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Kiew oder Moskau ? | APuZ 12/1960 | bpb.de

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APuZ 12/1960 Das Einwirken Hitlers auf Planung und Führung des Ostfeldzuges Kiew oder Moskau ? Maßlose Strategie

Kiew oder Moskau ?

Am 21. August 1941 beendete Hitler das wochenlange Ringen um die weitere operative Zielsetzung des Feldzuges mit einem massiven Befehl „Der Vorschlag des Heeres für die Fortführung der Operation im Osten vorn 18. 8. stimmt mit meinen Absichten nicht überein. Ich befehle folgendes: 1.) Das wichtigste, noch vor Einbrudt des Winters zu erreidtende Ziel ist nidtt die Einnahme von Moskau, sondern die Wegnahme der Krim, des Industrie-und Kohlengebiets am Donez und die Abschnürung der russischen Ölzufuhr aus dem Kaukasusraum, im Norden die Absdtlie-flung Leningrads und die Vereinigung mit den Finnen. Die operativ selten günstige Lage, die durdi Erreichen der Linie Gomel-Potsdtep entstanden ist, muß zu einer konzentrischen Operation mit den inneren Flügeln der H. Gr. Süd und Mitte unverzüglich ausgenutzt werden. Ihr Ziel muß sein, die sowjetische 5. Armee nicht nur durch alleinigen Angriff der 6. Armee hinter den Dnjepr zu drücken, sondern diesen Feind zu vernichten. . . . Dadurch wird die Sicherheit für die H. Gr. Süd . . , gegeben, östlich des mittleren Dnjepr Fuß zu fassen und die Operation in Richtung Rostow-Charkow mit der Mitte und dem linken Flügel weiterzuführen. Von H. Gr. Mitte sind hierfür ohne Rücksicht auf spätere Operationen so viele Kräfte anzusetzen, daß das Ziel, Vernichtung der 5. russischen Armee, erreicht wird, ... 4.) Die Einnahme der Halbinsel Krim ist von allergrößter Bedeutung für unsere gesicherte Ölversorgung aus Rumänien 2), . . . muß daher mit allen Mitteln, auch unter Einsatz schneller Verbände, angestrebt werden. 5.) Erst die enge Abschließung Leningrads und die Vernichtung der russischen 5. Armee .. . macht die Kräfte frei, um . . . die feindliche H. Gr. Timoschenko mit Aussicht auf Erfolg angreifen und schlagen zu können.“

Tags darauf erhielt das kritisierte OKH eine zehn Seiten lange operative „Studie" 3) aus der Hand Hitlers über grundsätzliche Fragen des Ostfeldzuges — eine Philippika voll verletzender Hiebe und Ungerechtigkeiten gegen v. Brauchitsch und das OKH. In dieser weitschweifenden Studie präzisierte Hitler seine sachliche Einstellung immerhin so, daß sie klar zutage trat. Und man muß gestehen: Sie war nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen! Aber hören wir ihn selbst!

Die endgültige Ausschaltung Rußlands als kontinentale Großmacht und Verbündeten Großbritanniens „kann nur erreicht werden, a) durch die Vernichtung der lebendigen Kräfte des russischen Widerstandes, b) durch die Inbesitznahme oder zumindest durch die Zerstörung der für eine Reorganisation der russisdien Wehrmadtt unentbehrlichen wirtschaftlichen Grundlagen . . . Die Erreichung dieser Ziele [Ukraine, Krim, Baku und Leningrad-Kronstadt! H. U. ] auf dem so gigantisdien Kriegssdtauplatz ist nur denkbar durdi . . . Zusammenfassen stärkster Kraft auf jenen Absdinitten, denen von der Führung eine entscheidende Bedeutung für den Angriff bzw. für die Durchführung der geplanten Gesamtoperation zuerkannt wird.

Diesem Gedanken entsprach bei Beginn des Feldzuges im Osten die ausgesprodtene Bildung eines Schwerpunktes in der Mitte der Front, nicht weil etwa in dieser Riditung weiterhin die entscheidende kriegs-beendigende Zielsetzung angenommen wurde, sondern weil man an diesem Punkt unter allen Umständen die feindliche Front aufbrechen und entsprechend den natürlichen und militärischen Gegebenheiten nach Norden und nach Süden hin aufzurollen entschlossen war. Es bestand kein Zweifel darüber, daß nach Erreichung einer bestimmten Linie — sie wurde von mir zunächst etwa am Dnjepr fixiert — ein allgemeiner Stopp dieser Heeresgruppe eintreten sollte, um die beiden Panzerarmeen nach Norden bzw. nach Süden hin zu entlassen mit der Aufgabe, zur schnellen Erledigung der der Nord-und Südgruppe gestellten Operation beizutragen.

Die — durch den späteren Ablauf der Operationen bestätigte — Hoffnung, bei einem weiteren Vorstoß in der Mitte besonders große Kräfte des Gegners schlagen und vernichten zu können, führte zu einer Fortsetzung dieser Angriffe [bis Jelnja und Roslawl H. U. ]. Leider wurde durch die schon dabei zu weit gestedtte Zielsetzung der Panzerverbände der Zwisdienraum zwisdien ihnen und den nachfolgenden Infanterie-divisionen so gedehnt, das kostbare Wodten verloren gingen, die gar nicht mehr der Vernidttung der lebendigen Kraft des Gegners nützten, sondern einfach dem Einholen der zu weit vorgepreschten Panzerverbände durdi die sidt mühselig nachkämpfende Infanterie zuzuschreiben waren. Dem Russen selbst gelang gerade dadurch die Rettung eines Teiles jener Verbände, die heute, mit Nachersatz versehen, wieder vor der Front dieser Heeresgruppe stehen.

Es ist nun klar, daß, wenn es auch der erste Aufmarsch ermöglichte, zu Beginn des Feldzuges planmäßig einen Sdiwerpunkt unserer Kraft mit allen Waffen zu bilden, im Laufe der wetteren Operationen ähnliche verstärkte Konzentrationen bei der gigantischen Ausdehnung der Front nur noch mit jenen Waffen unternommen werden konnten, die ihrem ganzen Wesen nach als genügend beweglich dafür allein geeignet sind. . . Luftwaffe und die motorisierten Verbände. . .

Dieser Krieg im Osten kann aber erfolgreich nur unter der Voraussetzung geführt werden, daß mot. -und Panzerverbände genau so wie die Jagd-und Bombengeschwader Waffen sind, die nur im Sinne der Durchführung des. Gesamtfeldzugsplanes eingesetzt werden. .. Es verfügt mithin über sie auch ausschließlich die Oberste Führung. Alle anderen Stellen erhalten sie nur zur Erfüllung der ihnen zugewiesenen Aufgaben abgestellt bzw. zugeteilt.“

Diese direkte Unterstellung der motorisierten Einheiten unter den Befehl des OKH bzw. OKW war allerdings ein untauglicher Versuch, den Verlust sämtlicher operativen Reserven als Führungsmittel wettzumachen. Zu diesem Zeitpunkt standen alle verfügbaren OKH-Reser-ven (21 Div.) an der Front. Drei weitere befanden sich noch in der Heimat bzw. beim Antransport. Solange es nicht möglich war, Truppen aus der Front herauszuziehen oder durch Neuaufstellungen in der Heimat für neue Reserven zu sorgen, blieb Hitlers Versuch eine papierene Konstruktion. Zum Begriff der operativen Reserve gehört nicht nur ihre motorische Beweglichkeit, sondern vor allem ihre rasche Herauslösbarkeit nach den jeweiligen Einsätzen.

Allerdings versprach dieser Unterstellungswechsel Hitler größere Kon-troll-und Eingriffsmöglichkeiten als bisher. Und darauf dürfte es ihm nicht zuletzt angekommen sein.

Hitlers unsteter Einfluß auf Gang der Operationen und Kräftehaushalt besaß allerdings schon seit Wochen verhängnisvoll großes Gewicht. Er machte sich oft weniger in konkreten Entschlüssen geltend als in ungeduldig mißtrauischem Dabeisein und einer wachsenden, kurzsichtigen Scheu des Obersten Befehlshabers vor operativen Risiken. So war die H. Gr. Süd nicht nur durch unglücklichen Ansatz ihrer Kräfte und starken feindlichen Flankendruck gehemmt. Die oberste Führung legte ihr weitere Bremsen an. Das zeigte drastisch der am 10. Juli vorgenommene, erste direkte Eingriff Hitlers, zwei Tage nach jener großen Besprechung über die Frage, ob die H. Gr. Mitte zur Unterstützung der Nachbargruppen nach Süden oder nach Norden ein-drehen solle. In dieser Besprechung hatte v. Brauchitsch vorgeschlagen, nach geglücktem Durchbruch mit Pz. Gr. 1 zur begrenzten Einkreisung westlich Kiew einzuschwenken. (Daraus entwickelte sich dann der Kessel von Uman.)

