ernst Moritz Arndt, ein politischer und religiöser deutscher Charakter, Elberfeld 1866; Gustav Freytag, Emst Moritz Arndt, Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. I, 1875, Seite 541— 548; Rudolf Krügel, Der Begriff des Volksgeistes in Ernst Moritz Arndts Geschichtsanschauung, Diss. Leipzig 1914; Hanns Frömbgen, Ernst Moritz Arndt und die deutsche Romantik, Diss. Münster 1926; E. Cremer, Ernst Moritz Arndt als Geschichtsschreiber, Diss. Kiel 1926; H. Laag, Die religiöse Entwicklung Emst Moritz Arndts, Halle 1926; Kurt Leese, Die Krisis und Wende des christlichen Geistes, Berlin 1932, Seite 161 ff.; Kurt Leese, Der unbekannte Ernst Moritz Arndt, in: Die Christliche Welt, Jg. 47, 1933, Nr. 17 und 18; Werner Kohlschmidt, Luthers Sprachgeist und Sprach-form bei Emst Moritz Arndt, in: Luther-Jahrbuch 1937, Seite 115 ff.; Wolfgang von Eichhorn, Ernst Moritz Arndt und das deutsche Nationalbewußtsein, Diss. Heidelberg 1932; Otto Friedrich Bollnow, Die Pädagogik der deutschen Romantik, 1952, Seite 24 ff.

Kritischer als in diesen Schriften wird Arndt von Emst Müsebeck in seiner späteren Arbeit gewürdigt (Arndt, ein Lebensbild, 1914, besonders Seite 337); Paul Hermann Ruth verfängt sich in seiner sonst sehr gründlichen Untersuchung bei dem gutgemeinten Versuch, Arndts Radikalismus zu erklären und zu entschuldigen, einmal selbst in seinem eigenen Gedankengeschlinge: Arndt habe wohl gewußt, daß im allgemeinen die Frage töricht sei, welches Volk besser sei als das andere, weil alles, was bestehe, ein Recht habe, zu bestehen; aber er habe das . Vorurteil" der deutschen über legenheit (und auch den Haß) als . schützenden Wahn" im Volke bewahrt wissen wollen . gegen die tief eingedrungene Vermischung mit dem Fremden" und nur „auf den höchsten Höhen des Geistes'das Gemeinsame sein Recht behalten lassen wollen (Ruth, Arndt und die Geschichte, München und Berlin 1930, Beiheft 18 der Historischen Zeitschrift, Seite 179 f.). Auf diese Weise stempelt er ihn — zum Demagogen, der bewußt und wider besseres Wissen eine zurechtgemachte Ideologie verbreitet, um physische und geistige Energien zu entbinden und das Volk in eine bestimmte Richtung zu lenken. Vergl. dazu Arndt, Erinnerungen aus dem äußeren Leben, 3. Ausl. 1842, Seite 85, wo es heißt, in . gewissem Sinne" hätten sich bei ihm schon im Knabenalter „manche eigentümlichen und einseitigen Ansichten *f, estgesetzt die noch jetzt (er war 73 Jahre alt) . oft besserer Warnung und Einsicht nicht weichen" wollten.

Eine abgewogene und teilweise sehr kritische, aber nicht alle Bereiche des Denkens von Arndt umfassende Darstellung besitzen wir von Rudolf Fahrner (Arndts geistiges und politisches Verhalten, Stuttgart 1937, vergl. besonders Seite 145 f., 162 und 165), der auch entsprechend kritisiert wurde (Emst Moritz Arndt, Ursprung, Wesen, Wirken, drei Vorträge von Paul Hermann Ruth, Leopold Magon, Erich Gülzow, Greifswald 1944, Seite 19 f.).

Andreas Flitner geht nur kurz auf Arndt ein (Die politische Erziehung in Deutschland, Geschichte und Probleme 1770— 1880, Tübingen 1957, Seite 211 ff.).

Auch die fremdsprachlichen Untersuchungen sind zum großen Teil der oben genannten Überlieferung verpflichtet. Vergl. z. B. A. G. Pundt. Arndt and the Nationalist Awakening in Germany, New York 1935; H. Kohn, Arndt and the Character of German Nationalism, in: The American Historical Review, 54, 1949, Seite 787— 803.

Die (dringend erforderliche) umfassende und kritische überschau fehlt noch, die das Gedankengut Arndts ohne Beschönigung in seiner ganzen Breite und in seinem ganzen Entwicklungsgang erfaßt und zugleich seine außerordentlich große Wirkung auf das nationale und das nationalistische Denken in Deutschland, das heißt die zahlreichen partiellen Rezeptionen und die Variationen seiner Ideen im 19. und 20. Jahrhundert berücksichtigt: die partiellen Rezeptionen und die Variationen seiner Gedanken aus verschiedenen Entwicklungsstadien durch den patriotischen Pietismus, durch die verschieden abgestuften Richtungen des Neuluthertums (aufschlußreiches Beispiel die Artikelserie . Gottesgericht über Frankreich" in der Evangelischen Kirchenzeitung 1871) und durch die volkskirchliche Bewegung in ihren mannigfachen Schattierungen, dann durch die völkische Bewegung, durch die .deutschen Christen", durch das neogermanische Heidentum und durch den Nationalsozialismus 20) Zum Sendungsglauben vergl. besonders . Fantasien für ein künftiges Teutschland“, von E. von S., herausgegeben von Ernst Moritz Arndt, Frankfurt/Main 1815, Seite 16 (nach den Forschungen von Müsebeck besteht kein Zweifel, daß Arndt der eigentliche Urheber dieses Buches ist: Müsebeck, Arndt, I, 1914, Seite 311 f.):

