Die gesamte Außenpolitik des Sowjetstaates ist der Weltrevolutionsidee unterordnet. Seit jeher betrachteten daher die Sowjetführer die Errichtung der kommunistischen Diktatur in Rußland nicht als einen Selbstzweck, sondern nur als eine Etappe auf dem Wege zum „Endsieg des Sozialismus“.
„Deshalb soll sich die Revolution des siegreichen Landes (Rußland)
nicht als eine sich selbst genügende Größe betradtten, sondern als Stütze, als Mittel zur Besdtleunigung des Sieges des Proletariats in den anderen Ländern . . (J. W. Stalin, Fragen des Leninismus, Bd. I, S. 45, Moskau, 1947)
Was aber den Marxisten-Leninisten unter „Endsieg des Sozialismus" vorschwebt, erläuterte Chruschtschow in unmißverständlicher Weise auf dem letzten Parteitag der KPdSU:
„Unter dein endgültigen Sieg des Sozialismus verstehen die Marxisten seinen Sieg im internationalen Maßstab.“
(N. S. Chruschtschow auf dem 21. Parteitag der KPdSU, Prawda, Moskau, 28. 1. 1959)
Der sogenannte „Aufbau des Sozialismus" in den Ländern des Ostblocks, die forcierte schwerindustrielle Entwicklung, die hektische Rüstung auf Kosten der Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse der Völker hinter dem Eisernen Vorhang, die weltweite kommunistische Subversionstätigkeit — dieser ganze totale Einsatz aller verfügbaren materiellen und geistigen Mittel des internationalen Kommunismus gilt der Verwirklichung eines einzigen höchsten Zieles: „Befreiung des Proletariats der ganzen Welt vom kapitalistischen Joch“, oder mit anderen Worten, der Erringung der kommunistischen Weltherrschaft. Somit sind Innen-, Außen-und Wirtschaftspolitik der UdSSR Komponenten einer totalen Strategie.
Dessenungeachtet ist es ein Spezifikum des sowjetischen Regimes, daß für die Kremlführung die Innenpolitik einen unbedingten Primat vor der Außenpolitik besitzt.
Am Vorabend der Pariser Gipfelkonferenz ist es daher alles andere als müßig, die innenpolitische Entwicklung in der Sowjetunion in den letzten Monaten zu untersuchen.
Spannungen im Zentralkomitee der KPdSU
Nach der Entfernung der „parteifeindlichen Gruppe" — Molotow, Malenkow, Kaganowitsch und Schepilow — im Jahre 1957 hatte Chruschtschow es fertiggebracht, seine gefährlichsten Rivalen zu eliminieren und seine führende Position im Kreml einigermaßen zu stabilisieren.
Zum ersten Mal seit dieser Säuberungswelle sah sich der gegenwärtige Sowjetführer jedoch in letzter Zeit gezwungen, auch zwei seiner eigenen engen Vertrauensleute auszubooten. Die Degradierung der beiden Präsidiumsmitglieder Beljajew (Dezember 1959) und Kiritschenko (Januar 1960) enthüllte ernst zu nehmende Spannungen im höchsten Gremium des Sowjetregimes, die eine direkte Folge der Auseinandersetzungen in der Parteispitze über die Verantwortung für den Fehlschlag der Getreideernte 1959 sind.
Einige Tage nach dem Dezember-Plenum des Zentralkomitees der KPdSU gab das Parteiorgan Prawda am 29. Dezember 1959 bekannt, daß N. I. Beljajew, Parteisekretär der Sowjetrepublik Kasachstan und Mitglied des Präsidiums der KPdSU, seiner Posten enthoben worden sei.
Am 13. Januar 1960 teilte die Moskauer Prawda ohne Kommentar mit, daß auch der designierte Nachfolger Chruschtschows Aleksej Kiritschenko aus Moskau entfernt und zum Parteisekretär im Bezirk Rostow ernannt werden ist.