Nun stand aber die Panzergruppe 1 nach endlich geglücktem Durchbruch auf Berditschew und Shitomir (9. /11. Juli 1941) vor der unverhofften Chance, mit dem schnellen III. Armeekorps, gefolgt von der Nordgruppe der 6. Armee, bei Kiew einen Brückenkopf über den Dnjepr zu bilden und im Handstreich den strategischen Angelpunkt der Ukraine „zur Fortführung der Operation ostw.des Stromes“ zu gewinnen. Ohne Zweifel war das Unternehmen riskant. Auf beiden Durchbruchs-flanken setzte der Feind zu starken Gegenangriffen an. Die H. Gr. Süd war aber entschlossen diese Chance zu nutzen, zumal sie seit dem 9. Juli südlich des Durchbruchsraumes feindliche Rückzugsbewegungen erkannt hatte. Da befahl Hitler der Pz. Gr. 1 durch Funkspruch einzuschwenken und sich gegen Kiew nur defensiv zu verhalten.

Der an diesem Tage im Hauptquartier der H. Gr. Süd weilende Oberbefehlshaber des Heeres war zu keinem Einspruch gegen den durch die Lage überholten Befehl Hitlers zu bewegen . Wieder kam es zu einer jener peinlichen diskreten „Ermächtigungen“ für die Truppen-führer, eine als erfolgversprechende erkannte Chance unter voller persöhnlicher Verantwortung für jeden Rückschlag auf eigene Faust zu nutzen .

Da mit einer vorübergehenden Krise, die rückwärtige Hilfe erforderte, unter allen Umständen gerechnet werden mußte, verzichteten Pz. Gr. 1 und III. A. K. nun auf jeden Versuch.

Kiew fiel erst acht Wochen später. Bis dahin blieb Kiew starker Eckpfeiler und Versorgungszentrum für die 5. sowjetische Armee, die immer noch drohend und sehr aggressiv zwischen den vorrückenden Heeresgruppen Süd und Mitte stand.

Ob der Handstreich Erfolg gehabt und nicht unnötig knappe Kräfte gebunden hätte, ist eine Frage des Ermessens. Wesentlich für unsere Betrachtung ist die unzulässige Verlagerung der Kompetenz hierfür bis hinauf zum Führer, Reichskanzler und Obersten Befehlshaber der Wehrmacht.

Nun, fünf Wochen später, hatte sich das vernachlässigte Problem der Naht zwischen den vormarschierenden Heeresgruppen zu einer strategischen Frage erster Ordnung aufgebläht. Daß es überhaupt zu der für die Heeresoffensive so verhängnisvollen Alternative: Kiew oder Moskau? kam, war nicht nur die Folge des Kräftemangels und der ungünstigen Kräfteverteilung beim Aufmarsch. Versäumnisse während des Feldzuges und „Charakterfehler“ der obersten Führung traten noch hinzu.

Hitlers „Studie“ beschäftigte sich nach der Erörterung von Organisationsfragen mit der unbefriedigenden Lage bei H. Gr. Nord, die zu schwach war, um mit den verfügbaren Kräften Leningrad einzuschließen und gleichzeitig ihre immer weiter klaffende Ostflanke abzuschirmen. Geländeschwierigkeiten hatten eine unerwünschte Zersplitterung der auf Leningrad zielenden Stoßkeile erzwungen. Dabei war der schwache rechte Flügel auf der Höhe von Welikije Luki, Cholm, Staraja-Russja, Ilmensee auf offensive starke Abwehr geraten. „Infolge der Umstände, die — teilweise bedingt durch die Nichtbeachtung eines von mir bzw. vom OKW erteilten Befehls — eingetreten sind, ist z. Zt. die H. Gr. Nord ersichtlich nicht in der Lage, mit den ihr zur Verfügung stehenden 'Kräften genügend schnell den rechten Flügel umfassend auf Leningrad vorzuführen, daß mit einer sicheren Einschließung bzw. Vernichtung dieser Basis und der sie beschützenden russischen Kräfte in kürzerer Zeit geredtnet werden kann. Die Lage erfordert nunmehr nachträglich die beschleunigte Zuführung. . . . Je schneller die Heeresgruppe Nord ... in die Lage versetzt wird, . . .den russischen Gegner einzuschließen oder zu vernichten, um so schneller werden vor allem die mot. Kräfte dieser Heeresgruppe wieder frei, um zusammen mit den ihr von der Heeresgruppe Mitte zur Verfügung gestellten schnellen Verbänden der dann allein noch übrigbleibenden Aufgabe, nämlich dem Vormarsch der Heeresgrupe Mitte gegen Moskau, nützen und helfen zu können.“

Nun kam Hitler zu der Frage: »Kiew oder Moskau?“ Hinter diesem vereinfachenden Schlagwort verbirgt sich das operative Problem einer starken gleichzeitigen Flankenbedrohung für die vorgehenden Heeresgruppen Süd und Mitte durch eine zäh kämpfende, unter dem Namen „ 5. sowjetische Armee“ zusammengefaßte feindliche Kräftegruppe, deren westliche Spitze im Raum von Korosten (diesseits des Dnjepr) stehengeblieben war ohne Rücksicht auf ihre eigene Bedrohung. Dort, wo die beiden deutschen Heeresgruppen sich auf der „Naht" ihrer Front-abschnitte berühren sollten, befand sich ein mächtiger Balkon der Roten Armee, der durch offensive Abwehr die deutschen Flügelarmeen (bei H. Gr. Süd die 6., bei H. Gr. Mitte die 2. Armee) band und sogar zeitweise die Hilfe der viel zu knappen, kostbaren Panzerverbände erforderlich machte.

Dieser Kampf gegen flankierende feindliche Kräfte verbrauchte im Süden wie im Norden der H. Gr. Mitte unverhältnismäßig mehr Kraft und Zeit, als die oberste deutsche Führung erwartet hatte. Die Rote Armee war immer noch zu stark, zu zahlreich, zu kampfkräftig und zu aktiv, als daß man Teile von ihr ignorieren, an ihnen vorbeistoßen und nach Belieben später „auf sie zurückkommen“ konnte, wie es das operative Rezept des ursprünglichen Feldzugs-planes mit seinen drei Stichen in den russischen Raum vorgesehen hatte. Diese drei vorstoßenden deutschen Heeresgruppen waren, schlicht gesagt, zu schwach und für diese Art Kriegsführung zu schlecht gerüstet, um sich durch gestaffelte Flügel ein solches Ignorieren leisten zu können. Und sie waren infolge der mangelnden bzw. ungeeigneten Motorisierung für schnelle Aktionen viel zu wenig beweglich. So kam es, daß die ausgesparten Räume zwischen den drei Heeresgruppen immer größere operative Bedeutung erhielten und dem angreifenden deutschen Ostheer schließlich frontales Vorgehen aufgezwungen haben, weil es selbst bedroht war, statt, wie beabsichtigt, nur den Feind zu bedrohen.

Die oberste Führung hat sich ganz allgemein lange dagegen gesträubt, dieses Faktum anzuerkennen und ihm Rechnung zu tragen. Das erklärt weitgehend jene Phase der Entschlußlosigkeit, des Hinundherziehens zwischen Hitler und dem OKH ab Mitte Juli, des Austauschs von scharf formulierten Denkschriften, der sich überstürzenden Herausgabe von Weisungen und diese korrigierenden Ergänzungen zu Weisungen eines auch für die mittlere Führung unverkennbaren Schwankens zwischen verschiedenen Entschlußmöglichkeiten, deren keine erfaßt wurde, bis die Zeit unabweisbar drängte und man sich nun mit nervöser Gereiztheit in die Haare geriet. Denn das eine mußten alle an diesem Streit Beteiligten erkennen: Der beabsichtigte — und vom Kriegsplan her unerläßliche Blitzkrieg — kam schon vor Moskau und vor Kiew in Zeitnot. Aus den verschiedensten Gründen drohte das Gesetz des Handelns auf den Feind überzugehen.