. Und also rede zu den Teutschen, deinem Volke, und halte es ihnen vor, und lege es ihnen aus, auf daß sie begreifen, worin sie sind und was sie sind und was sie seyn sollen und sich erkennen und ermuthigen und sich wieder wenden zu der Treue und dem Glauben ihrer Väter und zu der Zuversicht auf mich, spricht der Herr. . . Denn ich will ihr starker Helfer und Schirm seyn, und sie sollen mein liebstes Volk seyn von allen Völkern die in Europa wohnen ... In diesem Europa gab ich euch die Mitte, Ihr solltet das Herz seyn, und aus diesem Herzen das Blut des lebendigen Lebens in alle andere Glieder des großen Leibes treiben. Und weil ihr das Herz seyn solltet, seid ihr mir lieb gewesen, wie mein eigenes Herz und werdet mir lieb bleiben ewiglich." Uber ähnliche Erscheinungen z. B. in Frankreich vergl. Karl Epting, Das französische Sendungsbewußtsein im 19. und 20. Jahrhundert, Heidelberg 1952. 21) Tacitus, Germania, cap. IV: Ipsos Germanos indigenas crediderim, minimeque aliarum gentium adventibus es hospitiis mixtos ..." Vergl. cap. II. Arndt, Ansichten und Aussichten der teutschen Geschichte, 1814, I, Seite 89 f.

22) Arndt, Phantasien zur Berichtigung der Urteile über künftige deutsche Verfassungen, 1815, Werke (herausgegeben von Meisner und Geerds, Max Hesse Verlag, Leipzig o. J.), Bd. 14, Seite 115; vergl. Ansichten und Aussichten..., Seite 179: .... wir sollten ein reines Volk bleiben. Denn nur an unseren Ostgränzen ist etwas Slawisches mit uns vermischt, nicht aber sind wir wie die jetzigen Franzosen und andere unglückliche Völker aus vier fünf verschiedenen Völkern gemischt, noch haben wir nicht wie sie mit zwei Dritteln dienstbarer Knechte aus einem anderen Volke die Geduld der Knechtschaft für alle Zeiten empfangen..." 23) Arndt, Phantasien..., Werke (Hesse) Bd. 14, Seite 107— 109. Hervorhebung vom Verfasser, über das Weiterwirken solcher Gedanken vergl. z. B. die mit H. L. (Heinrich Leo?) gezeichnete Besprechung des Buches von Marcard „über die Möglichkeit der Juden-Emanzipation im christlich-germanischen Staat", Minden und Leipzig 1843, in der Evangelischen Kirchenzeitung, 1843, Nr. 61, Spalte 481 ff., besonders 484. Vergl. auch Jahn, Deutsches Volkstum, Lübeck 1810, Seite 25 f.: seine Gedanken über . Völkerzucht" gipfeln in der Feststellung: .... je reiner ein Volk, je besser; je vermischter, je bandenmäßiger.“ Jahn, Werke zum deutschen Volkstum, 1833, Werke, herausgegeben von Carl Euler, Bd. II, Teil 2, Hof 1887, Seite 560 ff.: ein Volk solle nicht gegen .seine eigenen Eingeweide wüten und sich sein Lebensblut abzapfen, um sich anderes hineinzuquirlen.“ Vergl. NS Monatshefte, 1934, Seite 424 ff. 24) Blome, Der Rassengedanke . . ., Seite 322 f. Der Begriff „Rasse“ ist stets zu verstehen in der diesem Worte zugrundeliegenden französischen Bedeutung. Arndt selbst bediente sich dieses Begriffes nur sehr selten (Abneigung gegen Fremdwörter!). Vergl. Kurt Heckscher, Die Volkskunde des germanischen Kulturkreises, an Hand der Schriften Ernst Moritz Arndts und gleichzeitiger wie neuerer Parallelbelege dargestellt, Hamburg 1925. Arndt bevorzugte Begriffe wie „Volk“, „Art“, „Stamm", „Geschlecht" usw. 25) Paul Breitenkamp, Künder deutscher Einheit, Das Leben Ernst Moritz Arndts, Berlin 1939, Seite 190 und 188. Vergl. . Arndt über die Juden", in: Gesetzgebung und Literatur, 1941/42, Seite 35. • 26) Vergl. Eleonore Sterling, Er ist wie du, aus der Frühgeschichte des Antisemitismus in Deutschland 1815— 1850, München 1956, Seite 143. Diese Frage ist besonders wichtig wegen des großen Einflusses, den Arndt auf die deutsche Studentenschaft ausübte. In den Burschenschaften z. B. bestimmten nach langen Auseinandersetzungen durchweg die gemäßigte-ren Kreise das geistige Leben (Ausnahmen wie Wolfgang Menzel kamen vor) im Sinne der national-deutschen und humanitär-liberalen Überlieferung der Reformzeit, so daß seit 1830 auch Juden zugelassen wurden (O. F. Scheuer, Burschenschaft und Judenfrage, Berlin 1927; E. Sterling, Er ist wie du, 1956, Seite 217; aufschlußreich für den Geist in diesen Kreisen ein Einzelbeispiel, Walter Bußmann, Treitschke, sein Welt-und Geschichtsbild, Göttingen 1952). In einer ganzen Reihe von studentischen Korporationen dagegen wurde ein recht lauter Antisemitismus gepflegt (Martin Broszat, Die antisemitische Bewegung im wilheimischen Deutschland, Diss. Köln 1952, Seite 141 ff.). 27) Arndt, Noch etwas über die Juden, in: Blick aus der Zeit auf die Zeit, Germanien 1814, Seite 198 f. Das genaue Gegenteil schrieb Bernhard Sommerlad, Die Bastardisierung des deutschen Volkes durch Judentaufe und Mischehe, NS Monatshefte, 1935, Seite 791— 806. 28) Arndt, Blick aus der Zeit .... Seite 196. 29) ebenda, Seite 197 f.

30) ebenda, Seite 189.

31) ebenda, Seite 188, 193, 199.