Am 15. Januar 1960 gab die Prawda nun offiziell zu, daß bis zu diesem Zeitpunkt die Getreideablieferungen an den Staat nur 46 600 000 Tonnen betragen haben. Es wurden also 1959 annähernd 10 000 000 Tonnen oder 18 % weniger Getreide als im Jahre 1958 abgeliefert. Die Gesamtgetreideernte der UdSSR war wiederum um ca. 20% geringer als im Jahre 1958. Der Chruschtschowsche Siebenjahresplan sah indessen für 1959 eine beträchtliche Steigerung der Getreideproduktion im Vergleich zum Vorjahr vor. Dieses Planziel wurde aber nicht nur nicht erfüllt, sondern Chruschtschow sah sich auf dem Dezember-Plenum des
Zentralkomitees der KPdSU gezwungen zuzugeben, daß auf dem wichtigsten Sektor der Landwirtschaft im vergangenen Jahr ein nicht zu leugnender Rückschritt zu verzeichnen war. Vor diesem Gremium hatte der Sowjetführer selbst ein Jahr vorher die Behauptung aufgestellt, daß „die Getreideproduktion die Basis der ganzen Land-ivirtsdtaft ist.“ (Prawda, Moskau, 16. 12. 195 8)
Wieder einmal stellt es sich im übrigen heraus, daß das Getreide-problem in der UdSSR noch lang enicht gelöst ist. Schon 1930 hatte aber die Sowjetführung behauptet, daß die „Getreidefrage“ in der Sowjetunion „endlich“ gelöst sei. Seit dieser „Lösung“ gab es indessen zwei weitere offizielle Erklärungen des Kreml, daß dieses schon „erledigte“ Problem von neuem „gelöst“ worden sei — einmal auf dem 19. Parteitag der KPdSU (1952)'durch den Mund Malenkows und das zweite Mal auf dem 21. Parteitag der KPdSU (1959) durch Chruschtschow selbst.
Das Debakel 1959 ist offenbar in erster Linie auf den Fehlschlag der Ernte in den „Neulandgebieten“ zurückzuführen. In der Tat sind z. B. in Kasachstan die Getreideablieferungen an den Staat um 26% hinter den Planziffern zurückgeblieben.
Bedeutsam ist es aber, daß Chruschtschow auf dem Dezember-Plenum für das Fiasko der Getreideproduktion 1959 in Kasachstan nicht die Witterungsverhältnisse, sondern Organisationsmängel verantwortlich machte, obwohl die Parteipropaganda kurz vor dem Plenum den tastenden Versuch unternommen hatte, auf den „ungünstigen Sommer" hinzuweisen. Während des Plenums erklärte Chruschtschow aber wörtlich: „In diesem Jahr war die Ernte in Kasadistan gut, aber infolge schiedst organisierter Arbeit wurde die Ernte nicht hereinge-bradtt. Am 1. November 1959 war die Ernte auf einer Flädie von 1 618 000 Helftar der Kasachisdren Republik nicht hereingebracht worden.“ (Prawda, Moskau, 29. 12. 1959) Demnach trägt nicht der „Wettergott“, wie sich Chruschtschow ausdrückte, sondern allein die Parteiführung die Schuld an diesem Mißerfolg. Chruschtschow gab gleichzeitig zu, daß diese enorme Getreide-menge bereits vom Schnee zugedeckt und als vernichtet zu betrachten sei. Unter welchem anderen Regime wären überhaupt derartige unglaubliche Zustände denkbar als unter der kommunistischen Planwirtschaft? Wer kennt einen anderen solchen Fall, daß Brotgetreide in Friedenszeiten und ohne Naturkatastrophen dem Verderb ausgesetzt wird, nur weil die Menschen, die die Felder bestellt haben, nicht ernten? Und dieses soziale und ökonomische System, unter dem solche Ungeheuerlichkeiten möglich sind, erhebt den Anspruch, besser als das westliche zu funktionieren!
In diesem Zusammenhang wäre auch auf den Artikel des sowjetischen Fachmanns Prof. Rumiantzew, veröffentlicht im September-Heft 1959 der kommunistischen Zeitschrift „Probleme des Friedens und des Sozialismus“, hinzuweisen, in welchem festgestellt wird, daß die Getreideernte der UdSSR im Jahre 195 3 mengenmäßig derjenigen Rußlands vom Jahre 1913 gleichkäme. Angesichts des vergrößerten Territoriums und der Bevölkerung der Sowjetunion im Vergleich zum zaristischen Rußland und der Modernisierung und Technisierung der Landwirtschaft unter dem sowjetischen Regime hätte die Getreideproduktion der UdSSR 195 3 mindestens drei Mal größer als diejenige Rußlands vor dem Ersten Weltkrieg sein müssen.