Von daher wird die Schärfe dieser Führungskrise auf der Höhe der Schlachtensiege verständlich. Es ging um mehr als um den Besitz von Kiew oder von Moskau, auch für Hitler, als er das Zusammenwirken von H. Gr. Mitte und H. Gr. Süd auf ihrer imaginären „Naht" forderte „Ebenso wichtig, ja entscheidender, ist aber, auch die Bereinigung der Situation zwischen der H. Gr. Mitte und der H. Gr. Süd. Hier bietet sich eine Gelegenheit, wie sie nur in den seltensten Fällen einer Krieg-führung vorn Schicksal geschenkt wird. In einer tiefen Einbuchtung steht der Gegner nahezu 300 km tief, dreieckförwig uwfaflt durch 2 deutsche Heeresgruppen. . . . Der Einwand, daß damit Zeit verlorengeht und vielleicht der Angriff auf Moskau zu spät stattfinden könnte, oder daß etwa die Panzerverbände dann aus technischen Gründen nicht wehr in der Lage wären, diese Aufgabe zu erfüllen, ist nicht stidthaltig; denn nach der Vernichtung der die redtte Flanke der H. Gr. Mitte nach wie vor bedrohenden russischen Kräfte wird die Aufgabe, gegen Moskau vorzustoßen, nicht schwieriger, sondern wesentlich leichter sein. . . . Es ist eine der sich selten bietenden Gelegenheiten, wit hoher Sicherheit eine starke feindliche Kraft vernichten zu können und dabei die Ausgangsbasis für die weiter gedachten eigenen Operationen zu verbessern, ja dawit überhaupt unumgänglich notwendigen Voraussetzungen hierfür zu schaffen.“

Die von Hitlers Ideen abweichenden operativen Absichten des OKH lassen sich weitgehend aus dessen Operationsvorschlag vom 18. August 1941 ablesen Was ihn von Hitlers Vorstellungen unterschied, war keineswegs nur die andere Reihenfolge der Ziele. Ihm lag auch eine andere, in vieler Hinsicht wesentlich realistischere Beurteilung der Lage zugrunde, deren eigentliche Schwierigkeiten Hitler in seiner „Studie“ doch z. T. nur übersprungen hatte. Hitlers Behauptung ging entschieden zu weit, die feindliche Front vor der H. Gr. Mitte sei bereits im erwarteten Sinne „aufgebrochen“, „zersprengt", so daß man nun im wesentlichen ungestört nach rechts und links „aufrollen“ könne. Trotz immenser Verluste in den sogenannten Kesselschlachten, deren letzte im Großraum von Smolensk Juli bis 5. August) laut Wehrmachtsbericht rund 310 000 Gefangene erbracht hatte, zeigte die Rote Armee eine überraschende Kraft zu erbitterten Gegenangriffen (Jelnja, Roslawl) und starken Einbrüchen (Staraja Russja), obwohl man ja nun z. T. schon weit hinter der „Stalin-Linie" stand. Gewiß brachte der Feind keine zusammenhängende Front zustande. Aber auch die Deutschen mußten sich oft nur mit dünnen Sicherungen behelfen. Dem deutschen Ostheer erging es mit der Roten Armee wie weiland Herkules mit der lernäischen Hydra. Für eine zerschlagene sowjetische Armee standen zwei neue auf. Halder hat die besorgniserregenden Aspekte dieser Situation am

August sehr eindrucksvoll geschildert 10) — zweifellos in einer vorübergehenden depressiven Stimmung. Aber von ihr wurden auch andere Heeresführer schon damals hin und wieder befallen 11): „Ganz gering sind die Ergebnisse der letzten Angriffstage bei Nord. An den von Angriffsbewegungen nicht betroffenen Fronten ist Erschöpfung. . . . Unsere letzten Kräfte sind ausgegeben. Jede Neugruppierung ist ein Verschieben auf der Grundlinie innerhalb der Heeresgruppen. Das dauert Zeit und verbraucht Kraft von Menschen und Maschinen. Daher Ungeduld und Nervösität der höheren Führung und zunehmende Neigung, in alle Einzelheiten hineinzureden." . . . „In der gesamten Lage hebt sich immer deutlich(er) ab, daß der Koloß Rußland, der sich bewußt auf den Krieg vorbereitet hat mit der ganzen Hemmungslosigkeit, die totalitären Staaten eigen ist, von uns unterschätzt worden ist. Diese Feststellung bezieht sich ebenso auf die organisatorischen wie auf die wirtschaftlichen Kräfte, auf das Verkehrswesen, vor allem aber auf die rein militärische Leistungsfähigkeit. Wir haben bei Kriegsbeginn mit etwa 200 Divisionen gerechnet. Jetzt zählen wir bereits 360. Diese Divisionen sind sicherlich nicht in unserem Sinne bewaffnet und ausgerüstet, sie sind taktisch vielfach ungenügend geführt. Aber sie sind da, und wenn ein Dutzend davon zerschlagen wird, dann stellt der Russe ein neues Dutzend hin. Die Zeit gewinnt er dadurch, daß er nahe an seinen Kraftquellen sitzt, wir immer weiter von ihnen abrücken. So ist unsere auf größte Breite auseinandergezerrte Truppe immer wieder den Angriffen des Feindes ausgesetzt. Diese haben teilweise Erfolg, weil eben auf den ungeheuren Räumen viel zu viele Lücken gelassen werden müssen.“

Am gleichen Tag (11. 8. 41) registrierte der deutsche Generalstabschef übrigens den ersten gemeldeten Fund einer bisher unbekannten ausgezeichneten russischen Generalstabskarte, die den deutschen Nachdrucken der sehr ungenauen, überholten Karte 1: 80 000 bzw. 1: 250 000 weit überlegen war.

Das OKH sah sich durch erkannte Massierungen und verstärkte Befestigungsanlagen auf dem Wege nach Moskau in seiner alten operativen Absicht bestätigt, die Entscheidung gegen die Rote Armee vor der Hauptstadt zu erzwingen. „Wenn es gelingt, diese Feindkräfte vernichtend zu schlagen, dann wird der Russe nicht mehr in der Lage sein, seine geschlossene Verteidigungsfront aufzubauen. ... Die vorgeschlagene Operation kann nur zum Erfolg geführt werden, wenn folgerichtig die Kräfte der H. Gr. Mitte einheitlich auf dieses eine Ziel zusammengefaßt werden unter Hintansetzung anderer, für den operativen Erfolg nicht entscheidender taktischer Einzelhandlungen. Anderenfalls werden Zeit und Kräfte nicht ausreichen, die lebendigen Kräfte und die Kraftquellen des Feindes vor der H. Gr. Mitte noch in diesem Jahre entscheidend zu treffen. Das aber muß das Ziel der militärischen Führung bleiben. H. Gr. Süd und H. Gr. Nord werden mit ihren Kräften die ihnen gestellten Aufgaben allein lösen können."

Für die Offensive auf Moskau führte das OKH weiter an: Die verbleibenden zwei Monate günstiger Witterung bis Ende Oktober reichten nur noch für eine große Operation, ebenso die Leistungsfähigkeit der aus Zeitmangel nur behelfsmäßig aufgefrischten schnellen Verbände. Bei dieser zu doppelter Umfassung gruppierten Operationsgruppe gegen Moskau sollte der rechte Flügel durch eine von mot. -und Panzereinheiten geschützte, staffelförmig vorgehende Infanterie-armee gedeckt werden, um den Angriff gegen weitere Bedrohung aus Süden abzuschirmen. Da H. Gr. Mitte und H. Gr. Nord ebenfalls zu diesem Zeitpunkt angreifen sollten, erwartete das OKH das Ausbleiben bedrohlicher starker sowjetischer Flankenangriffe, denn die Rote Armee würde im wesentlichen überall gebunden sein.

Das OKH fand für seine Ansicht unter Hitlers engsten militärischen Mitarbeitern entschiedene Bundesgenossen: Jodl und Warlimont. Hitler stand in diesen Tagen allein. Warlimont hat auf dem Höhepunkt der Krise im Kriegstagebuch des OKW ein sehr klares Konzentrat der zugunsten einer Offensive auf Moskau sprechenden Überlegungen niedergeschrieben. Er kam zu dem Schluß „Das Ostheer ist stark genug, um den Heeresgruppen Nord und Süd die Erfüllung ihrer Aufgabe aus eigener Kraft anzuvertrauen und gleichzeitig mit der H. Gr. Mitte den entscheidenden Stoß auf Moskau zu führen. Voraussetzung ist, daß auf einladende Teilerfolge (z. B. Südost-Stoß der Pz. Gr. 2) verzichtet wird und erforderlichenfalls örtliche Krisen zu Gunsten des Gesamterfolges durchgestanden werden.“

Die große Frage war aber: Würde es wirklich bei „örtlichen Krisen" bleiben? Die Zahl von 665 000 Gefangenen im Kessel von Kiew läßt einen gewissen Schluß darauf zu, was in jenem Balkon zwischen H. Gr. Süd und H. Gr. Mitte bzw. vor deren linkem Flügel stand. Man beobachtete zwar als Folge des Kessels von Gomel-Klinzy (rd. 75 000 Gefangene) gegen Ende August Rüdezugsbewegungen im Prip-jet-Raum und erwartete davon eine Erleichterung für die kritische Lage an den inneren Flügeln der H. Gr. Süd und der H. Gr. Mitte, aber die Gefahr war damit nicht behoben.

Die komplizierte Vorfrage für die scheinbar so einfache Alternative . Kiew oder Moskau" lautete: Waren die drei Heeresgruppen überhaupt in der Lage, ihre wichtigen Aufgaben ohne gegenseitige Unterstützung zu erfüllen? Wenn nicht — was dann?

