Die EUROPÄISCHE PUBLIKATION e. V., München, wird Anfang 1961 den zweiten Band ihrer Untersuchungen zum militärischen Widerstand gegen Hitler herausgeben. Aus diesem zweiten Band der „Vollmacht des Gewissens“ haben wir bisher eine Diskussion des Arbeitskreises EUROPÄISCHE PUBLIKATION unter dem Titel „Der verbrecherische Befehl" (B XXVII/57) sowie eine Untersuchung von Hermann Graml über „Die deutsche Militäropposition vom Sommer 1940 bis zum Frühjahr 1943" (B XXVIII 58) veröffentlicht. Wir setzen die Reihe der Vorabdrucke mit dem folgenden Beitrag fort, dessen erster Teil in der vorigen Ausgabe der Beilage erschienen ist.
Grenzschlachten
Am 22. Juni 1941 griff das deutsche Heer im Morgengrauen auf der ganzen Front nach einem gewaltigen Feuerschlag seiner gesamten Artillerie an. Seine Stärke (einschließlich der nachgeführten OKH-Reseren) belief sich auf 3 Mill. Mann in 147 Divn., darunter 19 Pz. Divn.,
Die Stärke des Gegners wurde am 21. Juni 1941 berechnet auf über 4 Millionen Mann in 155 Divn. und 4c Pz. Brig. (rd. 1/2 Div.), insgesamt etwa 170 Divn., darunter 11 Pz. Divn. und 28 Pz. Brig., 15 mot. Divn., 21 Kav. Divn. (Lagenkarte d. OKH v. 21. 6. 1941).
Am Abend des ersten Angriffstages konstatierte der deutsche Generalstabschef: „Die Bug-usw. Brüdieu au deu uasseu Greuzeu siud durdiweg unversehrt und unverteidigt in unserer Hand. Die Überraschung des Feindes ergibt sich aus der Tatsache, daß Truppen iw Quartier überrascht wurden, Flugzeuge zugedeckt auf den Plätzen standen, vorne überruwpelte Feindteile hinten anfragten, was sie wachen sollten. . . Der Feind war von dew deutschen Angriff überrascht. Er war taktisch nicht zur Abwehr gegliedert. Seine Truppen in der Grenzzone waren in weiten Unterkünften verteilt. Die Bewachung der Grenze war iw allgeweinen schwach. Non einew Versuch, sich operativ abzusetz^n, ist nidits zu spüren. Die feindlichen Kowwando-stellen sind stellenweise außer Kurs gesetzt. . . Es kowwt dazu, daß die schwerfällige russische Führung gar nicht in der Lage ist, jetzt noch operativ zu reagieren.“ 1)
Das Bild veränderte sich teilweise am folgenden Tage: „Für die Auffassung, daß erhebliche Teile des Feindes sich weiter rückwärts befinden, als von uns angenowwen, und z. T. jetzt noch zurückgeführt werden, spricht die Feststellung, daß unsere Truppen, wenn auch unter Käwpfen, in den Grenzbereich aw 1. Tage bis zu 20 kw eingedrungen sind, ferner das Fehlen großer Gefangenenzahlen und das auffallend geringe Auftreten feindlicher Artillerie.“
Der zahlenmäßig geringen deutschen Luftwaffe (rd. zweitausend Kampfflugzeuge) gelang es schon in den allerersten Tagen, die quantitativ mehrfach überlegenen sowjetischen Geschwader überraschend zu zer-schlagen und die Luftherrschaft zu gewinnen. Sie konnte durch ihr Eingreifen in den Erdkampf wesentlich zum Erfolg beitragen. Zu strategischen Luftangriffen im Hinterland kam sie jedoch nicht.
Der breite Operationsraum wurde durch das schwer passierbare Gebiet der Pripjetsümpfe geteilt. Südlich von ihnen sollte die H. Gr. Süd (Fm. v. Rundstedt) mit 43 Divisionen die als nahezu doppelt so stark bewertete Heeresgruppe Budjonny aus dem Raum Przemysl-Lublin in Richtung auf Kiew angreifen und, unterstützt von OKH-Reserven und 10 rumänischen Divisionen geringen Kampfwertes, im Dnjepr-Bogen vernichten.
Nördlich des Sumpfgebietes bot der weit nach Westen vorspringende Grenzbogen um Bialystok für die H. Gr. Mitte (Fm. v. Bock) Gelegenheit zur doppelten Umfassung der Heeresgruppe Timoschenko. Hier lautete der Auftrag: Durchbrechen mit je einem südlich und einem nördlich flankierenden Panzerkeil über Baranowitschi bzw. Suwalki auf Minsk-Orscha zur Kesselbildung und zu späterem Vormarsch nach Smolensk.
Von Ostpreußen aus sollte die H. Gr. Nord (Fm. v. Leeb), mit 30 Divisionen etwa halb so stark wie H. Gr. Mitte (51 Div.), nach Nordosten vorstoßen, mit Hilfe von H. Gr. Mitte die im Baltikum stehende Heeresgruppe Woroschilow vernichten, anschließend Leningrad und Kronstadt erobern. Der Operationsplan sah dafür ein Zusammenwirken von H. Gr. Mitte und H. Gr. Nord an der Dnjepr-Düna-Linie auf der Höhe von Smolensk vor. Hier mußte sich nach Annahme der deutschen Führung die Rote Armee zur Entscheidungsschlacht stellen. Da Hitler und das OKH der Ansicht waren, daß die H. Gr. Süd stark genug sei, ihre Aufgaben selbständig zu lösen, enthielt der Operationsplan für sie keine ähnliche Weisung zur Zusammenarbeit mit H. Gr. Mitte, wenn beide den trennenden Raum der Pripjet-Sümpfe hinter sich gebracht haben würden. Die gesamte, dem OKH unterstellte operative Reserve bestand aus 29 Divisionen, davon 21 nichtmotorisierte Infanteriedivi-
sionen(!).