Chruschtschow erklärte nun im Dezember 1959, daß der Verlust eines bedeutenden Teils der Ernte in Kasachstan dadurch entstanden sei, daß bei den kasachischen Sowchosen und Kolchosen 32 000 Mähdrescher und 21 000 Mähmaschinen im Herbst 1959 nicht eingesetzt werden konnten, weil das technische Personal zur Bedienung dieser Maschinen gefehlt habe. Er versuchte aber die Verantwortung für diese unglaubliche Desorganisation anderen Sowjetführern, vor allem der Parteileitung in der Kasachischen Republik, in die Schuhe zu schieben. Chruschtschow stellte die Lage so dar, als habe er keine Ahnung vom erschreckenden Mangel an agrartechnischem Personal gehabt. „Ich fragte Sie, Genosse Beljajew“, sagte er, „was Sie braudten, um die Ernte rechtzeitig Itereinzubringen?" Sie sagten: „Gar nichts! Wir haben alles zur Verfügung. Alles wird getan werden!“ (Prawda, Moskau, 29. 12. 1959)
Wer kann es Chruschtschow aber glauben, daß er ein Opfer schlechter Information geworden sei, da er über einen Apparat strengster und lückenlosester Überwachung verfügt? Zudem wurde nicht allein die Parteiführung, sondern sogar die Öffentlichkeit in der UdSSR rechtzeitig über den Personalmangel in Kasachstan informiert. Schon am 30. Juni 1959 berichtete die „Komsomolskaja Prawda“: „Die Republik (Kasachstan) braudit nodt 62 000 Mähdresdter-Medtaniker, 5S 000 Mähdresdrer-Fahrer und 21 000 Mähwasdtinen-Meckaniker“.
An dieser Stelle möchten wir auf besondere Begleitumstände aufmerksam machen, die den Schluß nahelegen, daß Chruschtschow auf dem Dezember-Plenum persönlich zur Verantwortung gezogen wurde. Die offiziellen Veröffentlichungen über den Verlauf der offenbar recht stürmischen Auseinandersetzungen im Dezember-Plenum enthüllen deutlich, daß Chruschtschow sich vor diesem Gremium rechtfertigen mußte und in die Defensive gedrängt wurde.
Noch am 19. Dezember 1959 begrüßten das Zentralkomitee der KPdSU und der Ministerrat in Moskau das Zentralkomitee und den Ministerrat der Kasachischen Republik wegen „ihres großen diesjährigen Erfolges in der Landwirtschaft“. Am 22. Dezember 1959, d. h. am ersten Tag des Dezember-Plenums, erklärte die Moskauer Prawda in einem Leitartikel, daß „das ganze Land mit größter Genugtuung die Nadtridi't von den großen Erfolgen Kasachstans in der Getreideproduktion empfangen habe.“ Aus diesen amtlichen Erklärungen geht eindeutig hervor, daß es Chruschtschows ursprüngliche Absicht war, den katastrophalen Fehlschlag der Ernte in Kasachstan, für den in letzter Konsequenz er persönlich die Verantwortung trägt, — wenigstens vor der Öffentlichkeit — zu verschleiern. Die Mehrheit der ZK-Mitglieder war aber offensichtlich mit diesem Manöver nicht einverstanden. Zweifellos kam es erst während der Plenarsitzung zu einer Änderung dieser Chruschtschowschen Version. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß das Plenum einen anderen Verlauf genommen hat, als es die Regie Chruschtschows vorsah.
Der Parteigewaltige sah sich dann gezwungen, den ursprünglichen Text seines Berichts abzuändern, den Mißerfolg der Ernte zuzugeben und Sündenböcke namhaft zu machen. Der bis vor wenigen Tagen wegen seiner „Ernteerfolge“ gefeierte Beljajew mußte herhalten, und zwei Wochen später auch der für die Gesamternte verantwortliche Kiritschenko. Jedermann in der Sowjetunion weiß aber, daß die Erschließung der Neulandgebiete eine ureigene persönliche Initiative Chruschtschows darstellt. Wenn auch Chruschtschow vorerst nicht persönlich die Konsequenzen für dieses Fiasko ziehen mußte, so wurde er gezwungen, seine intimsten Vertrauensleute zu opfern, und dies ist ohne Zweifel eine indirekte Niederlage für den Sowjetführer. Beljajew und Kiritschenko wurden auf tote Gleise in die Provinz abgeschoben, doch behielten sie noch immer ihre Mitgliedschaft im Präsidium der KPdSU. Dies war wohl das Ergebnis eines Kompromisses zwischen Chruschtschow und der Opposition im Zentralkomitee.