Gegenüber dem ursprünglichen Operationsplan hatte sich die Lage insofern verschoben, als eigene Schwäche und die unerwartet große Stärke des Gegners zu einer Revision der Ziele und Zielrichtungen zwangen. Ende August stand fest, daß die „Wolgalinie" in diesem Jahr nicht mehr erreicht werden konnte. Die Schwächen der beiden flankierenden Heeresgruppen machte es sogar fraglich, ob sie ohne ausreichende Unterstützung durch die H. Gr. Mitte ihre „Nahziele“ Donezbecken und Leningrad erreichen würden. Das OKH behauptete, sie sei dazu in der Lage. Hitler bestritt es mit Vehemenz.

Es wäre Aufgabe einer eigenen gründlichen Untersuchung, an Hand alles erreichbaren Materials die Schwankungen in Lagebeurteilung und Operationsabsichten der obersten Führung während jener Wochen und Monate gewissenhaft nachzuzeichnen. Das heute bekannte Bild des Sommerfeldzuges 1914 würde sich dann nicht unwesentlich verändern.

Zu den bedenklichsten Faktoren gehörte ohne Zweifel Hitlers unsteter Charakter.

Das eigentliche Beunruhigende an Hitlers militärischer Tätigkeit war ihre kaum zu entwirrende dilettantische Mischung richtiger und falscher Einsichten, ihre ungeduldige Sprunghaftigkeit, ihr Wechsel zwischen überkühnen und ängstlich-vorsichtigen Methoden und Plänen. Auf der einen Seite plante Hitler zwei exentrische Operationen nach Norden und — mit riesiger, kaum zu deckender Flanke! — nach Südosten bis Baku. Ein überaus kühnes Unterfangen! Auf der anderen Seite forderte er eine vorsichtigere, weniger weitgreifende Taktik bei den Kessel-schlachten.

Am 22. Juli, auf der Höhe des militärischen Triumphes und voller Siegesgewißheit, erteilte Hitler den Heeresgruppen folgende Aufträge: H. Gr. Süd vernichtet die sowjetische Südfront (Budjonny), erobert dann mit Hilfe von Pz. Gr. 2 (Guderian) Ukraine, Krim und Kaukasien. H. Gr. Mitte (ohne Pz. Gr. 2 und 3) vernichtet allein mit infanteristischen Kräften den zwischen Smolensk und Moskau stehenden Feind und erobert die Hauptstadt. H. Gr. Nord schließt mit Hilfe von Pz. Gr. 3 Leningrad ein und reicht den Finnen am Ladogasee die Hand. Halder hiel ihm am Tage darauf Vortrag, bemühte sich, Hitler die Teilung der H. Gr. Mitte auszureden und eine realistischere Beurteilung der Lage beizubringen.

Als Brauchitsch am 23. Juli Einspruch gegen die befohlene Abgabe der beiden Panzergruppen der H. Gr. Mitte erhob, erklärte Hitler nach einer Niederschrift des Wehrmachtführungsstabes: „Führer hebt gegenüber den vom ObdH geäußerten Schwierigkeiten die Grundzüge besonders hervor, die auf Grund bisheriger Erfahrung für den Einsatz der schnellen Verbände int Kampf gegen Rußland be achtet werden wüßten. Bei der hartnäckigen Verteidigung des Gegners mit seiner rücksichtslosen Führung müsse das Operieren mit weitgesteckten Zielen zurücktreten, solange der Feind noch über genügend starke Kräfte zum Gegenangriff verfügt. Man müsse sich stattdessen mit eng angesetzten Umfassungsbewegungen begnügen um damit den Infanterie-Divisionen die Möglichkeit schnellen Eingreifens zur Unterstützung und baldigen Herauslösens der schnellen Divisionen für neue Ziele zu geben."

Nun trugen die schnellen Truppen tatsächlich die Hauptlast und standen bei der Kesselbildung im gefährlichsten Abschnitt, unter doppeltem Feinddruck von innen und außen. Es kam auch zu überkühnen Operationen, die dann zu Krisen führten wie Guderians Stoß auf Jelnja, dessen prekäre Lage Hitler soweit verheimlicht wurde, wie es irgend ging. Konnte man aber aus einzelnen Übertreibungen ein generelles Rezept für weitere Operationen ableiten? Die Zeit eilte doch. Sechs Wochen später war Hitler überglücklich, als der Riesenkessel von Kiew durch einen außerordentlich riskanten Flankenmarsch Guderians geschlossen werden konnte.

Hitler hatte sich vom OKH und seinen eigenen militärischen Beratern Ende Juli 1941 doch davon überzeugen lassen, daß der Zeitpunkt für ein Abdrehen der beiden Panzergruppen der H. Gr. Mitte auf Gomel-Donez und Waldai-Höhen recht ungünstig sei. So kam es zu dem ungewöhnlichen Widerruf einer „Führer-Weisung." Aus dem von Hitler befohlenen Stehenbleiben der H. Gr. Mitte bei Smolensk zwecks Herausziehen der schnellen Truppen und Instandsetzung wurde aber nicht viel, weil die Rote Armee von sich aus zum Angriff überging. Diese Stagnation des Vormarsches hatte keineswegs den Charakter einer Ruhepause, sondern führte zu einer ganz unerwünschten Verzettelung der Kräfte in Front und Flanken. Weder konnte das OKH bzw. Bode die Schwerpunkt-Gruppe auf Moskau weiterführen, noch konnte Hitler aus ihr Kräfte abziehen. Ärger und Mißtrauen mischten sich mit einem immer noch verhängnisvoll trügerischen Feindbild. Der deutsche Feindnachrichtendienst erwartete nun vom Durchstoßen einer neuen — entlang Dnjepr, Desna, oberer Wolga, Waldai und Luga entstehenden — sowjetischen Befestigungslinie die Entscheidung. In einer Über-sicht nach dem Stand v. 27. Juli 1941 hieß es: „Die dem Feind notwendigerweise gewährte Ruhepause wird einen gewissen planmäßigen 'Aufbau einer neuen Abwehrfront begünstigen. Bricht jedoch der russische Widerstand an dieser Front zusammen, so verliert das russische Heer endgültig den notdürftig aufrechterhaltenen Zusammenhang und die für seinen Nachschub lebenswichtigen Basen.“ Die Gesamtstärke der in Front stehenden Roten Armee wurde auf eine Gefechtskraft von nur noch 80 Schützendivisionen, 13 Pz. -und 2— 3 Kavalleriedivisionen geschätzt.

Diese rosige Lagebeurteilung bildete für das OKH einen weiteren Grund, im raschen Stoß auf Moskau die Entscheidung zu suchen, für Hitler dagegen ein Argument mehr, seinen zeitraubenderen weiträumigeren Zielen nachzugehen: systematische Vernichtung der feindlichen Truppen, Inbesitznahme der wehrwirtschaftlichen, strategisch und verkehrsmäßig interessanten Randzonen. In seinem Drängen nach Leningrad wird man allerdings nicht unbedingt einen strategischen Fehler erblichen können. Die spätere Entwicklung hat gezeigt, wie verhängnisvoll sich dasHängenbleiben vor diesem Ziel auf die Gesamt-operation auswirken konnte bzw. mußte. Die Entwicklung hat auch das OKH widerlegt, das mehrfach, auch noch am 18. August 1941, unverklausuliert erklärte, die H. Gr. Nord sei allein imstande, ihre wichtige Aufgabe zu erfüllen. Sie war aber von Anfang an zu schwach, und Möglichkeiten, sie aus der Heimat bzw.den besetzten Gebieten zu verstärken, blieben ungenutzt. * Die kompakte Opposition seiner Militärs hat Hitler zwar unsicher gemacht, aber nicht bekehrt. Er suchte nun Kontakt mit der mittleren Führung, um sich zu orientieren und Bundesgenossen zu gewinnen. Am 25. Juli hatte er seinen Stabschef zu H. Gr. Mitte geschickt. Anfang August besuchte er selbst die Hauptquartiere von H. Gr. Süd und Mitte.

