Die sehr komplizierte Frage, wann und warum sich Hitler zum Angriff auf die verbündete Sowjetunion entschloß, ist immer wieder durchleuchtet worden
Die Geschichte des Dritten Reiches hat genügend Beweise dafür geliefert, wie überraschend konsequent Hitler an den in „Mein Kampf" formulierten Leitgedanken festhielt — viel konsequenter und buchstäblicher, als die meisten seiner Mitmenschen erwarteten. Es ist kein Zufall, daß führende Kreise der NSDAP während des Winters 193 8/39 mit dem Gedanken einer „Befreiung“ der sowjetischen Ukraine spielten. Hitler selbst hatte ihn bei seinen Grenzrevisionsvorschlägen vom 24. Oktober 1938 der polnischen Regierung gegenüber anklingen lassen. Und sein Außenminister v. Ribbentrop versprach während seines Besuches in Warschau (25. -27. 1. 1939) den Polen ganz ohne Umschweife sowjetukrainisches Gebiet als Kompensation für die an Deutschland abzutretenden, seit 1919 umstrittenen Grenzgebiete
Einen Tag nach Abschluß des deutsch-italienischen Militärbündnisses, am 23. Mai 1939, kündigte Hitler den Oberbefehlshabern und Stabschefs der Wehrmacht außer der geplanten Annexion neuen Lebensraums in Polen eine deutsche „Lösung des Baltikum-Problems" an.
Unter diesen Aspekten erscheint der Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes am 23. August 1939 und des mit ihm verbundenen Geheimabkommens zur Teilung Ost-Mitteleuropas in soge-nannte Einflußzonen nur als befristetes Manöver im weltpolitischen Vabanquespiel Hitlers. Anders findet man schwerlich Zugang zu seinem Entschluß, dem verhaßten ideologischen Konkurrenten Stalin halb Polen, Finnland, das Baltikum und Bessarabien auszuliefern und ohne Not auf Tuchfühlung mit dem bolschewistischen Reich zu gehen.
Gewiß kam Hitler Stalin nur deshalb so weit entgegen, weil er durch den eilig geschlossenen Moskauer Pakt einen Krieg mit den Westmächten verhindern wollte, zu dem er noch nicht gerüstet war. Aber selbst wenn die Westmächte still hielten, wie es Hitler erwartete, wären doch Polens Teilung, Litauens Einverleibung und die unverzüglich nach Polens Niederlage von der Sowjetunion vorbereitete Annexion Estlands und Lettlands perfekt geworden — eine Entwicklung, die Hitler zwar eingeleitet, aber auf die Dauer nie hingenommen hätte!
Dieses Teilungsgeschäft in Mittelosteuropa bot sich seit 1918 immer wieder als extreme Möglichkeit für einen deutsch-russischen Akkord an. Die beiden Großstaaten betrachteten sich mit Recht als Hauptgeschädigte einer Nachkriegsordnung in Europa, die von der Sowjetunion schon rein formal nicht anerkannt wurde, weil die Westmächte ihre Forderung nach Teilnahme an den Pariser und Versailler Friedensverhandlungen ignoriert hatten. Im polnisch-russischen Krieg erlitt die Sowjetunion einen weiteren Rückschlag und verlor an das allzu expansive Polen erhebliche Teile Weißrußlands. Vergeblich rieten die Entente-Mächte in Warschau, sich mit der sogenannten Curzon-Linie zufrieden-zugeben. In den sowjetischen Fühlungnahmen mit v. Brockdorff-Rantzau, v. Seeckt und Stresemann wurde deshalb immer wieder der Wunsch deutlich, Polen mindestens auf seine ethnographischen Grenzen zurück-zudrängen. Tschitscherin schlug sogar den deutschen Unterhändlern ein militärisches Bündnis vor, „um das heutige Polen zu zertrümmern“
Als im Münchner Abkommen 1938 der erste große Schritt zur Revision der 1918 in Ostmitteleuropa geschaffenen Machtverhältnisse getan wurde, sah sich die Sowjetunion von den Westmächten wieder ausgeschaltet. Seit dieser Brüskierung sann Moskau auf andere Wege, die 1917/18 und 1921 erlittenen Gebietsverluste zu seinen Gunsten zu korrigieren.
Diese Chance bot Hitler mit jenem geheimen, geradezu ungeheuerlichen Teilungsvertrag, der Deutschland ungefähr die preußisch-österreichischen Ostgrenzen nach der Dritten Polnischen Teilung (1795) und der Sowjetunion den Wiedergewinn der russischen Westgrenzen von 1914 (mit Ausnahme Kongreßpolens) bringen sollte
Die Diktatoren waren sich vermutlich darüber klar, daß diese „Revision“ den Keim zu schweren Konflikten in sich trug, denn sie beseitigten mit der Selbständigkeit Polens und der baltischen Staaten die Pufferzone zwischen ihren expansiven Reichen. Offenbar fühlten sich Hitler und Stalin dieser Gefahr mit der allen gewalttätigen Menschen eigenen Kurzsichtigkeit gewachsen. Stalin rechnete bekanntlich mit einem langen Erschöpfungskrieg zwischen Deutschland und den Westmächten. Das hätte ihm erlaubt, die reiche Beute gefahrlos in seine Scheuern zu bringen. Und Hitler war viel zu sehr von der Überlegenheit seines „Tausendjährigen Reiches" gegenüber dem „bolschewistischen Untermenschentum" überzeugt, als daß er sich wegen dieser neuen Nachbarschaft Sorgen gemacht hätte. Die völlige Entblößung der neuen Ostgrenze von Kampftruppen bis zum Abschluß des Westfeldzuges beweist, diese Sorglosigkeit.