Während die H. Gr. Mitte und Nord in den ersten Tagen über Erwarten rasch den feindlichen Widerstand brechen und planmäßig ins Innere des Landes vordringen konnten, stieß die aus ungünstiger Position operierende H. Gr. Süd auf massive und geschickte Gegenwehr. Am zwölften Angriffstag hatte sie in frontalem Vordrängen mit der Panzergruppe 1 den Slutschbogen erreicht (250 km hinter der Grenze), ohne die erstrebte Bewegungsfreiheit erlangt zu haben. Die in der rumänischen Moldau aufmarschierte, von zwei rumänischen Armeen flankierte 11. Armee trat am 2. Juli von Jassy aus in Richtung auf Mogilew zum Angriff an. Wegen ihrer Schwäche hatte sie außer Deckungsaufgaben nur den Auftrag bekommen, den geordneten sowjetischen Rückzug über den Dnjestr im Nachstoß zu stören. Der H. Gr. Mitte war es unterdessen gelungen, bei Bialystok und bei Minsk zwei großräumige „Kessel" zu bilden. (Lt. Wehrmachtsbericht 328 898 Gefangene, 3332 erbeutete Panzer und 1809 Geschütze.) Im gleichen Zeitraum hatte die H. Gr. Nord überraschend schnell die Düna überschritten und Opotschka, Pleskau am Peipussee und Dorpat erreicht, allerdings ohne den tiefgestaffelten Feind zur Schlacht stellen zu können
Die Raumgewinne übertrafen zum Teil die Erwartungen. Allen Geländeschwierigkeiten zum Trotz war es gelungen, tief nach Westrußland hineinzustoßen. Gleichwohl hatte sich der feindliche Widerstand vielfach als überraschend stark erwiesen. Besonders frappierte die Unempfindlichkeit der Russen gegen Durchbrüche und Flankenangriffe, gepaart mit außerordentlichem Geschick, die Vorteile des Geländes auszunützen. Der deutsche Ansturm traf zwar auf einen schwerfälligen, in der Zusammenfassung großer Verbände für schnelle Operationen unerfahrenen, aber sehr zäh kämpfenden Feind in einem großenteils leicht zu verteidigenden straßenarmen, wald-und sumpfreichen Lande von immenser Größe, einen Feind, der ohne Rücksicht auf Nachschub und Ersatzmöglichkeiten rechts und links der Vormarschbahnen stehen-blieb und durch überraschende Flankenstöße oder Angriffe gegen Nachschubkolonnen unerwartete Schwierigkeiten machte, denen schwer zu begegnen war. Umso höher zu bewerten sind die erzielten Erfolge.
Schon während der Grenzschlachten der H. Gr. Mitte geriet die deutsche Führung in ein operatives Dilemma: Sollten die aus motorisierten und Panzerdivisionen bestehenden Panzerkeile weit vorauseilen, um Verwirrung ins Innere des Landes zu tragen und die rückwärtigen Verbindungen der feindlichen Armeen abschneiden, oder sollten sie Fühlung halten mit den nachfolgenden, zu Fuß marschierenden Infanteriearmeen, um diese bei der Kesselbildung zu unterstützen und selbst vor dem Abgeschnittenwerden geschützt zu sein?
General Blumentritt, damals Chef des Stabes der 4. Armee (H. Gr. Mitte), berichtet: „An sich war es schon für die Infanterieverhände schwer, auf den schlechten Wegen unter großer Marschleistung den motorisierten Verbänden zu folgen. Da aber die Inf. Div. durch Kämpfe aufgehalten wurden, fielen die Bewegungen der so 'unterschiedlich schnellen Verbände immer mehr auseinander. Wenn daher die Zangen-bewegungen zu weit ausgedehnt wurden, liefen die weit vor der Front befindlichen mot. Verbände Gefahr, ganz allein einem Gegner ausgeliefert zu sein, der nach anderen Regeln kämpfte, als üblich war. .. Die Eigenart der Kampfesweise der Panzerdivisionen, im Osten vielfach gebunden an die wenigen Straßen, brachte es mit sich, daß die Stoßkeile immer nur entlang der Wege fingerartig vorwärtsstoßen konnten. Dadurch blieb das weite Zwischengelände mit seinen Wäldern und Sümpfen unberührt. Aber gerade dort blieb der Gegner einfach sitzen. . . Bei den Kämpfen um Slonim zeigte sich erstmalig deutlich, daß Infanterieverbände ohne Panzer nur schwer in der Lage sind, einen Feind aufzuhalten, der . . . unter Einsatz von • Panzern entkommen will 4). Inf. Verbände der 4. Armee (v. Kluge) reichten jedenfalls bei Slonim nicht aus, den Ausbruch zu verhindern. Es war sehr unerwünscht, daß Teile der Panzergruppe 2 (Guderian) diese Aufgabe übernehmen mußten und dadurdr bei Slonim länger festgeltalten wurden.