Am 4. August erschien Hitler, begleitet von Keitel und Jodl, bei der H. Gr. Mitte. Die Führer der beiden Panzergruppen (Guderian, Hoth) meldeten, daß sie bei ausreichendem Motorenersatz ihre Panzer bis zu 70 ’/o des Anfangsbestandes zur Verwendung für weiträumige Operationen wiederherstellen könnten. Nach dem Kriegstagebuch der H. Gr. Mitte antwortete Hitler darauf mit einer weitschweifigen Erklärung: „Die Pläne Englands lassen sich z. Zf. nicht übersehen. Wird sich der britische Gegner weiterhin auf seinen Zerntürbungsfeldzug beschränken oder wird er versuchen, Kräfte auf der iberischen Halbinsel bzw. in Westafrika zu landen? Gegen solche Landungsversuche oder anderweitige Notwendigkeiten muß man schnell bewegliche Reserven bereithalten. Hierzu dienen die beiden Pz. Divisionen in der Heimat und die Neuaufstellung von Panzerverbänden. Letztere beanspruchen vorläufig die Masse der erzeugten Motoren. Trotzdem wird der Entschluß erwogen, zu Gunsten des Ergänzungsnachschubs an die Ostfront auf eine Monatsrate der Motoren-Produktion für die Neuaufstellungen zuzüglich 30% dafür nicht benötigter Motoren zu verzichten. Dadurch würden einmalig 400 neue Motoren für die Pz. Gruppen 2 und 3 zur Verfügung stehen. Die Entscheidung kann erst nach Abschluß der eingeleiteten Klärung verschiedener Fragen fallen.“

Das ist typisch für Hitler! Um seine Absichten im Nahen Osten und gegen Nordafrika geheimzuhalten, für die er Panzermotoren sparte, lieferte er seinen z. T. vollständig eingeweihten Zuhörern ein recht dürftiges strategisches Phantasiebild. Er knauserte mit den Motoren ebenso wie vier Wochen vorher mit den Panzern. Guderian meldete prompt für sich allein einen Bedarf von 300 Stück an — sicher etliche zu viel, aber er blieb damit immer noch weit mehr im Rahmen als sein oberster Befehlshaber, der den Nachschub bremste, anstatt für Rüstung und Nachschub zu sorgen.

Vieles von dem, was Hitler an politischen und wehrwirtschaftlichen Argumenten in seinen weitschweifigen Erklärungen benutzte, nahm er nur zu Hilfe, weil er sich in der militärischen Fachsprache vor geschulten Soldaten unsicher fühlte. Sein Vokabular entstammte einer anderen Welt. Und vieles davon haben seine militärischen Zuhörer dann zu vordergründig (d. h. zu „politisch“) verstanden. Im Verlauf der Besprechung bemerkte Hitler sehr aufschlußreich, die Gesamtoperationen seien glücklicher verlaufen, als angesichts der überraschenden Mengen an sowjetischen Panzern und Flugzeugen zu erwarten war. Wäre er „vor Beginn des Feldzuges darüber unterrichtet gewesen, so wäre ihm der Entschluß zum notwendigen Angriff wesentlich erschwert worden.“ Er war ausreichend unterrichtet.

Hitler begann nun auch vor dem Stab der H. Gr. Mitte seine Ziel-räume zu numerieren: Leningrad, Ukraine-Donezgebiet, Moskau. Man sei rascher als erwartet vorangekommen. Deshalb habe er das vorgesehene Einschwenken der Panzergruppen noch verschoben. Er hielt vor allem ein Abdrehen starker Teile der H. Gr. Mitte nach Südosten für notwendig. Er habe auch eine begrenzte Offensive auf Moskau „kurz erwogen“. Bock erwiederte sehr akzentuiert, damit werde man wohl die Hauptmacht des Feindes treffen und die Waffenentscheidung herbeiführen, denn hier sei von den Sowjets alles eingesetzt, was irgend greifbar wäre. Eine solche Offensive setze aber eine entsprechende Stärke auf deutscher Seite voraus. Hitler wich aus, er müsse sich den endgültigen Entschluß noch vorbehalten.

Zwei Tage später, am 6. August, traf Hitler bei H. Gr. Süd ein. Fm. V. Rundstedt sprach ihn auf die strategischen Ziele an. Er erhielt die gleiche Antwort wie v. Bock . Daß Hitler bei dieser Gelegenheit die Sorge der H. Gr. Süd um ihren nachhängenden linken Flügel vorgetragen wurde, und daß seine operativen Absichten darin eine gewisse Bestätigung fanden, steht außer Frage.

Halder führte nun eine offene klärende Aussprache mit Jodl herbei . Die Gesprächsnotizen enthüllen ebenso viel über die Absichten des OKH wie über dessen Taktik Hitler gegenüber: „Große Ziele: a) Wollen wir den Feind schlagen oder wirtschaftliche Ziele verfolgen (Ukraine, Kaukasus)? Jodl: Der Führer hält wohl beides gleichzeitig für möglich, b) Bezüglich der einzelnen Ziele führe ich aus, daß das Ziel Leningrad mit den dafür angesetzten Kräften erreichbar ist. Wir brauchen und dürfen für dieses Ziel nichts ausgeben, was wir für Moskau gebrauchen. Für die Flanke Leeb besteht keine Gefahr von den Waldai-Höhen her. Die Frage Moskau oder Ukraine oder Moskau und Ukraine muß nach der Seite des und beantwortet werden. Wir müssen es, weil wir sonst die Kraftquellen des Feindes nicht vor dem Herbst zum Versiegen bringen. Wir können es nach dem überlegenen Siege von v. Rundstedt [bei Uman. H. U. ] und nach dem absinkenden Wert des Feindes. Die Gruppe Korosten ist kein Operationsziel. Sie muß zum Abfaulen gebradu werden, c) Wir dürfen uns mit unseren operativen Gedanken nicht in das Schlepptau der Taktik des Feindes begeben. Wenn wir seinen Nadelstichen in der Flanke nachlaufen, tun wir ihm den größten Dienst. Wir müssen den Erfolg suchen im Zusammenhalten der Kräfte für weiträumige entscheidende 'Ziele treffende Operationen und dürfen uns nicht mit nebensächlichen Zielen verplempern. Gesamteindruck: Jodl ist von der Richtigkeit dieser Gedanken beeindruckt und wird von sich aus in dieser Richtung mitziehen. Für uns ist die Abstimmung auf zwei Gedanken notwendig: Bod: alle Kräfte für Moskau (Frage an den Führer, ob er darauf ver-zidtten kann, vor Herbst Moskau zu liquidieren?) und Bagatellisierung der Gruppe Korosten.“

Die folgenden Wochen zeigten, daß sich die „Gruppe Korosten“, die 5. Sowjet-Armee weder abschütteln noch „bagatellisieren" ließ. Die deutschen Heeresgruppen waren immer um einiges zu schwach, um sich für den angestrebten entscheidenden Schlag freimachen zu können. Mal fehlte es an Reserven, mal an Ersatz, mal an Nachschub, vor allem aber an zahlenmäßiger Stärke.

Die nach verschiedenen Richtungen ziehenden obersten Führungsinstanzen Hitler und OKH haben während jener Wochen und Monate oft Versteck gespielt . Und jede Partei mißtraute der anderen. Hitler wirkte direkt oder durch Mitarbeiter auf Heeresgruppen und Armeen ein. Das OKH handelte meist lautloser, im schweigenden Einverständnis mit einer untergeordneten Instanz, die man nur gewähren zu lassen brauchte, damit es bei der angestrebten Richtung blieb.

Nun trat auch Jodl aus seiner Reserve mit einer eigenen „Lagebeurteilung“ . Sie gipfelte im Vorschlag eines Schwerpunktangriffs auf Moskau für Ende August. Guderians Panzergruppe könne später nach Südosten in Richtung Don abdrehen. Bis dahin müßten die beiden H. Gr. Süd und Nord allein fertig werden. Hitler scheint daraufhin wieder unsicher geworden zu sein. Er gab am 12. August eine korrigierende Ergänzung zur Weisung Nr. 34 heraus. Darin stellte er seinen Befehl zum Eindrehen der Pz. Gr. 2 und 3 zurück, forderte lediglich eine Verlängerung des linken Flügels nach Norden, um H. Gr. Nord zu entlasten. „Unabhängig davon muß versucht werden, der H. Gr. Nord die eine oder andere Division als Reserve zuzuführen.“ Audi das Operationsziel war bescheidener. Es hieß vorerst nur: Einschließung Lenin-grads und Kontakt mit den Finnen.

Dann trat aber ein Ereignis ein, das Hitlers operativer Flanken-empfindlichkeit recht zu geben schien. Von den Waldai-Höhen her erzielten mehrere sowjetische Divisionen durch überraschenden Angriff einen tiefen Einbruch am rechten Flügel der H. Gr. Nord, die deshalb ein schnelles Korps aus ihrem Angriff in nordöstlicher Richtung herausziehen mußte und weitere Hilfe anforderte, während die H. Gr. Mitte selbst im Jelnja-Bogen und in ihrer Südflanke Angriffe abwehren mußte. Diese Umgruppierungen und Verschiebungen von einem Frontabschnitt zum anderen kosteten unersetzliche Zeit und entlasteten den Gegner. Immer wieder trat — vom Feind erzwungen — auf taktischer Ebene ein, was aus operativer vom OKH mit erbitterter Heftigkeit bekämpft wurde: das Abweichen vom Stoß in die Tiefe. Theorie und Praxis stießen sich hart im Raum.