32) ebenda, Seite 201. 33) Arndt, Reden und Glossen (1848), zitiert nach Petersen und Ruth, Hirts Deutsche Sammlung, Seite 116 (Abschnitt: . Die Gefährdung des deutschen Volkes durch jüdische Zersetzung“). 34) Arndt, Blick aus der Zeit..., Seite 180 f. Dem Geiste nach gleiche Sätze findet man, nur aus dem rein Gesinnungsmäßigen in den voluntaristischen Anstoß zur Handlung umgesetzt, in Hitlers Programm-und Bekenntnis-Schrift . Mein Kampf“, wo er der „Humanität der Natur" zuliebe — dem brutalen Recht des Stärkeren — alle „lächerlichen Fesseln einer sogenannten *Humanität zu’zerbreche: auffordert (78. — 84. Ausl., 1933, Seite 145). Die Lehre, daß man jene Brutalität der Natur überwinden könne, galt ihm als „jüdischer Unsinn" (Seite 314). 35) Arndt, Germanien und Europa, 1903, neu herausgegeben von Ernst Anrich, Kulturpolitische Schriftenreihe, Heft 1, Stuttgart/Berlin o. J., Seite 202— 205 und Seite 101.

36) ebenda und Fragmente über Menschenbildung, I. Altona 1805, Seite 70 f.

37) H. J. Kuhn, Arndt und Jahn als völkisch-politische Denker, Langensalza 1936 (Heft 1428 von Friedr. Manns Päd. Magazin), Seite 21. Vergl. Anna Ritter, Die Frage der Bewußtheit in der Erziehung des einzelnen und des Volkes bei E. M. Arndt, Langensalza, Berlin, Leipzig 1939, Seite 22 ff.

38) Arndt, Fragmente ... I, Seite 70. Vergl. Kurt Leese, Die Krisis und Wende des christlichen Geistes, Berlin 1932, Seite 161 ff. (Arndts „Apologie der natürlichen Instinkte“). 39) Arndt, Fragmente ... I, Seite 128 f.

40) Arndt, Erinnerungen aus dem äußeren Leben’, 3. Ausl., Leipzig 1842, Seite 115 f.

41) Arndt, Fragmente ... I, Seite 128 f.

42) Arndt, Geist der Zeit III, Werke (Hesse), Bd. 11, Seite 162.

43) Arndt, Erinnerungen aus dem äußeren Leben, 1842, Seite 41, 58, 81. 44) Arndt, über Volkshaß und über den Gebrauch einer fremden Sprache, o. O. 1813 besonders Seite 15 f. und Seite 18. Vergl. Helmut Rößler, Arndt, in: Neue Deutsche Biographie, I, 1953, Seite 360: . Völkerhaß war ihm nur Mittel völkischer Selbsterkenntnis" — eine seltsame erkenntnis-psychologische Variante zu Herders Liebes-Erkennen. 45) Arndt, Ansichten und Aussichten .... Seite 34.

46) Vergl. besonders Arndt, Ansichten und Aussichten.... Seite 449 ff. und Geist der Zeit, III. Teil.

47) Hitler, Mein Kampf, Seite 311 ff. 48) Arndt, Phantasien..., Werke (Hesse) Bd. 14. Seite 112. Vergl. Friedr. Ludwig Jahn, Werke II, 2, Seite 560: „Mangvölker fühlen ewig die Nachwehen, die Sünde der Blutschande und Blutschuld verfolgt sie, und unruhig sind sie immerdar auch noch bis ins tausendste Glied.“ Ebenda Seite 759: „Nur Urvölker können in heiliger Weltgenossame nachbaren. Mangvölker und Mangsprachen müssen vernichten oder vernichtet werden.“ — Bd. I, Seite 418: „Jedes gereinigte (?? der Verfasser) und geeinigte Volk verehrt den Waiteschöpfer und Einheitsschaffer als Heiland und hat Vergebung für alle seine Sünden ... Nur für kleine Sünden hat die Weltgeschichte nimmer Vergebung...'. — Vergl. Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. I, 5. Ausl. Leipzig 1894, Seite 307: „In dem polternden Treiben des wunderlichen Recken Jahn zeigten sich schon einige der fratzenhaften Züge, welche das neue Deutschtum verunzierten ... Es blieb ein krankhafter Zustand, daß die Söhne eines geistreichen Volkes einen lärmenden Barbaren als ihren Lehrer verehrten." E. M. Arndt blieb, obwohl er Jahn an Radikalität nicht viel nachstand von solchen Angriffen weitgehend verschont, vor allem, weil er sich in späteren Jahren der neulutherischen Bewegung näherte.

Dem nationalsozialistischen Antisemitismus lag die gleiche Ideologie von „Reinheit" und „Verbastardung“ zugrunde wie dem „völkischen" Den ken Arndts und Jahns. Vergl. besonders den reich bebilderten Prunkband „Antisemitismus der Welt in Wort und Bild, der Weltstreit um die Juden frage“, herausgegeben von Robert Körber und Theodor Pugel, Dresden (Verlag Max Otto Groh) o. J. (nach 1934), Seite 4: „Die Juden sind kein Urvolk wie die Germanen, und obgleich die Theorien der Gelehrten Bezug nehmend auf die Rassenzusammensetzung des Judenvolkes gar oft sich in abweichenden Meinungen ergehen, so halten sie doch einmütig die wissenschaftliche Tatsache aufrecht, daß die Juden eine mulattenhafte Mischung Gelbweißer mit Schwarzen sind ..." Sie gelten als unruhige „jüdische Bastardrasse" mit „Nomadengeist“. 49) Arndt, Geist der Zeit, III, Werke (Hesse) Bd. 11, Seite 124 und Seite 122.