Schon zeigten sich die ersten Anfänge von Verstimmungen zwischen dem O. B.der 4. Armee und dem Befehlshaber der Pz. Gr. 2. Letzterer wollte mit allen Kräften nach Osten vorwärts, ersterer wollte den Kessel schließen. . . Im großen und ganzen zeigte sich bei diesen großen und kleinen Kesseln, daß die Einsdtließungsfront viel zu dünn und der Feinddruck nach Osten viel zu stark war, um hermetisdt abzusdtließen.
Der geländegewohnte und naturverbundene Russe quoll bei Tag und vor allem bei Flacht ohne Llnterbredtung durch die zahlreichen Lücken aus dem Kessel oder bahnte sich rücksichtslos durdt Angriff den Weg nadi außen. Alle diese Feindteile sammelten sidt dann immer wieder zu neuen Kampfgruppen, begünstigt durdi den großen Raum und die zahlreidten Wälder und Sümpfe. Diese unerwartet . regelwidrigen'
Kämpfe verbrauchten Zeit und die Kräfte der Truppen. .
Die Panzergruppen mußten beim „Ausräumen" der Kessel helfen, und die Infanteriearmeen waren gezwungen, zum Flankenschutz (z. B. entlang der Pripjetsümpfe) und zum Durchkämmen der rückwärtigen Gebiete Kampftruppen abzustellen. Das war weder vorhergesehen, noch entsprach es den Absichten. Halder notierte am 1. Juli 1941: „Ernste Sorgen macht die Befriedung des rückwärtigen Gebietes. Die Eigenart unserer Fechtweise hat weitgehende Unsicherheit des rückwärtigen Ge- bietes durch abgespreugte Truppenteile zur Folge. Die Sicherungs-divisionen allein genügen nicht für diese großen Räume. Wir müssen von der fechtenden Truppe einzelne Divisionen dafür ausgeben.“
Gen. d. Inf. a. D. E. Röhricht schreibt: „So entstand im Raum von der Grenze bis Minsk, vom Tempo der deutschen Inf. -Verbände bestimmt, die Reihe der Einzelkessel, mit der Besonderheit, daß ihre ost-wärtige Abschließungsfront, auf deren Widerstandskraft es besonders ankam, stets das schwädrste Glied der Kette war, ohne daß rechtzeitig Abhilfe zu schaffen war, was zur Erscheinung der , wandernden Kessel'führte.“
Schon während der Grenzschlachten wurden zwei schwerwiegende Mängel des deutschen Ostheeres deutlich erkennbar: Die ganz unzulängliche Panzerausstattung und Motorisierung, die das Gros wie 1914 zum Fußmarsch in die endlose Weite des russischen Raumes zwang, und seine zu gering bemessene quantitative Stärke. Die Größe des Auftrages verlangte ein vollmotorisiertes homogenes Heer mit entsprechend motorisierter, weitgehend von den Bahnlinien unabhängiger Nachschuborganisation. Der deutsche Infanterist hat zwar durch geradezu unvorstellbare Marschleistungen diese Mängel auszugleichen versucht, aber auf Kosten der Substanz und der präsenten Kampfkraft.
Vorerst schien allerdings kein Anlaß zu bestehen, sich wegen des fühlbar werdenden Kräftemangels ernsthafte Sorgen zu machen. Kein Feldzug verläuft ohne Krisen. Und da es im großen und ganzen außerordentlich gut voranging, schien nichts die oberste Führung zu zwingen, ihre optimistische Erwartung eines raschen Zusammenbruchs der Roten Armee zu revidieren. Wann und wo die Kraft des Gegners erschöpft sein würde — wer konnte das nach so kurzer Zeit voraussagen? Die ersten zehn Tage schienen zu bestätigen, daß der Feind das unersetzliche Gros seiner Armee ebenso in Grenznähe massiert hatte wie das seiner bereits in den ersten Tagen weitgehend zerschlagenen Luftwaffe. Es gab keine Anzeichen für das Bestehen größerer operativer Reserven.
Hitler griff in den ersten Tagen kaum in die Führung ein. Sein beobachtendes Interesse konzentrierte sich auf die Heeresgruppen Mitte und Nord. Er befahl lediglich wiederholt, die Panzergruppen nicht so weit vorpresdien zu lassen und die Einschließungsfronten stärker abzudichten. Halder vermerkte diese Ermahnungen mühsam verhehltem Unwillen
Brauchitsch nahm — seinem dilatorischen Charakter gemäß und sehr zum Mißfallen seines Generalstabschefs — eine vermittelnde, Hitler gegenüber nachgiebige Haltung ein, obwohl auch er einen raschen Fortgang der Operationen anstrebte
Zwei darüber hinausreichende Probleme beschäftigten Hitler von den ersten Tagen an: Das von ihm erstrebte Zusammenwirken der H. Gr. Mitte mit den beiden schwächeren Nachbargruppen, vor allem mit der von Anfang an (!) als zu schwach beurteilten H. Gr. Nord, und die rasche Einnahme Leningrads.
In den zahlreichen, heute zugänglichen Kriegs-Tagebuchauszügen der von General Warlimont geleiteten Abteilung L. im OKW/WFSt finden sich ab 26. Juni 1941 nahezu täglich Einträge über diesbezügliche Äußerungen Hitlers, der mit mißtrauischer Spannung das Voraneilen der Panzergruppen beobachtete — wohlwissend, daß Halder und v. Bode den direkten Stoß auf die sowjetische Hauptstadt anstrebten und darin von den draufgängerischen Panzerführern eo ipso unterstützt wurden. Wie und wo im eiligen Ablauf der Ereignisse jenes von ihm befohlene Zusammenwirken beginnen konnte, bildete viele Wochen hindurch Hitlers wichtigstes Problem
Die Entwicklung der Operationen bestärkte das OKH hingegen in seiner Ansicht, der unverzügliche Marsch auf Moskau sei die beste strategische und gleichzeitig die am leichtesten zu verwirklichende Lösung. Brauchitsch und Halder standen nun vor der schweren Aufgabe, Hitler nicht nur von seinen wie immer festeingewurzelten Ideen abzubringen, sondern ihn zur Korrektur des Operationsplanes zu überreden.