So griff Hitler am 15. August mit scharfem Befehl ein: „Bei der H. Gr. Mitte sind weitere Angriffe in Richtung auf Moskau zu unterlassen. Der Angriff der H. Gr. Nord muß in kürzester Frist zu m Erfolg geführt werden. Erst dann ist an die Wiederaufnahme des Angriffs gegen Moskau zu denken.“

Wieviel Zeit bei diesem Hin und Her versäumt wurde, ist eine noch nicht genauer untersuchte Frage. Blumentritt setzt sie in Bezug auf die H. Gr. Mitte mit sechs Wochen an (etwa 15. 8. — 30. 9. 41) Das wäre mehr als ein Viertel der günstigen Jahreszeit! B 9. 41) 28). Das wäre mehr als ein Viertel der günstigen Jahreszeit! Bedenkt man andererseits, daß die Phase nach der Kesselschlacht im Raum von Smolensk mit so vielen Flankenoperationen, „Aufräumungsarbeiten“ und Abwehrkämpfen angefüllt war, daß es nicht einmal gelang, allen schnellen Einheiten wenigstens 8— 10 Tage Regeneration von Mensch und Material zu geben, so scheint diese Dauer recht hoch gegriffen. Als weiteres Hemmnis kam die seit Mitte Juli ins Stocken geratene Nachschubentwidclung hinzu. „Die Versorgungslage begann die operativen Planungen hemmend zu beeinflussen.“ 29) Die Distanzen wuchsen und die Schwierigkeiten, sie zu überwinden, stiegen mit immer tieferem Eindringen in den verkehrsfeindlichen russischen Raum. Das deutsche Ost-heer entfernte sich mit jedem Schritt von seinen Nachschubbasen. Die Rote Armee dagegen kam ihren eigenen immer näher.

Man hat dem OKH vorgeworfen, die Frage „Kiew oder Moskau“ nicht rechtzeitig geklärt zu haben. Das ist bis zu einem gewissen Grade die Folge eier nachträglichen Überbewertung dieser Alternative. Die Alternative ist in dieser Schärfe ja erst entstanden, als man gezwungen war, etliche Trugbilder über Bord zu werfen und zur Kenntnis zu nehmen, daß die zum Teil schon während der Aufmarschplanung erkannten Mängel des Ostheeres in Kräfteverteilung und Ausrüstung nun den Erfolg in Frage zu stellen begannen. Damit erhielt die Frage der gegenseitigen Unterstützung und der offensiven Flankendeckung bei allen drei Heeresgruppen unerwartet zwanghaften Charakter. Das Trugbild eines „Spaziergangs zur Wolga“ hatte so lange dominiert, bis es zu spät war, die Kräfte dieser in Schwierigkeiten geratenen Heeresgruppen durch neue Divisionen und Regimenter, durch neue Panzer und Geschütze, neue geländegängige Fahrzeuge und Transportmittel in größerer Zahl und vor allem rechtzeitig zu stärken, so wie das hier der an sich schwächere Gegner in verzweifelten Anstrengungen unablässig tat. Daß das Ostheer auf dem Höhepunkt des Feldzugs aus Mangel an Voraussicht und Vorsorge, aus Mangel an Urteilskraft und Elastizität schwächer war, als es hätte sein können, ist kein Zufall, sondern Frucht jener verantwortungsund gewissenlosen Leichtfertigkeit, mit der das Dritte Reich seine Kriege heraufbeschwor und dann auch führte. Und sie war es auch, die noch vor der Katastrophe einen Teil der qualifizierten Spitzenkräfte auf allen Gebfeten — nicht nur bei der Generalität — zerrieb und verbrauchte. Das kündigte sich in dieser Führungskrise unmißverständlich an.

Das Angriffsverbot für die H. Gr. Mitte, die dem Ende ihrer dramatisch verlaufenen Auffrischungspause entgegensah, bewog, v. Brauchitsch und Halder zu einem nochmaligen energischen Versuch, Hitler umzustimmen. Das geschah mit jener bereits erwähnten Denkschrift vom 18. August 1941. Die Wochen während des durch Nachschub-schwierigkeiten und eigenes Ruhebedürfnis erzwungenen Stillstandes hatten die oberste Führung bei aller Siegesgewißheit zur Erkenntnis gebracht, daß nicht alle Ziele angestrebt werden konnten, und zu der sehr viel bitteren Einsicht in die Grenzen der eigenen Manöverierfähig-keit. Zahllose unumgängliche und unvermeidbare Hemmnisse schränkten sie zu sehr ein. In seiner Ungeduld und theoretischen Betrachtungsweise übersah Hitler diese Schwierigkeiten allzu oft.

Im ganzen dürfte die inzwischen erreichte Raumtiefe den Erwartungen vor Feldzugsbeginn entsprochen haben. Nicht erfüllt hatten sich die Hoffnungen auf Niederbruch der Roten Armee und Befriedung des Operationsgebietes 30). Das aber war ausschlaggebend. Und hier ergaben sich in Beurteilung und daraus resultierenden Absichten die schwersten Differenzen zwischen Hitler und dem OKH.

Das OKH und mit ihm die Mehrzahl der militärischen Führer in der obersten Führung waren der Ansicht, mit exzentrischen Operationen der Panzergruppen begebe man sich ins Schlepptau der feindlichen Strategie, die flankierende Kräfte rücksichtslos stehen ließ, um das Ostheer von seinen Zielen abzubringen und aufzuhalten. Sie waren überzeugt, daß ein konzentrischer machtvoller Stoß auf Moskau diese unbequemen, störenden feindlichen Flankengruppen in den Sog einer solchen Entscheidungsschlacht reißen würde. Warum sollte sich die Rote Armee anders verhalten als die Heere anderer Staaten, wenn deren Zentrum vom Feind bedroht schien?

Die eigentliche Schwierigkeit lag aber in dem aus Kräftemangel bisher vernachläßigten Zusammenhang zwischen H. Gr. Mitte und H. Gr. Süd. Hätte H. Gr. Mitte nur für sich allein die Frage entscheiden können: Moskau sofort oder erst nach Entlastungsangriff auf Gomel-Klinzy?, wäre alles leichter gewesen. So aber verband sich mit dem Problem einer (von Jodl vorgeschlagenen) Entlastungsoffensive mit begrenztem Ziel die Bedrängnis der H. Gr. Süd an deren linken, immer noch vor dem Dnjepr stehenden Flügel. Halder hat selbst in seinem Gespräch mit Jodl die feste Überzeugung geäußert, daß in diesem Herbst unbedingt beide Ziele erreicht werden müßten: Donez und Moskau. Konnte aber H. Gr. Süd allein vorankommen? Dies muß heute stark bezweifelt werden.

Die Kernfrage spitzte sich in den folgenden Tagen dahin zu: Kann man den zwischen Gomel und Kiew stehenden Feind mit taktischen Angriffen zurückdrängen und im Zaum halten, bis auch er in den Sog der Schlacht um Moskau gerissen wird? Oder ist er dafür zu stark, mit-• hin fähig, durch Flankenangriff die eigene Operation auf Moskau ernsthaft zu stören, ja darüber hinaus die H. Gr. Süd weiterhin in ihrem Vormarsch zu bedrängen? Hat ein neuer riesiger Kessel im Raum zwischen Poltawa-Gomel-Kiew nur taktische oder vielmehr operative Bedeutung? Dieses Problem stürzte viele der Beteiligten in Unsicherheit und Zwiespalt. Wir wissen von Kluge (4. Armee), daß er aus ganz realen Überlegungen in dieser aktuellen Frage — nicht im Prinzip! — Hitlers Standpunkt zuneigte, was auch für OB und Chef der 2. Armee (Fm. v. Weichs) sowie den Generalstabschef Rundstedts, Gen. v. Sodenstern gilt Wie erinnerlich, war Sodenstern bei seiem Oprerationsvor-schlag schon vor dem Angriff für die Bildung riesiger Kessel in Westrußland eingetreten, um die lebendige Kraft des Feindes noch vor dem Abfließen in die Tiefe zu vernichten. Hier nun bot sich über die Entlastung des linken Flügels der H. Gr. Süd hinaus eine Chance, aus der Front der Roten Armee einen starken Brocken herauszubrechen.

Das Oberkommando der H. Gr. Süd überreichte deshalb am 1. September 1941 dem OKH eine Lagebeurteilung, in dem es eindeutig eine gemeinsame Operation der beiden Heeresgruppen in Richtung auf Kiew forderte. Die wichtigsten Sätze lauten: „Für die 'VernidttungssMadit in der Ost-Ukraine ist es unerläßlich und entsdteidend, daß die Pz. Gr. 2 und 2. Armee nicht nur an die Desna, sondern über die Desna vorgeführt werden und bis zum Durchschlagen der Schlacht im operativen Rahmen der H. Gr. Süd fechten. Das Ziel wird erst erreicht sein können, wenn die Pz. Gr. 2 etwa den Raum südlich Sumy, die 2. Armee etwa die Linie Priluki-Romny erreicht haben werden.