50) Vergl. auch H. Laag, Die religiöse Entwicklung Ernst Moritz Arndts, Halle 1926, Seite 58 f. 51) Arndt, Ansichten und Aussichten .... Seite 446 f. „Vernunft" wollte Arndt verstanden wissen als Vernehmen des göttlichen Wortes und Geistes. 52) Bezeichnend für die überlieferte Arndt-Interpretation ist zum Beispiel eine Stelle bei Horst Stephan (Luther in den Wandlungen seiner Kirche, 2. Ausl. Berlin 1951, Seite 65), wo Arndt im neulutherischen Sinne entschärft wird. Stephan stützt sich in seiner Darlegung auf den gleichen Abschnitt, dem der oben zitierte Satz entstammt. Arndts positive Stellungnahme zum Irrationalen wird zitiert. Die Forderung der totalen Entrationalisierung verwischt der Verfasser mit der Bemerkung: „Dann folgt eine scharfe Polemik gegen den Intellektualismus der Orthodoxie wie der Aufklärung, der sich allmählich selbst in seiner Torheit erweist“, und fährt fort zu zitieren: , , Ist dies vollbracht. ..'“

Vergl. Werner Ehlert, Morphologie des Luthertums, 2. Ausl. München 1958, Bd. II, Seite 164: „Ernst Moritz Arndt, der Luthers evangelischen Ansatz besser verstand als die Katheder-Theologie seiner Zeit...“. Seite 170: Kritik an Arndts Auffassung, die Stammesverwandten Germanen des Nordens hätten Luthers Lehre besser zu erfassen vermocht als andere (fremde) Völkerschaften. 53) Vergl. besonders Karl Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. I, Luther, Tübingen 1921, Seite 209 f. und Seite 223 ff. 54) Vergl. vor allem als eindrucksvolles Beispiel Luthers Wochenpredigten über Matth. 5— 7, 1530/32, Werke (Weimarer Ausgabe) 32, Seite 384:

„Gott hat das weltlich Regiment der vernunfft unter worffen und befohlen, weil es nicht der seelen heil noch ewiges gut, sondern allein leiblich und zeitlich güter regiren sol ... Darumb, wer im weltlichen Regiment wil lernen und klug werden, der mag die Heidnischen Bücher und schrifften lesen ... Denn gleich wie die geistlichen und Heiligen Propheten und Könige haben die leute geleret und regirt zum ewigen Gottes Reich zu körnen und da bey zu bleiben. So haben diese weltliche, Heidnische, Gottlosen Propheten und Könige die leute geleret und regirt, das weltlich Reich zu erhalten. Denn weil Gott den Heiden oder der vernunfft hat wollen die zeitliche herrschaf geben, hat er ja auch müssen leute dazu geben, die es mit Weisheit und mut, dazu geneigt und geschickt weren und erhielten ..."

55) Diese Form des Patriotismus nahm zuweilen groteske, ja alberne Formen an, wie zum Beispiel das Lesestück „Die Deutschen“ in dem von Klaus Harms herausgegebenen „Schleswig-Holsteinischen Gnonom" bezeugt (Kiel 1843): „Der Deutsche wird geboren, um in der Welt der Seele zu leben." „Sein Glück entspringt nicht aus materiellen Dingen; er wird durch das, was außer ihm vorgeht, wenig beunruhigt; was kümmert ihn die Erde mit ihren Stürmen, wenn die Sonne seine hohe Einsamkeit bescheint!“ „Es gibt keine Nation, welche ihren Fürsten so von Herzen zugetan ist wie die deutsche und welcher das Gehorchen weniger schwer ankommt... Es gibt kein zivilisiertes Volk, welches sittlicher als das seinige, keines, bei dem die mittlere Lebensdauer so lang ist“ und so fort in diesem Stile. 56) Vergl. z. B. O. Vogels Gedanken über die Nationalerziehung im Deutschunterricht (Zeitschrift für das Gymnasial-Wesen, 29, 1875, Seite 22): „Ich trage kein Bedenken, die manchen ketzerisch scheinende Behauptung zu wagen, daß der grimme Hagen mit seinem greisen kurzverschnittenen Haare unsere Jugend sympathischer anmutet als der jugendliche lockige Achill.“ Die „innere Teilnahme" an dem deutschen Epos „entspringt weniger den ästhetischen Gründen als sozusagen dem Blute." Seite 323: „Ich halte im allgemeinen diesen ungebrochenen Trotz des sittlichen Willens, diese knorrige Unbeugsamkeit, die, im zweifellosen Gefühle ihres Rechtes und unbekümmert um die Folgen, eher die Welt oder sich selbst verdirbt, als einen Schritt rückwärts tut,... für etwas spezifisch Deutsches und für einen im Volkscharakter tief begründeten Zug . ..“ „Ich meine, daß, wenn in die Adern unserer Jugend etwas von dem schneidigen Stahle Hagens eingeflößt würde, dies eher ein Gewinn als ein Schade ist.“

57) Arndt, Werke (Hesse), Bd. I, Seite 108 f. und Bd. III, Seite 166. 58) ebenda, Bd. II, Seite 99 und 117. Vergl. damit Hitlers Kritik an der deutschen Kriegspropaganda 1914/18 („fades Pazifistenspülwasser“), die es nicht fertig gebracht habe, „Menschen zum Sterben zu berauschen" (Mein Kampf, Seite 202). 59) So hätte man sich zum Beispiel nicht auf Arndt berufen können bei dem nationalsozialistischen Expansionsdrang. Vergl. Arndt, Fantasien für ein künftiges Teutschland, von E. von S., 1815, Seite 59 f.: das deutsche Volk dürfe nach der Herstellung der Einheit von Volk und Staat keinen Fußbreit fremden Landes begehren, „es sey dann, daß sie (fremde Völkerschaften) von deinen Gränzmarken eingeklammert liegen“. „Das ist aber das Gesetz, welches ich dir befehle, daß du es in eherne Tafeln grabest und es jedes Jahr laut verkündigest in der Versammlung des Volkes, daß sie es nicht vergessen. — Du sollst, wenn du das Land besitzest, das ich dir zum Erbe gegeben habe, ausrufen lassen, daß als ein Hochverräter gerichtet werden soll, wer dir jemals den Rat giebt, den Nachbarn Land abzudringen ..." Ganz anders Jahn dagegen, Werke Bd. II, Teil 1, Seite 427 f.: Betrachtungen über „Volk“ und „Raum“. 60) H. J. Kuhn, Arndt und Jahn als völkisch-politische Denker, 1936, Seite 11.

61) Vergl. z. B. August Hermann Niemeyer, Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts, 7. Auflage 1818, Bd. I, Seite 327 ff.; Karl Adolf Menzel, über die Undeutschheit des neuen Deutschtums, Breslau 1818; Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, 15, 1845, Seite 578 ff.; 19, 1847, Seite 13.