Gegen Ende der ersten Feldzugswoche wurde im Generalstab eine Denkschrift für den Wehrmachtsführungsstab ausgearbeitet, in deren Sinne Jodl auf Hitler einwirken sollte. Hitler hatte nämlich am 30. Juni dem OKH erklärt, da die zur Einnahme Moskaus unerläßlichen Infanteriedivisionen nicht vor August vor der Hauptstadt stehen würden, könne bis dahin von den vorauseilenden Panzergruppen „im Norden reiner Tisch gemacht werden. Dann kann man die Panzerverbände ostwärts
Hitler ließ sich einstweilen durch das Argument beschwichtigen, neue operative Entschlüsse von größerer Tragweite machten sich erst notwendig, wenn die Stalin-Linie bei Smolensk durchbrochen sei. Von da aus könne man nach dieser oder jener Richtung einschwenken oder weiter auf Moskau vorgehen.
Aber im Prinzip gab Hitler nicht nach
Besondere Probleme bereiteten die Führungsverhältnisse in der zahlenmäßig stärksten, den Schwerpunkt der Operationen bildende Heeresgruppe Mitte. Sie geriet anfangs in Gefahr auseinanderzureißen. Ihre vorauseilenden Panzergruppen kämpften schon an Beresina und Düna, als die Infanterie zwischen Minsk und Bialystok stand. Das Hauptquartier der H. Gr. Mitte lag noch bei Warschau. Das war kein beunruhigendes Problem, solange der geschlagene Feind ebenso davonlief wie in Westeuropa. Gerade das taten die Sowjets aber nicht -oft zu ihrem Nachteil. Brauchitsch verfiel auf den wenig glücklichen Gedanken, eine Befehlsinstanz dazwischenzuschieben und die Panzergruppen unter Fm. v. Kluge zu einer Panzerarmee zusammenzufassen. Von Kluges dynamischer Persönlichkeit erhoffte der Oberbefehlshaber des Heeres, daß er die Panzergruppen zusammenhalten und den Interessenausgleich mit der zurückhängenden Infanterie bewirken würde. Obwohl die Heeresgruppe wenig Gefallen an dieser Lösung fand und Guderian mit seinem Rücktritt drohte, hielt Brauchitsch an ihr fest. Sie wirkte sich besonders deshalb unglücklich aus, weil bald darauf der eigentliche Zweck hinfällig wurde. Die Panzergruppen kamen gegen wachsenden Feindwiderstand nur langsam voran und wurden nach und nach von den Infanterieverbänden eingeholt.
So mischten sich sachliche und personelle Schwierigkeiten während des atemberaubend schnellen Ablaufs schwer überschaubarer Ereignisse voller Krisen und Spannungen. AU* das reizte Hitler, der in wesentlichen Punkten andere operative Absichten hegte als das OKH und von Natur mehr zum Befehlen als zum Gewährenlassen neigte, die Zügel mehr und mehr in die eigenen Hände zu nehmen.
Am Tage vor dem erfolgversprechenden Großangriff der H. Gr. Süd auf die in der Ukraine weit nach Westen, bis Nowograd vorspringende „Stalin-Linie", am 4. Juli 1941, zog Hitler eine Schlußbilanz unter die Phase der Grenzschlachten: „Ich versuche mich dauernd in die Lage des Feindes zu versetzen. Praktisch hat er diesen Krieg schon verloren. Es ist gut, daß wir die russische Panzer-und Luftwaffe gleich zu Anfang zersdilagen haben. Die Russen können sie nicht wehr ersetzen."