Erst mit der Vernichtung der Feindkräfte in der Ost-Ukraine hat die H. Gr. Mitte im operativen Sinne freie Flanke für den letzten entscheidenden Stoß, Außerdem wird dann H. Gr. Süd . . . in der Lage sein, dem OKH . . . möglichst viel . . . Divisionen der 6. Armee für den Angriff in den Raum um Moskau zur Verfügung zu stellen. Das Durchschlagen der Vernichtungsschlacht in der Ukraine ist somit nach Auffassung des Oberkommandos der H. Gr. von entscheidender Bedeutung für den Ausgang des ganzen Ostfeldzuges.

Wird der Feind in der Ost-Ukraine nicht vernichtet, so können weder H. Gr. Süd noch H. Gr. Mitte zu einer zügigen Operation kommen. . . . Für ein zeitlidies Vorziehen der Operation Moskau ist die eingeleitete Operation der H. Gr. Süd und der mit ihr zusammenwirkende Ansatz des Südflügels der H. Gr. Mitte schon zu weit gediehen. . .“

Gen. d. Inf. G. Blumentritt berichtet: „Im Raume Trubtschewsk-Mündung des Sosh in den Dnjepr-Kiew-Tscherkassy-Krementschug, also in dem weit nach Westen vorspringenden Frontbogen, standen 7 russische Armeen. Davon fielen starke Teile in den südlichsten Abschnitt der H. Gr. Mitte, die Masse in den Nordostabschnitt der H. Gr. Süd.

Noch einige Wochen vorher hatte man beim OKH die vor dem Süd-flügel der H. Gr. Mitte angenommenen Teilkräfte des Gegners nicht allzu hoch bewertet. Es entstand damals firn Juli] die Frage, ob es nicht möglich wäre, mit der 2. Armee und Pz. Gr. 2 im Angriff nach Osten zu bleiben und sich gegen diesen Gegner im Süden nur durch entsprechend kräftige Staffelung zu decken. Aber sehr bald mußten sowohl die Pz. Gr. 2 als auch die dahinterfolgende 2. Armee erkennen, daß dieser Gegner erheblich mehr Beachtung verdiente. Man konnte nicht einfach an ihm vorbeimarschieren, auch nicht mit Hilfe einer Staffelung.

Als nun dieser Gegner anfing, auch noch offensiv zu werden und die tiefe Südflanke der Panzergruppe 2 und der 2. Armee zu belästigen, mußte der Entschluß gefaßt werden, ein für alle Mal diese Feindgruppe auf dem Südflügel der Heeresgruppe durch Angriff zu beseitigen. Dann erst war die Möglichkeit gegeben, wieder an das Ziel zu denken, nämlich nach Osten, auf Moskau. Wie aber sollte man sich abfinden mit dem Gedanken Hitlers, diese zwangsweise gebotene Notwendigkeit des begrenzten Angriffs auszunutzen zu einem Angriff über die Heeresgruppengrenze hinweg, tief in das Gebiet der H. Gr. Süd hinein? Der Gedanke, damit endlich die dauernde Bindung der 6. Armee durch die fünfte russische zu beseitigen und den linken Flügel der H. Gr. Süd wieder in Bewegung zu bringen, lag nahe.

Vom Standpunkt Hitlers betrachtet, mußte man ihm recht geben. Für ihn war nun einmal Moskau ein Ziel zweiter Ordnung, und sein Blick blieb nach Süden auf H. Gr. Süd gerichtet. . . . Konnte aber zeitlich , Ukraine-Donez und , Moskau'noch 1941 in der günstigen Operationszeit absolviert werden? Es war jetzt August, und im Oktober war es voraussichtlich mit großen, langdauernden operativen Bewegungen vorbei. Wenn Hitler auf Moskau für 1941 verzichtete, dann war der Feldzug nicht gewonnen, wohl aber Ukraine und Donez er- reicht. Sollte aber 1941 nach Kiew noch Moskau genommen werden, war es zeitlich zu spät. Ich persönlich bezweifle es, ob Hitler sich darüber ernste Gedanken gemacht hat.“

Das OKH suchte im Angriff auf Moskau die Entscheidung über den Erfolg des Blitzfeldzuges noch in diesem Jahre. Angesichts seiner Bedeutung für den gesamten Kriegsplan hatte das OKH doppelt recht mit diesem Drängen nach einer entscheidenden Offensive. Ließ sich aber der militärische und politische Zusammenbruch der Sowjetunion schon vor oder in Moskau erreichen? Das muß heute stark bezweifelt werden. Stalin war ebenso wie Zar Alexander entschlossen, sich auch hinter Moskau zu schlagen, zumal die moderne Sowjetunion einen sehr viel dezentralisierteren Charakter besitzt als das zaristische Ruß-land im Jahre 1812. Es darf als sicher angenommen werden, daß in operativer Hinsicht der Stoß auf Moskau größeren Erfolg versprochen hätte als die tatsächlich durchgeführte Schlacht bei Kiew. Es muß aber ebenso bezweifelt werden, daß die H. Gr. Süd allein in der Lage gewesen wäre, ihr außerordentlich wichtiges Ziel — die Schwer-und Rüstungsindustrie im Donezbogen — vor Wintereinbruch zu erreichen. Das zeigt die Entwicklung nach der gelungenen Vernichtungsschlacht im Dnjepr-Bogen.

Die H. Gr. Mitte war mit dem Auftrag überfordert, sich erst bei Kiew zu beteiligen und dann noch Moskau zu erobern. Dabei muß betont werden, daß auch sie schwächer war als notwendig. Das beweisen die Fehlbestände an Personal und Material Anfang September 1941 Das deutsche Ostheer war ebenso überfordert mit der Aufgabe, 1941 wenigstens zwei der drei gesteckten operativen Ziele auf dem Weg zur Wolgalinie zu erreichen: Donezbogen und Moskau. Denn es kam ja nicht darauf an, mit den letzten Bataillonen an diesen Punkten zu stehen, sondern mit einem immer noch schlagkräftigen Heer. Um diese Chance hat Hitler sein eigenes Heer betrogen, indem er es auf dem Höhepunkt des Feldzuges in eine heillose Alternative stürzte. „Kiew oder Moskau" war keine den Feldzug und damit den Krieg im Osten entscheidende, sondern eine operative Frage von allerdings eminenter Bedeutung. Sie wurde zur tragischen, weil die oberste und die obere Führung dann im Spätherbst ohne Rücksicht auf Erschöpfung, Aus-rüstungsund Versorgungsmängel, Manövrierfähigkeit und Material-erhaltung der Fata Morgana einer vermeintlich dicht bevorstehenden Feldzugsentscheidung nachjagten — buchstäblich bis in die Höhle des Löwen.

Halder hat Brauchitsch am 22. August zum gemeinsamen Rücktritt gedrängt. In Verkennung seiner persönlichen Lage und'seiner noch verbleibenden Einflußmöglichkeiten winkte Brauchitsch resigniert ab Brauchitsch wurde in den folgenden Wochen buchstäblich zerrieben und schließlich ohne Dank entlassen. Hitler konnte ihm den Zwiespalt während des Sommerfeldzuges nicht vergessen und lastete ihm die Verantwortung für das Scheitern des Operationsplanes zu.

Halder machte einen weiteren Versuch, den Entschluß Hitlers abzuändern. Er brachte am 23. August Guderian zu Hitler. Guderian führte die in Frage stehende Panzergruppe 2 am neuralgischen Punkt der H. Gr. Mitte, genoß außerdem als Schöpfer der deutschen Panzerwaffe und kühner Draufgänger Hitlers besonderes Vertrauen. Von ihm hoffte der Generalstabschef, er werde als Stimme von der Front Hitler den -an sich außerordentlich riskanten, vor allem aber zeitraubenden Flankenmarsch bis auf die Höhe von Kiew ausreden. Guderian „fiel

Fussnoten

Fußnoten

  1. Halder Tgb. 22. 8. 41 — Vgl. OKW/L/KTB: . Operative Gedanken des Führers und Weisungen am 21. 8. 1941“ (Dok. PS 1799 Bl. 112). Dort auch: „Führer mit Vorschlag des ObdH für die Fortführung der Operationen vom 18. 8. nicht einverstanden. Es kommt ihm gar nicht auf Moskau und die dort versammelten stärkeren Feindkräfte an, vordringlich sei vielmehr, die russischen Industriegebiete auszuschalten bzw. für eigene Zwecke in die Hand zu bekommen. Außerdem ist ein schneller Fortschritt im Süden als Druck auf die Haltung Irans gegenüber dem englisch-russischen Vorhaben erwünscht. Besonders wichtig auch, daß die Krim bald als Luftwaffenstützpunkt der Sowjets verschwindet und die Gefahr für die rumänischen Ol-felder beseitigt wird.“ (a. a. O. 20. 8. 4. — Bl. 110).