Es ist kein Geheimnis, daß das waghalsige Experiment Chruschtschows mit der Urbarmachung des zentralasiatischen und sibirischen Bodens von Anfang an auf einen erbitterten Widerstand seitens der Mehrzahl der Parteiführer und der Fachleute stieß.
Die Opposition gegen dieses gewaltige Programm, die vor allem klimatische und technische Argumente ins Feld führte, scheint trotz der Chruschtschowschen Dynamik nicht eingestellt worden zu sein. Neue Nahrung dürfte der Widerstand gegen die allzu kühnen Unterfangen Chruschtschows in der Landwirtschaft durch das Fiasko der Getreideproduktion 1959 erhalten.
Bezeichnend ist auch, daß auf dem Dezember-Plenum die Schaffung von Kolchosverbänden beschlossen wurde. Diese Organisationen sollen die bessere Kontrolle der Kollektivwirtschaften gewährleisten. Sie waren von Stalin in den Jahren 1927— 1932 errichtet worden und wurden in der Folge von den Maschinen-Traktoren-Stationen abgelöst. Die Rückkehr zu dieser Stalinschen Organisationsform bedeutet, daß die Auflösung der Maschinen-Traktoren-Stationen durch Chruschtschow als ein Fehler angesehen wird.
Der Degradierung Kiritschenkos, des Chruschtschowschen „Kronprinzen“, kommt im Hinblick auf die zur Zeit tobenden parteiinternen Kämpfe im Kreml eine besondere Bedeutung zu. Kiritschenko verdankt seine Karriere ausschließlich Chruschtschow. Als zweiter Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU kontrollierte er bis Mitte Januar 1960 den gesamten Parteiapparat. Er wurde 1955 ins Präsidium berufen und seit 1957, nach der Niederlage der Molotow-Malenkow-Gruppe, errang er eine Machtposition in der UdSSR, die nur derjenigen Chruschtschows nachstand. Unter seiner unmittelbaren Kontrolle stand die ganze Organisations-und Personalpolitik der Partei. Das erste Anzeichen, daß Kiritschenkos Position nicht mehr so stabil war, war die Enthebung Semitschastnys, seiner rechten Hand, im vorigen Jahr vom Posten des Chefs der Abteilung für Parteiorgane beim Zentralkomitee der KPdSU.
Das denkwürdige Dezember-Plenum enthüllte überdies eine weitere Reihe von Spannungsmomenten innerhalb des Zentralkomitees der KPdSU. Es kam in diesem Gremium auch zu offenen Kritiken an Chruschtschows „Generallinie“.
So revidierte man z. B.den bisherigen Tarif der staatlichen Ankaufspreise von Kolchoserzeugriissen. Chruschtschow hatte nämlich Jen Kolchosbauern eine bessere Vergütung für ihre Ablieferungen gewährt, um auf diese Weise einen Anreiz für erhöhte Produktivität zu schaffen.
Die letzte Plenarsitzung nahm jedoch von dieser Methode Abstand und beschloß, das Einkommen der Kolchosmitglieder einschneidend zu reduzieren. Während der Diskussionen über diese Frage wurde auf den unmöglichen Umstand hingewiesen, daß die Erzeugnisse der Kollektiv-wirtschaften vom Staat zu Preisen angekauft wurden, die doppelt so hoch seien wie die Preise, die für die Produktion der Sowchosen gezahlt wurden.
Der Vorsitzende des Ministerrats der RSFSR D. Polianski kritisierte in besonders scharfer Form die Chruschtschowsche Maßnahme der Auflösung der Maschinen-Traktoren-Stationen. Das ZK-Mitglied K. Masurow, erster Sekretär des Weißruthenischen Zentralkomitees, wider-. sprach Nikita Chruschtschow, indem er unverblümt die offiziellen Daten über den Viehbestand im Gebiet Riasan anzweifelte.