Wie Hitler jedoch die Haltbarkeit des in Moskau geschlossenen Paktes vom 23. August 1939 einschätzte, hat er unumwunden am 23. November 1939 ausgesprochen in seiner Rede vor den Wehrmachtsbefehlshabern. Das Problem des deutschen Lebensraums sei bisher ungelöst. Ein Volk, das sich diesen Lebensraum nicht erkämpfe, verzichte freiwillig auf sein Lebensrecht. Die augenblickliche beiderseitige Un-tätigkeit an der Westfront müsse durch eine deutsche Offensive beendet werden, denn niemand könne wissen, ob die gegenwärtige Kräfte-konstellation in Ost-und Südosteuropa weiterhin so günstig bleibe. „Rußland sei im Augenblid^ zwar geschwächt und militärisch nicht sehr hoch zu bewerten, zudem durch seinen Vertrag mit Deutschland gebunden, aber bekanntlich würden Verträge nur solange gehalten, wie sie . zweckmäßig'seien. Deutschland müsse in der Lage sein, falls es notwendig werde, den weit gestedsten außenpolitisdten Zielen Rußlands im Ostseeraum, auf dem Balkan und am Persisdten Golf entgegenzutreten.“
In den letzten Tagen des Polenfeldzuges hatte die Rote Armee Ostpolen besetzt und mit der Annexion Litauens begonnen. Dann überfiel sie das ebenfalls der sowjetischen Einflußzone zugesprochene Finnland. Die Finnen verstanden sich aber besser zu wehren, als die schlecht vorbereiteten, anfangs auch schlecht geführten sowjetischen Angreifer erwartet hatten. Hitler zeigte Finnland die kalte Schulter und bot Stalin sogar Blockadehilfe gegen die kleine tapfere Nation. Über Hitlers tatsächliche Einstellung zur Sowjetunion berichtete sein engster militärischer Gehilfe, Generaloberst Jodl, den Reichs-und Gau-leitern der NSDAP in einem geheimen Vortrag am 7. November 1943: „Der Führer selbst hat diese Gefahr (des bolschewistischen Ostens) jedoch ständig im Auge gehabt und mir bereits während des West-feldzuges seinen grundlegenden Entschluß witgeteilt, dieser Gefahr zu Leibe zu rücken, sobald es unsere militärische Lage irgendwie erlaube." 6)
Und Gen. Lt. v. Sodenstern, während des Westfeldzuges Stabschef des Feldmarschalls v. Rundstedt, berichtete von einem Besuch Hitlers am 2. Juni 1940 im Hauptquartier der Heeresgruppe A. Hitler habe dabei Rundstedt und Sodenstern gesagt, „wenn England, was er erwarte, jetzt ausschere und zu einem vernünftigen Friedensschluß bereit sei, so habe er endlich die Hände frei für seine große und eigentliche Aufgabe: die Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus“
Zum gleichen Zeitpunkt, in dem die französische Regierung um einen Waffenstillstand ersuchte, vollendete die Sowjetunion die militärische Besetzung des Baltikums (16. /17. Juni 1940). Am 28. Juni marschierten ihre Truppen in Bessarabien und in der Nordbukowina ein.
Es gibt Anhaltspunkte dafür, daß Stalin die letzten Annexionen so eilig betrieb, weil er mit einem baldigen Friedensschluß zugunsten Deutschlands rechnete
„a) Wir können die Erfolge dieses Feldzuges nur mit den Kräften erhalten, mit denen sie errungen wurden, also mit militärischer Gewalt, b) Für Friedensbildung noch keine handgreiflichen Unterlagen, c) Augen stark nach dem Osten gerichtet, d) England wird voraussidttlich noch einer Demonstration unserer militärischen Gewalt bedürfen, ehe es nachgibt und uns den Rüchen freiläßt für den Osten. ... Die Schwierigkeiten liegen weniger in der augenblicklichen Lage als in der künftigen Entwicklung. Denn die Erhaltung unseres Erfolges durch militärische Machtmittel muß zur Überanstrengung führen.“ 9)
Bekanntlich verfolgten die Gesprächspartner Hitlers Kurs mit sehr skeptischen Blicken. Sie waren zuzeiten erwiesenermaßen bereit, in prinzipielle Opposition zu ihm zu treten, ja bei seinem Sturz behilflich zu sein. Die unter c) und d) skizzierten Stimmungen und Gedankengänge geben ohne Zweifel lediglich Hitlers Intentionen wieder.
Der Sachbearbeiter für Heeresfragen im Wehrmachtsführungsstab (WFSt) des OKW, Gen. Maj. v. Loßberg, erinnert sich, daß ihm sein Chef, General Jodl, um die gleiche Zeit, Ende Juni/Anfang Juli 1940, mitgeteilt habe, „daß die Absicht bestehe, Rußland anzugreifen“ 10).
Am 3. Juli 1940 hielt Halder mit dem Chef seiner Operationsabteilung v. Greiffenberg
Am 3. Juli 1940 hielt Halder mit dem Chef seiner Operationsabteilung v. Greiffenberg Rücksprache über Operationsfragen: „Im Vordergrund stehen z. Zt. die Fragen England, die gesondert behandelt werden wird und die des Ostens. Letztere muß man unter dem Hauptgesichtspunkt betrachten, wie ein militärischer Schlag gegen Rußland zu führen ist, um ihm die Anerkennung der beherrschenden Rolle Deutschlands in Europa abzunötigen. Daneben können Sondergesichtspunkte wie Ostsee-länder oder Balkanländer Varianten veranlassen“
Aus alledem läßt sich eine gewisse Beunruhigung über das sowjetische Vorgehen ablesen und eine wachsende Bereitschaft, diesen Drang nach Westen zu stoppen bzw. die Sowjets wieder zurückzutreiben. Eine nicht unverständliche Empfindung! Aber auch dieses Zitat kann nur gelesen werden als referierende Wiedergabe von Hitlers Ideen und Absichten. Wie hätte Generaloberst Halder selbständig derartige militärische Fragen mit dem Chef seiner Operationsabteilung erörtern können zu einem Zeitpunkt, als der deutsch-russische Nichtangriffspakt noch ungetrübt war?
Derartige Überlegungen sind vom OKH ja auch nicht angestellt worden, als wirklich Grund zur Sorge vor feindlichem Verhalten der Sowjetunion bestand, nämlich in der Zeit zwischen Polen-und Westfeldzug.
Im November 1939 standen an der neuen deutsch-sowjetischen Grenze insgesamt 9 deutsche Divisionen, im Mai 1940 während des Westfeldzuges 10 Divisionen (davon 6 Divisionen aus Landesschützen), und Ende Juli 1940 waren es 15 Divisionen. Die Stärke der Roten Armee in Grenznähe wurde für August 1940 auf 96 Infanteriedivisionen, 23 Kavalleriedivisionen und 28 mechanisierte Brigaden geschätzt
Dieses Mißverhältnis hatte weder Hitler noch dessen militärische Mitarbeiter beunruhigt. Man verließ sich auf die militärische Schwäche der Sowjetunion und ihr Engagement bei der Teilung Ostmitteleuropas.
Aber alles Übermaß rächt sich. Nun begann man sich Gedanken über die machtpolitischen Folgen der territorialen Veränderungen im Osten zu machen. Dieser Raubhandel versklavte nicht nur 60 Millionen Ostmitteleuropäer, die jahrhundertelang um ihre nationale Freiheit gerungen hatten. Er belastete Deutschland mit politischen und strategischen Problemen, die nur zu balancieren waren auf der Spitze eines Schwertes, dessen Schärfe von allen anderen Nationen gefürchtet wurde. Einen Schwächezustand konnte sich dieses nationalsozialistische Deutschland nicht mehr erlauben.