  2. s. o. — Hitlers „Luftempfindlichkeit“ scheint ebenso groß gewesen zu sein wie seine „Flankenempfindlichkeit". Die Sorge vor überraschenden feindlichen Luftangriffen auf eigene Zentren tritt in allen Kriegsphasen so stark auf, daß ihre Erklärung als ausschließliches Zweckargument kaum ausreichen dürfte. Zweifellos hat aber auch das eine Rolle gespielt — gerade bei der Krim, denn die Unfähigkeit der Roten Luftwaffe zu konzentriert wirkenden strategischen Luftangriffen zu diesem Zeitpunkt war hinreichend bekannt.

  3. OKW Chef WFSt Studien I (05) allg. 15, Bd. 3. 22. 8. 1941 (Dok. PS 1799 Bl. 114— 122).

  4. zit. aus Weisung Nr. 3 d. Ob. Kdo. d. H. Gr. Süd v. 9.7.41 (A. Philippi a. a. O., S.36)

  5. vgl. A. Philippi a. a. O. S. 37

  6. a. a. O. S. 38.

  7. Führer-Weisung Nr. 33 („Fortführung des Krieges im Osten") v. 19. 7. 41 (Dok. NOKW 2215 bzw. PS 1799 Bl. 48 ff), Ergänzung zur Weisung 33 v. 23. 7. 41 (Dok NOKW 2217 bzw. PS 1799 Bl. 55 f), Weisung Nr. 34 v. 30. 7. 41 (Dok. 1799 BI. 80 ff), Ergänzung zur Weisung 34 v. 12. 8. 41 (Dok. PS 1799 Bl. 93 ff).

  8. S. Anmerkung 31

  9. Der Oberbefehlshaber des Heeres: »Vorschlag für die Fortführung der Operation der H. Gr. Mitte im Zusammenhang mit den Operationen der H. Gr. Süd und Nord'v. 18. 8. 41 (Dok. PS 1799 Bl. 100 ff).

  10. Halder Tgb. 11. 8. 41.

  11. »Die aufreibenden Kämpfe der einzelnen Gruppen bei den schnellen Truppen, in der unsere nachfolgenden Infanterie-Divisionen erst langsam von Westen her eingreifen können, die lange Dauer aller Bewegungen auf den schlechten Straßen und die Ermüdung der ununterbrochen marschierenden und kämpfenden Truppe haben bei den obersten Führungsstellen einen gewissen Rückschlag in der Stimmung erzeugt. Sie fand ihren sichtbarsten Ausdruck in einer richtig niedergeschlagenen Stimmung des ObdH." (Halder Tgb. 20. 7. 41).

  12. S. Anmerkung 6!

  13. OKW/L/KTB Ani. 7 v. 21. 8. 41 (Ani. Bd. 67).

  14. Gen. d. Inf. a. D. G. Blumentritt: . Idi selbst habe eine Reihe von Vorfällen am Kartentisch miterlebt, wo tatsächlich Hitler die Lage vorausschauender und besser beurteilt hat als der Generalstab. Natürlich mag es schon sein, daß dabei das Gefühlsmäßige eine Rolle gespielt hat. Aber schließlich sind ja gerade richtige Entschlüsse auf keiner Kriegsakademie zu lernen, und wenn man 10 Jahre lang dort gewesen wäre. Beim . Entschluß'hört es ohne Zweifel mit der Wissenschaft auf. Der Nachteil bei Hitler war vielmehr der, daß er zwar zuweilen instinktiv die Lage richtig beurteilte, daß ihm aber dann das nüchterne Handwerkszeug des Fachmanns fehlte, um zu beurteilen, ob dieser an sich richtige Entschluß in der rauhen Wirklichkeit auch durchgeführt werden könnte. Er hatte falsche Begriffe von Raum und Zeit und glaubte, daß man seine operativen Absichten wenige Wochen später bereits durchführen könne.“ (Mitteilung v. 11. 6. 1956 an Vers.).

  15. Chef OKW Nr. 44/1254/41 WFSt/Abt. L-(Op) v. 23. 7. 41 (Dok. PS 1799 Bl. 55 f)

  16. Halder Tgb. 23. 7. 41. Vgl. OKW/WFSt/KTB v. 28. 7. 41 (Dok NOKW 3410) und F. Keitels Erklärungen am 25. 7. 41 bei H. Gr. Mitte (Dok. PS 1799 Bl. 63 f).

  17. OKW/WFSt/L/KTB v. 23. 7. 41 (Dok. PS 1799 Bl. 56).

  18. Vgl. die Weisung Nr. 33 v. 19. 7., Ergänzung zur Weisung Nr 33 v. 23. 7. und die Weisung Nr. 34 v. 30. 7. 41 (OKW/WFSt/L (I Op) Nr. 441 298/41 — Dok. PS 1799 Bl. 80 ff).

  19. OKH/GenStdH/Op. Abt. (I) Nr. 1401/41 v. 28. 7. 41 (Dok. 1799 Bl. 75 ff).

  20. S. Anmerkung 12!

  21. H. Gr. Mitte KTB v. 4. 8. 41 Ani. Bd. (Dok. PS 1799 Bl. 86 ff.)

  22. Vgl. Halder Tgb. 5. 8. 41 und H. Hoth, OB d. Pz Gr. 3, a. a. O. S. 117 KTB H. Gr. Mitte 4. 8. 41, Anlagenband (PS 1799 Bl. 86 ff).

  23. Halder Tgb. 6.8.41

  24. a. a. O. 7.8.41.

  25. Halder: Gespräch mit Greiffenberg (Chef d. Genst. H. Gr. Mitte). »Einweisung in den Unterschied zwischen unserer Auftragsformulierung an H. Gr. und der Formulierung OKW. Muß Bock wissen wegen des mor-gigen Besuchs von oberster Stelle. Vorsicht mit Darstellung Jelnja. Wegen Notwendigkeit Panzerersatzes Guderian und Hoth zur Führerbesprechung heranholen.' (Tgb. 3. 8. 41).

  26. OKW/WFSt/Abt. L KTB v. 11. 8. 41 (Dok. PS 1799 Bl. 90 f).

  27. OKW/WFSt/Abt. L (I Op) v. 12. 8. 41 (Dok. PS 1799 Bl. 93 ff).

  28. OKW/WFSt/Abt. L (I Op) Nr. 441 386/41 v. 15. 8. 41 (Dok. PS 1799 Bl. 99). Vgl. Halder Tgb. 15. 8. 41: . Große Empörung! Bock meldet: Die Front der Heeresgruppe mit 40 Div. auf 730 km ist so gespannt, daß der Übergang zu ernsthafter Abwehr weitgehende Erwägungen nach sich ziehen wird.“

  29. Mitteilung von Gen. d. Inf. a. D. G. Blumentritt an Vers.

  30. Gen. Maj. a. D. v. Witzleben berichtet z. B., daß am 8. 8. 41 der befohlene Angriff der 2. Armee in Richtung Gomel-Klinzy aus Munitionsmangel verschoben werden mußte, weil Feindkräfte die Nachschubwege unterbrochen hatten. (Mitteilung an Verfasser).

  31. Mitteilung von Gen. d. Inf. a. D. G. Blumentritt und Gen. Maj. a. D. H. V. Witzleben an Vers.

  32. Zit. nach A. Philippi a. a. O. S. 58 f.

  33. Mitteilung von Gen. d. Inf. a. D. G. Blumentritt an Vers.

  34. Die personellen Verluste des Ostheeres betrugen für die Zeit vom 22. 6. 31. 8. 41: Insg. 409 998, davon getötet 87 489, verwundet 302 821, vermißt 19 688. Bis 31. 8. 41 kamen 217 000 Mann Ersatz an die Front. Erwartet wurden weitere 100 000 im Laufe der nächsten Wochen bzw. Monate. Die Panzerstärke war vom 22. 6. -4. 9. 41 abgesunken auf 47 % voll einsatzfähige und 230/0 reparaturbedürftige Panzer des Anfangsbestandes von rd. 3550 Panzern. Die Zahl der Nachschubfahrzeuge (LKW) war trotz enorm gestiegener Nachschubdistanzen auf nur 77, 65 °/o des Anfangsbestandes gefallen. — Allein H. Gr. Mitte hatte am 7. 9. 41 einen personellen Fehlbestand von 128 000 Mann, da bisher nur 30 00 Mann Ersatz zugeführt waren. Ihre Pz. Gr. 2 verfügte am 4. 9. 41 über 190 einsatzbereite Panzer, Pz. Gr. 3 über 320, AOK. 4 über 159, zus. knapp 40 */» des Anfangsbestandes. (Mitteilung von Gen. d. Inf. a. D. G. Blumentritt an Vers.).

  35. Halder Tgb. 22. 8. 41 (Vgl. zu Brauchitschs Resignation a. a. O. 31. 7., 8. 8., 16. 8. 41).

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