62) Bußmann, Ernst Moritz Arndt, Seite 141; vergl. Hans Rothfels, Grundsätzliches zum Problem der Nationalität, Historische Zeitschrift, 174, 1952, Seite 339 ff.

63) Antisemitismus der Welt in Wort und Bild, Einleitung. 64) Vergl. Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Teil I, Berlin 1832, Seite 84 f.: „Von der Gefahr im Kriege“. Clausewitz begleitet den „*Neuling auf das Schlachtfeld und führt ihn durch alle Stufen der sich verdichtenden Gefahr und der wachsenden inneren Unruhe, Unsicherheit oder gar Schwäche, vorbei an Soldaten und Offizieren von „anerkannter Tapferkeit", die vorsichtig Deckung suchen, bis zu dem entscheidenden Punkt, wo die Wirklichkeit des Krieges sich durch „das jugendliche Phantasie-bild“ hindurchdrängt und der Tod zollbreit an Ohr und Seele vorüberfliegt: „Zum Überfluß schlägt das Mitleiden über den Anblick der Verstümmelten und Hinstürzenden mit Jammerschlägen an unser klopfendes Herz ... Ja, es müßte ein sehr außerordentlicher Mensch sein, der bei diesen ersten Eindrücken nicht die Fähigkeit zu einem augenblicklichen Entschluß verlöre .. . *

Briefe an den Herausgeber

Stalingrad ein Transportproblem Nachfolgend geben wir eine der Zuschriften zu der Untersuchung von Heinrich Uhlig über »Das Einwirken Hitlers über Planung und Führung des Ostfeldzuges" (B 11— 12/60) wieder.

Wir schreiben Mitte Oktober 1942. Im Raume von Stalingrad kämpfen rund 30 Divisionen, vorwiegend deutsche, neben ihnen aber auch ausgewählte rumänische, ungarische, italienische und kroatische Verbände. Die Nachschubverhältnisse unserer Streitkräfte sind die denkbar ungünstigsten, denn die Nachschubbasen des Reiches liegen über 2000 Kilometer westwärts, und die umgespurten und großenteils nur notdürftig instandgesetzten Eisenbahnstrecken werden in steigendem Maße von Partisanen unterbrochen. Der Gegner hingegen befährt nichtgestörte Bahnlinien und hat außerdem den idealen Nachschubweg der Wolga zur Verfügung.

Nun braucht erfahrungsgemäß jede im Kampfe stehende Division täglich im Durchschnitt 1000 Tonnen an Nachschubgütern, d. h. 100 Waggons oder zwei volle Güterzüge zu 50 Wagen. Unsere 30 Divisionen benötigten demnach zur Erhaltung ihrer vollen Kampfkraft insgesamt rund 60 Züge pro Tag! — Die deutsche Wehrmachttransportleitung für die Ukraine, die damals in Dnepropetrowsk ihren Sitz hatte, konnte aber praktisch bei den gegebenen Regelleistungen der zwei zur Verfügung stehenden Strecken an günstigen Tagen nur höchstens 30 Züge in den Raum von Stalingrad durchbringen.

Das alltägliche bzw. allnächtliche Ausfeilschen durch die Fernsprecher mit den zuständigen Referenten der 6. Armee und der Luftwaffe wurde geradezu nervenzermürbend, denn z. B.der Chef-Intendant vertrat seinen Standpunkt folgend: „Die Verpflegungszüge müssen unbedingt gefahren werden, denn der Soldat muff unter allen Umständen sein Essen bekommen. Auch die Winterbekleidung muß herbei, denn wir wollen nicht wieder die schauderhafte Katastrophe erleben wie voriges Jahr vor Moskau, als uns der russische Winter unvorbereitet überraschte.“ Der Intendanzchef hat vollkommen recht. — Der W. u. G. -

Referent fordert kategorisch: „Waffen-und Munitionstransporte dürfen unter keinen Umständen zurückgestellt werden, denn sonst kann der Soldat nicht kämpfen.“ Und er hat entschieden auch recht. — Der Panzerkommandeur verlangt: „Die neuen Panzer müssen gefahren werden, um den Ausfall zu decken; auch die Werkstätten müssen unbedingt heran, dann auch Treibstoff und Öl, denn Sie wissen, ein Tiger-panzer braudit für eine Füllung 600 Liter, um damit 80 km fahren zu können.“ Der Panzerkommandeur hat auch recht. — Die Luftwaffe fordert: „Wir benötigen unseren Treibstoff, denn ohne diesen können wir nicht fliegen. Sie wissen, eine Luftflotte braucht bei gutem Flugwetter täglich 7 Millionen Liter Otto-Benzin, d. h. 14 hundertachsige Zisternenzüge!“ Das stimmt, er hat auch recht. — Der Sanitätschef der Armee telefoniert: „Meine Lazarettzüge haben den Vorrang vor allen anderen Transporten; sie müssen laut Vorschrift bevorzugt gefahren werden.“ Der Chefarzt der Armee hat recht. — Der Feldpostdirektor will die Feldpost aus der Heimat unbedingt gefahren wissen, denn sie sei die moralische Stütze und der Trost der Landser, zumal jetzt vor der Weihnachtszeit. Er hat natürlich recht. — Der Pionierkommandeur fordert unnachgiebig den Zuschub von Holz in Unmenge, Eisen und Zement. „Wir gehen dem Winter entgegen! Wollen wir nicht wieder eine ähnliche Katastrophe wie voriges Jahr vor Moskau erleiden, so müssen Unterstände und Unterkünfte für die Truppen gebaut werden. Auch sind Kampf-und Beobachtungsstände dringend erforderlich.“ Recht hat er. — Der Eisenbahnpionier moniert den beschleunigten Zuschub des eisernen Brückenmaterials für die Donbrücke, und er argumentiert sehr überzeugend: „Solange wir nicht die Brücke für das zweite Gleis fertig haben, hindert uns der transportliche Flaschenhals dauernd, und wir werden keine höhere Streckenleistung erreichen." Nichts einzuwenden gegen das Argument des KODEIS. — Der Kommandeur der Feldeisenbahnabteilung aber verlangt dringend Kohle für die Lokomotiven, denn die durchschnittlichen Vorräte an deutscher Kohle reichen bloß für zwei Tage; es müßten also Kohlenzüge aus der Heimat mit Vorrang gefahren werden. Das stimmt!