Halders kurze Erörterung eines präventiven Schlages gegen die Sowjetunion kam nicht von ungefähr. Sie basierte auf der mit v. Weizsäcker geteilten Überzeugung, Deutschland könne den erreichten Stand nur mit militärischer Macht erhalten
„Der Gedanke“, so äußerte sich Generaloberst Halder rückblickend, „daß die freundschaftlidten Beziehungen zwischen Sowjetrußland und Deutschland für Stalin nur von vorübergehenden Zweckmäßigkeitsgründen bedingt seien und zeitlich begrenzt sein würden, kehrt, mindestens in Andeutungen, in allen größeren Besprechungen Hitlers mit militärischen Führern schon seit Abschluß des Polenfeldzuges immer wieder (mein Tagebuch gibt dafür viele Belege). Seit dem Zusammenbruch Frankreichs und dem Verzicht auf den Invasionsversuch in England kommt zu der latenten Sorge vor der Unberechenbarkeit der Sowjets noch der Gedanke hinzu, durch Ausschaltung Rußlands England die letzte Aussicht auf eine günstige Wendung des Krieges mit Hilfe eines europäischen Bundesgenossen zu nehmen und es dadurch zum Frieden geneigt zu machen. Diese im Sommer 1940 sich bei Hitler immer tiefer festfressende Gedankenbildung scheint mir sich gelegentlich der Aussprache mit Molotow (12. —
Darüber hinaus widersprach die neue Landkarte von Ostmitteleuropa den Prinzipien nationalsozialistischer Geopolitik und Hitlers eigenen Absichten. Die Vermutung ist nur allzusehr begründet, daß Hitler schon die geladene Pistole hinter dem Rücken hielt, als er Stalin am 23. August 1939 die Hand reichte.
Im Augenblick standen für Hitler die Fragen im Vordergrund: Wie wird sich England verhalten? Wird es in einen gelinden Friedensvorschlag einwilligen? Oder wird ihm Deutschland noch eine militärische Lektion erteilen müssen, ehe es einsieht, daß dieser Krieg für Großbritannien nicht mehr zu gewinnen ist?
Das Hitler unterstellte Oberkommando der Wehrmacht (OKW) hatte bis Juli 1940 noch nicht einmal Pläne für eine entscheidungsuchende Offensive gegen die Inseln entworfen. Man war so überzeugt davon, daß der Westfeldzug bereits den ganzen Krieg unwiderruflich entschie-den habe, daß im günstigsten Augenblid« für einen Angriff weder Pläne noch ausreichende Kampfmittel zur Verfügung standen. Als Churchill Hitlers vages Friedensangebot ablehnte, sahen sich deshalb politisehe und militärische Führung vor einer unerwarteten Lage.
Das bereitete ihr aber keine großen Sorgen. Sie vertraute auf die durchschlagende Kraft der bereitgehaltenen Trümpfe: Luftwaffe, U-Boote, magnetische Minen. Deren Wirkung und damit Englands Zusammenbruch schienen nur noch eine Frage der Zeit
Es gibt für diese Einschätzung der strategisch-politischen Aussichten im Westen so viele dokumentarische Belege, daß der Gedanke sich aufdrängt, sie könnte auf Hitlers Entschluß, Rußland anzugreifen, größeren Einfluß gewonnen haben, als die Forschung bisher annimmt. Als Hitler s ch am 31. Juli 1940 für einen Ostfeldzug entschied und darauf die gesamte deutsche Rüstung abstellte, war nämlich noch in keiner Weise zu erkennen, ob jene drei militärischen Trümpfe gegen England tatsächlich stechen würden oder nicht. Nur für einen späteren Zeitpunkt, lange nach dieser folgenschweren Entscheidung, läßt sich deshalb die bekannte Parallele zu Napoleon ziehen, der Rußland angriff, weil er nach England nicht übersetzen konnte. Hitler selbst hat zu dieser Parallele den Anstoß gegeben mit seinem strategischen Plädoyer für diesen Wechsel der Operationslinie (31. 7. 1940).
Daß aber diese als entscheidend angesehenen Kampfmittel elf Monate nach Kriegsbeginn nicht in angemessener Zahl oder Qualität vorhanden waren, gehört zu den am schwersten begreiflichen Dingen an Hitlers Krieg. Die Luftwaffe war für eine Luftschlacht über England weder typen-noch zahlenmäßig gerüstet. So erlebte sie trotz aller Anstrengungen und Opfer im Herbst 1940 ihr „Verdun", von dem sie sich nie wieder erholt hat. Die Zahl der brauchbaren Minen reichte nicht aus. (Die magnetische Mine wies überdies schwere Mängel auf.) Noch acht Monate nach Kriegsende konnte die Kriegsmarine nicht mehr als 12— 14 U-Boote gegen feindliche Geleitzüge gleichzeitig einsetzen. Bis Frühjahr 1941 überstieg die Zahl der versenkten U-Boote die der Neubauten, so daß die Seekriegsleitung noch am 1. 2. 1941 über nicht mehr als 21 frontklare Boote verfügte
Und an eine Invasion wollte Hitler schließlich nicht heran. Es blieb bei Planungen, Vorbereitungen und Übungen. Als Marine und Heer für Ende September eine bedingte Übersatzbereitschaft meldeten, verschob Hitler das ihm zu riskant erscheinende Unternehmen auf unbestimmte Zeit. Nun allerdings konnte er einige gewichtige sachliche Gründe geltend machen, vor allem das Ausbleiben der angestrebten Luftherrschaft über Südengland.
Während die Kriegsmarine seit Mitte Juli 1940 immer mehr Bedenken äußerte, setzte sich nach anfänglicher Skepsis das Heer energisch für baldige Landung ein, weil seine Führung in der Invasion den schnellsten Weg zur Kriegsentscheidung und zum Frieden erblickte.