Die Verluste der Roten Luftwaffe waren in der Tat ungeheuerlich, wenn sie auch in den absoluten Zahlen immer umstritten bleiben werden
Hitler hegte diese Siegesgewißheit nicht allein. Das ist bekannt aus zahlreichen Zeugnissen führender Militärs. Für sie mag ein Tagebuch-eintrag Halders vom 3. Juli 1941 stehen. Im Anschluß an die Aussage eines gefangenen sowjetischen Kommandierenden Generals, der behauptete, daß hinter der „Stalin-Linie“ (Dnjepr-Düna) nur noch einzelne Verbände ständen, konstatierte der deutsche Generalstabschef, dieser Feldzug sei bereits entschieden. Allerdings ließ Halder im Gegensatz zu Hitler die sowjetischen Regenerationsmöglichkeiten aus Reserven und Industrie nicht außer acht. Die Differenz in der Beurteilung wurde entscheidend für die Anlage der weiteren Operationen und hat die große „Führungskrise“ letzten Endes heraufbeschworen. Halder schrieb weiter: „Natürlich ist er (der Feldzug) damit noch nicht beendet. Die Weite des Raumes und die Hartnäckigkeit des mit allen Mitteln geführten Widerstandes werden uns noch viele Wodten beanspruchen. . . . Wenn wir erst einmal Dnjepr und Düna überwunden haben, wird es sich weniger um das Zerschlagen feindlicher Wehrmachtsteile handeln als darum, dem Feind seine Produktionsstätten aus der Hand zu nehmen und ihn so zu verhindern, aus der gewaltigen Leistung seiner Industrie und aus den unerschöpflichen Menschenreserven wieder eine neue Wehrmacht aufzustellen.“
Hitler, selbst ein unbestrittener Könner im Erfinden von Überraschungsmanövern und allerlei listenreicher Tricks, war in seinen operativen Entschlüssen außerordentlich gehemmt durch jene „Flanken-
empfindlichkeit", die sein sowjetischer Gegner nicht kannte. Eklatantes Beispiel dafür ist sein ausdrücklich durch direkten Eingriff in die Befehlsführung der H. Gr. Süd fixierter Verzicht auf einen Handstreich gegen das operativ höchst wichtige Kiew, auf den wir noch zurückkom-men werden. Hitlers „Wegelagererinstinkt“ (Halder) hatte offenbar eine den eigenen Erfolg gefährdende Kehrseite, nämlich die Tendenz, sich überall gegen ähnliche taktische Überraschungen seiner Gegner schützen zu wollen. Das mußte zu Kräftezersplitterung und zu frontalem Denken führen. Jetzt beobachtete er voll Sorge die Stöße der Roten Armee gegen die linke Flanke der H. Gr. Mitte und die rechte Flanke der H. Gr. Nord. Er trug sich zeitweilig mit dem Gedanken, die Panzergruppen sofort einschwenken zu lassen, noch bevor die Höhe von Smolensk ereicht war. Dann wieder beschäftigte er sich mit der „Frage, was nach DurMrechen der Stalin-Linie gesdtelten soll: . Eindrehen nach Norden oder Süden?'... Es wird die Frage geprüft, ob H. Gr. Süd überhaupt noch zu einer wirksamen Umfassung kommt. Soll grofle Operation nach Süden (Abdrehen der H. Gr. Mitte) eingeleitet werden? Führer: , Es wird die sdtwerste Entscheidung dieses Feldzuges sein.'“
Brauchitsch und Halder plädierten bei ihrem Vortrag für selbstständiges Operieren der drei, in weiten Abständen voneinander vorstoßenden Kräftegruppen. H. Gr. Süd solle statt der ursprünglich geplanten „großen Umfassung“ aller feindlichen Armeen diesseits des Dnjepr vorerst die nördlich des ukrainischen Bug stehenden einkesseln und dann auf Kiew stoßen. In der Mitte gelte es, das strategisch wichtige Dreieck Orscha—Smolensk—Witebsk einzunehmen, und im Norden auf Leningrad vorzustoßen.
Hitlers Absicht, mit der dafür zu schwachen H. Gr. Süd sogleich auf Kiew statt auf Uman zu marschieren, parierte Brauchitsch mit dem Hinweis auf zu große Versorgungsschwierigkeiten. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß die Repräsentanten des OKH im übrigen die operative Lage etwas rosiger, als sje nach ihrer eigenen Ansicht war, geschildert haben, um übereilten Eingriffen ihres „Führers" vorzubeugen. Denn dieser kam nun mit der Idee einer neuen Flankenoperation, welche die H. Gr. Mitte von Moskau wegführen mußte: „H. Gr. Nord wird voraussichtlich mit ihren derzeitigen Kräften ihren Auftrag, nach Leningrad vorzustoflen, erfüllen können. Bei H. Gr. Mitte entsteht die Frage, ob sie auf Moskau vorstoflen oder mit starken Teilen hinter dem Pripjet nach Süden einschwenken soll.“
Damit war man am springenden Punkt der Beratung. Hitler sagte nun, die Einnahme der großen Städte Moskau und Leningrad brauchte die Erdoperationen nicht zu tangieren. Er wolle sie mit der Luftwaffe dem Erdboden gleich machen. Ob er nach dem Londoner Fiasko wirklich noch der Luftwaffe derartige Vernichtungsschläge zutraute oder mit der Auftragsverlagerung auf Göring nur ein neues Argument zugunsten der beabsichtigten Flankenoperation ins Feld führen wollte, wer vermag das zu sagen? Wahrscheinlich schloß das eine das andere nicht aus
Dann trug das OKH die dringenden Materialersatz-Anforderungen der Panzergruppen vor. Bekanntlich beruhte die Überlegenheit der nur mit rund 3 550 leichten, mittleren und schweren Panzern
Auf die Vorstellung des OKH hin gab Hitler 70 mittlere Panzer III, 15 schwere Panzer IV und die kleinen tschechischen Beutepanzer frei. Sonst nichts. Er hortete die an sich schon viel zu geringe Produktion für Neurüstung von Panzerdivisionen für seine vorderasiatischen und afrikanischen Herbstziele. „Der Führer führt aus, daß er das einlaufende neue Panzermaterial in der Heimat zusammenhalten will, um damit für die nodt vor uns liegenden Aufgaben fabrikneue Ausstattung sicherzustellen. Denn diese Aufgaben gehen wieder über Tausende von Kilometern.“
Ein Feldherr, der für keine operativen Reserven und keine Vorräte an Kriegsmaterial sorgt, verdient diesen Namen nicht. Wie soll man aber einen militärischen Führer qualifizieren, der auf dem Höhepunkt der Offensive trotz erkannter Schwächen der eigenen Truppen den Materialzufluß bremst, statt durch Nachschub vermehrter und besserer Waffen den Sieg zu erleichtern?