Die Kritik an Chruschtschows Programm zur Erschließung der Neulandgebiete ging so weit, daß einzelne Mitglieder des ZK für die Preis-gabe dieser Kampagne eintraten, in der schon Milliardenwerte investiert wurden, und von der Chruschtschow sich die endgültige Lösung des Getreideproblems versprach. Der Sowjetführer sah sich gezwungen, das Plenum förmlich zu beschwören: „Im Jahre 1954 trat ich für die NeulandersdtliefJmig ein; wir dürfen jetzt uns nicht weigern, dieses Werk fortzusetzen...“ (Prawda, Moskau, 29. 12. 1959)
Überhaupt offenbarte der allgemeine Ton der Diskussionen in der Plenarsitzung einen deutlichen Mangel an Vertrauen zur Wirksamkeit der Chruschtschowschen Agrarpolitik.
Noch prekärer dürfte die Position Chruschtschows, der sein persönliches Prestige mit dem Programm der Erschließung der Neulandgebiete eingesetzt hat, werden, wenn es zu einer neuen Erntekatastrophe in Kasachstan in diesem Jahr kommen sollte. Wenn alle Anzeichen nicht trügen, bahnt sich aber 1960 ein weiteres Erntefiasko in dieser Sowjetrepublik an. Erfahrungsgemäß gibt es in Kasachstan alle 3— 4 Jahre eine gute Getreideernte, die durch günstige Witterungsverhältnisse bedingt ist. Als Chruschtschow auf dem Dezember-Plenum (1959) zugeben mußte, daß der „Wettergott“ es 1959 in Kasachstan gut gemeint habe, war von vornherein anzunehmen, daß im darauffolgenden Jahr eine Dürre zu erwarten war. Diese Annahme hat sich inzwischen bestätigt. Seit den ersten Tagen des April 1960 wandern Staubwolken, von denen die Sonne verdunkelt wird, über weite Teile des Balkan. Zuerst erschienen sie über Rumänien und Bulgarien. Am 8. April teilte Radio Belgrad mit, daß die ganze rumänische Hauptstadt von einer dichten Staubschicht bedeckt sei. Staubwolken und Schlammregen wandern in Richtung Ungarn und Jugoslawien. Rumänische Meteorologen haben inzwischen festgestellt, daß die Staubwolken über dem Balkan durch starke Winde verursacht werden, die aus Kasachstan und der südlichen Ukraine wehten. Diese Naturerscheinungen sind aber einerseits durch die Dürre, andererseits durch die Erderosion in Kasachstan hervorgerufen worden.
Bereits als Chruschtschow im Jahre 1954 das Neulandprojekt startete, haben Fachleute auf die Erosionsgefahr hingewiesen, die durch das Aufpflügen von Millionen Hektar der kasachischen Steppe heraufbeschworen würde.
Die zu erwartende Dürre und die Erosionsauswirkungen scheinen einen noch größeren Erntefehlschlag in diesem Jahr in Kasachstan anzukündigen.
Die Vorgänge in Sofia
Ein aufschlußreiches Licht auf die Lage Chruschtschows nicht nur im Kreml, sondern auch im ganzen Ostblock wirft ein Ereignis, das sich in letzter Zeit in der Hauptstadt eines Satellitenlandes abspielte. Annähernd zu derselben Zeit, da Chruschtschow im ZK in die Verteidigung gedrängt vzurde, mußte er auch eine Niederlage in der strategisch sehr wichtigen Volksrepublik Bulgarien einstecken, also in jenem Land, das bisher stets als Schrittmacher und Vorbild für die übrigen europäischen Satelliten diente.