Anders Hitler! Wohl kaum aus der Sorge einer bedrohten, umlauerten Mittelmacht, sondern viel eher in der Überzeugung, die Lage endgültig zu beherrschen, begann nach dem Sieg über Frankreich die strategischen Pläne Hitlers ein neues Denken in zwei und mehr Fronten immer mehr zu beeinflussen
Zwei Tage nach dem vagen, von Churchill abgelehnten Friedensangebot in der triumphalen Reichstagsrede, am 21. Juli, sprach Hitler mit den drei Oberbefehlshabern über die Kriegslage und das Problem, die strategische Initiative in der Hand zu behalten. Das entscheidungsueilende Landungsunternehmen „Seelöwe" solle wegen seines außerordentlichen Risikos nur dann gewagt werden, wenn kein anderer Weg offen stehe. Ließen sich die Vorbereitungen nicht bis Anfang September beenden, müsse man andere Pläne erwägen
Nach der Rückkehr von dieser Konferenz gab Feldmarschall v. Brauchitsch seinem Generalstab den Auftrag, gedankliche Vorbereitungen für das „russische Problem“ zu treffen. Halder notierte aus dieser Besprechung: „Dem Führer ist gemeldet: a) Aufmarsch dauert 4— 6 Wodteu. b) Russisches Heer schlagen oder wenigstens soweit russischen Boden in die Hand zu nehmen, als nötig ist, um feindliche Luftangriffe auf Berlin und schlesisches Industriegebiet zu verhindern. Erwünscht so weit vorzudringen, das] man mit unserer Luftwaffe Gebiete Rußlands zersdilagen kann . . . c) Politisches Ziel: Ukrainisches Reich. Baltischer Staatenbund. Weißrußland — Finnland. Baltikum — Pfahl im Fleisch, d) Nötig-SO— 100 Divisionen; Rußland hat 50 bis 75 gute Divisionen. Wenn wir in diesem Herbst Rußland angreifen, wird England luftmäßig entlastet. Amerika kann an England und Rußland liefern.“
Es handelte sich also nicht um „private“ Studien des OKH, um für alle Fälle gerüstet zu sein, sondern um einen klaren Auftrag Hitlers. Über die eigentlichen Motive sagen die Quellen wenig aus. Brauchitsch bemerkte lediglich zu Halder: „Stalin kokettiert mit England, um England im Kampf zu halten und uns zu binden, um Zeit zu haben, das zu nehmen, was er nehmen will und was nicht mehr genommen werden kann, wenn Frieden ausbricht. Aber es liegen keine Anzeichen für russische Aktivität uns gegenüber vor.“ In ähnlichem Sinne hatte sich Hitler selbst schon am’ 13. Juli ausgesprochen.
Wer Hitler gemeldet hat, der Ostaufmarsch lasse sich in vier bis sechs Wochen durchführen, ist bis heute ungeklärt. Einiges deutet daraufhin, daß es Brauchitsch selbst gewesen sein könnte
In der Bemessung des deutschen Truppenbedarfs auf 80— 100 Divisionen herrschte offenkundig Einigkeit. Man zählte auf der Seite der Gegner nur die „ 50 bis 75 gute Divisionen.“
In Halders sorgfältig geführtem persönlichen Tagebuch, einer Geschichtsquelle von seltenem Rang, findet sich an dieser Stelle auch nicht die geringste Andeutung über Bedenken v. Brauchitschs gegenüber diesen ausschweifenden Wunschbildern des Diktators. Das „Principiis obsta!" lag dem dilatorischen Charakter des Oberbefehlshabers des Heeres an sich nicht, aber hier hatte die Entwicklung doch schon einen Weg genommen, der Brauchitschs fachliches Wissen und Gewissen beunruhigen mußte.
Auch das Oberkommando der Kriegsmarine (OKM) hat sich in jenen Tagen mit dem Problem eines Angriffs auf die Sowjetunion beschäftigt. K. Klee berichtet über eine Denkschrift der Seekriegsleitung (SKI) vom 28. Juli 1940: „Als möglicher Bundesgenosse Englands auf dem Festland brauche wohl nur an Rußland gedacht zu werden. Es liege im Interesse Europas, daß die sowjetische Gefahr des Bolschewismus so oder so in Bälde beseitigt werde. Die militärischen Kräfte der russischen Wehrmacht wurden gegenüber den deutschen kriegserfahrenen Trup- pen als weit unterlegen angesehen. Militärisch durchführbar sei eine Besetzung des Raumes bis zur Linie Ladogasee—Smolensk—Krim, um , aus diesem Besitz heraus die Friedensbedingungen festzulegen ... Ob die Wegnahme Moskaus nodt erforderlidt sei, werde nach der Lage und der Jahreszeit entsdüeden werden müssen.“
Dann wurden die Rückwirkungen einer noch 1940 zu beginnenden Ost-offensive auf das Unternehmen „Seelöwe" erörtert. Der Gedanke drängt sich auf, daß die von Raeder vorgelegte Denkschrift ein Niederschlag der Oberbefehlshaberzusammenkunft am 21. Juli bei Hitler war. Für diese Annahme sprechen vor allem die wahrhaft erstaunlichen Kombinationen der Angriffsziele und Positionen für ein Friedensdiktat. Sie sind bestimmt von dem Gedanken: Die Sowjetunion ist politisch wie militärisch kein ernstzunehmender Gegner.
Sieht man von allen anderen psychologischen Faktoren ab — ruckartig emporgeschnelltem Selbstgefühl nach dem unerwarteten Blitzsieg notorischer Überheblichkeit gegenüber den osteuropäischen Völkern, geringer Meinung von der Kampfkraft der Roten Armee nach ihrem anfänglichen Mißerfolg gegen Finnland —, so kam ein starker indirekter Einfluß Hitlers und seines Regimes hinzu: Die seit Jahren alle Berichterstattung und Propaganda beherrschende, feindselig geringschätzige Einstellung zur Sowjetunion als dem Stammland des aus innenpolitischen Gründen von Nationalen wie Nationalsozialisten bekämpften Kommunismus. Die üble Manier des primitiven politischen Tageskampfes, den Gegner als verächtlich, unfähig und schwächlich hinzustellen, um das eigene Licht heller leuchten zu lassen, hat die öffentliche Meinung über die Sowjetunion verhängnisvoll beeinflußt. Gewiß nicht nur in Deutschland, aber in Deutschland besonders stark und mit verheerenden Folgen. Informationen über die Sowjetunion wurden zensiert und durch vorgefaßte Meinungen filtriert, selbst dort, wo es um rein sachliche Bestandsaufnahme im ureigensten Interesse hätte gehen müssen. Die besondere Gefahr dieser Einstellung lag in ihrer Realitätsblindheit und der gefühlsmäßigen Bereitschaft, eines Tages den Kampf mit dem Bolschewismus, selbst unter einem Hitler, als eine Art Kreuzzug für die Zivilisation auf sich zu nehmen. Geschah das rechtzeitig, so brauchte man sogar um den Sieg nicht sehr zu fürchten, denn ein derart verwerfliches, von Existenzkrisen erschüttertes System mußte doch viel zu brüchig sein, um einen wirklichen Krieg bestehen zu können.
Auf dieser wehrpsychologischen Kalkulation sind dann auch die Kräfteberechnungen und Operationspläne aufgebaut worden. Weil diese in mancher Hinsicht der Wahrheit sehr nahe kamen, haben Hitlers Reden und die von ihm letzten Endes gelenkte nationalsozialistische Propaganda zahllose Deutsche aller Schichten in diesem Sinne beeinflußt — auch oder vielmehr gerade in der Wehrmacht. Ihrer prinzipiellen Abneigung gegenüber dem bolschewistischen System kamen abfällige Äußerungen, ungünstig klingende Nachrichten über die Sowjetunion entgegen. Und im Erfassen derartiger unterbewußter politischer Sentiments war Hitler ein Meister.