Und die gute Heimat liefert alles, was nur möglich ist und von der obersten Führung erlaubt wird. Die Züge rollen planmäßig aus Deutschland nach dem Osten. Doch können sie durch die vordersten 500 km nicht schnell genug hindurchgeschleust werden, weil diese Strecken noch nicht die geforderte Leistung haben. Und anstatt sich zu steigern, geht die Leistung dieser Spitzenstrecken nach Mitte Oktober bis auf rund 25 Züge je Tag zurück. Das war alarmierend! Die Wehrmacht-, transportleitung konnte bei aller Anstrengung’den aufgezählten Bedarfsträgern der Armee und Luftwaffe nicht einmal mehr die Hälfte ihres Bedarfs erfüllen!

So trat denn Ende Oktober 1942 in Dnepropetrowsk eine Transport-konferenz „auf hoher Ebene" zusammen. Alles, was Rang und Namen hatte im Transportwesen, war zugegen. Als Höchstanwesender der Staatssekretär des Reichsverkehrsministeriums, Herr Dr. Ganzenmüller. Neben ihm rechts der Chef des Transportwesens der Wehrmacht, General Gehrke, links der Kmdr.der Wehrm. -Transportleitung Ukraine, Oberst Gunderloch, dann die Kommandeure der „grauen Eisenbahner“ und die Präsidenten der „blauen Eisenbahner", die Kommandanten der Transportbezirke der Ukraine, die Dezernenten der Reichsbahndirektion und die Abteilg. -Leiter der Wehrm. -Trsp. -Leitung. Es waren etwa 50 prominente Transportfachleute anwesend.

Nach Erörterung der allgemeinen verzweifelten Transportlage, wie oben geschildert, stellte der Staatssekretär die konkrete Frage: „Ja, meine Herren, wenn Sie heute nur 25 Züge täglich fahren statt der notwendigen 60, wie soll denn dies werden, wenn uns die Temperatur im Dezember ähnlich wie im Vorjahre auf minus 40 Grad absinkt?“ — Darauf entgegnete Oberst Hamberger, Kmdr. Feldeisenbahnabteilung Rostow: „Herr Staatssekretär, diese Frage kann idt genau beantworten, d. h. zuverlässig abschätzen.“ — Der Staatssekretär Dr. GANZENMÜLLER: „Also bitte, Herr Oberst, am besten in Zahlen der Streckenleistung.“ Oberst HAMBERGER: „Bei einer derartigen Kälte, wieviel wir dann noch fahren werden, wie hoch die Regel-leistung der Strecken sein wird in Richtung Stalingrad? —Null, Herr Staatssekretär, eine große Null! Nicht einen einzigen Zug werden wir nach Stalingrad fahren können.“ — Dr. Ganzenmüller erblaßte merklich, als er diese klare und mutige Antwort vernahm, und das schweigende Kopfnicken der Offiziere und Bahnbeamten als Zustimmung deuten mußte. Er war sichtlich erschüttert, dann fragte er erregt: „Ja, wie begründen Sie denn das, Herr Oberst?“ —Hierauf Oberst Hamberger: „Uns fehlen vor allem die Bahnbetriebswerke an den Spitzen-strecken, wo wir eben auch auf je 100 km durchschnittlich ein BW brauchen. Denn bei der Kälte des russischen Winters — wir erinnern uns mit Schaudern an das vorige Jahr — da kommen die Loks an wie die Eisberge, d. h. wenn sie überhaupt ankommen. Jede vereiste Lok muß in ein Heizhaus, sie muß zuerst aufgetaut, dann ausgewaschen und gründlich überholt werden; man muß sie vom Kesselstein reinigen, notwendige Reparaturen in geheizten Werkstätten durchführen, man muß sie mit entkalktem Wasser speisen, man muß sie ölen und bekohlen. Dazu gehören Einrichtungen, Wassertürme, Pumpen, Kohlenkräne usw. Deutsche Kohle muß herbei, denn unsere deutschen Loks, mit denen wir die Normalspur befahren, vertragen die fette Donezkohle nur, wenn ihr mindestens 60 °/o deutsche Kohle beigemengt wird, sonst verschladten die Roste.“ — Darauf der Staatssekretär Dr. Ganzenmüller: „Ja, warum wurden denn die zerstörten russischen BWs nicht wieder aufgebaut?“ — Antwort: „Wei/die Bauzüge noch nicht nach vorne kommen konnten. Andere Transporte waren für die kämpfende Armee lebensnotwendiger. Wir haben auf den Stredten der Ukraine rund 600 Züge im Rückstau; ein Überholen und Vorziehen ist wegen der überfüllten Abstellbahnhöfe leider nicht mehr möglich. Wir entladen sogar sdcon auf Zwischenbahnhöfen weit hinten, bloß um die notwendigen Zuggarnituren für die Heimat wieder freizubekommen.“ — Hierauf Dr.

Ganzenmüller: „Also was ist Ihr Rat, Ihre Meinung, meine Herren?“ — Da hörte denn der Staatssekretär die einmütige Ansicht der Offiziere vom Transportfache: Die Stalingrad-Divisionen, die wir nicht mehr zu versorgen imstande waren, rechtzeitig zurückzunehmen, um sie vor dem sicheren Verderben zu bewahren und 300 000 wertvolle, gesunde Menschen unserem Volke und unseren Verbündeten zu erhalten.