In Sofia setzte sich nämlich im Dezember 1959 ein offener Gegner der Chruschtschowschen Politik, der ehemalige Diktator Bulgariens, Walko Tscherwenkow, durch. Auf dem Plenum des Zentral-komitees der BKP vom 8. -9. Dezember 1959 wurde offiziell bestätigt, daß der von Chruschtschow angeordnete „große Sprung nach vorn“, der im Rahmen des sowjetischen Siebenjahresplans das Signal für eine neue enorme Anspannung der Wirtschaft der europäischen Volksrepubliken geben sollte, gescheitert war. Der bulgarische „große Sprung" sah eine phantastische Produktionssteigerung in der Industrie und der Landwirtschaft vor. Die Agrarproduktion sollte im Jahre 1959 im Vergleich zu 1958 verdoppelt werden. Dieses Planziel wurde aber nicht einmal zu einem Zehntel erfüllt. Im Gefolge dieses Fehlschlags nahm das Plenum eine gründliche Regierungsumbildung in Sofia vor. Die Wachablösung brachte aber ein entscheidendes Übergewicht des früheren Partei, d Staatschefs Tscherwenkow mit sich, der nunmehr über eine Majorität sowohl im Politbüro als auch im Zentralkomitee verfügt. Auf der Seite Tscherwenkows stehen, resp, sind in letzter Zeit eingeschwenkt folgende Politbüromitglieder: General Georgi Tzankoff, Innenminister, General Iwan Michailow, Verteidigungsminister Karlo Lukanoff, Außenminister Dimiter Ganeff, nominelles Staatsoberhaupt Entscho Stajkoff und Raiko Damianoff.
Die beiden Exponenten Chruschtschows in Sofia, Todor Schiwkoff, Parteisekretär, und Anton Yugoff, Ministerpräsident, haben, besonders nach dem Scheitern des „großen Sprungs“, der vom Anbeginn wegen seiner unrealistischen Zielsetzung auf heftigsten Widerstand sowohl seitens der meisten Parteiführer als auch der Parteikader gestoßen war und nur dank des Drucks des Kreml gestartet wurde, jede Autorität eingebüßt. Sie haben wohl noch immer ihre nach außenhin führenden Posten behalten, doch müssen sie sich künftig dem Willen Tscherwenkows beugen.
Tscherwenkow, einer der führenden Ideologen des Weltkommunismus, gilt als ein radikaler, orthodoxer Marxist-Leninist, in dessen Augen Chruschtschow ein verkappter Revisionist ist. Nicht zufällig erklärte er sich zum offenen Gegner Chruschtschows nach dessen Aussöhnung mit Tito im Jahre 1955.
Besonders nach seinem Besuch in Peking im Jahre 1958 setzt Tscherwenkow auf die Karte der chinesischen Kommunisten, die auch kein Hehl von ihrer Opposition gegen Chruschtschows Politik machen und mehrfach seine Interventionen unbeachtet ließen. Der bulgarische Kommunistenführer unterhält auch enge Verbindung zu den „alten Stalinisten“ in Warschau und zu Otto Grotewohl.
Schon im Jahre 1958 sollte Tscherwenkow auf dem 7. Parteitag der BKP von neuem die Alleinherrschaft in Bulgarien, die er von 1949 bis April 1956 innehatte, übernehmen. Am Vorabend dieses Parteikongresses hatte Tscherwenkow die Mehrheit der ZK-Mitglieder für sich gewonnen und seine Wiederwahl zum Parteichef war bereits eine beschlossene Sache.
Völlig überraschend und ohne vorherige Ankündigung traf jedoch Chruschtschow zu Beginn des Parteitages in Sofia ein und brachte es fertig, durch eine energische, persönliche Intervention den Wiederaufstieg seines erbitterten Opponenten zu verhindern.
Auch während des Dezember-Plenums (1959) übte Chruschtschow einen starken Druck auf die BKP aus, um einen vollständigen Sieg Tscherwenkows und eine Ausbootung seiner Vertrauensleute an der Spitze der BKP zu vereiteln. Es kam aber nur zu einer Kompromißlösung. Tscherwenkow wurde nicht zu einem offiziellen Alleinherrscher in Bulgarien gemacht, aber faktisch ist er das schon.
Ohne Zweifel hätte Chruschtschow, wenn er gewollt hätte, auch im Dezember 1959 wie 1958 sich in Sofia vollständig durchsetzen und sogar Tscherwenkow in die Wüste schicken können. Doch nahm er mit Absicht von einem solchen Schritt Abstand, denn er wollte offensichtlich keinen neuen Unruheherd in Bulgarien schaffen. Angesichts der weitgesteckten Pläne seiner internationalen Politik konnte Chruschtschow es sich nicht leisten, Komplikationen in einem Satellitenland hervorzurufen, die unvermeidlich entstanden wären, wenn Tscherwenkow und sein Anhang, die an sich die Parteiführung verkörpern, ausgeschaltet worden wären. •