Während also der Generalstab bereits Fragen einer Offensive im Osten erwog, informierte Jodl am 29. Juli seine engeren Mitarbeiter offiziell von Hitlers Absicht, die Sowjetunion anzugreifen, und gab die entsprechenden Planungsaufträge. Er sagte dabei, Hitler zöge es vor, die als unvermeidlich erkannte Auseinandersetzung mit der Sowjetunion gleich jetzt zu führen, da er nicht nach einigen Friedensjahren von neuem mit Krieg beginnen wolle. Infolge der zu weit fortgeschrittenen Jahreszeit käme aber als Angriffsbeginn erst der Mai 1941 in Frage
Am gleichen Tage meldete die Kriegsmarine dem OKW, sie werde nicht vor Mitte September mit ihrem Minimalprogramm an Invasionsvorbereitungen fertig. Das erhöhte Hitlers eingewurzelte Skepsis. Von Anfang an hatte er das Landeunternehmen mit auffälliger Lauheit betrieben, weil er dessen strategische Notwendigkeit nie in ihrer vollen Tragweite empfand. Er lebte politisch wie militärisch in einer ausgesprochen kontinentalen Gedankenwelt. Die eigentliche Stärke der angelsächsischen Mächte bemaß er danach, wieviel Divisionen sie ihm auf dem europäischen Festland entgegenstellen konnten
In dieser Einstellung besprach Hitler seine weiteren Kriegspläne am 31. Juli 1940 auf dem Obersalzberg in Beisein Keitels und Jodls mit den Oberfehlshabern und Stabschefs von Heer und Marine. Hitler und Raeder fanden sich dabei in der Ansicht, mit dem Landeunternehmen „Seelöwe" lieber bis zum Mai 1941 zu warten, falls der Luftkrieg gegen England nicht bis Ende September zur deutschen Luftherrschaft über dem Invasionsraum führen sollte. Auf die Frage, wie man die Zeit bis dahin überbrücken könne, plädierten die Vertreter des OKH für einen Angriff auf Gibraltar und eine Unterstützung der Italiener in Nordafrika mit zwei Panzerdivisionen. Hitler bezeichnete diese Vorschläge, im Mittelmeer einen zweiten Schwerpunkt gegen England zu bilden und dabei Spanien auf die Seite der Achsenmächte zu ziehen, als „Ablenkungsmanöver", die man noch untersuchen müsse. Wirklich entscheidende Wirkung habe aber nur ein — direkter — Angriff auf England.
Nach Halders Tagebucheintragungen sagte Hitler weiter: „LI-BootKrieg und Luftkrieg kannKrieg entscheiden, wird aber 1— 2 Jahre dauern. Englands Hoffnung ist Russland undAmerika. Wenn Rußland wegfällt, fällt audt Amerika weg, weil Wegfall Rußlands eine Aufwertung Japans in Ost-asien in ungeheurem Maß verfolgt (sic). Rußlands ostasiatisdter Degen Englands und Amerikas gegen Japan. . . . Rußland Faktor, auf den England am meisten setzt. . . . Rußland braudtt England nie mehr zu sagen, als daß es Deutsddand nidtt zu groß haben will, dann hofft Engländer wie ein Ertrinkender, daß in 6— 8 Monaten die Sadie ganz anders sein wird. Ist aber Rußland zersdilagen, dann ist Englands letzte Hoffnung getilgt. Der Herr Europas und des Balkans ist dann Deutsdtland. Entschluß: Im Zuge dieser Auseinandersetzung muß Rußland erledigt werden. Frühjahr 41. Je sdtneller wir Rußland zerschlagen, desto besser. Operation hat nur Sinn, wenn wir Staat in einem Zug schwer zersdilagen. Gewisser Raumgewinn allein genügt nicht. Stillstehen im Winter bedenklidi. Daher besser warten, aber bestimmter Entsdtluß, Rußland zu erledigen. Notwendig auch wegen der Lage an der Ostsee. 2. Großstaat an der Ostsee nicht brauchbar! Mai 41. 5 Monate Zeit zur Durchführung. . . . Ziel: Vernichtung der Lebenskraft Rußlands. Zerlegen in: 1. Stoß Kiew. Anlehnung an Dnjepr, Luftwaffe zerstört Übergänge Odessa. 2. Stoß Randstaaten mit Riditung Moskau. Sdtließlidt Zusammenfassung aus Norden und Süden. Später Teiloperation auf Ölgebiet Baku. Inwieweit man Finnland und Türkei interessiert, wird man sehen. Später: Ukraine, Weißrußland, Baltische Staaten an uns. Finnland bis ans Weiße Meer. . . . Mit je mehr Verbänden wir kommen, um so besser. Wir haben 120 plus 20 Urlaubsdivisionen. . .“
Hitler kombinierte also: Englands nächster potentieller Bundesgenosse ist die Sowjetunion. Ehe die USA eingreifen können, muß deshalb die Sowjetunion schon am Boden liegen. Das wird den LISA die Lust zum Kriegseintritt nehmen. Und auf diese Weise entgeht Deutschland der Gefahr eines echten Zweifrontenkrieges.
Hitlers Ausweichen gegenüber dem Vorschlag einer durchaus möglichen und Erfolg versprechenden Schwerpunktbildung im Mittelmeer, die seinen schlecht gerüsteten Bundesgenossen Mussolini unterstützt hätte, bestärkt die Ansicht, er habe in jenen Tagen gar nicht mehr zwischen mehreren Möglichkeiten, England zu treffen, geschwankt, sondern in der grundlegenden Alternative: Offensive des Heeres gegen England oder gegen die Sowjetunion, bereits gewählt. Wahrscheinlich führte er vor seinen militärisch geschulten und erfahrenen Beratern nur noch ein lockeres Gebäude von weltweiten politischen und mili-tärischen Kombinationen auf, um den bedenklichen Wechsel der Operationslinie notdürftig zu verbergen. Was Hitler gegen die Sowjetunion im Schilde führte, war doch weit mehr als eine rasche Entscheidung im Machtkampf, weit mehr als ein normaler Krieg. Damit begnügte sich sein primitiver Sozialdarwinismus nicht. Er zielte letzten Endes auf Eroberung und auf ausbeutende Herrschaft über dezimierte, versklavte Völker. Polen war nur Etappe und Experimentierfeld.