Die Panzerfrage ist dafür nur das eklatanteste Beispiel. Es wurde ebenso mit allem anderen Nachschub gebremst, selbst mit dem personellen Ersatz. Man hat später Transportschwierigkeiten geltend gemacht und außerdem zu bedenken gegeben, daß eine Verstärkung des Ostheeres die qualitative Zusammensetzung der Kampftruppen d. h. ihre Schlagkraft und ihre Schnelligkeit herabgesetzt hätte. So hatte schon Göring argumentiert. Diese Argumente schlagen jedoch in puncto Panzerstop, Heranführung personeller Reserven usw. zu diesem Zeitpunkt nicht durch. Die Transportschwierigkeiten tauchten erst später auf. Und sie lagen sehr oft nur in der organisatorischen Schwerfälligkeit. Wie die Rote Armee ihre Ersatz-und Nachschubschwierigkeiten bewältigte, ist recht lehrreich. Ihre sibirischen Divisionen brachte sie in ganz unerwarteter Schnelligkeit heran. Die Eisenbahntransporte fuhren einfach auf Sichtweite. Die Sowjets haben es selbst während des großen überstürzten Rückzugs im Sommer 1941 fertiggebracht, wertvolle Fabrikeinrichtungen abzutransportieren und in kürzester Frist wieder produktionsbereit aufzubauen.
Es hat auch keinen Sinn, immer nur von jenen Schwierigkeiten aus zu argumentieren, mit denen das im Kampf stehende Ostheer fertig wurde und fertigzuwerden versuchte oder von dem effektiven Unvermögen der deutschen Wirtschaft, im Jahre 1941/42 die sprunghaft gestiegenen Ansprüche zu erfüllen. Die Schwierigkeiten sind nicht zufällig aufgetreten und waren nicht von naturgesetzlicher Kausalität, wie es der vertrauenden Truppe dargestellt wurde. Sie gehen letzten Endes zum großen Teil auf entscheidende Führungsfehler vor Beginn des Angriffes zurück. Das kann nicht scharf genug betont werden. Hitler stürzte das Heer mit seinem Angriff auf die Sowjetunion politisch und militärisch, personell und materiell unzureichend vorbereitet in einen über-schweren Kampf. Und er bereitete seinen Truppen noch zusätzliche Schwierigkeiten während des Feldzuges selbst — durch voreilige Siegesgewißheit und Reservenbildung zum falschen Zeitpunkt für den falschen Zweck.
Die Reserven des Ostheeres wurden so knapp gehalten, daß bis Ende August die aus 23 Divisionen bestehende OKH-Reserve, das operative Führungsmittel der höchsten Befehlsstellen, völlig verausgabt war — während der geschlagene Feind zur gleichen Zeit Reserven bildete! Was aus der Heimat kam, wurde auf deutscher Seite in den Kampf geworfen.
Hitler kann mit seinem Optimismus aber nicht ganz allein gestanden haben. Das anzunehmen, hieße in seinen militärischen Mitarbeitern und Ratgebern nur subalterne Lakaien sehen! Sicher hat er übertriebene, in ihren Augen bedenkliche Sparmethoden angewandt, aber deren Gefahren haben auch sie bestimmt nicht in voller Höhe erkannt. Und damit ist man wieder bei der falschen Beurteilung der Feindlage angelangt. Sie dominierte noch nach dem Durchschlagen der Grenzschlachten.
Der Beratung lag außer den Frontberichten ein von der Abteilung Fremde Heere Ost erarbeitetes Feindbild vom 6. Juli 1941 zugrunde. Danach hätte die H. Gr. Süd an ihrem Frontabschnitt zahlenmäßige Kräftegleichheit mit dem vor ihr stehenden Gegner erreicht. H. Gr. Mitte besaß erdrückende, H. Gr. Nord einfache Überlegenheit. „Von 164 auf-getretenen Schützendivisionen fallen 89 ganz oder teilweise ans. 46 kampfkräftige russische Divisionen stehen in der Front. IS sind an anderen Stellen gebunden (Finnland 14, Kaukasus 4). 11 sind möglicherweise noch im Hinterland in Reserve. Von 29 aufgetretenen Panzer-divisionen sind 20 ganz oder mit starken Teilen ausgefallen. 9 sind noch voll kampfkräftig. Die Bildung einer durchgehenden Gesamtfront auch hinter starken Abschnitten ist nicht mehr möglich. . . Das Neu-aufstellen von Verbänden wird an dem Fehlen von Offizieren, Spezialisten und Artilleriematerial scheitern, wenigstens in größerem Umfang.
Das gilt im besonderen für Panzerverbände.“
Einen Monat später wird Halder feststellen, daß die Zahl
Das gilt im besonderen für Panzerverbände.“ 26) . . .
Einen Monat später wird Halder feststellen, daß die Zahl der erkannten sowjetischen Divisionsverbände seit Feldzugsbeginn von rund 200 auf 360 emporgeschnellt ist 27). Das kann nach sieben Wochen Kampf nicht allein auf das Konto „Neuaufstellungen“ zurückgeführt werden. Aber selbst dieser Schiffbruch hat den deutschen Feindnachrichtendienst nicht gehindert, auch weiterhin den Sowjets größere Reserven und die Möglichkeit zu Neuaufstellungen abzusprechen, wie dies am 6. Juli in so lapidarer Form geschah. Das eigentliche Verhängnis lag aber in der beängstigenden Tatsache, daß man ihn weiter gewähren ließ und seinen Zahlenspielereien Glauben schenkte.