Der Staatssekretär entsetzt abwehrend: „Kommen Sie dem Führer nicht mit so einem Vorschlag, er läßt Sie womöglich auf der Stelle erschießen. Stalingrad muß nach seinem Willen unter allen Umständen genommen und auch gehalten werden! Technische Schwierigkeiten kennt er nicht. , Es gibt kein Unmöglich für den deutschen Soldaten, das sind seine stets wiederholten Worte; und , wo der deutsche Soldat steht, da kommt kein anderer hin , diesen Satz hat er auch geprägt.“ — Resigniert senkten alle die Köpfe, denn nun wußten wir alle, daß damit das Schicksal unserer 6. Armee besiegelt ist. Idi dachte dabei unwillkürlich an das Sprichwort: „Wen Gott verderben will, den verblendet er vorher“. Leider war aber vorerst der zu Verderbende nicht der wahnwitzige Mann oben, sondern Hunderttausende pflichtgetreuer Soldaten vorne. Eine Tragik!

General GEHRKE übermittelte nun der Wehrm. -Trsp. -Leitung den strikten Befehl des Führers: „Die Leistung der zwei Zulaufstrecken nach Stalingrad ist mit allen Mitteln zu steigern, und bis Anfang Dezember 50 muß eine Regelleistung von zusammen mindestens Zügen täglich erreicht sein. Täglich ist eine fernschriftliche Abendmeldung an den Chef des Transportwesens im Führerhauptquartier zu erstatten, worin über den Fortschritt am Ausbau der Strecken, Bahnhöfe, Brücken und BWs zu berichten ist.“ — Damit endete die denkwürdige dramatische Transportkonferenz Ende Oktober 1942 in Dnepropetrowsk.

Idi, als Leiter der Techn. Gruppe (III.) der Wehrm. Trsp. Ltg. Ukraine, hatte die undankbare Aufgabe, jeden Abend die Depesche über den Fortgang der Arbeiten an den Strecken und Bahnobjekten zu verfassen. Im Bewußtsein dessen, daß sich auf Grund unserer Meldung etwaige schicksalsschwere Entschlüsse aufbauen und das Leben von rund 300 000 Männern davon abhängen kann, hütete ich midi peinlich vor Schönfärberei, sondern schrieb vielmehr wahrheitsgetreu z. B. „Die geplante Streckenleistung von insgesamt 40 Zügen wird voraussichtlich zum 15. November nicht erreicht, weil a) das Brückengerät für die T-Brücke noch nicht eingetroffen ist, b) weil der Bauzug Nr. ... für das Betriebswerk . .. erst bis Proskurow (Westukraine) durdtkam, c) weil die nördliche Zulaufstrecke ostw. Lesowaja in der vergangenen Woche von Partisanen 16mal gesprengt wurde, d) usw. ..."

Aber was tat der junge Major d. Gstb. W., dem ich als dem IA den Depeschenentwurf vorlegen mußte? Er zensurierte d. h. verwässerte meine Meldung mit Bindungssätzen, wenn .... dann ... und stellte die geforderte Streckenleistung in bestimmte Aussicht. Mein heftiger Protest blieb unbeachtet, und er legte die abgeänderte, schöngefärbte Depesche dem neuen Chef, Generalmajor WUTHMANN, zur Unterschrift vor. Bei diesem galt mein Wort nichts, hingegen die seines IA alles.

Da ich schweres Unheil voraussah, und meine Einsprüche und Warnungen nicht fruchteten, erbat ich meine Versetzung vom hohen Stabe zu einer Außenstelle als Bahnhofskommandant, wiewohl dies für midi sozusagen eine Degradierung bedeutete. — Was dann Ende Januar 1943 eintrat, und was alle Vernünftigen vorausgesehen hatten, ist uns allen als die Katastrophe von Stalingrad bekannt. Von diesem furchtbaren Schlage hat sich die deutsche Wehrmacht nie wieder erholt, vielmehr hatte damit die rückläufige Bewegung begonnen, die mit unserer totalen Niederlage endete.

Eine große Mitschuld daran hatte die eingerissene Schönfärberei bei Lagemeldungen gewissenloser Ehrgeizlinge an den „Führer und Obersten Befehlshaber“, der auf solchen von ihm sogar erwünschten Meldungen seine meist undurchführbaren, ja verderblichen Entschlüsse aufbaute; denn persönlich überzeugte er sich ja nie von der tatsächlichen Lage an der Front. J, Lippert Kritische Anmerkungen zu den Memoiren Carl J. Burckhardts Am 2. März 1960 wurde in der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte" ein Vorabdruck aus den Memoiren von Carl J. Burckhardt „Meine Danziger Mission“ veröffentlicht. Seine Ausführungen über den „Staat Pilsudski“ konnten nicht in allen Punkten unwidersprochen bleiben. Nachfolgend geben wir einer Erwiderung Raum, in der alle wesentlichen Aussetzungen zusammengefaßt sind.

Der Autor genießt in Deutschland recht hohes Ansehen. Dies beruht nicht nur auf seine bedeutsamen historischen Arbeiten. Es beruht vielmehr auch darauf, daß er als Völkerbundskommissar in Danzig tätig war, als diese Stadt zum Anlaß für den letzten Weltkrieg wurde. Diese Erlebnisse mögen Burckhardt stark beeindruckt haben, können aber nicht ein Geschichtsbild rechtfertigen oder Werturteile über vergangenes Geschehen begründen, wie sie aus dem Abdruck der Erinnerungen Burckhardts „Meine Danziger Mission, 1937— 1939“ in der Beilage Nr. 9/60 vom 2. März 1960 ersichtlich wurden.

Es muß vielmehr festgestellt werden, daß der Autor Ansichten vertritt, die den Ergebnissen einer exakten historischen Forschung widersprechen und in sich widersprüchlich sind. Einige Beispiele zur Begründung dieser Feststellung seien erwähnt: 1) Burckhardt schrieb:

„ 1772, 1793 und 1795 erfolgte, durch die drei Teilungen Polens, die Löschung eines ehrwürdigen Staatsgebietes mit geschlossenem Volkstum, eigener Sprache und einheitlicher Religion. . . . Die Kaiserin Maria Theresia wußte, wie unheilvoll diese Tat war. . . .“

Das Polen verfügte damals keineswegs über ein „geschlossenes Volkstum“. Auf seinem Gebiet lebten außer den Polen Deutsche, Ukrainer, Weißrussen, Juden, Litauer. Es sollte keiner Erwähnung bedürfen, daß die sogenannte erste Teilung von 1772 Masuren und Ermland sowie Westpreußen (Preußen königlichen Anteils) an den preußischen Staat zurückbrachte. Es trifft nicht einmal zu, daß die polnischen Staatsangehörigen verschiedenen Volkstums einer Religion anhingen.