Hitler gab sofort Befehl, das erst Anfang Juli in Kraft getretene, auf verstärkten Luft-und Seekrieg gegen England eingestellte Umrüstungsprogramm aufzuheben, wieder auf eine Heeresvermehrung um 40 Divisionen umzustellen und die Panzerzahl zu verdoppeln. Die neuen Divisionen seien im Generalgouvernement (Polen) aufzustellen. Damit wurde aber die Rüstung gegen England (U-Boot-und Luftwaffenprogramm) ganz erheblich geschwächt. Diese tiefgreifenden, langfristigen Rüstungsdirektiven kennzeichnen mehr als alle anderen Maßnahmen, mehr als das politische Spiel im Balkanraum während der folgenden Monate die Ernsthaftigkeit des Entschlusses, Rußland anzugreifen. General Buhle, Chef der Organisationsabteilung im OKH, erklärt: „Hitler hat sich ituwer alle Entscheidungen bis zum letzten Augcnblidt vorbehalten. Aber daß er von diesem Augenblick an innerlich auf den Ostfeldzug eingestellt war, darüber habe ich keinen Zweifel.“
Wennn auch die Rote Armee von fast allen maßgebenden Persönlichkeiten unterschätzt wurde
Am Abend vor jener entscheidenden Besprechung auf dem Obersalzberg kamen v. Brauchitsch und Halder überein, „daß man besser mit Rußland Freundschaft hält. Besuch bei Stalin wäre erwünscht. Die Bestrebungen Rußlands an den Meerengen und in Ridttung auf den Persischen Golf stören uns nicht. Am Balkan, der wirtschaftlich in unseren Wirkungsbereidt fällt, können wir uns aus dem Wege gehen . . . Unter diesen Voraussetzungen können wir den Engländer im Mittelmeer entscheidend treffen, von Asien abdrängen, dem Italiener sein Mittelmeerreidt aufbauen helfen und uns selbst mit Hilfe Rußlands das in Westund Nordeuropa gesdtaffene Reidt auszubauen. Wir können dann einen jahrelangen Krieg mit England getrost in Kauf nehmen."
Von diesen grundlegenden Gedanken ist anderntags nur der Vorschlag einer Schwerpunktbildung im Mittelmeer zur Diskussion gekommen. Hitler hat ihn mit Redensarten bagatellisiert. Das OKH versuchte dann noch mehrfach, auch im Winter 1940/41, den Diktator dafür zu interessieren. Aber Hitler bewegte sich schon zu sehr auf der „geistigen Einbahnstraße mit Richtung gegen Rußland“
Raeder erhob am 26. September 1940 zum ersten Mal in einem Gespräch unter vier Augen prinzipielle Bedenken gegen einen derartigen Wechsel der Operationslinie und riet zur Konzentration auf England und auf das Mittelmeer als der Lebensader des britischen Weltreichs
Es war also Hitler und nur Hitler, der den Entschluß faßte, seinen Verbündeten im Osten anzugreifen, noch ehe er den erklärten Gegner im Westen niedergerungen hatte. Der Diktator bewies dabei die gleiche brennende, verderbliche Ungeduld wie im Herbst 1939, als er nur halb gerüstet, nach improvisiertem Plan den baldigen Angriff im Westen forderte. Damals wie im Sommer 1940 argumentierte er, die Zeit arbeite gegen Deutschland. Das war wohl in einem viel tieferen Sinn richtiger als Hitler meinte. Aber dieses Argument kam bei ihm regelmäßig wieder, wenn er etwas Übereiltes gegen den Rat der Experten durchsetzen wollte. Andererseits hinderte ihn der vorgeschobene Zeitdruck nicht, echte strategische Chancen gegen England im Spätfrühling und Frühsommer 1940 aus Mangel an Voraussicht zu versäumen und sogar dann noch effektive Aufrüstungsmöglichkeiten zu vertrödeln, während er sich bereits mit neuen uferlosen Kriegsausweitungsplänen trug. Dabei erreichte der Anteil der Rüstung an der deutschen Industrieproduktion im Jahre 1940 keine 15 Prozent!
Deutschland war zu diesem Zeitpunkt die beherrschende Militärmacht in Europa, und auf absehbare Zeit vermochte niemand seiner in Blitzfeldzügen geübten Wehrmacht den Rang streitig zu machen. Große Teile Europas gehörten zum deutsch-italienischen Operationsraum. Hitlers maßgebenden Anteil an diesen Erfolgen konnte auch sein ärgster Gegner nicht leugnen. Nüchtern denkende Sachkenner räumen ihm auch heute noch gewisse militärische Führungsqualitäten (neben nicht minder eklatanten Mängeln) ein, z. B. das intuitive blitzschnelle Erfassen von „Lagen“ und Chancen
Zunächst hatte Hitler dem Generalstab die Zwangsjacke eines neu-aufpolierten Schlieffen-Plans für den Westfeldzug oktroyiert, dann aber gegen den Widerstand des OKH sich für Mansteins kühnen Durchbruchsplan entschieden. Es ist erwiesen, daß seine Gedanken schon vorher eine ähnliche Richtung einschlugen, allerdings nur nach den weichen Stellen des Feindes tastend und belastet mit den charakteristischen Schwächen aller seiner operativen Einfälle: die notwendigen eigenen Kräfte zu gering zu bemessen und sich nicht auf einen einzigen Schwerpunkt festzulegen, wie dies Manstein und Halder als unerläßlich für eine Durchbruchsoffensive ansahen. Die endgültige Fassung des Westfeldzugsplans kann als Teamwork v. Mansteins, Halders und Hitlers bezeichnet werden
Hitlers langjähriger Heeresadjutant G. Engel urteilt: „Die ganze Sadie ist ja historisch viel tragischer, als die meisten ahnen, denn dies, die Deckung seiner Auffassung mit der einer der fähigsten Köpfe des deutschen Generalstabs, gab ihm nunmehr die Gewißheit, wirklich der Feldherr zu sein.“
Unmittelbare Folge des veränderten Verhältnisses zwischen Hitler und dem bis dahin relativ selbständigen OKH waren einige schwerwiegende Eingriffe in dessen Befehlsgewalt während des Westfeldzuges. Sie sind so wesentliche Schritte zur „Entmachtung des OKH" (v. Man-stein) und zur Erschütterung der bis dahin festgefügten militärischen Hierarchie, daß der eine hier kurz geschildert werden muß, denn in mancher Hinsicht liefert er einen Schlüssel zu den Führungsverhältnissen im Ostfeldzug.