Von jener Besprechung am 8. Juli 1941 bei Hitler existiert eine kurze Niederschrift im Kriegstagebuch der Abteilung L im OKW. Sie weist gegenüber Halders Notizen sehr bemerkenswerte Sinnverschiebungen bei den Feindstärkeangaben auf. Nun hieß es: „Vortrag ObdH und Generaloberst Halder beim Führer: Von bekannten russischen Sdcüt-zenverbänden sind heute zu bewerten: 89 vernichtet, 46 kampffähig, 18 an Nebenfronten (darunter Finnland), 11 unbekannt. .." 28) Aus 89 „ganz oder teilweise ausgefallenen“ Divisionen waren 89 vernichtet, aus 46 „kampfkräftigen“ waren 46 kampffähige Divisionen geworden.
Nun ist das Kriegstagebuch des Wehrmachtführungsstabes im OKH (Abt. L) nicht irgendeines gewesen, sondern wurde durch einen Ministerialrat aus der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres, später durch einen Historiker von Rang und Namen geführt mit dem Ziel, eine echte Geschichtsquelle zu schaffen. Min. Rat H. Greiner berichtet, daß er für alle derartigen Konferenzen die vom Chef des WFSt, General Jodl, persönlich geführten bzw. redigierten Protokolle als KTB-Unterlagen erhalten habe 29). Am ausführenden Organ kann es also nicht gelegen haben. Die sehr bedenkliche Sinnverschiebung entstand irgendwo auf dem Wege vom Vortrag der Feindstärkeberechnung der Abt. Fremde Heere Ost im OKH bis zum Besprechungsprotokoll Jodls — vermutlich während der Konferenz bei Hitler selbst.
Zufall oder Symptom? Man ist heute geneigt, in diesem keineswegs belanglosen und geringfügigen Fall ein System zu sehen. Es ist ja längst kein Geheimnis mehr, daß die Zahlenangaben der täglichen Wehrmachtsberichte aus dem Führerhauptquartier nur mit einem guten Schuß Skepsis zu betrachten sind. Aber lag die Fehlerquelle nur in Manipulationen auf der höchsten Ebene? Das „Dritte Reich" war nicht nur ein Reich von weltgeschichtlicher Aktivität, sondern mindestens ebenso ein Reich großer Worte. Das ermutigte zu Übertreibungen; überall. Warum nicht auch bei der Wehrmacht? Sicher hielten sich die meisten Meldungen streng an die Wahrheit, die oft nur eine subjektive sein konnte. Wieviele von den Meldungen waren aber buchstäblich im Eifer des Gefechtes, im Wettlauf um die höchsten Gefangenen-, Beute-und Abschußzahlen
Zu gleicher Zeit wurde mir vom lc der Armee in den täglichen Vorträgen auf dem Ic-Gebiet gemeldet, daß der gegenüberstehende Feind, also auch der im Süden und Südosten, unter genauer Angabe der Div. Nummern, entweder . vernichtet', , stark angeschlagen“, oder , im Kampfwert stark reduziert“ sei. Es wurden mir Listen vorgelegt mit zwanzig oder mehr feindlichen Divisionsnummern, von denen meist die Hälfte, oft zwei Drittel als . ausgefallen'bezeichnet wurden.
Infolge des völlig anderen Gefechtsbildes, das ich mir auf Grund der Chef-und Ia-Meldungen der Korps zu machen gezwungen war, bezweifelte ich meinem Ic gegenüber diese Meldungen und trug meine Zweifel pflichtgemäß meinem Oberbefehlshaber, GFM Fhr. v. Weichs, vor. Es war hier die merkwürdige Feststellung zu machen, daß der Ia-Weg und der Ic-Weg im Bezug auf Feindmeldungen und Feindbeurteilungen stärker und stärker divergierten. Schließlich sah idt mich in Übereinstimmung mit dem Oberbefehlshaber genötigt, diese völlig falschen und einem Zweckoptimismus huldigenden Feinddarstellungen durch Befehl zu beenden.
Die immer nur günstig gefärbten Berichte der Ic nach oben, die ich als Chef nicht ganz unterbinden konnte, erzeugten bei der Heeresgruppe und dann auch weiter oben die Meinung, daß das Armeeoberkommando 2 nur schwarz sähe und aus irgendwelchen Gründen den Vormarsch nach Moskau zu sabotieren versuche. In Wirklichkeit mußten trotz aller strikten Befehle, nach Osten . . . vorzugehen, die Divisionen des AOK 2 gegen den im Süden und Südosten immer stärker auftretenden und schließlich angreifenden Feind nach und nach dorthin, also nach Süden, Front machen. Das wurde in der Folge zu einer absoluten Zwangsläufigkeit, bedingt durch den großen Zwischenraum zwischen den Heeresgruppen Mitte und Süd, in dem starke russische Kräfte ungehindert operierten.
Kurz darauf sah sich — gegenden Willen der Heeresgruppe Mitte und gegen den Willen des OKH — die gesamte2. Armee gezwungen, sdtarf nach Süden, Richtung Gomel, anzugreifen, um die Flanke zu bereinigen. Mindestens 80 000 Gefangene wurden dabei in einer sehr harten achttägigen Kesselschlacht gemacht.“
In seiner kenntnisreichen, sachlichen Arbeit: „Die Räumung der Krim 1944" 31a) berichtet A. Hillgruber von ähnlich gefärbten rosarot Lagemeldungen des AOK. 17 an H. Gr. A, die das Desaster von Sewastopol mitverschuldet haben.