Nur am Rande sei vermerkt, daß der Hinweis auf die vermeintlichen Erkenntnisse der Kaiserin Maria Theresia zwar beliebt und üblich ist, daß sie aber keineswegs der Sachlage gerecht werden. Denn gerade die Habsburger Monarchie gab den letzten Anstoß zur Teilung von 1772, jedenfalls berief sich die Zarin auf die österreichische Annexion der Zips zur Begründung ihrer Initiative. 2) Burckhardt schrieb:

„Die siegreiche Koalition entriß ein polnisches, ziemlidt willkürlich zusammengesetztes Territorium den bisherigen Besatzungsmächten Deutschland, Österreich, Ungarn und Rußland. . . .“

Es wird schlechterdings rechtlich, aber auch historisch unzulässig sein das Deutsche Reich, die Donau-Monarchie und Rußland als „Besatzungsmächte“ zu bezeichnen. Vor mehr als 100 Jahren waren die Grenzen dieser Staaten untereinander durch internationale vertragliche Vereinbarung 1815 auf dem Wiener Kongreß festgelegt worden. 3) Burckhardt schrieb:

„Schematische und gleichzeitig unkonsequente Anwendung des Prinzips nationalstaatlicher Grenzziehung in den Friedensverträgen von 1918, anstelle voller Berücksichtigung der historischen Ansprüche Polens, mußte an der Westgrenze des neugeborenen Staates bei äußerst komplizierten ethnischen Voraussetzungen unausweichlich zum Ursprung schwerer Verwicklungen werden“.

Im deutlichen Widerspruch zu den Ausfühungen unter Ziffer 1 wird hier also festgestellt, das selbst der polnische Staat von 1918, der die von ihm erstrebten Grenzen des Jahres 1772 keineswegs erreichte, un-ter „äußerst komplizierten ethnischen Voraussetzungen“ zu leiden hatte. Stattdessen wird hier die These aufgestellt, die „historischen Ansprüche Polens“ hätten erfüllt werden müssen. Es wird offen gelassen, worin diese bestehen sollen, es bleibt aber ebenso im dunkeln, wie Burckhardt den polnischen Willen der von territorialer Veränderung betroffenen Bevölkerung beachtet wissen will. Es dürfte kaum anzunehmen sein, daß er noch heute der Ansicht ist, diese Bevölkerung sei bloßes Objekt zwischenstaatlicher Entscheidungen. Welche Folgerungen werden aus den überwältigenden Abstimmungsergebnissen in Ost-und Westpreußen gezogen? Wie wird der Tatsache Rechnung getragen, daß in den vermeintlichen Volkstumsgrenzen an Polen abgetretenen Gebiete, z. B.der wesentliche Teil Westpreußens, anschließend mehr als 800 000 Deutsche zur Auswanderung gezwungen wurden.

Die widersprüchlichen Ausführungen machen leider deutlich, daß der Autor anscheinend keine Entscheidung zu fällen wagt, ob er noch heute das in seinen Auswirkungen so verderbliche ethnische Prinzip zur Festlegung von Staatsgrenzen anerkennen soll oder ob er die politische Willensentscheidung der betroffenen Bevölkerung für maßgebend hält, die nicht durch eine willkürliche Dekretierung diesem oder jenem Volkstum zugerechnet werden kann. 4) Burckhardt schrieb:

„Berechtigten Wünschen Polens in bezug auf den Grenzverlauf trug man wenig Rechnung. . . . Voraussetzungen wurden zugelassen, die das Entstehen entspannter Beziehungen zum deutschen Nachbarreich im vorhinein unmöglidt maditen...

Den Wünschen Polens wurde von den Alliierten, wo immer es ging, — insbesondere von Frankreich — weitgehend Rechnung getragen: Danzig, Korridor, Ostoberschlesien seien nur erwähnt. Gerade hierdurch entstanden die folgenschweren Spannungen zwischen Deutschland und Polen, die mit eine der Ursachen des Kriegsausbruches 1939 waren. 5) Burckhardt schrieb:

„Polen hatte einen beträchtlichen Teil Oberschlesiens, die Masuren und einen gesicherten breiten Zugang zur Ostsee verlangt. Dies wurde nidtt berücksichtigt, und schon schritt man zu gefährlichen Kompromißlösungen.“

Die gefährlichen Kompromißlösungen könnten nur darin erblickt werden, daß für das südliche Ostpreußen — Masuren — und für Oberschlesien von den Alliierten und unter ihrer Aufsicht Volksabstimmungen veranlaßt wurden. Sie handelten damit getreu den von ihnen verkündeten Prinzipien einer Selbstbestimmung.

Diese Beispiele mögen genügen. Auf die recht fragwürdige Ausführungen zur Curzon-Linie sei nicht näher eingegangen. Immerhin darf mit Recht bezweifelt werden, ob der Vertrag von Riga als ein „für Polen wenig vorteilhafter Friedensschluß“ bezeichnet werden kann. Bei einer objektiven Betrachtung des Geschehens wäre wohl eine Bemerkung angebracht gewesen, die darauf hinweist, daß Polen den damaligen Krieg mit Rußland entfesselte und zwar unmittelbar nach Begründung seines neuen Staates sowie mit dem Ziel einer Gebietserweiterung, die den Alliierten-Entscheidungen zuwiderlief und ungeheure Reibungen mit fremdem Volkstum, vorwiegend den Ukrainern zur Folge hatte.

Freiherr von Braun

Fussnoten

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