Die während des Polenfeldzuges noch gewahrte Zurückhaltung verließ Hitler sehr bald nach dem 10. Mai 1940. Auf dem Höhepunkt der großen Schlacht in Belgien und Nordfrankreich, als sich — vom OKH klar erkannt — ostwärts Dünkirchen ein neues Cannae abzuzeichnen begann, nahm Hitler unmittelbaren Kontakt auf zu v. Rundstedt, dem Oberbefehlshaber der in Nordfrankreich vergehenden Heeresgruppe A, und billigte dessen Entschluß, die gegen Dünkirchen vorgehenden Panzer über eine kurze Rast hinaus anzuhalten, damit sie für den anschließenden großen Raid durch Frankreich geschont würden. So kam es zu dem berüchtigten Panzerstop. Er bestand nicht nur in striktem Gegensatz zu den Absichten v. Brauchitschs, Halders und der vor Dünkirchen stehenden Befehlshaber, sondern auch zu dem gemeinsam erarbeiteten Sichelschnitt-Plan.
Als Halder in schwerem Zwiespalt zwischen Gehorsamspflicht und besserer Erkenntnis in der Nacht vom 24. /25. Mai 1940 den Anhalte-befehl mit einem Funkspruch zu durchkreuzen versuchte, der den ungeduldig wartenden Verbänden den Weg freigab, hielt v. Rundstedt „dem der Führer ausdrücklich die Art der Durchführung der Kämpfe der 4. Armee überlassen hat“, diese für die 4. Armee (v. Kluge) bestimmte Weisung auf
Die Methode, sich über den Kopf des OKH hinweg mit dessen Untergebenen in Verbindung zu setzen und deren Ansicht durch Führerbefehl mit höchster Autorität auszustatten, wurde während des Ost-feldzuges zur verhängnisvollen Gepflogenheit. Brauchitsch hat darunter auch menschlich sehr gelitten, war andererseits nicht der Mann, diesen Taktiken mit der nötigen Festigkeit entgegenzutreten. Hitler fand bei den oft recht eigenwilligen Heeresgruppen-und Armeeführern in operativen oder taktischen Fragen genügend Bereitschaft, das OKH gemeinsam zu überspielen. Einige Eingriffe Hitlers in die Führung des Westfeldzuges hatten sich als schwerwiegende Fehler erwiesen. Mindestens in einen — den verhängnisvollsten — waren außer ihm hohe Offiziere verwickelt, ehrgeizige, selbstbewußte und herrische Charaktere, mit denen es das OKH ohnehin nicht leicht hatte.
Oberbefehlshaber und Generalstabschef des Heeres standen auf schwankendem Boden. In ihrem Prestige an sich schon geschwächt durch das Ringen um Angriffsentschluß und Feldzugsplan, verloren sie nun ihren eigentlichen Rückhalt: die geschlossene, sich nach außen abschirmende Hierarchie des Heeres. Der Korpsgeist der höheren und mittleren Befehlshaber erwies sich Hitler gegenüber als bloße Fiktion. Und es ist mehr als nur fataler Zufall, daß Hitler gerade bei dem rangältesten, gern als Grandseigneur und Idealtyp eines Oberbefehlshabers alter Schule glorifizierten v. Rundstedt so leichtes Spiel hatte.
An der fortschreitenden Auflösung des inneren Gefüges im Heer wirkten wissentlich und unwissentlich zahlreiche Kräfte mit, nicht zuletzt die aus dem Heer hervorgegangenen, im Oberkommando der Wehrmacht maßgebend gewordenen Offiziere: Keitel, Jodl, Warlimont, und vor allem aber Hitlers Chefadjutant Schmundt! Sie alle verfügten über direkte persönliche Kontakte zu zahlreichen Kommandostellen des Heeres. So kam manches zu Hitler, was er besser nicht erfahren hätte und wovon das OKH nichts erfuhr.
Hitlers unseligem Drang, überall direkt führen zu wollen, wo er fremden Fähigkeiten mißtraute — und das war immer dort, wo seine jeweiligen besonderen Interessen lagen —, kam das ehrgeizige Emporstreben vieler Offiziere entgegen. Der Diktator überschüttete sie mit Ehren, Freundlichkeiten und klingendem Lohn. Seine Pläne versprachen ihnen neue Gelegenheiten, sich hervorzutun und weiter emporzusteigen — neue Schlachten, neue Siege. Dieser Militarist reinsten Wassers, der sie alle an kriegerischem Abenteurergeist und an Skrupellosigkeit übertraf, führte in politischen wie militärischen Dingen eine Sprache, die sie verstanden, die ihnen leichter einging als die subtilere Argumentation einer friedlichen Politik. Sollten sie hinter diesem von Sieg zu Sieg eilenden, auf militärischem Gebiet erfolgreich debütierenden Politiker an Kühnheit zurückstehen? Sollten sie sich noch einmal den Vorwurf grundlos übertriebener Bedenklichkeit aussetzen und damit hinter anderen zurückbleiben? —
In dieser Atomsphäre entstand aus dem Entschluß zum Angriff auf die Sowjetunion dessen systematische Planung und Vorbereitung. Sie setzte in jeder Hinsicht unverzüglich nach dem 31. Juli ein. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß Hitler sich dabei in der Zwangslage gefühlt habe, der Sowjetunion präventiv begegnen zu müssen, obwohl er später dieses Argument mehrmals benutzte, um bei den Militärs Bedenken auszuräumen. Die Frage einer defensiven oder offensiven Abwehr bzw. einer „Operation im Nachzug" gegen eine angreifende Rote Armee ist an führender Stelle nie erwogen worden
In Marcks'Operationsentwurf vom 5. August 1940 finden sich die charakteristischen Worte: „Die Russen werden uns nicht den Liebes-dienst eines Angriffs erweisen.“ Aber auch wenn die Rote Armee zu einem ihr günstig erscheinenden späteren Zeitpunkt „kam", verfügten Heer und Luftwaffe über den Vorzug, in günstigerem Gelände und Klima von relativ naheliegenden Basen aus operieren zu können, während die Sowjets die Last langer und empfindlicher Nachschubwege zu tragen hatten. Selbst unter diesem Blickwinkel läßt sich der Standpunkt nicht halten, daß es 1940/41 für Hitler keine andere Lösung gegeben habe, als die Sowjets anzugreifen. Die Bedrohung war nicht so, daß man — um ihr zuvorzukommen — dem derzeit einzigen Feind den Rücken kehren und damit eine Reihe strategischer Chancen vergeben mußte. Und sie ist auch in den folgenden Monaten nie als so stark empfunden worden, obwohl die Sowjets analog zum deutschen Ostaufmarsch weitere Truppen in Grenznähe konzentrierten (vgl. vor allem Halders Tagebuchnotizen!).
Den hier angestellten Überlegungen läßt sich eher ein anderer Einwand entgegenhalten: Diese Vorentscheidung gegen die verbündete Sowjetunion hätte doch bis Juni 1941 noch oft umgestoßen werden können!