Solange die auswertenden und vor allem die führenden Instanzen über genügend Urteilskraft, Nüchternheit, Erfahrung und Kontakt zur Truppe verfügten, um sich in ihrer Treue zu den Grundsätzen erprobter Strategie nicht irremachen zu lassen, drohte von allzu abschätzigen Feindstärkemeldungen und übertriebenen Erfolgsberichten keine große Gefahr. Aber diese Nachrichten und kurzschlüssigen Auswertungen kamen auf den Tisch Hitlers, des Obersten Befehlshabers, und sie bestärkten seine vorgefaßten Ansichten. Darin lag das eigentliche Verhängnis: Tatsächliche enorme Verluste der Roten Armee und starke Übertreibungen trafen auf ein zu niedriges Feindlage-Zahlenbild, von dem nun laufend „abgehakt" wurde. .
Und ähnlich stand es mit dem Kartenbild von den Standorten der sowjetischen Rüstungsindustrie und der Beurteilung ihrer Abhängigkeit von Einfuhren aus fremden Ländern. Die Schwerpunkte wurden zu ausschließlich in den traditionellen Industriegebieten Ukraine, Gorki—Moskau und Leningrad gesucht. Diese Gebiete lagen durchaus in Reichweite der deutschen Armeen. Von ihrer Inbesitznahme bzw. Zerstörung versprach sich die oberste Führung den Zusammenbruch des sowjetischen Rüstungspotentials. Die Bedeutung der deutschen Vorkriegslieferungen wurde dabei nahezu ebenso überschätzt wie die Fähigkeit der amerikanischen Industrie zu rascher wirksamer Hilfe unterschätzt.
Ganz unbeachtet blieb die ungewöhnlich ausgeprägte Fähigkeit der Russen zur Improvisation und zur raschen Produktionsverlagerung. Die allzu schwache deutsche Luftaufklärung konnte zwar gelegentlich große Abtransporte beobachten. Man zog daraus aber keine Konsequenzen. Zu tief hatte sich die Vorstellung von der technischen Rückständigkeit, geringen Intelligenz und subalternen Schwerfälligkeit des Sowjetbürgers eingefressen.
Sehr bezeichnend für dieses auch auf wehrwirtschaftlichem Sektor tendenziös geringschätzige Feindbild sind die Schlußfolgerungen in der materialreichen, im Verhältnis zu anderen Informationen gut fundierten geheimen Informationsschrift des Wehrwirtschafts-und Rüstungsamtes im OKW
Unzulängliche, oft geradezu falsche, ohne die nötige sachliche Gewissenhaftigkeit ausgewertete Informationen, vor allem aber die aus 32 ihnen gezogenen Trugschlüsse haben einen militärisch und wehrwirtschaftlich viel schwächeren Gegner vorgetäuscht, als es die Sowjetunion tatsächlich war. Und dazu Siegesmeldungen über Siegesmeldungen, echte Erfolgsziffern, Übertreibungen — ein süßes Gift für Hitler, der von jeher dazu neigte, mit geringstem Einsatz mehr gewinnen zu wollen als jeder Sterbliche vor und nach ihm! Während die anderen Mächte mit allen Kräften gegen den Eroberer rüsteten, drosselte Hitler den Nachschub für sein noch nicht einmal auf halbem Weg zum strategischen Ziel angelangtes Ostheer und feilschte mit seinen Generalen um ein paar Panzer aus der immer noch unvorstellbar geringfügigen Produktion, als ob ihm das Kriegsglück absolut sicher sei.
Entscheidungen auf höchster militärischer Ebene haben -meist lang fristigen Charakter. Ihre Auswirkungen machen sich erst wesentlich später fühlbar. Die von Hitler Anfang Juli in voreiliger Siegesgewißheit gefaßten Entschlüsse gewannen ihre eigentliche verhängnisvolle Wirkung während der menschenfressenden Herbst-und Winterschlachten. Ähnliche Fehlgriffe folgten
Hier zeigte sich das Selbstzerstörerische einer solchen Diktatur und ihre Unfähigkeit, über den Augenblick hinaus für den eigenen Erfolg zu sorgen. Hitler berauschte sich an Teilerfolgen und an günstigen Zahlenkombinationen. Seine Ratgeber und engeren Mitarbeiter standen zu tief in der gleichen Atmosphäre oder waren bei allem kritischen Scharfblick zu ohnmächtig geworden, um mit Erfolg eine dem Ernst der Lage angemessene sachliche Opposition treiben zu können.
Mitte Juli 1941 war erkennbar, daß die Phase der Grenzschlachten nur im Mittelabschnitt das gesteckte Ziel annähernd erreicht hatte: den Feind durch Umfassung zu stellen und noch vor seinem Rückzug ins Landesinnere weitgehend zu vernichten. H. Gr. Süd und H. Gr. Nord hatten einen hinhaltend kämpfenden Feind vor sich hergetrieben — zur „Stalin-Linie“, einem losen System von Feldbefestigungen entlang des Dnjepr und Slutsch, am Oberlauf des Dnjepr bis Orscha und von dort zum Peipussee. Die Rote Armee war schwer angeschlagen und hatte große personelle wie materielle Verluste erlitten, aber sie existierte noch — weit mehr als die oberste deutsche Führung wahrhaben wollte. Das Beunruhigendste an der Lage war deren Verkennung. Ein Trugbild beflügelte die weit ab vom Schuß sitzende deutsche Führung. Hitler, der Meldegänger des Ersten Weltkrieges, ist im Zweiten Weltkrieg — seinem Krieg — nie an der Front gewesen. Von Frontbesuchen Hitlers weiß nur die Legende.