Durch Hitlers und Mussolinis Tun und Unterlassen hat aber der Krieg in den folgenden elf Monaten eine Entwicklung genommen, die den anfangs frei gewählten Entschluß zum Angriff zwangsläufig machte. Politik, Kriegsführung, Planung, Vorbereitung, Rüstung — alles lief auf die Offensive gegen die Sowjetunion zu.'
Diese politisch-militärische Entwicklung kann hier nur angedeutet werden. Das politische Klima zwischen Berlin und Moskau änderte sich sehr bald. Anfang August entstanden neue Spannungen zwischen Finnland und der Sowjetunion. Eine Annexion Finnlands schien im Bereich der Möglichkeiten zu liegen. Hitler hatte im geheimen Zusatzprotokoll zum Nichtangriffspakt Stalins ja ausdrücklich das Zugeständnis gemacht: „Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den zu den baltischen Staaten (Finnland, Estland, Lettland, Litauen) gehörenden Gebieten bildet die nördliche Grenze Litauens zugleich die Grenze der Interessensphären Deutschlands und der UdSSR.“
Nun aber begann Hitler den Griff der Sowjetunion nach den für ihn kriegswichtigen Nickelgruben von Petsamo und das Erscheinen der Roten Armee am Nordmeer zu fürchten. Halder und Thomas konstatierten Mitte August einen Stimmungsumschwung bei ihrem Obersten Befehlshaber. Tatsächlich schlossen am 23. September Berlin und Helsinki ein Abkommen über erhebliche deutsche Waffen-und Munitionslieferungen, wofür zwei Gebirgsdivisionen die Durchmarscherlaubnis auf der Eismeerstraße nach Kirkenes erhielten. Moskau wurde nicht verständigt. Hitler lenkte auch nicht ein, als Molotow am 4. Oktober an die deutsche Konsultativpflicht und an Finnlands Zugehörigkeit zur sowjetischen Interessensphäre erinnerte
Wesentlich schwerwiegendere Differenzen entstanden wegen des deutschen Verhaltens in der rumänisch-ungarischen Frage. Die sowjetischen Annexionen in Bessarabien und Nordbukowina führten zu ähnlichen Forderungen Bulgariens und Ungarns gegen Rumänien und schließlich zu Grenzzwischenfällen. Halder notierte am 26. August 1940: „Ungarn wollten heute Nacht losschlagen. Wurden angehalten.“
Hitler war diese Entwicklung äußerst unangenehm. Er brauchte Ruhe auf dem Balkan und wies deshalb das OKH zur raschen Konzentration von zehn Divisionen im Generalgouvernement und von Panzertruppen bei Wien an. Im rumänischen Erdölgebiet wurde ein Schutzkommando aufgestellt. Am 30. August kam unter Ribbentrops und Cianos Vorsitz der berüchtigte Zweite Wiener Schiedsspruch zustande. Rumänien mußte den Hauptteil Siebenbürgens an Ungarn abtreten und erhielt eine Grenzgarantie für den Reststaat durch die Achsenmächte. Sie bezog sich durchaus nicht nur auf die Ostgrenze gegen die Sowjetunion. Beim turbulenten rumänischen Regierungswechsel kam in Bukarest der Hitler ergebene Marschall Antonescu ans Ruder und errichtete ein autoritäres Regime.
Molotow erhob am 1. September scharfen Protest wegen Verletzung der deutsch-sowjetischen Konsultationspflicht durch den Wiener Schiedsspruch. Es schloß sich ein gereizter Notenwechsel an. Währenddessen ersuchte Antonescu verabredungsgemäß um deutsche „Lehrtruppen“. Hitler entsandte im Laufe des Oktober/November eine verstärkte Infanteriedivision, mehrere Jagd-und Aufklärungsstaffeln der Luftwaffe. Ihr Auftrag bestand darin, „l. das rumänische Ölgebiet gegen den Zugriff einer dritten Madtt und vor Zerstörung zu schützen, 2. die rumänische Wehrmacht nach einem straffen, auf die deutschen Interessen ausgerichteten Plan zur Lösung bestimmter Aufgaben zu befähigen und 3. für den Fall eines aufgezwungenen Krieges gegen die Sowjetunion den Einsatz deutsdter und rumänischer Kräfte von Rumänien aus vorzubereiten.“
Die wegen Finnland und Rumänien entstandenen Komplikationen bildeten für Molotow eines der Kernprobleme seiner Besprechungen in Berlin. Tatsächlich enthielt das geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt keinerlei Abgrenzung der beiderseitigen Interessen in Südosteuropa, sondern erklärte lediglich bei der Auslieferung Bessarabiens an die Sowjetunion in bemerkenswert unscharfer Formulierung ein deutsches Desinteressement „an diesen Gebieten“. Während der Kontroverse wegen des Wiener Schiedsspruchs wies die deutsche Regierung aber mit Recht darauf hin, daß die Sowjetunion selbst den Anstoß für weitere territoriale Veränderungen und Unruhen im Balkan gegeben habe, die Deutschlands Interessen an einer ungestörten rumänischen Erdölproduktion zuwiderliefen.
Auch im wirtschaftlichen Austausch gab es Differenzen. Deutschland war im Rückstand, Sowjetrußland forderte Ausgleich, bevor es weiter-liefern werde. Göring erklärte General Thomas, die deutschen Lieferungen sollten bis Frühjahr 1941 planmäßig erfolgen. Dann habe Deutschland an einer „vollen Befriedigung der russischen Wünsche kein Interesse mehr“
Italiens mißglückter Angriff auf Griechenland verwickelte Hitler jedoch zwangsläufig in neue Balkanprobleme. Der italienische Feldzug führte in südosteuropäische Gebiete, die wiederum Stalin als seine Interessenzone betrachtete. Hitler begann nun zu fürchten, daß die im Ostmittelmeer siegreichen, sehr aktiven Engländer über Türkei, Griechenland und Bulgarien den Sowjets die Hand reichen und mit ihnen eine gemeinsame Balkanfront aufbauen könnten.
Am 4. November 1940 gab er deshalb dem OKH Befehl, die Über-führung einer Armeegruppe nach Bulgarien für einen Angriff auf Griechenland vorzubereiten. Bulgarien wurde damit ebenso wie vorher Rumänien in Hitlers Bündnissystem eingereiht. Die entsprechende Weisung erging am 12. November, am Tage der Ankunft Molotows in Berlin. In ihr hieß es vielsagend: „Um allen möglichen Aufgaben gewadtsen zu sein und die Türkei in Schach zu halten, ist den Überlegungen und Aufmarsdtberedtnungen der Einsatz einer Armeegruppe in Stärke von etwa 10 Divisionen zugrundezulegen.“
Was Hitler in dieser gespannten Situation von den Gesprächen mit Molotow erwartete, wird wohl kaum jemals überzeugend zu klären sein.